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Klaus Berger

PAULUS

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Klaus Berger beschreibt in diesem Buch das Leben des Apostels Paulus, seinen Lebens- und Arbeitsstil, seine Mitarbeiter und die Adressaten seiner Briefe. Er rekonstruiert die Situationen und Gefahren, in denen Paulus seine Briefe geschrieben und theologische Lösungen erdacht hat, die das Christentum bis heute prägen. Durch diese enge Verknüpfung von Biographie und Theologie gelingt ihm ein ungewöhnlich plastisches Bild des bedeutendsten Apostels.

Über den Autor

Klaus Berger, Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg, gehört zu den renommiertesten deutschen Neutestamentlern. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören «Qumran» (1998), «Hermeneutik des Neuen Testaments» (1999), «Theologiegeschichte des Urchristentums» (21995), «Wer war Jesus wirklich?» (1999) sowie eine Neuübersetzung des Neuen Testaments (zusammen mit Christiane Nord, 1999).

Inhalt

Einleitung

  I. Das Leben des Apostels

Die Biographie des heiligen Paulus

Der Lebens- und Arbeitsstil

Die Mitarbeiter

Die Adressaten der Briefe

 II. Berufung

Der Aposteldienst als Mitte paulinischen Denkens

Der lebenslange Pharisäer

Was Paulus liebte

Paulus, der Außenseiter

Wie man Christ wird

Akzeptiert von Gott in seine Familie hinein

Berufen in den Bund

Begabt mit Charismen

Theologie des Kreuzes

Theologie der Auferstehung

Inkarnation und Interzession

Für die Sünden gestorben

Der Heilige Geist

Sakramente

Die Spiritualität

Korinthische Theologie

Theologie des Judentums

III. Gefahr

Gefährdung durch Gegner

Gefährdung durch egozentrische Süchte

Zweifel

Rückfall ins Judentum

Gefährdung durch Leiden

Gefährdete Heiligkeit

Bedrohte Kirche und Gemeinde

Die Verfehlungen der Christen

Starke und Schwache

Gefährdete Ordnung

Die Versuchung zu richten

Die Versuchung, sein Prestige auf Sand zu bauen

Irritation durch Ausbleiben der Parusie?

IV. Schluß: Stationen der Wirkung

 

Weiterführende Literatur

Abkürzungen biblischer Schriften

Einleitung

Seit dreißig Jahren (1972–2002) halte ich regelmäßig Vorlesungen über Paulus, seine Briefe und seine Theologie. Von Anfang an habe ich Paulus als Judenchristen betrachtet, der Jude blieb. Daher war mir klar, daß keine konfessionelle Vereinnahmung ihn erfassen kann. Das mag ein Grund dafür sein, daß Paulus in den letzten fünfundzwanzig Jahren aus dem Zentrum der neutestamentlichen Wissenschaft verschwunden ist. Zahlreiche Kommentare zum Römerbrief und ebenso viele irenische Gesamtdarstellungen sind zu verzeichnen, die freilich niemanden mehr aufregen. Für eine allein auf Verwendbarkeit biblischer Stoffe erpichte Pfarrerschaft gilt Paulus als zu schwierig und kaum vermittelbar, doch das ist für Paulus im Rahmen der Kirchengeschichte nichts Neues. Auch die Edition der Römerbriefvorlesung von Erik Peterson (1997) hat daran nichts geändert. Und inzwischen edierte Texte wie der große Römerbriefkommentar Wilhelms von St. Thierry (12. Jahrhundert) harren der eigentlichen Entdeckung, da dieses bedeutende Werk vorerst nur lateinisch zugänglich ist. Es scheint vielmehr so, daß Karl Barths dogmatischer Kommentar zu diesem Brief 1919 das letzte fächerübergreifend paulinische Ereignis war. Und die Korintherbriefe sowie der liebenswerte Brief an die Philipper befinden sich weiterhin im Dornröschenschlaf. Für den Philipperbrief ist seit der gelehrten Auslegung von A. G. Hoelemann (Leipzig 1839), die im übrigen wohl wegen ihrer Latinität völlig vergessen ist, nichts Bewegendes mehr erschienen. Unter den Gesamtdarstellungen über Paulus geben die Bücher von Eduard Lohse und Jürgen Becker den Konsens am besten wieder.

