ÜBER DAS BUCH

Eine junge Frau wird tot aufgefunden – vergewaltigt, ermordet, brutal entstellt. Ihr jetziger Partner und ihr Ex geraten schnell unter Tatverdacht. Auffällige Einschnitte am Körper der Toten lenken die Ermittlungen in eine neue Richtung. Antje Servatius und ihre Kollegen vom KK11 stoßen auf einen Mord nach identischem Muster, begangen vor über 20 Jahren. Dann wird eine zweite Leiche gefunden – auch hier diente offenbar eine frühere Tat als Vorbild. Wer kopiert alte Morde? Und warum? Für die Ermittler beginnt die Jagd auf einen perfiden Serientäter und ein Wettlauf mit der Zeit ...

ÜBER DIE AUTOREN

Peter Strotmann lebt und arbeitet in Köln. Tätigkeiten als Journalist, Redakteur, Deutschdozent, Dreh- und Jugendbuchautor. DIE KOMMISSARIN UND DER LANGE TOD ist sein erster Kriminalroman.

Annette Neubauer lebt als freie Kinderbuchautorin in Köln. Ihre Titel wurden in über 20 Sprachen übersetzt. DIE KOMMISSARIN UND DER LANGE TOD ist ihr erster Krimi für Erwachsene.

STROTMANN  NEUBAUER

 

Die

KOMMISSARIN

und die

blutigen

SPIEGEL

KRIMINALROMAN

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1

Sie hatte vor der Gefahr fliehen wollen – und war ihr direkt in die Arme gelaufen.

Wie lange sie bewusstlos gewesen war, wusste sie nicht. Nachdem sich der Arm um ihre Kehle gelegt hatte, war ihr in Sekundenschnelle schwarz vor Augen geworden. Als sie dann aus der Betäubung erwachte, blieb es dunkel. Sie wollte die Lider öffnen, es ging nicht. Ihre Augen waren mit irgendetwas bedeckt.

Und sie war gefesselt.

Jemand hielt sie fest. Ein Mann, er musste stark sein. Er hielt sie, an der Taille gepackt, in der Luft, ihre Füße hatten keinen Halt.

Sie wehrte sich, so gut es ging mit den gefesselten Händen. Wie wild trat sie mit den Beinen um sich, ohne etwas zu treffen. Und hörte sofort damit auf, als sich die Schlinge um ihren Hals legte. Eine Sekunde später standen ihre Füße auf einem festen Untergrund.

Die Schlinge blieb. Das Dunkel vor ihren Augen auch.

Der Geruch des Ortes war seltsam vertraut. Es roch nach Feuchtigkeit, auch nach Reinigungsmitteln. Dagegen löste der schwache Geruch, den der Mann verströmte, eine Mischung aus Schweiß und Deo und Aftershave, nichts bei ihr aus, ebenso wenig der Griff seiner Hände. War es etwa ihr Bruder? Sie wusste nicht mehr, wie er roch; es musste Jahre her sein, dass er ihr das letzte Mal körperlich nah gewesen war. In der Kindheit wahrscheinlich. Später hatten sie gar nichts mehr miteinander zu tun gehabt. Inzwischen wieder, aber nur über Anwälte.

»Holger!!« Sie rief seinen Namen, immer wieder. Der Mann, dessen Atem sie in ihrem Nacken spürte, kicherte nur leise. Sie schrie wieder nach Hilfe, immer lauter. Er kicherte wieder – und nahm ihr die Augenbedeckung ab.

Jetzt sah sie endlich, wo sie war. Und hörte zu schreien auf, weil es sinnlos war. Sie stand im leeren Becken des Swimmingpools, im Anbau ihres eigenen Hauses. Des Hauses, das sie von den Eltern geerbt hatte und in dem sie erst seit kurzer Zeit wohnte. Die Tür, die zum Garten führte, die schmalen Fenster, die in einer langen Zeile unter dem Flachdach entlangliefen, waren geschlossen. Und das Haus lag weit von der Straße entfernt. Niemand würde sie hier hören können.

Hinter ihr schepperte es metallisch. Der Mann hatte die Haushaltsleiter zusammengeklappt, auf der er offenbar gestanden hatte. Nun verhallten seine Schritte.

Draußen war es taghell. Stunden mussten vergangen sein, seitdem er sie überfallen und betäubt hatte.

Sie sah jetzt – aus den Augenwinkeln heraus, wegen der Schlinge konnte sie den Kopf nicht weiter senken –, dass sie nicht auf dem Boden des Pools stand, sondern auf einem Stuhl. Und sie begriff, wo der Strick befestigt war. Woran sie baumeln würde, wenn nicht rechtzeitig Rettung käme. An der Neptunstatue, die ihr Vater in einem Anfall von Größenwahn in der Mitte des Beckens hatte errichten lassen. Neptun mit seiner Harpune, horizontal und weit ausgestreckt, wie auf der Jagd nach einem Meeresungeheuer. An dieser Harpune musste der Strick – oder woraus immer die Schlinge war, die er um ihren Hals gelegt hatte – geknüpft sein.

Ausgerechnet Neptun.

Die Schlinge saß straff. Aber nicht zu straff. Noch konnte sie atmen. Die Schlinge würde sich erst festziehen, wenn sie nicht mehr stehen konnte. Sie fragte sich nur, wie lange sie zum Stehen noch die Kraft haben würde, ihre Füße fühlten sich schon taub an. Ob jemand sie vorher finden würde?

Die Putzfrau! Die Putzfrau würde sie finden! Wenn jetzt Sonntag war, dann würde morgen Steffi kommen.

Bis morgen musste sie durchhalten.

In diesem Augenblick gab es ein Geräusch, ein mattes Knirschen, und der Stuhl sackte ein Stückchen ab. Nur auf einer Seite, nur ein, zwei Zentimeter. Aber sofort nahm der Druck um ihren Hals zu.

Der Boden, der Untergrund, auf dem sie stand, gab nach. Wie lange sie sich noch halten konnte, hing also nicht von ihr und ihrer Kraft ab.

Wieder begann sie zu schreien.

