Die Geschichte des Rollenspiels
und die Geburt der virtuellen Welt
Drachen väter
Tom Hillenbrand ‡ Konrad Lischka
Danksagung
Unser Dank gilt den 428 Unterstützern von „Drachenväter“ bei der Crowdfunding-Kampagne 2013. Ohne Euch gäbe es dieses Buch nicht. Viele haben zusätzlich das Dankeschön „Erwähnung im Buch“ gewählt. Hier die Annalen dieser Helden:
~ Anja Blaszczyk
~ Armin Bode-Kessler
~ Catcher.com
~ Daniel Nathmann
~ Danny Woot
~ David Lehre
~ Die Runde der Ringgeister e.V. Freudenstadt
~ Dirk Adam (@dipead)
~ Dirk Carsten Berg
~ Dirk Frerichmann
~ Drachenflug – www.steampunkband.de
~ Edwin Krieger
~ Florian Wietasch
~ Hans-Joachim Jänichen
~ Jens Scheufler (F0XW0LF by XBOX)
~ Jörg ‚Percy‘ Hoss
~ Katja Müller
~ Madlen Ottenschläger
~ Maik Krinke
~ Markus Bruns (Nalfein)
~ Martin Griesehop
~ Matthias Streitz
~ Oliver Panzer
~ Robert Kozielski
~ Ronald Severin
~ Sandy E. M. Schweig
~ Sascha Langenberger
~ Seebi
~ Silvania Muschelstein
~ Simon Cames
~ Slonjeh, der alte Hexer
~ Stefan Knaus
~ Stephan M. Kober
~ Sven-Patrick Schymik
~ Thorsten Müller
~ Tim Dustin Walter
~ Torben Schulze-Prüfer
~ Torsten Lipphardt
~ Ulf Schöle
~ Uli Spörlein
~ Wassilios Dimtsos
~ Yvonne Dauwalder & Peter Balsiger
Besonderer Dank an die drei Superförderer
von Drachenväter ¦ Sascha Lobo,
Sinead Mahoney-Blake, Thomas Voigt
Impressum
Drachenväter – Die Geschichte
des Rollenspiels und die Geburt
der virtuellen Welt.
www.drachenvaeter.org
© 2014 Thomas Hillenbrand
und Konrad Lischka.
Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung: wppt:kommunikation gmbh
Süleyman Kayaalp, Beatrix Göge, wppt.de
Korrektorat: Ulf Ritgen, Beate Ritgen
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Einleitung ¦
Die erste virtuelle Welt
Einleitung ¦
Die erste virtuelle Welt
I got my twelve sided die and I’m ready to roll with a wizard and my goblin crew,
My friends are comin’ over to my mom’s basement bringin’ Funyuns and the Mountain Dew, I got a big broad sword made out of cardboard and that stereo’s a-pumpin’ Zeppelin,
It’s that time of the night we turn on the black light let the dungeons and the dragons begin, It’s D&D!
Fighting with the legends of yore.
It’s D&D!
Never kissed a lady before (nope).
Now ‚The Lord of the Rings‘ the ‚Dark Crystal‘ and things,
We use these as a reference tool.
And when we put on our cloaks and tell warlock jokes we’re the coolest kids in the school.
– Stephen Lynch, „D&D Song“
Frau S. machte sich Sorgen um ihren Sohn. 17-jährige haben immer Flausen im Kopf, doch Daniels neues Hobby erschien ihr äußerst beunruhigend – noch beunruhigender als die Gruftie- und Punk-Phase, die der Junge im Vorjahr durchlebt hatte. Damals war es um Musik gegangen, grässliches Gedudel, aber immerhin irgendwie nachvollziehbar. Doch was trieb das Kind nun bloß? Jedes Wochenende traf sich Daniel neuerdings mit anderen Teenagern in einem Gemeindehaus am Stadtrand. Erst spät in der Nacht kam er zurück. Stets nahm ihr Sohn die große Tennistasche mit, vollgestopft mit Getränken, Schokolade und Erdnussflips, die er aus der Vorratskammer räuberte. Vor allem aber packte er viele Bücher ein.
Dicke Folianten waren das, sie okkupierten seit einiger Zeit alle freien Flächen in Daniels Kinderzimmer. Worum es in diesen Büchern ging, ließ sich nicht so genau feststellen, denn sie waren in Englisch verfasst, und die Sprachkenntnisse von Frau S. waren etwas angestaubt. „Dragons“ stand auf dem Cover, Drachen, das konnte sie noch entziffern. Ansonsten war sie auf die Bilder angewiesen, und die waren schauerlich: Teufel oder Dämonen waren dort abgebildet, außerdem leicht bekleidete Mädchen, weswegen sie vermutete, dass die Bücher mit jenen Heavy-Metal-Platten zu tun hatten, von denen ihr eine andere Erziehungsberechtigte berichtet hatte. Ging es also um Okkultismus? Veranstaltete ihr Sohn in diesem Gemeindezentrum mit anderen Halbstarken irgendwelche Rituale? Und welche Rolle mochten die Erdnussflips dabei spielen?