Der besondere Aspekt dieses Paulusbuches. – Paulus ist immer nur in Spannungsfeldern greifbar. Es sind die Spannungen zwischen Judentum und griechischer Philosophie, zwischen Apokalyptik und pragmatisch-rationaler Kirchenpolitik, die Paulus selbst auszeichnen. Innerhalb des vergangenen Jahrhunderts lassen sich vier Schwerpunkte ausmachen, von denen aus man Paulus meinte erfassen zu können. Der erste Schwerpunkt war die Rechtfertigungsdoktrin des Galater- und des Römerbriefes – ein Interesse, das sich vor allem der Reformation verdankte. Der zweite Schwerpunkt ist die Auslegung von den Sakramenten der Taufe und des Herrenmahles her in der Religionsgeschichtlichen Schule; ihr erschien die Rechtfertigungslehre nurmehr als ein «Nebenkrater»; der Hauptkrater hieß jetzt Kultmystik und damit Sakramente. Ein dritter Schwerpunkt war die Wiederentdeckung Pauli als eines Juden. Und schließlich beginnt man, wieder einmal die Beziehungen zwischen Paulus und der zeitgenössischen Philosophie (Stoa, Kynismus) zu entdecken und damit seine grundlegende Offenheit gegenüber der Beschränkung auf den jüdischen Hintergrund zu ermitteln, ja zu fordern. Alles das hat immer genaue kirchengeschichtliche Entsprechungen: den Konfessionalismus, die liberale Theologie als Gegenschlag dagegen, die Bemühungen um den jüdisch-christlichen Dialog und die interreligiöse «Szene» der jüngsten Gegenwart.

Der hier gewählte Ausgangspunkt bedeutet demgegenüber: «Theologie ist Biographie». Für wen gälte das mehr als für Paulus, der das meiste, was wir von ihm wissen, in einer Stunde Null des Christentums zum erstenmal erlebt und erdacht hat, in einer einsamen und schwierigen Existenz, schließlich als Märtyrer.

Wir gehen vom 2. Korintherbrief aus (der letzte große Kommentar, der dazu erschien, war der von H. Windisch 1924) und versuchen, die paulinische Auffassung von seiner Berufung und von seinem Beruf als Angelpunkt seiner Theologie zu erkennen. Dieses Vorgehen hat folgende Vorzüge: Der Lebensbezug der paulinischen Aussagen wird klar erkennbar. Die persönliche Biographie und vor allem die Auffassung vom eigenen Stellenwert innerhalb der Erlösung sind die Schnittstellen zwischen kirchenpolitischen Ambitionen und vielen theologischen Lösungen, die Paulus in verschiedenen Situationen neu erdenken mußte. Aussagen, die man früher als überzogenes Selbstbewußtsein oder unverschämtes Selbstwertgefühl Paulus moralisch ankreidete, wie zum Beispiel die häufigen Aufforderungen, Paulus selbst sich zum Vorbild zu nehmen, werden – wenn auch als bleibend fremde Gäste – verstehbar oder wenigstens rekonstruierbar. Da es sich um das Verständnis des Apostolats handelt, wird der Zusammenhang von Christusbotschaft und Kirche erkennbar.