2

»… kann ich wohl mit Fug und Recht sagen, dass Magnus Reiniger seinem Namen alle Ehre gemacht hat. Er war immer ein Großer in seinem Fach. Und wir alle erinnern uns gerne an die langen Jahre zurück, da er an unserem Rechtsmedizinischen Institut tätig war.«

Hinrichsmeyer machte eine kurze Pause, um an seinem Wasserglas zu nippen. Antje Servatius ruckelte unwillentlich auf ihrem Klappstuhl herum – als sie in dem salonartigen Raum Platz hatte nehmen wollen, waren alle bequemen Stühle schon besetzt. Jedoch war es nicht allein das harte Holz, das für ihre Unruhe sorgte. Die Kriminalhauptkommissarin fand Reden prinzipiell langweilig. Aber was Norbert Hinrichsmeyer, der Leiter der Kölner Rechtsmedizin, seit quälend langen zwanzig Minuten über seinen ehemaligen Kollegen von sich gab, war besonders uninspiriert, eine einzige Reihung von Gemeinplätzen und Plattitüden, während er sich verzweifelt an die Blätter klammerte, von denen er ablas. Keine einzige Anekdote, nichts, was einen Lacher eingebracht oder auch nur für einen Moment ein beifälliges »Ja, so ist er, unser Magnus«-Nicken unter den Anwesenden hervorgerufen hätte. Da hatten selbst die vorgefertigten Geburtstagreden aus dem Internet mehr Esprit. Servatius fragte sich, wie lange die Tortur wohl noch dauern mochte.

Der Mann, dem die Rede wie die ganze Feier galt, machte allerdings keinen gequälten Eindruck. Sie konnte ihn gut beobachten, da sie nur eine Reihe hinter ihm saß, um einige Stühle versetzt – das markante, junggebliebene Gesicht, der aufmerksam gereckte Kopf, die gefalteten Hände auf den übergeschlagenen Beinen. Eine Autorität, die in sich ruhte. Falls Prof. Dr. Magnus Reiniger gelangweilt war, verbarg er das sehr gut.

Auch die übrigen Anwesenden machten möglichst gute Miene zum zähen Spiel. Insgesamt mochten es vielleicht dreißig sein. Einige von ihnen waren Reiniger über das Golfspielen verbunden, so viel hatte Servatius sich aus einigen Satzbrocken zusammengereimt. Die meisten anderen kamen wohl aus der Rechtsmedizin. Nicht alle waren der Einladung gefolgt, das wusste sie von Hinrichsmeyer. Man hatte sich dort gewundert, dass es überhaupt eine Einladung gegeben hatte, schließlich war es bereits rund zehn Jahre her, dass Reiniger das Institut verlassen hatte. Aber vielleicht, so mutmaßte Hinrichsmeyer, wollte Reiniger alte soziale Kontakte reaktivieren – seine Frau war vor einiger Zeit gestorben. Die Einladung ans KK 11 hatte ausdrücklich auch Antje Servatius gegolten. Sie empfand ihre Teilnahme dennoch als reine Pflichtübung. Außerdem konnte es vielleicht einmal von Nutzen sein, die ehemalige Lichtgestalt der Rechtsmedizin persönlich zu kennen.

Sie spürte, wie sich ein Schweißtropfen den Weg ihre Wirbelsäule hinab suchte. Es war nicht der erste heute Abend. Sie unterdrückte den Impuls, sich mit dem Handrücken einfach auf den Rücken zu patschen. Die Flügeltüren, die hinter Hinrichsmeyer und seinem Podium auf den Balkon führten, waren weit geöffnet, dennoch stand die Luft im Raum. Die Zierpflanzen, die zu beiden Seiten der Türen aufgestellt waren, ließen die Blätter hängen. Als sie eintraf, hatte das Thermometer im Wagen knapp über einunddreißig Grad angezeigt. Und das um acht Uhr am Abend. Jetzt, keine Stunde später, war es nur unwesentlich weniger heiß, drinnen wie draußen.

Das Schwitzen lag bei ihr in den Genen, sie kam aus einer Familie der Spontanschwitzer, im Sommer hatte ihr Vater gerne geklagt, ihm breche allein vom Denken der Schweiß aus. Dabei schleppten sie alle, auch das eine Sache der Gene, kein Gramm zu viel mit sich herum. Servatius blickte zur Seite, wo ihr Kollege saß. Bei dem deutlich übergewichtigen Rudi Seidel zeigte sich auch jetzt kein Schweißtropfen auf der Stirn, ganz zu schweigen von Flecken auf dem Hemd, auf dem Rücken oder unter den Achseln. Eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. »Sieh es positiv«, tröstete der Kollege regelmäßig, »Schwitzen ist gesund!« Das mochte ja sein, aber ob das bisschen Plus an Gesundheit die vielen Unannehmlichkeiten im Alltag aufwog? Seidel fing ihren neugierigen Blick auf und schaute sie leicht fragend an. Servatius konzentrierte sich wieder auf Hinrichsmeyer, der seine Rede in der Zwischenzeit fortgesetzt hatte und jetzt tatsächlich zum Ende zu kommen schien.

»… jeden Tag schmerzlich vermisst. Daher, lieber Magnus, wollen wir mit dir nun wenigstens anstoßen auf deinen sechzigsten Geburtstag.«

Der Redner – auch er war inzwischen in Schweiß gebadet – faltete endlich sein Manuskript zusammen, der Jubilar erhob sich und spendete warmen Beifall, dem sich die restlichen circa dreißig Gäste pflichtschuldig anschlossen. Antje Servatius wartete nicht erst ab, bis der Applaus verklungen war, sie ging ins Atrium und nahm sich vom erstbesten Tablett, das ihr hingehalten wurde, ein Glas Mineralwasser. Die Livree des Kellners war so makellos weiß wie die Blusen seiner Kolleginnen. Feines, sauberes Lindenthal. Von ihrem Kollegen Seidel, der wandelnden Enzyklopädie, wusste Servatius, dass der gediegene Stadtteil im Kölner Südwesten durchaus dunkle Flecken auf seiner Weste trug; nur ein paar Villen weiter hatte Adolf Hitler in einem Geheimtreffen mit dem Nationalkonservativen Franz von Papen im Januar 1933 seine Machtübernahme abgesichert.

»Und? Wie fandest du die Rede?« Rudi Seidel stand unvermittelt neben ihr.

»Hmnjaa«, murmelte Servatius in ihr Glas.

»Ah.« Seidel nickte. »Für dich war also noch Luft nach oben.«

»Für mich auch«, bemerkte Bernhard Kniebsch, der Spurensicherer. »Sehr viel Luft.«

»Um nicht zu sagen, ein ganzer Fesselballon voll«, ergänzte der ebenfalls hinzutretende Hinrichsmeyer.