„Es ist nur ein Spiel, Mama“, hatte Daniel vorhin auf Nachfragen entnervt erklärt. Dann hatte er sich die schwere Tasche auf den Rücken gewuchtet und war verschwunden. Frau S. ging ins Zimmer ihres Sohnes und schaute sich erneut einige der seltsamen Bücher an. Sie nahm eines in die Hand, einen großformatigen Band mit orangefarbenem Rücken, auf dem „Advanced Dungeons & Dragons“ stand. Auf dem Cover war ein rauschebärtiger Zauberer abgebildet, um den mehrere geflügelte Dämonen kreisten. Auf der Rückseite stand „Role Playing Game“. Frau S. ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes und schlug den Begriff im Langenscheidt nach. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo die vielbändige Brockhaus-Enzyklopädie stand und suchte dort unter „Rollenspiele“.
„Das Schwarze Auge“ oder „Dungeons & Dragons“ sind inzwischen Teil der Popkultur geworden.
Jetzt war sie erst recht beunruhigt.
Als ihr Sohn gegen ein Uhr nachts nach Hause kam, war Frau S. noch wach. Bevor er die Chance hatte, seine Tasche abzustellen, schoss seine Mutter auf ihn zu: „Wieso triffst du dich mit diesen Drogensüchtigen?“
Daniel, der zwar entschieden zu viele Chips gegessen und zu viel Cola getrunken hatte, aber ansonsten völlig nüchtern war, brachte nur ein entgeistertes „Was?“ hervor.
„Diese Rollenspiele. Ich habe es nachgeschaut. Das ist eine Therapieform, die von Psychologen verwendet wird. Bei Drogensucht.“
Was Daniel (Name geändert) in den achtziger Jahren widerfuhr, nur weil er mit ein paar Freunden Fantasy-Rollenspiele spielen wollte, dürfte heutzutage kaum noch jemandem passieren. „Das Schwarze Auge“ oder „Dungeons & Dragons“ sind inzwischen Teil der Popkultur geworden. Die meisten Menschen unter sechzig haben schon einmal etwas von Rollenspielen, Charakterklassen oder Erfahrungspunkten gehört.
Das war in den Siebzigern und Achtzigern völlig anders. Fantasyspiele, bei denen jeder Beteiligte die Rolle eines Zauberers oder Kriegers übernahm und dann gemeinsam mit anderen Abenteuer erlebte, waren damals etwas gänzlich Neues. Der Begriff „Spiel“ bezog sich Mitte der Siebziger ausschließlich auf Brett-, Würfel- oder Kartenspiele. Entsprechend reagierten die meisten Menschen, auf „Dungeons & Dragons“ spielende Teenager so, wie sie auf Neues meistens reagieren: mit Unverständnis und Angst.
Daniels Mutter beruhigte sich seinerzeit übrigens erst, nachdem sie mit der Mutter eines anderen Rollenspielers gesprochen hatte. Als sie begriff, dass ihr Sohn Orangensaft trinkend in einem Hobbykeller herumhockte, während andere Teenager kiffend die Hamburger Reeperbahn unsicher machten, gefielen ihr Rollenspiele plötzlich viel besser.
Fast vier Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von „Dungeons & Dragons“ durch die Amerikaner Gary Gygax und Dave Arneson ist es heute kaum noch vorstellbar, dass es Rollenspiele als Form des Eskapismus einmal nicht gab. Zwar ist die Zahl jener, die sich mit einem dicken Stapel Spielbücher, Bleistiften und Würfeln an den Küchentisch setzen, um Orks und Drachen zu erschlagen, inzwischen rückläufig – dafür ist die jener, die dies mithilfe des Computers tun, gigantisch. Sogenannte Massively Multiplayer Online Role Playing Games (MMORPG) wie „World of Warcraft“ oder „Eve Online“ haben weltweit über 15 Millionen Spieler. Allein in Deutschland dürfte die Zahl der Computerrollenspieler im Millionenbereich liegen.
Dank des Internets ist die Idee, sich online eine zweite Identität zuzulegen und virtuelle Welten zu durchstreifen, für Millionen von Menschen selbstverständlich geworden. Sie ergab sich teilweise aus den
Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Technologie. Vor allem aber stammt die Idee der virtuellen Welt aus jenen Rollenspielen, die in den Achtzigern und Neunzigern zu einer der populärsten Spieleformen wurden.
MMORPGs haben weltweit über 15 Millionen Spieler
Rollenspiele waren deshalb so erfolgreich, weil sie etwas vorwegnahmen, das ohne für alle verfügbares Internet nicht möglich war: Sie schufen eine gemeinsame virtuelle Erfahrung. Zu fünft oder sechst saß man zusammen, als Elf, Zwerg oder Waldläufer, und ließ sich von einem Spielleiter durch eine Geschichte führen. Zufallselemente wurden durch Würfel simuliert. Es war wie ein Onlinespiel, nur eben ohne Computer.
Die Grundideen des Rollenspiels – von Charakterklassen über Stufen (Levels) bis hin zu Belohnungssystemen (Erfahrungspunkte) – finden sich heute in fast allen Computerspielen und Onlinesimulationen. Das liegt daran, dass jene Nerds, die in den vergangenen Jahren mit dem Aufstieg von Computer und Internet gesellschaftlich und wirtschaftlich an Einfluss gewonnen haben, mit Rollenspielen aufgewachsen sind. „Dungeons & Dragons“ (D&D) war, neben dem Homecomputer von Commodore, das Nerdspielzeug par excellence – damit konnten unsportliche Jungs mit zu großen Brillengestellen den muskelbepackten Barbaren geben, durften endlich einmal selbst Helden sein.