Ein zweites Zentrum wird angedeutet mit dem Stichwort «Gefahr». Damit werden alle Anlässe und Anliegen zusammengefaßt, aus denen heraus Paulus überhaupt seine Briefe schreibt. Dabei wird sich erweisen, daß vieles, was im Laufe der Zeit als Gefahr auftaucht, offene Fragen der anfänglichen Botschaft waren, die eben erst allmählich in all ihren Konsequenzen entfaltet werden mußte. Die Hauptgefahr ergab sich nach Auffassung der älteren Forschung aus dem Problem der Parusieverzögerung, d.h. aus der Tatsache, daß der Herr noch nicht zum Gericht wiedergekommen war. Noch vor wenigen Jahrzehnten machte man dieses Problem zur Mutter der christlichen Theologie und versuchte unter anderem die gesamte auf Jesus bezogene Dogmenbildung, das Phänomen Kirche einschließlich Sakramenten und ebenso die sittlichen «Mißstände» von diesem einen Punkt herzuleiten. Doch nur wenige Texte bei Paulus sind von Naherwartung getragen, und auch wenn der 2. Thessalonicherbrief paulinisch ist, dann geht es dort eben darum, eine als abwegig abgekanzelte Art von Parusieerwartung zu bekämpfen. Dutzende von Kapiteln bei Paulus sind ganz frei von diesem Thema, und der Galaterbrief enthält überhaupt keine Erwartung eines zukünftigen Gerichts oder einer neuen Welt; auch im 2. Korintherbrief ist dieses Thema ganz schwach entwickelt. Hier ist also Vorsicht geboten, und man sollte nicht monokausal alles aus der um 1900 grassierenden Debatte um Eschatologie herleiten. – Nein, die Gefahren sind umfassender und ergeben sich aus meiner Sicht vor allem aus der zur Zeit der Paulusbriefe und weit darüber hinaus nicht zufriedenstellend geklärten theologischen Identität der Christengemeinde im ganzen. Bis heute (und gerade heute) ist dieses Problem aktuell, und auf der Seite des frühchristlichen Amtes entspricht ihm die Frage nach der Legitimität. Da dieses aber eher eine Frage der Berufung ist, ergibt sich das Nebeneinander von «Berufung und Gefahr» in diesem Buch auch als intensiver innerer Bezug zwischen Legitimität und Identität.

Indem wir also von Berufung und Gefahr sprechen, meinen wir zwei Brennpunkte einer Ellipse. Der eine betrifft mehr den Apostel Paulus, der andere mehr die Gemeinden. Doch ist das ganz und gar nicht exklusiv zu verstehen. Diese beiden Brennpunkte kehren thematisch immer wieder in einer Reihe von Denkstrukturen, die sich überall bei Paulus finden:

(1) Unaufgebbare, nicht reduzierbare Spannungen. Dazu gehört die «Freiheit vom Gesetz» neben der bleibenden Geltung des Gesetzes; Befreiung vom Buchstaben meint eben anderes als Freiheit von jeder Ordnung. Ferner: Die Spannung zwischen geschwisterlicher Liebe in den Gemeinden im Kontrast zur allgemeinen Menschenliebe. Dem entspricht die Spannung zwischen Gottes bleibend schmalem Weg der Erwählung (Israel; Gemeinde der Heiligen) und der Zuwendung des Evangeliums zur ganzen Welt.

(2) Das Prinzip des Umwegs: Sünde und Ungehorsam sind in gewisser Hinsicht erwartbare oder sogar notwendige Umwege auf dem Weg zum Heil aller. Die Gabe des Gesetzes an Israel, welches Gesetz «dazwischen hineingekommen ist» (Röm 5,20), erscheint als Umweg und retardierendes Element auf dem Weg Gottes mit der Menschheit. Ähnlich könnte man das Bekenntnis «Jesus ist Gottes Sohn» als einen ärgerlichen, aber notwendigen Umweg auf der Straße ansehen, die zur Gotteskindschaft aller Menschen führt. Alle Leiden des Apostels und der Christen sind Umwege zwischen der in der Taufe zugeeigneten Herrlichkeit und ihrer endgültigen Vollendung. Aus demselben Grund sind apostolische Ermahnungen Umwege auf der Straße, die dazu führt, daß alle Gotteskinder sich vom Heiligen Geist leiten lassen.

(3) Gott führt alles zu seinem Ende, und dieses Ziel heißt Teilhabe an Gottes Herrlichkeit, in der alle Spuren der Herrschaft des Todes beseitigt sind.

(4) Heil wie Unheil haben grundsätzlich gemeinschaftlichen Charakter. Nichts liegt Paulus ferner als religiöser Individualismus; daß man gerade dieses um 1900 anders sah (Adolf von Harnack) und gerade für Paulus einen ausgeprägten religiösen Individualismus annahm, hat bis heute im liberalen Protestantismus, der damals zur Zukunftsreligion erklärt wurde, ein Verständnis des Phänomens Kirche weitgehend blockiert. Beispiele: «Sünde» ist in erster Linie Merkmal einer globalen Situation («sündige Strukturen»). Oder: «Leib» ist nach Paulus das Organ des Kontaktes mit anderen und daher auch Bild für die Gemeinde im ganzen. «Gerechtigkeit» bedeutet nichts anderes, als dem anderen das Miteinander zu ermöglichen. Und verständiges «Sich-Rühmen» bezieht sich nie auf den Menschen selbst, der sich rühmt, sondern immer auf eine andere Größe – so rühmt sich Paulus seiner Gemeinden. Das korporative Netz der Beziehungen ist für den Juden Paulus die erstrangige Wirklichkeit auch in der Religion.