Man stieß an. Erleichtert, dass ihr vorerst alle weitere Konversationspflichten abgenommen waren, sah sich die Kommissarin um. Links und rechts gingen diverse Türen ab. In der Mitte führten breite Stufen weiter nach oben und zurück ins Erdgeschoss. Auch gegenüber dem Salon, zum Garten hin, stand ein Paar Flügeltüren offen. Vom Verkehr auf dem vierspurigen Lindenthalgürtel war trotzdem nichts zu hören. Um diese Abendzeit waren dort nicht mehr viele Pendler unterwegs. Außerdem lag Reinigers Villa in einer Parallelstraße zum ruhigen Stadtwald hin, zusätzlich abgeschottet durch ein großzügiges Grundstück.

Servatius wandte sich, mit Blick auf die Einrichtung, an den Leiter der Rechtsmedizin. »Ich wusste gar nicht, dass man bei euch so viel verdient.«

»Reiniger hat geerbt.« Norbert Hinrichsmeyer schürzte die Lippen; Servatius vermochte nicht zu sagen, ob aus Neid oder weil der Weißwein, an dem er gerade nippte, zu viel Säure hatte.

»Von meiner Frau.« Das Geburtstagskind hatte sich unbemerkt zu der kleinen Gruppe gesellt. »Meine Frau hat geerbt. Und ich dann von ihr – danke dir für deine Worte, Norbert.« Reiniger schüttelte Hinrichsmeyer die Hand. »Sie bedeuten mir viel.«

Das war entweder sehr borniert, befand Servatius, oder sehr höflich.

»Und Sie sind also die Neue?« Reiniger schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln.

»Neu trifft es nach fünf Jahren wohl nicht mehr ganz.« Sie lächelte zurück.

»Pardon. Wenn man nicht mehr dabei ist, gehen die Jahre nur so dahin. Sie sind jedenfalls diejenige, die uns, besser gesagt: meinen Nachfolgern die Leichen serviert.«

»Mir wäre es ja lieber, wenn ich nichts hätte, was ich ihnen servieren kann.« Servatius lächelte. Reiniger hob sein Glas, um mit ihr anzustoßen. Sie stutzte; auch er trank Mineralwasser.

»Ich gehe morgen ins Krankenhaus.« Reiniger schien die Gedanken der Kommissarin erraten zu haben.

»Hoffentlich nichts Ernstes?« Rudi Seidel furchte besorgt die Stirn.

»Nur eine Routinesache.« Reiniger lächelte in die Runde. »In meinem Alter soll man froh sein, wenn es nur Routinesachen sind. Ihr entschuldigt mich …« Mit einem angedeuteten Kopfnicken entfernte er sich, um ein paar Spätankömmlinge zu begrüßen.

Servatius nutzte die Gelegenheit und machte sich auf den Weg zur Gästetoilette, die sich ihrer Erinnerung nach direkt unten neben dem Eingang befand. Die durchgetretenen Holzdielen knarzten dezent, als sie die Treppe herunterging. Die Villa hatte, wie sie schon bei ihrer Ankunft bemerkt hatte, in den letzten Jahren anscheinend jeder Modernisierungsmaßnahme getrotzt. Sie wirkte leicht in die Jahre gekommen, auf durchaus einnehmende Art und Weise.

Da das Erdgeschoss eigentlich ein Hochparterre war, lag die kleine Toilette noch einmal ein paar Stufen tiefer, gewissermaßen auf halber Treppe – auch das gefiel Servatius, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Während sie sich erleichterte, blätterte sie in der vielseitigen Klolektüre herum: eine medizinische Fachzeitschrift, ein Flyer zum sommerlichen Kulturprogramm der Stadt Köln, die doppelseitige Werbung eines Baumarktes, ein Wanderprospekt – der Frühpensionär war naturverbunden.

Ein Scheppern ließ sie aufschrecken. Das Handy war ihr aus der Hosentasche gerutscht. Mit Beginn der Rede hatte sie es auf Flugmodus gestellt. Jetzt schaltete sie es aktiv.

Im nächsten Moment zeigte es Anrufversuche an. Drei binnen einer halben Stunde. Alle waren von Heiner Gaarst. Gaarst, der wirklich Neue im Team, so neu, dass Reiniger wahrscheinlich gar nichts von seiner Existenz wusste, daher hatte er ihn auch nicht eingeladen.

Sobald Servatius auf dem kleinen Absatz vor der Toilette stand, rief sie ihn zurück.

»Wir haben eine Leiche. In Ehrenfeld«, sagte Gaarst in der ihm eigenen einsilbigen Art. Um dann plötzlich für seine Verhältnisse regelrecht privat zu werden: »Haben Sie schon zu Abend gegessen?«

Antje dachte an die Tabletts mit den lecker aussehenden Häppchen, die sie, mangels Appetit, alle mit Missachtung gestraft hatte. »Nein.«

»Dann tun Sie’s auch nicht.«

***

Was Antje Servatius bei Leichenfunden im Sommer am meisten zu schaffen machte, waren die Fliegen. Zuerst, im Grunde sogar unmittelbar nach dem Tod, kamen die blau schimmernden Schmeißfliegen, die metallisch goldgrünen Goldfliegen, die Grauen Fleischfliegen. Sie suchten sich die Wunden und Körperöffnungen des Leichnams, um ihre Eier in ganzen Paketen abzulegen. Wenn es sommerlich warm oder sogar heiß war, schlüpften die ersten Larven binnen Stunden. Je wärmer, desto mehr Fliegen. Je mehr Fliegen, desto mehr Maden.

Der Fundort der Leiche lag in Ehrenfeld, in einem Viertel, wo gerade alles im Umbruch war: gestern Gewerbegebiete, heute Leerstand – vielleicht zwischengenutzt –, morgen Wohnanlagen. Die Gegend, in welcher der kleine, geduckte Bau stand, hatte dem Angriff der Abrissbirnen bislang standgehalten. An der wenig befahrenen Straße waren durchweg kleine Gewerbebetriebe ansässig. Wohnhäuser: Fehlanzeige. Der Bau selbst lag, etwas von der Straße zurückgesetzt, zwischen einem Papiergroßhandel und einem Tanzstudio, das laut Aushang an der Tür gerade Sommerpause machte. Ein mit Moos durchsetzter Schotterweg führte zu dem eingeschossigen Flachbau. Die kleinen Fenster erlaubten keinen Blick nach drinnen, sie waren mit dunklem Stoff verhängt. Licht fiel nur durch die großen Fenster im Flachdach herein.