Viele Rollenspieldesigner wandten sich später Computerspielen zu. Es ist wohl kein Zufall, dass das legendäre „Deus Ex“, ein Egoshooter mit Rollenspiel- und Stealthelementen, von Warren Spector entwickelt wurde, der jahrelang Pen&Paper-Rollenspiele für TSR geschaffen hat – oder dass viele Level im düsteren „Doom“ ausgerechnet von Sandy Petersen Level entworfen wurden, jenem Spieledesigner, der auch das Pen&Paper-Rollenspiel „Call of Cthulhu“ schrieb.
Ex-Rollenspieler sind überall. Jedes Mitglied der Generation C64 dürfte in seinem Bekanntenkreis zumindest einen haben, der früher „diese Fantasyspiele“ gespielt hat. Etliche bekannte Persönlichkeiten haben früher Rollenspiele gespielt oder spielen sie immer noch, darunter „Simpsons“-Erfinder Matt Groening, der Schriftsteller George R. R. Martin oder die Schauspieler Vin Diesel, Robin Williams und Mike Myers. Auch der Sänger Ozzie Osbourne, der Comedystar Steven Colbert und die Pornodarstellerin Sasha Grey sind erklärte D&D-Fans.
Aber wo kamen Rollenspiele überhaupt her? In diesem Buch geht es nicht nur um die Erfolgsgeschichten von „Dungeons & Dragons“ oder „Das Schwarze Auge“ (DSA) und ihren Einfluss auf die Populärkultur, sondern auch um die Wurzeln des Phänomens.
Sie liegen zum einen in Militär- und Strategiespielen, die sich bis ins alte Preußen zurückverfolgen lassen, und zum anderen in den einzigen virtuellen Welten, die es vor der Erfindung von Rollenspielen und Internet gab: in Büchern. Fantasygeschichten wie der „Herr der Ringe“ waren stets auch Entwürfe ganzer Welten, mit Karten, Göttern, Reichen und Völkern. In ihnen siedelten fantasiebegabte Männer wie der Schuster Gary Gygax ihre ersten Abenteuer an. Sie wollten wie Gandalf oder Conan sein, wie Elric oder Buck Rogers. Und deshalb erfanden sie Spielmechanismen, die es Millionen erlaubten, die Abenteuer dieser Figuren selbst zu träumen und zu erleben. Sie waren die Drachenväter und sind die wahren Helden dieses Buchs.
Die Welt ist eine Scheibe ¦
Vorläufer des Rollenspiels
Baron Reiswitz ¦
Preußens Dungeon Master
Der erste Dungeon Master der Geschichte dürfte Georg Leopold Baron von Reiswitz gewesen sein. Der Kriegsrat entwickelt Anfang des 19. Jahrhunderts für Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, ein Kriegsspiel. Die Erfindung besteht aus einer Reihe von Spielfiguren verschiedener Waffengattungen, ferner quadratischen Bodenplatten, die verschiedene Geländeformen wie Berge, Hügel, Wiesen, Wälder, Siedlungen und Flüsse repräsentieren und die man immer wieder neu zusammensetzen kann. Die Utensilien liegen in mehreren Schubladen eines Möbelstücks, das man leicht für eine Kommode halten könnte. Es befindet sich heute gut erhalten im Besitz der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und steht im Schloss Charlottenburg in Berlin.
Reiswitz erfand den „Vertrauten“ - eine frühe Version des Spielleiters.
Die Deckplatte der Spielkommode lässt sich aufldappen und drehen, sodass man ein in 15 mal 18 quadratische Felder unterteiltes Spielfeld erhält. In elf Schubladen der Kommode liegen quadratische Holzbausteine, aus denen sich ein Spielfeld zusammenbauen lässt.
Außerdem ist da noch das Regelwerk, mit dem der König ein „denkwürdiges Schlachttheater“ in „sein Zimmer zaubern“ kann. So preist Reiswitz seine aus Holz, Papier und Metall konstruierte virtuelle Realität 1812 in der Anleitung an. Eine Besonderheit seines Kriegsspiels hat „Dungeons & Dragons“ stärker als alle anderen Details geprägt: Reiswitz’ Kriegsspiel sieht neben zwei Spielparteien (zwei bis zehn Mitspieler insgesamt) auch eine dritte Funktion vor: den sogenannten Vertrauten. Er „berechnet und bewertet“ als Spielleiter und Recheninstanz die Auswirkungen der pro Spielrunde getätigten Spielzüge, wie der Kulturwissenschaftler Claus Pias Reiswitz‘ Regeln zusammenfasst.
In Reiswitz‘ Kriegsspiel kann in einer Mannschaft ein Oberbefehlshaber mehrere Kommandanten befehligen. Wenn aber ein Blick aufs Spielfeld ergibt, dass der Befehlsfluss unterbrochen ist und die Kommunikation erst wieder hergestellt werden muss, dürfen die Spieler keine Order austauschen – das würde der Situation ihrer Charaktere widersprechen. Außerdem verlangt Reiswitz, dass sich die Mitglieder einer Mannschaft mit kurzen Notizen auf Karten verständigten, damit die Gegenspieler nichts von den internen Absprachen mitbekommen.
Reiswitz arbeitet sehr detaillierte Regeln aus, um bestimmte Abläufe mit reproduzierbaren Ergebnissen zu simulieren. Wie schnell sich bestimmte Einheiten bewegen können, gab Reiswitz für jede Einheit in „Schritt pro Minute“ an – mit speziellen Zirkeln messen die Spieler die Entfernungen auf dem Spielfeld ab. Weitere Einschränkungen: Läuft eine Infanterieeinheit eine Runde lang im Sturmschritt, muss sie sich beim nächsten Zug mindestens eine Gangart langsamer bewegen.