(5) Die Schrift (das Alte Testament) enthält alles Wesentliche, auch das ganze Evangelium.

(6) Wenn Paulus von der erhofften Verwandlung spricht, dann gebraucht er oft eher qualitative Kategorien (wie Kraft und Schwäche) als personale. Ähnlich spricht er von Menschen auch als «Gefäßen». Damit macht er aufmerksam auf Grenzen unseres neuzeitlichen Verständnisses von Person. Die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Personen ist für ihn jeweils erst der Anfang.

I. Das Leben des Apostels

Die Biographie des heiligen Paulus

Zu Paulus haben wir folgende Quellen:

Seine echten Briefe (1. Thessanolicherbrief, 1. und 2. Korintherbrief, Römerbrief, Galaterbrief, Philipperbrief, Philemonbrief); umstritten ist der 2. Thessalonicherbrief;

die Briefe engster Schüler und Vertrauter (Kolosserbrief, Epheserbrief, 1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief); die Apostelgeschichte des «Lukas»;

Paulusakten des 2. Jahrhunderts («Acta Pauli et Theclae») und Paulus-Martyrien («Martyrium des Petrus und Paulus»).

Umstritten ist, ob Paulus in der judenchristlichen Literatur der Pseudo-Clementinen (eine angeblich vom Petrus-Schüler Clemens verfaßte «Missionsgeschichte») in der Figur des Simon Magus bekämpft wird. Ich halte das für eher unwahrscheinlich.

Paulus wurde in Tarsus in Kleinasien geboren. Nach eigenen Angaben stammte er aus dem Stamm Benjamin und wurde dem Gesetz gemäß am achten Tag beschnitten (Phil 3,5). Nach Angaben der Apostelgeschichte wurde er in Jerusalem von dem bekannten Lehrer Gamaliel in der Torah ausgebildet. Er schloß sich der pharisäischen Richtung an und war nach Phil 3,5f observanter Pharisäer.

Die Pharisäer waren eine religiöse Laienbewegung, die neben der Bibel auch die mündliche Überlieferung hochschätzte und zum Beispiel die Auferstehung der Toten annahm – ein Punkt, der jedenfalls aus den fünf Büchern Moses nicht (klar) hervorging. Die Pharisäer erstrebten besondere Heiligkeit, indem sie priesterliche Vorschriften auch auf Laien anwandten. Dieses traf sich insofern mit ihrer Hoffnung auf Auferstehung, als eine engelgleiche Reinheit die Vorbedingung dafür war, nach diesem Leben gemeinsam mit den Engeln vor Gottes Thron stehen und Gott loben zu dürfen. Hier liegt der Ursprung der christlichen Hoffnung darauf, in den Himmel zu kommen.

Man kann annehmen, daß Paulus auch in Grundzügen der damalign Modephilosophie (der kynisch-stoischen Moralpredigt) und der Rhetorik bewandert war. Vielleicht hat er auch von Johannes dem Täufer gewußt, denn Taufe ist für ihn nichts Fremdes.

Wir wissen nicht, wie Paulus ausgesehen hat. In den Akten des Paulus und der Thekla, die einhundert Jahre nach seinem Tod entstanden, wird sein Aussehen folgendermaßen geschildert: «Ein Mann, klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit» (§3). Wir wissen auch nicht, was seine Krankheit oder seine Behinderung war, auf die er öfter Bezug nimmt (2 Kor 12,7).