Das Innere musste einmal eine Werkstatt gewesen sein, davon zeugte eine Werkbank, die an der rückwärtigen Wand stand. Auf dieser Werkbank lag die Leiche, auf dem Rücken. Sie war unbekleidet. Der Körper war regelrecht zerfleischt, von einer Unzahl von Stichen und Einschnitten, an manchen Stellen so klaffend und tief, dass der blanke Knochen zutage trat. Dass es sich um eine Frau handelte, ließ sich eigentlich nur noch anhand der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale erkennen. Die Blutlache, in der die Leiche lag, war längst eingetrocknet, ebenso wie das Blut auf dem Steinboden. Auf die dürftig verputzte Wand, von der die Bank ein Stück weit abgerückt war, warfen etliche Blutspritzer ein rostrotes Muster.

»Es sieht so aus, als ob der Fund- auch der Tatort ist«, erklärte Norbert Hinrichsmeyer.

Er war, wie Servatius, Seidel und Spurensicherer Kniebsch, direkt von der Geburtstagsfeier aufgebrochen. Der Jubilar hatte eher Verständnis als Bedauern gezeigt: »Sie tun nur Ihre Arbeit.«

»Todesursache?« Rudi Seidel stellte das unvermeidbare Wort in den Raum.

»Fragt mich nicht«, seufzte Hinrichsmeyer. »Noch nicht. Es können die Stichverletzungen sein oder auch die Schläge.«

Die Schläge. Die gesamte untere Hälfte des Gesichts war förmlich zu Brei zermalmt; von der Wucht war sogar ein Augapfel aus der Höhle getrieben worden, sodass der leere Blick der Toten zugleich nach oben und zur Wand ging. Und wo einmal Kinn, Mund, Nase und Wangen gewesen sein mussten, fand sich jetzt eine einzige klumpige Masse aus Fleisch, Blut und Knochenpartikeln – und unzähligen Fliegenmaden. Fliegen schwirrten durch die Luft, die, obwohl die Stahltür jetzt schon eine halbe Stunde offen stand, immer noch vom Gestank des Todes getränkt war. Der Raum musste seit Tagen geschlossen und der Sonneneinstrahlung ungehindert ausgesetzt gewesen sein. Die dicht geschlossenen Oberlichter hatten für einen zusätzlichen Treibhauseffekt gesorgt.

Der Rechtsmediziner warf einen letzten Blick auf den von der Fäulnis grünlich schimmernden Leichnam, bevor er ihn zum Abtransport freigab. »Bei diesem Binnenklima hat sich der Verwesungsprozess natürlich beschleunigt. Im Moment würde ich sagen, sie liegt seit drei bis vier Tagen hier.«

Antje Servatius folgte der Bahre nach draußen, wo sie den Mundschutz von ihrem Gesicht zog und erst einmal tief durchatmete. Das gesamte Grundstück war in der Hand der Spurensicherung, die gerade jeden Stein auf der Suche nach Verwertbarem umdrehte. Heiner Gaarst verfolgte die Arbeit der Beamten mit seinen Blicken. Die Kommissarin verstand jetzt, warum er sie nach ihrem Abendessen gefragt hatte. Suchend sah sie sich um. »Wo ist der Mann, der uns verständigt hat?«

Heiner Gaarst nickte zur Straße, wo ein Streifenwagen parkte. In der offenen Beifahrertür saß eine zusammengesunkene Gestalt. Servatius setzte sich in Bewegung.

»Mirko Dittert?«

Der Besitzer des Grundstücks nickte schwächlich. Unter der frischen Sonnenbräune war das schmale Gesicht aschfahl. Dunkle, knopfkleine Augen suchten vergeblich nach einem Halt in dem Albtraum, den er gerade durchlebte.

»Ihnen gehört die Werkstatt?«

»Noch. Sie gehört mir noch. Ich will sie verkaufen, deshalb war ich ja überhaupt hier. Ich hatte eine Anzeige in unser Stadtteilblättchen gesetzt.«

»Das müssen Sie mir genauer erklären.«

Der Mittvierziger schaute die Kommissarin an, als ob er alles lieber täte, nur nicht das. »Ich hatte einen Besichtigungstermin, mit einem Interessenten.«

»Heute Abend? Wieso so spät?«

»Ich war in Urlaub. Kurzurlaub, Kreta. Bin heute Nachmittag erst zurückgekommen. Und der Interessent – es war ein Mann – hatte mich auch informiert, dass er nicht eher könnte. Um halb neun waren wir verabredet.«

Servatius warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es ging gegen zehn Uhr. »Und wo ist dieser Interessent jetzt?«

»Gar nicht aufgetaucht. Stattdessen …« Dittert machte eine Handbewegung, als würde er das, was er gesehen hatte, am liebsten aus seinem Bewusstsein wischen.

»Haben wir den Namen und die Telefonnummer dieses Interessenten?«

»Hat Ihr Kollege schon notiert.« Er deutete zu Gaarst hinüber.

»Gut. Wie lange waren Sie genau in Urlaub?«

»Eine Woche.«

»Hatte außer Ihnen noch jemand Zugang zu der Werkstatt?«

»Im Prinzip jeder.« In Ditterts Blick lag leichtes Bedauern.

»Das Schloss war defekt«, erklärte Heiner Gaarst.

»Es ist kaputtgegangen, unmittelbar bevor ich gefahren bin«, rechtfertigte sich der Eigentümer.

Nun wechselten Servatius und Gaarst einen bedauernden Blick. Das engte den möglichen Täterkreis nicht ein. Im Gegenteil.

»Sie haben in Kauf genommen, dass sich jeder hier breitmachen konnte?«

»Ich sag Ihnen doch, da war keine Zeit mehr für eine Reparatur. Ich habe ein altes Vorhängeschloss genommen – eigentlich auch kaputt – und so eingehängt, dass es abgeschlossen aussah.« Dittert wies zu dem Flachbau hinüber. »Außerdem, haben Sie da drin irgendwas gefunden, was das Mitnehmen lohnt?!«

Servatius schüttelte bedächtig den Kopf. »Gut. Das wäre es erst mal. Kommen Sie allein nach Hause, oder soll Sie jemand bringen?«

»Besser bringen. Ich glaube nicht, dass ich im Moment fahren kann.« Servatius nickte einem der Beamten zu, der den sichtlich wackligen Dittert zu einem der Wagen eskortierte.

Seidel kam hinzu. Antje Servatius meinte ein Glitzern auf seiner Stirn zu sehen. Ein Schweißtropfen? Das konnte sich nur der beruflichen Ausnahmesituation verdanken. Auch ein Rudi Seidel war nicht so dickfellig, wie er aussah, oder so ausgeglichen, wie man das bei seiner Glaubensrichtung hätte vermuten können. Seidel lehnte sich schwer an die Motorhaube des Einsatzwagens. »Sauerei, verdammte«, vermerkte der Kollege ganz unbuddhistisch.