Der Sohn von Kriegsspielerfinder Georg Leopold von Reiswitz entwickelt das Spielsystem weiter. Der junge Leutnant Georg Heinrich Rudolf von Reiswitz systematisiert vor allem den Einsatz von Würfeln. Er legt nach Versuchen auf dem Berliner Schießplatz Mittelwerte zur Wirkung von Waffen fest, verfügt in seiner Neuauflage des Kriegsspiels aber auch, dass man den Zufall einbeziehen muss. Mit einem Würfel werden Abweichungen vom Referenzwert für die Waffenwirkung bestimmt, weil ja Mittelwerte in der Wirklichkeit nie konstant auftreten. In ähnlicher Weise simulieren die meisten Rollenspielsysteme noch heute den Zufall. Auswürfeln müssen die Spieler damals wie heute alles Erdenkliche.
Der König und seine Offiziere sind von den virtuellen Schlachten gefesselt.
Der junge Reiswitz ist mit seinem Kriegsspiel recht erfolgreich – Friedrich Wilhelm III. spielt es wohl wie schon das Vorgängermodell, sein Sohn Wilhelm I. empfiehlt es und drängt so lange, bis es preußischen Offizieren vor 185 Jahren offiziell als Trainingswerkzeug nahegelegt wird.
Damals, zu Reiswitz‘ Zeiten, tauchen nur sehr wenige Menschen in Spielwelten ab. Der König von Preußen war da eine Ausnahme. Das Militär-Wochenblatt berichtet 1874 rückblickend, Friedrich Wilhelm III. habe mit Söhnen, Offizieren und Adjutanten oft bis in die Nacht gespielt, sodass „die sonst zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde, 1/2 11 Uhr, weit überschritten“ wurde. Die erfundenen Welten entwickelten offenbar einen derartigen Sog, dass sich die Spieler die Nächte um die Ohren schlugen.
Die Zeit der Kosims ¦
Krieg als Spiel
Das Reiswitzsche Kriegsspiel war ein Trainingsmittel für Militärs. Zwar hatte Friedrich Wilhelm III. so viel Spaß daran, dass er bis tief in die Nacht spielte, aber im Vordergrund stand der Nutzen, nicht das Vergnügen. Kriegsspiele sollten militärische Konflikte simulieren.
Diese Prämisse behält das Genre über Jahrzehnte bei. In Großbritannien, in den Vereinigten Staaten – wo immer Konfliktsimulationen auftauchen, kommen sie aus einem militärischen Umfeld und sollen dem intellektuellen Training dienen. In Großbritannien veröffentlichen Ende des 19. Jahrhunderts einige Militärs Konfliktsimulationen (Kosims) nach dem Vorbild des deutschen Kriegsspiels. Die britische „Times“ beschreibt eines dieser Werke 1888 so:
„It is to advance strategical studies, to direct the thoughts of officers to the immense importance of well-devised combinations in a campaign, to do for them much of what the Kriegsspiel has done for the officers of the German army, that Lieutenant Snell has proposed his new war game.“
Das ist exemplarisch für die Kosims dieser Zeit: Sie dienen der Ausbildung von Soldaten, Realitätsnähe ist wichtig. Ein Beispiel dafür: Der britische Spieleautor Fred T. Jane entwirft 1898 das Marinekriegsspiel „The Naval War Game“. Darüber hinaus veröffentlicht er Jahrbücher mit technischen Details aller weltweit im Einsatz befindlichen Kriegsschiffe – das war die Keimzelle des heute noch aktiven Rüstungsfachverlags „Jane’s Information Group“. Das Ziel seines Spiels beschreibt Jane so: „The essential idea has been to produce something by which any problems can be worked out with the greatest possible simulation of actuality.“
Um etwas ganz anderes geht es 1913 dem Schriftsteller H.G. Wells in seiner publizierten Anleitung für Kriegsspiele mit Miniaturen namens „Little Wars“. Wells ist der erste Autor, der das preußische Kriegsspiel zu einer reinen Freizeitveranstaltung ohne jeden Vorwand der Nützlichkeit weiterentwickelt. Wells will einfach ein unterhaltsames Spiel schaffen, das „zwei oder vier Amateure an einem Nachmittag und Abend mit Spielzeugsoldaten durchspielen können“, wie er in „Little Wars“ schreibt. Wells ist ein bekannter Schriftsteller in Großbritannien, sein Regelbüchlein erregt 1913 entsprechend viel Aufmerksamkeit. Ein Artikel in der Wochenzeitung „Illustrated London News“ von Anfang 1913 zeigt Wells bei einer Partie „Little Wars“. Die Zeichnung veranschaulicht, wie das Spiel funktioniert hat: Der Autor sitzt auf dem Fußboden in einer Spiellandschaft mit Bäumen, Häusern, Kavallerie und Kanonen (die tatsächlich Spielzeugkatapulte sind).
