Stephen King

Feuerkind

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Harro Christensen

New York/Albany

1 »Daddy, ich bin müde«, sagte das kleine Mädchen in der roten Hose und der grünen Bluse gereizt. »Können wir nicht stehen bleiben?«

»Noch nicht, Honey.«

Der Mann war groß und breitschultrig und trug eine schäbige Cordjacke mit abgewetzten Ärmeln und eine braune Hose aus grobem Stoff. Er und das kleine Mädchen gingen Hand in Hand die Third Avenue in New York City hinauf. Sie gingen schnell. Fast liefen sie. Er schaute über die Schulter zurück, und der grüne Wagen war immer noch da und schlich langsam auf der rechten Spur dahin.

»Bitte, Daddy, bitte

Er schaute sie an und sah, wie blass ihr Gesicht war. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er nahm sie hoch und ließ sie in seiner Armbeuge sitzen, aber er wusste nicht, wie lange er das noch schaffte. Auch er war müde, und Charlie war kein Leichtgewicht mehr.

Es war fünf Uhr dreißig nachmittags, und die Third Avenue war verstopft. Sie passierten die Querstraßen in den oberen Sechzigern, und diese Querstraßen waren dunkler und weniger belebt … Aber gerade das fürchtete er.

Sie rempelten eine Dame an, die einen Einkaufswagen mit Lebensmitteln schob. »Passen Sie doch auf!«, sagte sie, und dann war sie verschwunden, aufgesogen von der hastenden Menge.

Sein Arm ermüdete, und er verlagerte Charlies Gewicht auf den anderen. Noch einmal schaute er sich kurz um, und der grüne Wagen war immer noch da. Er verfolgte sie und war nur noch einen halben Block hinter ihnen. Auf dem Vordersitz saßen zwei Männer, und er meinte, auf dem Rücksitz einen Dritten ausgemacht zu haben.

Was soll ich jetzt tun?

Darauf wusste er keine Antwort. Er war müde und hatte Angst und konnte kaum noch denken. Sie hatten ihn zu einer ungünstigen Zeit erwischt, und die Schweine wussten das wahrscheinlich. Er wollte jetzt nur eins: sich auf die dreckige Bordsteinkante setzen und seine Verzweiflung und seine Angst herausschreien. Aber das war keine Lösung. Schließlich war er der Erwachsene. Er musste für sie beide denken.

Was sollen wir jetzt tun?

Kein Geld. Das war, von den Männern im grünen Wagen abgesehen, vielleicht das größte Problem. Ohne Geld war in New York nichts zu machen. Leute ohne Geld verschwanden ganz einfach von der Bildfläche; sie tauchten in den Gassen unter und wurden nie mehr gesehen.

Wieder schaute er sich um und sah, dass der grüne Wagen aufgerückt war, und der Schweiß lief ihm noch ein wenig schneller den Rücken und die Arme hinunter. Wenn sie so viel wussten, wie er vermutete – nämlich wie wenig ihm von seinen außergewöhnlichen Kräften noch verblieben war –, könnten sie vielleicht versuchen, ihn gleich hier zu greifen. Selbst die vielen Leute würden sie davon nicht abhalten. Wenn man in New York nicht selbst betroffen war, entwickelte man eben diese eigenartige Gleichgültigkeit. Haben sie meine sämtlichen Daten?, überlegte Andy verzweifelt. Wenn ja, dann ist alles gelaufen; dann saß er in der Falle. Wenn sie die Daten hatten, dann kannten sie auch das ganze Muster. Wenn Andy Geld bekam, passierten die seltsamen Dinge für eine Weile nicht mehr. Die Dinge, an denen sie so brennend interessiert waren.

Weitergehen. Klar, Chef. Gewiss doch, Chef. Wohin?

Er war mittags zur Bank gegangen, denn sein inneres Radar hatte ihn alarmiert – diese komische Ahnung, dass sie schon wieder näher gekommen waren. Und war das nicht eigenartig? Andrew McGee hatte bei der Chemical Allied Bank von New York kein Konto mehr, kein persönliches, kein Giro-, kein Sparkonto. Alle Konten hatten sich in Luft aufgelöst. Und nun wusste er, dass sie diesmal wirklich Ernst machten. War das Ganze tatsächlich erst fünfeinhalb Stunden her?

Aber vielleicht war ihm von seinen Fähigkeiten ein kleiner Rest geblieben. Nur ein winziger Rest. Das letzte Mal lag fast eine Woche zurück – da war dieser Selbstmordkandidat aus der von ihm geleiteten Selbsterfahrungsgruppe, der an einem der regelmäßig am Donnerstagabend stattfindenden Beratungsgespräche teilgenommen hatte und dann mit geradezu gespenstischer Gelassenheit über Hemingways Selbstmord referiert und sich dafür begeistert hatte. Und auf dem Weg nach draußen hatte Andy wie beiläufig den Arm um die Schultern des Selbstmordkandidaten gelegt und ihn psychisch beeinflusst. Hatte sich das wirklich gelohnt? Denn jetzt sah es so aus, als ob er und Charlie dafür büßen müssten. Fast hoffte er, dass ein Echo …

Aber nein. Entsetzt und von sich selbst angewidert, gab er den Gedanken sofort auf. Das durfte man niemandem wünschen.