Nach der Apostelgeschichte war Paulus schon bei der Steinigung des Stephanus, des ersten christlichen Märtyrers, zugegen (Apg 7,58). Jedenfalls hat er frühe christliche Gemeinden in Palästina heftig verfolgt. Der Grund dafür ist nur mit Mühe zu rekonstruieren. Bekämpfte er die Gruppe der Hellenisten (hellenistische Judenchristen), denen Stephanus zugehörte, wegen deren Ablehnung des Tempels in Jerusalem? Aber es gab auch andere Kreise im aufgeklärten Judentum, die jedenfalls die blutigen Opfer im Tempel ablehnten. Oder attackierte er Christen als falsche Propheten, weil sie vorgaben, Jesus und sie selbst seien vom Heiligen Geist Gottes erfüllt? Für diese Lösung spricht, daß er selbst in seinem wohl frühesten Brief von der Verfolgung von Propheten spricht, und zwar ausdrücklich bezüglich der Gemeinden in Judäa, wo er selbst in eben diesem Sinne gewirkt hatte (1 Thess 2,14f. Dem entspricht auch, daß Stephanus und andere Mitglieder seiner Gruppe von Lukas als «voll des Heiligen Geistes» geschildert werden. Bei den von ihm verfolgten Christen hatte Paulus bestritten, daß sie den Geist Gottes besäßen. Nach seiner Bekehrung dagegen orientierte er sich um so stärker am Heiligen Geist als Begabung aller Christen. Paulus verfolgte die Hellenisten nicht wegen deren Gesetzesfreiheit, denn dafür gibt es keinen Hinweis; Stephanus wirft in seiner Rede den Juden doch gerade vor, daß sie das Gesetz nicht einhalten (Apg 7,53).

Paulus wurde dann – angeblich von jüdischen Autoritäten in Jerusalem – bevollmächtigt, auch auf fremdem Territorium, nämlich in Damaskus, Christen zu bedrängen (Apg 9,1–3). Auf dem Weg nach Damaskus erschien ihm Jesus Christus. Paulus beschreibt das so, daß Gott ihm seinen Sohn geoffenbart habe (Gal 1,16). Das bedeutet: Jesus Christus wurde ihm als lebendig, als auferstanden und als vom Heiligen Geist erfüllt präsentiert. Auch die Gesetzesfrage erörterte Paulus dann auf der Basis, daß den Christen Gottes Heiliger Geist zuteil wurde. Lukas stellt in der Apostelgeschichte diese Vision etwas anders dar, nämlich im Schema der jüdisch-hellenistischen Bekehrungsvisionen mit der Erscheinung von Licht und Stimme (Apg 9.22.26). Jesus fragt ihn dabei tadelnd: Warum verfolgst du mich? – Dabei hatte Paulus doch nach unserem Verständnis nicht Jesus, sondern Christen verfolgt. Aber Lukas zeigt hier ein ihm sonst fremdes, nämlich paulinisches Kirchenverständnis, wonach Jesus sich mit den verfolgten Christen ganz und gar identifiziert. Das entspricht genau dem Selbstverständnis des Paulus von seinen Leiden. Er hat in seiner Bekehrung den Standpunkt seiner früheren Opfer akzeptiert.

An insgesamt vier Stellen geht Paulus auf seine Bekehrungsvision ein: In 1 Kor 9,1; 15,9 spricht er vom Sehen des Herrn, in Gal 1,12–16 von der Offenbarung des Sohnes, und in Phil 3,4–8 spricht er wie ein Konvertit über den Kontrast von vorher und nachher. Alles Frühere hält er für Dreck um Jesu Christi willen. Von den sekundären Paulusbriefen (Kolosser- und Epheserbrief, 1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief, 2. Thessalonicherbrief, die nicht von Paulus selbst stammen, sondern ihm nur zugeschrieben sind) berichtet vor allem 1 Tim 1,12–16 von der Bekehrung des Paulus: Der Verfolger und Lästerer ist durch Gnade zum Glauben gekommen und ein Urbild künftiger Christen.

Nach seiner Bekehrung wirkte Paulus zunächst in der Umgebung von Damaskus und in der Provinz Arabia (Gal 1,15–17). Die Bekehrung fiel wohl in die Zeit zwischen 34 und 36 n. Chr. Ein bis zwei Jahre später reiste Paulus nach Jerusalem und begegnete dort Petrus (Gal 1,18–20). Nach vierzehn Tagen ging er nach Syrien und Kilikien (Türkei). Dort war er annähernd dreizehn Jahre lang tätig, vielleicht in der Judenmission. Danach floh er nach Antiochien. Von dort wurde er vor dem Jahr 48 zusammen mit Barnabas von der Gemeinde zu einer Missionsreise ausgesandt (Apg 13f). Barnabas hatte in dieser Zeit eine große Bedeutung für Paulus. Er wurde von Jerusalem nach Antiochien gesandt, aber er sorgte auch dafür, daß Paulus den Jerusalemern bekannt wurde: Er führte Paulus bei ihnen ein.