Am Ende seiner kleinen Spielanleitung schreibt Wells einen „beunruhigenden und ärgerlichen Satz für die Bewunderer und Praktizierenden des Großen Kriegs“: „Wer ‚Little Wars‘ drei oder vier mal gespielt hat, erkennt, was für eine verpfuschte Angelegenheit der Große Krieg sein muss“, mit all den „zerschlagenen und blutüberströmten Körpern, zerstörten Gebäuden und alltäglichen Grausamkeiten.“
Beim Spielablauf mischt Wells das klassische rundenbasierte Hin und Her mit einem beschleunigenden Regelelement, das man vielleicht als Vorgriff auf Echtzeitstrategiespiele sehen kann: Wells‘ Regeln schränken die Zeit ein, die Spieler haben, um ihre Figuren zu bewegen: „Etwa eine Minute sollte einem Spieler zugestanden werden, um 30 Mann zu bewegen und dann noch eine Minute für jede Kanone. Für einen Spielzug mit 110 Mann und drei Kanonen sollte der Spielleiter einem Spieler also sieben Minuten zugestehen.“
Erst geht es um militärische Erziehung, später ums reine Vergnügen.
Anders als die preußischen Militärs, die beim Kriegsspiel die Fitness und Moral einzelner Truppenteile mit verschiedenen Zahlenwerten differenziert angaben, will Wells das Spiel so weit es geht vereinfachen, um es massentauglich zu machen. Wells schreibt: „Während wir die Landschaft der Spielfläche perfektioniert haben, strichen wir aus dem Spielablauf alle Eintönigkeiten, Unklarheiten und Sackgassen.“ Der Einfachheit halber habe man sich entschieden, dass „jeder Mann gleich geschickt und mutig“ sein solle.
Diese Erkenntnis Wells‘ ist wichtig für die weitere Entwicklung und spätere Popularisierung der Tabletop- und Rollenspiele: Der Game-Designer erkennt, dass der Entwickler eines Unterhaltungsprodukts ein anderes Ziel hat als Militärs beim Kriegsspiel. Wells will nicht die bestmögliche Simulation, sondern ein funktionierendes, also unterhaltendes und fesselndes Spiel schaffen.
In den USA wird das preußische Kriegsspiel 1879 populär. Damals versucht der Offizier und West-Point-Absolvent Charles Adelle Lewis Totten Konfliktsimulationen als Trainingselement zu etablieren. 1880 erscheint sein Buch „Strategos“. Der Offizier widmet es den „American Soldiers, from an interest to whose improvement the following pages have derived“. Von Tottens Kriegsspieladaption lässt sich David Wesely bei seinem Dungeons&Dragons-Vorgänger „Braunstein“ inspirieren. „Strategos“ hat einige Elemente mit dem sechsundneunzig Jahre später erschienenen „Dungeons & Dragons“ gemeinsam:
~ Es gibt einen Schiedsrichter, der als Schnittstelle der Spieler zur Simulation dient: „The decision of the Referee will in all cases be final, and should not be questioned. He should, however, generally conform to the rules and methods herein given, and, whenever for good cause he differs therefrom, he should give his reasons.“ Ganz ähnlich ist die Rolle des Dungeon Masters in D&D.
~ In „Strategos“ geht es um Wahrscheinlichkeiten. Truppenteile haben im Kampf je nach Art der gegnerischen Einheit eine bestimmte Chance auf einen Sieg. Ähnlich ist es in „Dungeons & Dragons“ und allen späteren Rollenspielen, gleich ob analog mit Dungeon Master oder am Computer: Bei den allermeisten Handlungen hat man nicht jedes Mal Erfolg. Wahrscheinlichkeiten führen zu unterschiedlichen Resultaten, manches klappt bei dem einen Spieler, während es bei dem anderen schiefgeht. Rollenspiele funktionieren wie Tottens Konfliktsimulation, weil die Erfolgschancen im Regelwerk nachvollziehbar festlegt sind. „Strategos” ist Simulation per Statistik, wie Totten im Vorwort schreibt: „Its ‚Rules and Tables‘ posses a value which is entirely independent of their mere use in the game-room. Considered thus independently, they suggest a method of studying the true bearing of military statistics upon operations of war, …“
~ Über den Erfolg von Angriffen wird in „Strategos“ per Würfel entschieden. In Tabellen ist für jede Wahrscheinlichkeit notiert, mit wie vielen Würfen was zu werfen ist. Ein Beispiel aus den „Strategos“-Regeln für den Ablauf eines Angriffs: „The chances stand 3:2 in favor of Blue. Hence following Rule VIII Blue is entitled to three throws and Red to two, and, since Blue is acting upon offensive, he will throw first.“
Konfliktsimulationen für Zivilisten macht Charles Roberts 1952 zu einem Geschäft. Er hat in der US-Armee gedient, arbeitet in der Werbebranche und ist Reservist eines Infanterieregiments der National Guard. Roberts will Taktik trainieren und bastelt sich in Ermangelung von Alternativen selbst eine Konfliktsimulation. Von 1954 an verkauft er eine zweite Version seines „Tactics“ getauften Spiels direkt an Kunden. Die Nachfrage ist nicht groß, aber größer, als Roberts erwartet hat. Er erinnert sich 1983 so an die Anfänge seines Spieleverlags Avalon Hill:
„Almost as a lark, in 1954 I decided to publish ‚Tactics‘ as a part time venture under the corporate name The Avalon Game Company, the name coming from the site of an historic village near my home. Memory, in the absence of records, tells me about 2,000 games were sold and the effort either netted or lost thirty dollars. I learned something about the marketing of games in this reconnaissance-inforce and four years later decided to have a go on a larger and more serious scale. Needing a new charter, I applied for the same name. At the last minute a conflict was apparent with a local firm and the name Avalon Hill was selected simply because I live on it (…) to this day, as a matter of fact. Let me emphasize that Avalon Hill was not founded to pioneer in wargaming. I was convinced that there was a market for realistic games of specialty format, designed to appeal to those who enjoy intellectual challenges and prefer competition wherein skill is a primary virtue.“
2000 verkaufte Spiele in vier Jahren – das klingt nicht nach viel, aber man muss bedenken, dass Mitte der fünfziger Jahre Konfliktsimulationen als Gesellschaftsspiel nicht existierten. Nahezu zeitgleich mit Roberts „Tactics“ entwickelt Allan Brian Calhamer sein Gesellschaftsspiel „Diplomacy“, das mit seinen freien Verhandlungsphasen ebenfalls das Brettspielgenre revolutioniert genau wie Roberts Übertragung des Kriegsspiels in ein Brettspiel-Format.