3

Ferien.

Endlich Ferien.

1787 Schüler – Kira hatte es irgendwann gegoogelt – strömten, nein: stürzten aus dem Gebäude der Gesamtschule, der Sonne, dem Sommer, dem Nichtstun entgegen; allem, was nicht Schule war. Bloß weg von hier. Die Jüngeren so schnell, wie es nur ging, die Älteren schon etwas gelassener, erwachsener.

Noch langsamer ließ es Kira angehen. Bald war sie so weit zurück, dass sie das Klackern ihrer Krücken über dem allgemeinen Geschrei und Fahrradgeklingel hören konnte. Auf sie wartete nichts Besonderes. Kein Abchillen mit Freundinnen, kein Nachmittag im Freibad – und den Urlaub in Portugal hatte ihre Mutter in die letzten Ferienwochen gelegt.

Während die anderen sich so schnell wie möglich in alle Winde zerstreuten, blieb sie stehen und warf noch einmal einen Blick zurück, auf den spärlich begrünten Vorplatz, der jetzt schon verwaist dalag, auf den dreigeschossigen verwinkelten Klotz, blasser Beton mit knallroten Fensterblenden. Die Schule war keinen Deut schöner als die letzte, aber sie hatte einen entscheidenden Vorteil – sie war kein Ort, mit dem Kira schlimmste Erinnerungen verband. Noch nicht.

Nachdem die kleine, dreifarbige Katze in ihr Haus eingezogen war, hatte Kira eine Zeit lang Ruhe gegeben in punkto Schulwechsel. Trika wurde bald zutraulich und ließ sich von ihr gerne in den Arm nehmen und streicheln. Aber das Kuscheln mit einer Katze konnte noch so beglückend sein, Schweißausbrüche und Angstattacken gingen davon nicht weg. Daher brachte sie das Thema wieder zur Sprache, zumal auch ihre Noten vor den Weihnachtsferien nachgelassen hatten; was angesichts des Vorgefallenen kein Wunder war (bei den schlechten Noten hatte sie allerdings ein wenig nachgeholfen). Schließlich hatte sich ihre Mutter schweren Herzens um eine andere Schule bemüht, zum Halbjahreswechsel, und erstaunlicherweise auch bekommen. Die neue Schule war, wie man das nannte, eine »integrierte« und verfügte über ein Therapiezentrum für Schüler mit Behinderungen, also auch mit Zerebralparese. Physiotherapie und so weiter, alles mit dem Stundenplan abgestimmt. Alles nette Leute in diesem Zentrum, auch die anderen Schüler. Aber es war und blieb nun mal eine Therapiegruppe. Und Therapie klang nach Krankheit. Kira fühlte sich ein Stück weit in die Förderschule zurückversetzt. Das war der Preis, den sie für den Schulwechsel zahlen musste.

Auf der anderen Seite gab es hier keine aufdringlichen Jungen. Bis jetzt jedenfalls. Das war wichtiger.

Sie ging weiter, zur Straße, wo die anderen schon weg waren oder gerade auf ihre Fahrräder sprangen, eilig den Fußweg zwischen Feldern und Kleingartenanlage zur Straßenbahn einschlugen, in wartende Autos stiegen. Einer der Wagen, etwas weiter weg geparkt, hielt Kiras Blick fest. Schwarz, auch in den wuchtigen Ausmaßen irgendwie bedrohlich. Weil die Sonne sich in der Windschutzscheibe spiegelte, konnte sie das Gesicht des Fahrers nicht erkennen; aber sie sah die beiden Hände, die das Lenkrad umfasst hielten. Große, behaarte Männerhände. Kira schaute schnell weg. Und wieder hin. Und wieder weg, plötzlich überzeugt, dass der Unbekannte sie beobachtete, zumal niemand den Wagen ansteuerte und der Fahrer keine Anstalten machte, auszusteigen und jemanden in Empfang zu nehmen. Er beobachtete sie. Sie und niemand anders.

In der aufkommenden Panik wandte sie sich an das erstbeste einigermaßen vertraute Gesicht in ihrer Umgebung. Emma aus dem Geografiekurs.

»Und – und wa… was machst du heute noch so?«

»Ähh …« Emma wusste mit der unvermittelten Frage wenig anzufangen. »Ja, weiß noch nicht. Mal sehen. Und du?«

Kira antwortete irgendetwas – nachher hätte sie nicht mehr sagen können, was eigentlich –, flüchtete sich in weitere zusammenhanglose und, da sie den Stress spürte, sehr stockende Fragen und hörte kaum auf die Antworten, da sie die ganze Zeit den schwarzen Wagen im Blick behielt. Bis der Unbekannte endlich den Motor anließ, wendete und wegfuhr. Wohl doch nur ein Anwohner. Erleichtert ließ Kira die immer noch überraschte Emma ziehen.

»Du siehst immer Gespenster«, hätte Dunja, ihre Gelegenheitsbabysitterin und inzwischen beste Freundin, gesagt, »das kommt davon, wenn man eine Kriminalkommissarin als Mutter hat.« Kira wusste es besser. Sie wusste, woher diese Panik jedes Mal kam und warum sie so schnell kam. Nur, das Wissen allein half nicht. Ein Unbekannter in einem großen Wagen, der sie möglicherweise beobachtete, möglicherweise auch nicht, und ein Junge, der sie an die Wand drängte und ihre Brüste begrapschte – wo war da der Zusammenhang? Aber mit der Angst war es so eine Sache, sie stellte Verbindungen her, wo und wie sie wollte.

Sie machte sich auf den langen Weg zur Bahnhaltestelle, zum Glück weitab von der Straße. Die Krückenspitze knirschte im Kies, die Sonne brannte auf ihren Nacken, von einem wolkenlosen Himmel herab. Sie beschloss, sich am Kiosk an der Haltestelle mit einem Eis zu belohnen – für die Anstrengung und für die Angst.

***

»Die untere Hälfte des Gesichts ist weitgehend zertrümmert«, führte Norbert Hinrichsmeyer aus. »Kinn, Unter- und Oberkieferbereich, Nasenbein, beide Jochbeine, auch die linke Augenhöhle hat was abgekriegt. Alles mit allergrößter Gewalt.«

»Womit wurden die Schläge ausgeführt?«, fragte Antje Servatius.