Ein bedeutsames Ereignis war der sogenannte Apostelkonvent in Jerusalem im Jahre 48 oder 49. Für Paulus war es der erste Besuch in Jerusalem nach dem Besuch bei Petrus. Ebenso wie Barnabas war er Abgesandter der antiochenischen Gemeinde und konnte zusammen mit diesem bei den dortigen Autoritäten (vor allem: Jakobus der Herrenbruder) aushandeln, daß die beschneidungsfreie Heidenmission legitim ist. Überdies verpflichtete er sich dazu, «der Armen in Jerusalem zu gedenken» (Gal 2,10). Das sollte der Ansatz für die paulinische Kollekte werden. Per Handschlag wurde mit Petrus vereinbart, daß Paulus für die Heidenmission, Petrus aber für die Mission der Beschnittenen (Juden- oder Heidenchristen) zuständig sei. Nun hatte aber Petrus sicher auch Heiden missioniert (Apg 10f). War mit der Formel «zur Beschneidung» eine Mission gemeint, die sich dann, wenn sie sich an Heiden wandte, diese unter jüdischen Gesichtspunkten integrierte, also dadurch, daß das Aposteldekret, das in Jerusalem für Antiochien vereinbart wurde (Apg 15,20; s.u.), für sie gelten sollte? Paulus hat jedenfalls recht, wenn er sagt, ihm persönlich habe der Apostelkonvent nichts auferlegt.

Etwa im Jahre 49 verließ Paulus Jerusalem, nach einigen Forschern erst zur ersten Missionsreise; nach anderen, die sich mehr an die Apostelgeschichte halten, bereits zur zweiten Missionsreise, die ihn auch nach Europa führte.

Der antiochenische Zwischenfall. – In diese Zeit (49) fällt der «antiochenische Zwischenfall» (Gal 2,11–14). Petrus war nach seiner Flucht aus Jerusalem im Jahre 44 (unter Agrippa I.) in Antiochien tätig geworden. Er hatte sich dort auf Vorschlag des Paulus zu gemeinsamen Mahlzeiten von Judenchristen aus seiner eigenen Missionspraxis mit Heidenchristen aus paulinischer Mission bewegen lassen. Diese Praxis aber war für Judenchristen nicht tragbar. Insbesondere die judenchristlichen Brüder in Jerusalem hatten darunter zu leiden. Denn nicht-koschere Mahlzeiten und das Essen von Blut waren für Juden verboten. Jede Verletzung dieser jüdischen Tischgebote wurde zum Anlaß genommen, Christen den Abfall vom Judentum vorzuwerfen. Die Judenchristen in Jerusalem sahen die Gefahr heraufkommen, daß sie für ihre «abgefallenen» Brüder in Antiochien büßen mußten; das weitere Schicksal Jakobus des Herrenbruders (Martyrium) zeigt, daß diese Furcht berechtigt war. Auf Anweisung von Leuten um den Herrenbruder Jakobus ließ sich Petrus davon überzeugen, daß er gegen die Vereinbarung des Apostelkonvents gehandelt hatte und machte einen Rückzieher. Das wiederum kritisierte Paulus, der Petrus nicht die strengere Praxis vorwarf, sondern den Rückzieher. Denn nun mußte es scheinen, als solle den Heidenchristen – um der Bewahrung der Mahlgemeinschaft willen – etwas von der ihnen zugestandenen Freiheit genommen werden. Es konnte der Eindruck entstehen, sie hätten wie Petrus etwas falsch gemacht. Und so endete der antiochenische Zwischenfall damit, daß sich Petrus von der Mahlgemeinschaft zurückziehen mußte, Paulus aber sich mit seiner Forderung nicht durchsetzte, diese Praxis beizubehalten.