1958 gründet Roberts seinen Verlag Avalon Hill. Im selben Jahr hatte er einen enormen kommerziellen Erfolg mit dem historischen Brettspiel „Gettysburg“, wie „Tactics“ eine brettspielartige Adaption der Prinzipien von Konfliktsimulationen. „Gettysburg“ ist von Erscheinen an erfolgreich. Im November 1958 berichtet das Magazin „Newsweek“ über das Spiel; Avalon Hill wächst, 1961 hat Charles Roberts 15 Angestellte. „Gettysburg“ ist das Spiel, das die „Dungeons & Dragons“-Macher zuerst für Konfliktsimulationen begeisterte. Dave Arneson und Garry Gygax begannen ihre Spielerkarrieren beide als Teenager mit „Gettysburg“:
Die Schlachten sind historisch, aber es geht ums „Was wäre wenn?“
~ Arneson erinnert sich 2004: „My parents bought me a wargame by the Avalon Hill Company called ‚Gettysburg‘. I thought there were a lot of possibilities there and I liked it a lot. I even talked my friends into learning how to play it. There was only one game a year that came out from Avalon Hill, though, so we started to design our own games.“
~ Gygax berichtet von seinem ersten Kontakt mit dem Genre: „Finally, in 1958 I came upon The Avalon Hill Company’s board wargame, ‚Gettysburg‘. That sealed my fate, for thereafter I was a wargamer and eventually a gamer in the larger sense.“
In „Gettysburg“ und „Tactics“ stellen die Spieler durch Würfeln fest, ob ein Angriff glückt. Die vom Einheitentyp (und bisweilen auch von weiteren Faktoren) abhängigen Wahrscheinlichkeiten werden in der Combat Results Table in nötige Würfe für Sieg oder Niederlage übersetzt.
Avalon Hill schaffi und bedient eine Nische im Spielmarkt. Einige Zehntausend Kunden kaufen zuverlässig die neuen Konfliktsimulationen der Firma, die anderen Brettspiele laufen nicht immer so erfolgreich. Vertriebsprobleme und dadurch entstandene Schulden (die Produktion der Weihnachtsware wurde per Kredit vorfinanziert) zwingen Roberts, seine Firma Ende 1963 an den größten Gläubiger, eine Druckerei zu übertragen. Im Mai 1964 erscheint das noch von Roberts erdachte Magazin „The General“ in dem Verlag unter neuer Eigentümerschaft. „The General“ ist für die Entstehung von Rollenspielen mindestens ebenso wichtig wie „Gettysburg“. Das Monatsheft vernetzte die kleine, an Konfliktsimulationen interessierte Spielerschaft. Schon in der ersten Ausgabe von „The General“ findet sich die für Community-Bildung so wichtige Rubrik „Opponents Wanted“, in der Spieler Gleichgesinnte suchen.
Charles Roberts entwickelt auch nach dem Verkauf seines Verlags noch Spiele, sein Geld verdient er aber als Werber und Verleger. Er erinnert sich 1983 ohne Bitterkeit an seinen verschlungenen Lebenslauf:
„I spent several years in big corporate life, followed by about ten years as head of the publishing division of a Baltimore house specializing in publishing to the Catholic market and, for the last ten years, as ownerwith-wife of Barnard, Roberts & Co., Inc., again publishing primarily to the Catholic market. Thus for some twenty years I have been a publisher to the Catholic Church even though not a Catholic and not, shall we say, with a reputation of being over religious. For the record, I love it. Irony and history are handmaidens. Catonsville was an unknown small town on the outskirts of Baltimore until the Berrigans and their Catonsville Nine put it on the map, taking issue with their society and own Church. Catonsville is also the birthplace of modern wargaming, sired by a non-Catholic who has spend most of his career as a servant to the same Church. As a publisher, one has to say that it would make poor fiction indeed.“
Avalon Hill landet nach vielen wechselhaften Geschäftsjahren beim US-Spieleriesen Hasbro. Der Konzern kauft 1998 die Rechte an allen Spielen und Marken. Bei Hasbro ist Avalon Hill auch mit dem ersten Rollenspielverlag überhaupt vereint: TSR. Die Firma, welche die „Gettysburg“-Fans Arneson und Gygax gründeten, um Rollenspiele zu verlegen, landet 1999 nach einigen Umwegen ebenfalls bei Hasbro. Ohne Roberts hätte es „Dungeons & Dragons“ wohl nicht gegeben.