»Wir haben Metallpartikel gefunden. Ein Hammer? Vielleicht auch eine Brechstange …«

Servatius warf einen flüchtigen Blick auf die Fotos von der Leiche, die in der Tischmitte auf dem nüchtern hellbeigen Resopal lagen. Sie musste und wollte sie sich nicht noch einmal ansehen.

Sie saßen im Besprechungsraum des KK 11, dessen Fenster nach Westen gingen. Die Sonne hatte jetzt, am frühen Nachmittag, erst einen schmalen Streifen des Raums erfasst. Dennoch heizte sich die Luft, wie ihr schien, mit jeder Minute weiter auf. Das Präsidium verfügte, obwohl relativ neu gebaut, über keine Klimaanlage.

Sie, das waren neben Hinrichsmeyer und ihr selbst Kniebsch, Seidel und Gaarst. Die beiden Letzteren waren vor Kurzem erst aus Ehrenfeld zurückgekehrt, sie hatten in der Umgebung des Tatortes Befragungen durchgeführt. Völlig ergebnislose Befragungen. Wo es keine Wohnhäuser gab, da gab es auch keine Anwohner. Sie hörten sich also bei den Angestellten der umliegenden Firmen um. Die hatten entweder nichts Auffälliges bemerkt – »shitbusiness as usual«, wie es ein IT-Mann trocken formulierte. Oder sie hatten, was die Nachtzeiten und Wochenendtage anging, gar nichts bemerkt respektive bemerken können, weil sie schlichtweg nicht dagewesen waren. Der Täter hatte sich, wie es schien, einen guten Platz ausgesucht.

»Die Schläge waren aber nicht die Todesursache«, sagte Rudi Seidel, eher im Tonfall einer Frage.

»Sie waren nicht die Todesursache.« Der Rechtsmediziner räusperte sich. »Kommen wir zu Oberkörper und Armen. Hier finden sich multiple Stichwunden verschiedener Tiefe. Teilweise sehr tief.«

»Tatwaffe?«, fragte Gaarst, der mit gewohnt steifem Rücken am Tisch saß.

»Ein Messer, einschneidig, mit langer Klinge. Circa sechzehn Zentimeter lang, wie man es etwa zum Ausbeinen nimmt, also um beim Schlachten das Fleisch von den Knochen zu lösen. Die Wunden verlaufen im Körper von oben nach unten, mehr oder weniger. Daraus kann man schließen, dass der Täter nicht seitlich vor der Bank gestanden hat, sondern dass er auf dem Opfer saß. Auf den Oberschenkeln oder dem Unterleib, dort gibt es nämlich keine Verletzungen. Und er hat mit allergrößter Gewalt zugeschlagen beziehungsweise zugestochen.«

»Dafür sprechen auch Verlauf und Verteilung der Blutspritzer an der Wand«, warf Kniebsch ein. »Und die Größe. Allesamt sehr fein.«

»Könnte das jemand vom Fach gewesen sein?«, fragte Servatius.

»Vom Fach?«

»Ein Metzger.«

»Sie meinen, wegen der möglichen Tatwaffe? So ein Messer ist handelsüblich, das kriegen Sie übers Internet.«

»Ich meine, wegen der Art der Stichverletzungen. Ob es möglicherweise jemand war, der mit Messern umgehen kann.«

»Möglicherweise, ja. Mit Bestimmtheit lässt sich das nicht sagen. Hier wurde nicht mit feiner Klinge gearbeitet, sondern in wilder Wut zugestochen. Da sieht man dann keinen Unterschied mehr.«

Die Werkbank als Schlachtbank, dachte Servatius.

»Waren die Stichwunden denn die Todesursache?«, fragte wiederum Seidel.

»Nein«, sagte Hinrichsmeyer, »beziehungsweise ja und nein.« Er schob die Fotos über- und untereinander, bis er fand, was er gesucht hatte. Eine Aufnahme von der Halsregion. Und dem tiefen Schnitt, der von links nach rechts verlief.

»Das war die Todesursache. Der Täter hat dem Opfer als Erstes die Kehle durchgeschnitten.«

»Warum sind Sie da so sicher?« Nun schaute auch Servatius noch einmal genauer hin.

»Wenn das Opfer noch am Leben gewesen wäre, als ihm die restlichen Stichverletzungen zugefügt wurden, hätte es sich gewehrt. Und dann hätten wir auch an den Händen Stichwunden gefunden.«

»Und an den Wänden Schmierspuren zumindest der rechten Hand«, ergänzte Kniebsch. »Haben wir aber nicht.«

»Der Rest war also blinde Zerstörung.« Seidel schüttelte den Kopf. »Und der Zeitpunkt des Todes?«

»Da bleibe ich bei meiner ursprünglichen Schätzung. Drei bis vier Tage.«

»Also am Wochenende«, sagte Servatius.

»Spätestens in der Nacht zum Montag«, sagte Hinrichsmeyer zustimmend. »Rein vom Verwesungs- und Fäulniszustand der Leiche hätte man auch sagen können, der Tod liegt länger zurück. Aber die Hitze hat diese Prozesse beschleunigt.« Der Rechtsmediziner erhob sich. »Zum Alter hatte ich mich schon geäußert?«

Die Ermittler nickten einmütig. Die Tote war Anfang bis Mitte dreißig. Das und die flachsblonden Haare – sowie ein weiteres wichtiges Merkmal – passten, wie sie inzwischen wussten, zu einer Vermisstenanzeige, die vor zwei Tagen eingegangen war: Linda Kemp, dreiunddreißig Jahre. Der Mann, der Kemp als vermisst gemeldet hatte, war unterwegs zu ihnen.

Hinrichsmeyer war schon fast zur Tür hinaus, da hielt er noch einmal inne. »Oh, und die Frau hatte kurz vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr. Wir haben Spermaspuren gefunden. Hatte ich das auch schon erwähnt?«

Diesmal erntete er einmütiges Kopfschütteln. Der Mann von der Rechtsmedizin hatte manchmal eine merkwürdige Art, seine Informationen zu streuen.

»Erzwungen?«, fragte Heiner Gaarst.