In der Forschung ist umstritten, ob sich der Zwischenfall von Antiochien vor oder nach dem Apostelkonvent ereignete. Lag er vor dem Apostelkonvent, dann diente dieser der Einigung über die strittigen Probleme. Mir scheint das wenig wahrscheinlich. Denn das Problem des Apostelkonvents existierte vorher: Judenmission oder auch Heidenmission? Nach dem oben für den Apostelkonvent Angenommenen galt für die Heidenchristen in Antiochien das Aposteldekret (Verbot von Götzenopferfleisch, nicht geschächtetem Fleisch, von Blutgenuß und Mischehen mit Heiden). Es galt indes nicht für Paulus persönlich und für seine unabhängig von Antiochien aus durchgeführte Heidenmission. Was im antiochenischen Konflikt aufeinanderstößt, ist also das persönliche Verständnis des Paulus von völlig ritualienfreier Heidenmission und die für Antiochien getroffene Vereinbarung, nach der das Aposteldekret galt (Apg 15,20).

Ab 49–50 unternahm Paulus eine zweite Missionsreise. Er wandte sich nach Europa, gründete als erste christliche Gemeinde dort die Gemeinde von Philippi und missionierte Tessaloniki. In diese Reise fällt auch der Gründungsaufenthalt in Korinth (50–52). Dort traf Paulus laut Apg 18,2 Aquila und Priszilla, die nach dem Edikt des Kaisers Claudius im Jahre 49 Rom verlassen mußten. Im Jahre 50/51 schrieb Paulus an die frisch bekehrte Gemeinde von Thessaloniki den 1. Thessalonicherbrief. Zwischen 50 und 51 stand er vor dem Provinzstatthalter Gallio. Dieses Datum gehört zu den wenigen Gewißheiten in der Chronologie des paulinischen Lebens. Denn Gallio ist inschriftlich nachgewiesen, seitdem man in Delphi die sogenannte Gallio-Inschrift gefunden hat. Lucius Iunius Gallio, ein Bruder des bekannten Philosophen Seneca, war 51/52 Statthalter in der römischen Provinz Achaia. (In der Zeit der Alten Kirche wurde ein Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca fingiert.)

Zwischen 52 und 55/56 hielt sich Paulus (auf der zweiten Missionsreise) in Ephesus und in der römischen Provinz Asia auf. Um das Jahr 52 besuchte er Galatien. Um 52/53 mußte er die Gefahr bestehen, von der 1 Kor 15,32 berichtet: ein Kampf gegen (menschliche) Bestien in Ephesus. Von Ephesus aus schrieb Paulus zwischen 54 und 57 den 1. Korintherbrief. Er besuchte im selben Jahr noch einmal Korinth und verfaßte daraufhin den nicht erhaltenen Tränenbrief, der im 2. Korintherbrief (2,4) erwähnt wird. Im Jahre 54/55 geriet er in Todesgefahr und Gefangenschaft, und zwar wiederum in der Provinz Asia und auf Betreiben dort ansässiger Juden. Die Gefangenschaft in Ephesus könnte 54–55 gewesen sein.

In den Jahren 54–55 verfaßte Paulus den 2. Korintherbrief, den Philipper- und den Philemonbrief. Danach brach er zu einer dritten Missionsreise auf (Apg 18,23ff). Diese Reise währte von 56–58. In dieser Zeit entstand der Römerbrief. Wie Röm 16 nahelegt, waren Aquila und Priszilla nun wieder in Rom.

Paulus versuchte im Anschluß an die dritte Missionsreise, seine Kollekte der Gemeinde in Jerusalem zu übergeben (ca. 56). Dabei wurde er auf Anstiften von Juden aus Kleinasien gefangengenommen und nach verschiedenen Verhören und Verteidigungsreden (Apg 23–26) nach Rom überstellt. Zwischen 58 und 60 war er als Missionar in Rom tätig. Dort starb er zwischen 64 und 66 den Märtyrertod, und zwar wohl eher im Rahmen der neronischen Verfolgung als wegen des ihm von Juden angelasteten Vergehens (Entheiligung des Tempels durch einen abgefallenen Juden). Über diesen Tod berichtet aus dem 1. Jahrhundert der 1. Klemensbrief (5,1–5), aus dem 2. Jahrhundert das Martyrium Pauli.

Der Lebens- und Arbeitsstil

Paulus – ein Stadtmensch