Diplomacy ¦
Wie ein Strategiespiel zum ersten Multiplayer- und Community-Game wurde
1957 erscheinen zwei Brettspiele, in denen es um die Eroberung von Ländern und Kontinenten ging: „Risiko“ und „Diplomacy“. Auf den ersten Blick scheinen sie recht ähnlich. Es gibt bei beiden eine Weltkarte und Spielsteinchen für Armeen. In beiden Fällen lautet das Spielziel, die militärische Oberhand zu gewinnen. Dennoch könnten die Spiele kaum unterschiedlicher sein: „Risiko“ ist vergleichsweise simpel, ein netter Zeitvertreib für einen regnerischen Samstagnachmittag. „Diplomacy“ hingegen ist ungeheuer vielschichtig, erfordert Verhandlungsgeschick, Weitsicht und Skrupellosigkeit.
Erfunden hat das Spiel der HarvardAbsolvent Allan Calhamer. Schon in seiner Jugend interessiert sich der Chicagoer für Außenpolitik. Besonders fasziniert Calhamer die prekäre Machtbalance zwischen den Nationalstaaten im Europa des frühen 20. Jahrhunderts. Während seines Geschichtsstudiums erinnert er sich eines Tages an eine alte Karte, die er einst auf dem Dachboden seines Elternhauses gefunden hat und auf der längst verschwundene Staaten verzeichnet waren: Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich. „Ich dachte damals, das ist Stoff für ein tolles Brettspiel“, sagt er fünfzig Jahre später.
Zunächst erscheint das Spiel 1957 im Selbstverlag, Auflage: 500 Stück. Das ist angesichts des späteren Erfolgs verwunderlich, doch „Diplomacy“ ist eben, im Vergleich zu „Risiko“ oder „Monopoly“, vergleichsweise schwere Kost. Die Regeln des Spiels sind noch relativ einfach: Sieben Spieler übernehmen die Rollen von europäischen Mächten wie Russland, dem Deutschen Reich oder England, anno 1900. Zufallselemente durch Würfel oder Aktionskarten gibt es nicht. Alle Bewegungen und Schlachtentscheidungen sind somit theoretisch vorhersehbar.
Der Clou: Anders als bei praktisch allen anderen Strategiebrettspielen finden die Züge der Parteien bei „Diplomacy“ simultan statt. Vor der Bewegung der Armeen gibt es in jeder Spielrunde eine sogenannte Verhandlungsphase. Sie ist das eigentliche Herzstück des Spiels und war Calhamers Versuch, klassische Realpolitik à la Bismarck darzustellen. Jeder der Spieler kann mit den anderen Vereinbarungen treffen und Allianzen schmieden, öffentliche wie geheime. Eine Garantie, dass sich die anderen Parteien an diese Abreden halten, gibt es freilich nicht, „ganz wie im richtigen Leben“, wie „Diplomacy“-Koryphäe Edi Birsan es ausdrückt. Täuschung und Wortbruch sind ausdrücklich erwünscht.
„Jede dieser Verhandlungsphasen ist ein Adrenalinschub“, sagt Julian Ziesing, „Diplomacy“-Weltmeister des Jahres 2008 und Mitherausgeber des deutschen „Diplomacy“-Magazins „Die Tatz“. Wer das Spiel einmal gespielt hat, weiß zudem um seine Freundschaften gefährdende Wirkung: Während der Verhandlungsphase hat einem ein guter Kumpel unverbrüchliche Treue geschworen – und beim Aufdecken der Spielzeuge dämmert einem plötzlich, dass man nach Strich und Faden hintergangen wurde.
Erst 1959 findet Calhamer einen Spielehersteller, der „Diplomacy“ vertreiben will. Bis heute wurden geschätzte 300.000 Spiele verkauft. Das Spiel hat eine erlesene Fangemeinde: Henry Kissinger soll es als außergewöhnlich realistische Darstellung von Außenpolitik bezeichnet haben. Und ein Kolumnist des „London Evening Standard“ schrieb: „Man sagt, dass die Kennedys es im Weißen Haus spielen. Und ich höre, die NATO bestehe darauf, dass sie (den Präsidenten) auch ab und zu gewinnen lassen.“
Mit Fantasy-Rollenspielen wie „Dungeons & Dragons“ hat „Diplomacy“ auf den ersten Blick wenig gemein. Die Verhandlungsphase ist ein eher nüchternes, geschäftsmäßiges Feilschen. „Niemand schlüpft da in die Rolle des osmanischen Sultans“, wie Ziesing anmerkt. Dennoch halten Spielekenner „Diplomacy“ für einen der geistigen Väter des Rollenspiels. „Dippy ist das wichtigste Brettspiel der siebziger Jahre“, meint etwa Werner Fuchs, Miterfinder von „Das Schwarze Auge“ und langjähriger Beobachter der Rollenspielszene. Die „Freeform-Interaktion“ des Spiels habe völlig neue Möglichkeiten eröffnet.
Das bleibt in den Sechzigern und Siebzigern auch Wargamefans und Rollenspielpionieren wie Gary Gygax oder Steve Perrin („Runequest“) nicht verborgen. Beide spielen mit Hingabe „Diplomacy“ und entwerfen sogar eigene Brettvarianten. Der Brite Don Turnbull, der später für die Spieleriesen Games Workshop und TSR arbeiten wird, gibt ab 1969 ein eigenes „Diplomacy“-Magazin namens „Albion“ heraus, von dem etwa 50 Ausgaben erscheinen.