»Den Verletzungen im Unterleibsbereich nach zu urteilen, ja. Riss der Schleimhaut der Scheide, Einblutungen …«

»Schon dreist«, sagte Servatius, nachdem Hinrichsmeyer endgültig gegangen war. »Eine solche Bluttat mitten in der Stadt, in einem Raum, der sich nicht abschließen lässt …«

»Die Werkstatt liegt zurückgesetzt«, rief Rudi Seidel in Erinnerung. »Und wenn alles bei schwachem Licht passiert ist oder ganz ohne Licht, hat man von draußen gar nichts bemerkt. Die Fenster waren verhangen.«

»Außerdem«, warf Kniebsch ein, »haben wir drinnen im Eingangsbereich eine Eisenstange gefunden. Gut möglich, dass der Täter damit die Tür blockiert hat.« Der Spurensicherer stand auf und fuhr sich über die feucht schimmernde Glatze. »Fingerabdrücke haben wir allerdings keine gefunden.« Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken.

»Trotzdem«, meinte Servatius, »alles extrem dreist.«

»Da hat sich jemand sehr sicher gefühlt«, sagte Seidel.

»Oder er war nicht mehr ganz bei Sinnen«, meinte Heiner Gaarst.

Für einen Moment trat Schweigen ein. Durch die auf Kipp gestellten Fenster schlich sich ein Windhauch herein – ein viel zu seltenes Luftholen des Sommers.

»Wir haben bei der Befragung übrigens herausbekommen, was früher in der Werkstatt war«, nahm Seidel den Gesprächsfaden wieder auf. »Eine Tischlerei.«

»Oder auch: eine Schreinerei«, sagte Gaarst.

»Aha«, meinte Servatius. »Und was ist da der Unterschied?«

»Keiner«, sagte Seidel.

»Schreiner sagt man eher im Süddeutschen«, sagte Gaarst.

»Aber beide machen das Gleiche«, sagte Seidel.

»Möbel und Bauelemente«, sagte Gaarst. »Wohingegen der Zimmermann …«

»… auch mit Holz arbeitet«, ergänzte Seidel. »Allerdings stellt er keine Möbel her.«

»Nein«, stimmte Gaarst zu. »Er ist hauptsächlich am Bau tätig.«

»Aber auf die Walz gehen können sie alle.«

Bis vor einiger Zeit war Antje Servatius der Meinung gewesen, sie könne eine klare Linie ziehen zwischen Allgemeinbildung und überflüssigem Wissen. Seitdem Seidel, ihr langjähriger Kollege, und Gaarst, der Neue im Team, begonnen hatten, sich auf derartige Weise die Bälle zuzuspielen, war diese Grenze für sie zunehmend unscharf geworden. Aber: Sie hatte gefragt. Selbst schuld. Außerdem hatte das kleine Geplänkel vielleicht vom Schrecken ablenken sollen, der vor ihnen auf dem Tisch lag. Und das tat es ja auch – für Sekunden jedenfalls.

»Ich habe Mirko Ditterts Angaben überprüft.« Heiner Gaarst setzte sich noch etwas aufrechter hin. »Die Werkstatt wurde tatsächlich zum Kauf angeboten. Den Kaufinteressenten haben wir noch nicht erreicht. Dieser Herr Schmitz geht nicht ans Handy.«

Servatius seufzte. Was Namen anging, war »Schmitz« das kölsche Äquivalent zu Sand am Meer. »Wer immer dieser Schmitz ist – warum sollte er so eine Bruchbude nehmen?«

»Ein Künstler«, mutmaßte Seidel. »Ein Maler vielleicht. Der braucht nicht viel. Außer Licht. Und davon gibt’s ja reichlich.«

»Die Oberlichter«, meinte Gaarst.

»Trotzdem, wir überprüfen Ditterts Alibi. Und wir versuchen weiter, diesen Schmitz aufzutreiben. Künstler, Maler, vielleicht hilft uns das ja weiter. Machst du das, Heiner?«

Gaarst nickte. »Sofort, wenn wir hier fertig sind, Antje.«

Der Neue und die Kommissarin waren seit einiger Zeit beim Du. Die Initiative, wenn man es so nennen konnte, war allerdings nicht von ihr ausgegangen, sondern von Rudi Seidel, der seinen Bürostuhl eines Morgens aus heiterem Himmel zu dem Neuen herumgeschwungen und fröhlich deklamiert hatte: »Ich bin übrigens der Rudi!« Da konnte sie sich schlecht weiter distanziert siezend aus der Affäre ziehen. Was zu der für sie eigentümlichen Situation führte, dass sie zwar beide duzte, Gaarst aber mit dem Vornamen ansprach, während Seidel weiterhin einfach Seidel war – obwohl sie sich ihm nach wie vor näher fühlte.

Das Telefon auf dem Tisch klingelte. Seidel nahm ab, hörte kurz zu und legte wieder auf. »Harkort ist da.«

Unter normalen Umständen, so dachte Antje Servatius, musste Ken Harkort ein recht lebensfroher Typ sein. Das rotblonde Haar war wild gelockt, die kleinen Lachfalten in den Augenwinkeln des von der Statur her etwas bärenhaften Dreiundvierzigjährigen verrieten eine positive Grundeinstellung zum Leben. Aber die Umstände waren nicht normal. Wenn einen die Sorge um eine vermisste geliebte Person auffraß, verlor sich jegliche Lebensfreude. Harkort saß mit zusammengesunkenen Schultern vor ihnen. Servatius eröffnete die Befragung.

»Wann haben Sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmt?«

»Am Montagabend«, erklärte Harkort. »Linda und ich waren zum Essen verabredet, ganz in der Nähe meines Geschäfts. Ich habe einen Blumenladen, ich bin Florist.«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihr?«

»Ich bin ihr Freund.«

»Seit wann?«

»Seit ein paar Monaten. Wir haben uns Karneval kennengelernt.« Ein wehmütiges Lächeln umspielte Harkorts Lippen.

»Und dann?«

»Ich hab versucht, sie anzurufen. Hab ihr Nachrichten geschickt. Keine Reaktion. Das war merkwürdig. Andererseits, sie hatte ihr eigenes Leben. Wir haben uns nicht unbedingt jeden Tag gesehen oder gesprochen, wir hatten keine Standleitung. Aber als ich am nächsten Tag immer noch nichts von ihr gehört hab, bin ich zu ihrer Wohnung.«

Rudi Seidel mischte sich ein: »Sie leben nicht zusammen?«

»Nein. Linda wohnt allein. Und ich …« Harkort zögerte. »Ich wohne immer noch bei meiner Frau und meinem Kind.«

Die Ermittler wechselten erstaunte Blicke.