D&D-Co-Designer Dave Arneson unterstrich später immer wieder, wie wichtig Strategiespiele wie „Diplomacy“ für die Genese von „Dungeons & Dragons“ waren: Irgendwann gaben „wir unseren Generälen Persönlichkeiten. Und dann fiel uns auf, dass sich die Spieler mit ihnen identifizierten. Und so rollenspielten wir Diplomatie und das Verhalten auf den Schlachtfeld.“
Auch andere Rollenspieldesigner der ersten Stunden schätzten Calhamers Verhandlungssimulation. Steve Jackson, Erfinder der „Fighting Fantasy“-Spielbücher, erinnert sich, dass er „Diplomacy“ Anfang der Siebziger während seines Studiums an der Universität Keele entdeckte. „Wir hatten Sessions, die die ganze Nacht hindurch gingen.“
Auch aufgrund eines anderen Aspekts ist das Spiel ein Wegbereiter: Für eine „Diplomacy“-Runde braucht man sieben Spieler, weswegen viele Fans in Publikationen wie „Graustark“ oder „Orthanc“ (benannt nach dem Sitz des Zauberers Saruman im „Herrn der Ringe“) nach Gleichgesinnten in ihrer Gegend suchen. Dadurch bilden sich landesweite Netzwerke; man besucht einander oder triffi sich auf Conventions.
Gary Gygax veröffentlicht 1966 in der Novemberausgabe des Magazins „The General“ folgende Kleinanzeige:
„Opponent wanted for face-to-faceplay. Any AH Wargame, other type wargame or any form of chess (Shog preferred). Will cooperate on game design. Gary Gygax, Lake Geneva, Wis. Phone 248-4663 (330 Center Street)”.
Es ist die erste Mehrspieler-Simulation, bei der die Kontrahenten mitunter auf verschiedenen Kontinenten sitzen.
Gygax’ Anzeige ist eine von Dutzenden im „General“: Clubs suchen Mitglieder, Spieler suchen Herausforderungen, Käufer eines neuen Spiels suchen Mitspieler. Das Magazin des Spieleverlags Avalon Hill, vor allem aber die vielen kleineren Fanzines der Kriegsspieler, sind die Internetforen der sechziger Jahre. Hier vernetzen sich Menschen mit einem Faible für Simulation.
Gygax etwa schreibt Strategieartikel für die „Diplomacy“-Fanzines „Panzerfaust“ und „El Conquistador“. Die Zahl dieser als Kopien oder Matrizen vertriebenen Titel wächst in den sechziger und siebziger Jahren auf geschätzte 75 an. Die Leser diskutieren Themen wie die optimale Eröffnungsstrategie für Russland oder die Feinheiten der British Sea Power.
In Turnbulls „Albion“ finden sich Adressen von Spielern aus dem gesamten Vereinigten Königreich – Schottland, Essex, Cheshire. Turnbull vernetzt Spieler im ganzen Land. Viele spielen auf dem Postweg, jeder neue Zug kommt in einen Briefumschlag und geht an „Albion“. Turnbull veröffentlicht dann die Resultate.
„Diplomacy“ ist nicht das erste Spiel, das auf diese Weise gespielt wird – diese Ehre gebührt eindeutig Schach. Aber Dippy war das erste Multiplayerspiel der Geschichte, eine Art „Command & Conquer“ ohne Computer. Partien wurden auf der ganzen Welt gespielt, Amerikaner spielten gegen Deutsche, Australier gegen Japaner. Heute sind transnationale Gamesitzungen über das Internet gang und gäbe. Aber ihre Vorläufer waren die Dippy-Fanzine und „Diplomacy“-Partien per Play-By-Mail (PBM).
Turnbull ist gewissermaßen ein menschlicher Zentralcomputer, der die Partien hostet. Später wird er als Angestellter des britischen D&D-Importeurs Games Workshop sein Dippy-Netzwerk nutzen, um die noch unbekannten Rollenspiele zu popularisieren.
Teilweise überschneiden sich Post- und Fantasyspiele sogar. In den siebziger Jahren laufen in Europa und den USA einige Postspiele mit Fantasyhintergrund. Im deutschsprachigen Raum entwickeln sich Post-Rollenspiele, zum Beispiel das 1972 von Franz Schröpf geschaffene „Ragnarök“ oder das seit 1973 laufende „Kalevala“. In den Vereinigten Staaten betreibt der ehemalige Navysoldat Rick Loomis in Scottsdale (Arizona) ab 1970 Postspiele. Bis heute wickelt er Rollenspiele per Post ab. Sein Spiel „Heroic Fantasy“ nennt er ein „recht einfaches kampftasiertes Rollenspiel“: „Man kann bis zu 15 Charaktere haben, die durch das Dungeon laufen. Es gibt Magier, Trolle, Riesen. Es gibt Schätze und Fallen. Man kann sie als Gruppe bewegen oder aufteilen. Charaktere haben zwei Eigenschaften: Stärke und Ausdauer. Man geht von Raum zu Raum, triffi Monster, sammelt Schätze, findet ab und an Zaubertränke, die einen für zehn Runden unsichtbar machen.“ Man kann auch andere Spieler in dem Dungeon treffen, nicht anders als in Online-Rollenspielen wie „World of Warcraft“.
Neben solchen kommerziellen PBMs, bei denen die Spieler vor allem mit dem Anbieter in Kontakt traten, existierten aber vor allem sehr viele von freiwilligen Spielleitern abgewickelte Dippy- und Kosim-Varianten, deren Ergebnisse in Fanzines veröffentlicht wurden.
Die Spieler schickten dem Spielleiter ihre Züge per Post, die große Entwicklung innerhalb der Spielwelt aber wurden in einem an alle Mitspieler verschickten Heft beschrieben. So vernetzte sich die Spielersubkultur, das Publikum für Rollenspiele entstand.