»Ich weiß, das klingt komisch«, fuhr der Blumenhändler fort. »Aber finden Sie auf die Schnelle mal was Vernünftiges, bei den Mieten in dieser Stadt! Ich war natürlich oft in Lindas Wohnung, aber für uns beide war sie definitiv zu klein. Wir hatten vor, uns zusammen etwas zu suchen.«

Antje Servatius wusste, unter der Sonne gab es alle möglichen Beziehungskonstellationen. Sie persönlich hätte es sich jedoch nie und nimmer vorstellen können, nach der Trennung weiter mit dem Ex unter einem Dach zu leben. Mit Kirill war es damals völlig anders gelaufen. Er war einfach nicht mehr aufgetaucht. Seine Sachen hatte sie irgendwann im Sperrmüll entsorgt.

»Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen.« Auf ihr Nicken hin legte Heiner Gaarst ein Foto auf den Tisch. Die anderen Aufnahmen von der Obduktion waren verschwunden. Gaarst hatte sie ins Büro gebracht. Das einzige verbliebene Foto – das einzige, das man jemandem zur Identifizierung zumuten konnte – zeigte ein Tattoo oberhalb von Linda Kemps Fußgelenk: eine Fee, die sich gerade aufmachte, an der schlanken Wade emporzuschweben.

Harkort brauchte nicht lange. Nach zwei, drei Sekunden schob er das Foto von sich. »Ja, das ist ihr Tattoo. Am linken Bein, oder?«

Gaarst nickte.

Harkort schloss nur die Augen, mühsam bemüht, nicht zusammenzubrechen. Servatius und Seidel verständigten sich über einen Blick. Sie hatten das oft genug erlebt: Angehörige oder Lebenspartner, die von der furchtbaren Realität erst mit Verzögerung erfasst wurden, dann aber mit der Gewalt eines Tsunamis.

»Sie sind also zur Wohnung«, sagte Rudi Seidel.

»Ja. Und da hab ich Panik gekriegt. Da war seit Tagen nichts angerührt.«

»Seit wann genau?«

»Sonntagmorgen. Ich war die Nacht über bei ihr.«

»Aber den Tag – den Sonntag – haben Sie getrennt verbracht?«

Harkort nickte. »Ich war mit meiner Tochter im Kino. Linda wollte eine Radtour machen.«

»Allein?«

Erneutes Nicken. »Das hat sie öfter gemacht. Sie brauchte das, um runterzukommen.«

»Wo wollte sie hin?«

»Nicht weit raus, im Gegenteil. Sie wollte in der Stadt bleiben und die romanischen Kirchen abfahren.«

»Welchen Eindruck hatten Sie von Frau Kemp, am Samstagabend, Sonntagmorgen? War sie anders als sonst?«

»Ich hab nichts bemerkt. Am Abend waren wir essen und haben geredet. Und Sonntag …« Harkort zog die Schultern hoch. »Sie war wie immer.«

Servatius beschloss, es einstweilen dabei zu belassen. »Sie haben einen Schlüssel zur Wohnung? Wir müssten uns umsehen und brauchen Proben für einen DNA-Vergleich, zur endgültigen Identifizierung.«

Harkort holte mit matten Bewegungen einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und legte ihn auf den Tisch. »Muss ich mitkommen?«

»Nicht, wenn Sie nicht wollen.«

»Wie – wie ist es passiert?«

Rudi Seidel entschied sich für die schonende Version. »Sie wurde erstochen.«

Harkort nickte. Dann verschränkte er plötzlich die Arme auf der Tischplatte, ließ den Kopf sinken und begann hemmungslos zu schluchzen.

Der Tsunami brach los.

***

Linda Kemps Wohnung lag nördlich der Innenstadt, in einer Straße, wo Alt und Neu kräftig und ohne System durchmischt waren. Sie befand sich im zweiten Geschoss eines Altbaus, war etwas verwinkelt und umfasste zwei Zimmer und eine Küche, von der ein winziger Balkon abging, der gerade genug Platz für zwei Getränkekästen und ein paar Blumenkübel bot. Die Einrichtung entsprach den finanziellen Möglichkeiten einer dreiunddreißigjährigen Selbstständigen. Von Ken Harkort hatten sie erfahren, dass Linda Kemp als Physiotherapeutin gearbeitet hatte, allerdings nicht mit eigenen Behandlungsräumen, sondern tageweise für verschiedene Praxen. Letztere hatten sie in den letzten Tagen wahrscheinlich auch vermisst; aber anscheinend nicht genug, um sich bei der Polizei zu melden. Gelegentlich hatte die Physiotherapeutin auch Patienten zu Hause besucht und dort behandelt. Von Harkort wussten sie außerdem, dass Kemp in Köln keine weiteren Verwandten hatte. Die Eltern lebten in Berlin. Die junge Frau hatte aber nur gelegentlich Kontakt zu ihnen. Das Verhältnis gestaltete sich anscheinend kompliziert. Man würde sie erst benachrichtigen, wenn Kemp endgültig und nicht nur aufgrund eines Tattoo-Fotos identifiziert war.

Während Kollegen von der Spurensicherung im Bad Proben für einen DNA-Abgleich nahmen, sahen sich Servatius und Seidel in den Räumen um. Die offenbar gut isolierten Fenster waren geschlossen, es war still, aber auch stickig. Auf dem Tisch im Wohnraum standen noch Tassen und Teller mit Brotkrümeln, dazu Eierbecher, eine halb leere Flasche Orangensaft, ein Korb mit Früchten, die teilweise angefault waren und von Fruchtfliegen umschwirrt wurden. Die Reste des Sonntagsfrühstücks; Servatius konnte sich nicht vorstellen, dass Kemp unter der Woche Zeit für ein so opulentes Frühstück hatte. Außerdem war für zwei eingedeckt. Die Blumen, die in einem kleinen Töpfchen auf dem Tisch standen, ließen die Köpfe hängen. Servatius befühlte die Erde. Sie war staubtrocken. Auch in den Blumenkästen auf dem Balkon hatte die andauernde Dürre ihre Spuren hinterlassen. Alles sprach für Harkorts Vermutung, dass die Bewohnerin nach ihrem morgendlichen Aufbruch nicht mehr nach Hause gekommen war. »Sie hätte die Blumen auf jeden Fall gegossen«, hatte der Florist insistiert, »eine Frau ohne grünen Daumen wär nichts für mich!«

darüber

Dennoch, sie musste es irgendwie loswerden. Vielleicht lastete es dann nicht mehr so auf ihr, vielleicht bekam sie keine Panik mehr, nur weil ein schwarzer Wagen vor der Schule stand.

Also begann sie zu schreiben.

»Ich spüre seine Hände immer noch. Dabei ist es jetzt schon so lange her …«