Nur ein kleiner Rest, betete er. Lieber Gott, nur ein kleiner Rest. Nur genug, Charlie und mich aus dieser Klemme zu retten.

Und wie ich dafür büßen werde … Ganz abgesehen davon, dass ich einen Monat lang so tot sein werde wie ein Radio mit einer geplatzten Röhre. Vielleicht sogar sechs Wochen lang. Vielleicht sogar wirklich tot, und mein nutzloses Gehirn wird mir aus den Ohren hinausrinnen. Aber was soll dann aus Charlie werden?

Vor ihnen lag die 70. Straße, und die Ampeln zeigten auf Rot. Der Querverkehr strömte vorbei, und an der Ecke stauten sich die Passanten. Und plötzlich wusste er, dass dies genau die Stelle war, wo die Männer aus dem grünen Wagen sie erwischen würden. Wenn möglich, natürlich lebendig, aber wenn sie Ärger befürchteten … Über Charlie wussten sie wahrscheinlich ebenfalls genau Bescheid.

Vielleicht sind sie gar nicht mehr daran interessiert, uns lebend zu erwischen. Was macht man mit einer Gleichung, die nicht stimmt? Man wischt sie einfach von der Tafel.

Ein Messer in den Rücken, eine Pistole mit Schalldämpfer, möglicherweise auch etwas noch Unauffälligeres – ein Tropfen eines seltenen Giftes an der Spitze einer Nadel. Zuckungen an der Ecke Third Avenue und 70. Straße. Officer, sehen Sie doch, der Mann hat einen Herzanfall!

Diesen letzten Rest seiner Fähigkeiten musste er nutzen. Es gab keine andere Möglichkeit.

Jetzt erreichten sie die an der Ecke wartenden Passanten. Die Ampel drüben zeigte immer noch Rot, es schien eine Ewigkeit zu dauern. Er schaute zurück. Der grüne Wagen stand. Zum Bürgersteig hin öffnete sich der Schlag, und zwei Männer in Straßenanzügen stiegen aus. Es waren junge Leute mit glatten Gesichtern, und sie sahen sehr viel frischer aus, als Andy McGee sich fühlte.

Mit den Ellbogen bahnte er sich einen Weg durch die Menge, und dabei sah er sich verzweifelt nach einem Taxi um.

»Heh, Mann …«

»Verdammt noch mal, Sie Idiot!«

»Bitte, Mister, Sie haben meinen Hund getreten …«

»Entschuldigen Sie bitte … Verzeihung …«, sagte Andy verzweifelt.

Er suchte ein Taxi. Es gab keins. Zu jeder anderen Zeit hätte es auf der Straße von Taxis gewimmelt. Er spürte körperlich, wie die Kerle aus dem grünen Wagen sich ihnen näherten, ihn und Charlie greifen wollten, um sie Gott weiß wohin zu schaffen. Vielleicht zur Firma, vielleicht auch an einen anderen verdammten Ort, und vielleicht kam es noch schlimmer.

Charlie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und gähnte.

Andy sah ein leeres Taxi.

»Taxi, Taxi!«, brüllte er und winkte wie verrückt mit der freien Hand.

Hinter ihm ließen die Männer die Maske fallen. Sie rannten los.

Das Taxi stoppte.

»Halt!«, brüllte einer der Männer. »Polizei! Polizei!«

Hinten in der Menge kreischte eine Frau, dann rannte alles auseinander.

Andy öffnete die hintere Tür und schob Charlie in den Wagen. Dann glitt er selbst hinein. »La Guardia, aber zügig«, sagte er.

»Warten Sie, Fahrer. Polizei!«

Der Taxifahrer drehte sich um, und Andy setzte seine psychischen Waffen ein. Es war, als würde ihm ein Dolch mitten in die Stirn gestoßen und rasch wieder herausgezogen. Zuerst rasender und stechender Schmerz, dann ein dumpfer Schmerz wie nach einer Nacht, wenn man schief in seinem Bett gelegen hat.

»Sie sind hinter dem Schwarzen her, dem mit der karierten Mütze«, sagte er dem Fahrer.

»Wahrscheinlich«, meinte der Fahrer und gab Gas. Sie fuhren die 70. Straße Ost hinunter.

Andy schaute zurück. Die beiden Männer standen allein am Bordstein. Die übrigen Passanten wollten mit ihnen nichts zu tun haben. Einer der Männer nahm ein Funksprechgerät, das er am Gürtel hängen hatte, und sprach hinein. Dann waren sie verschwunden.

»Dieser Schwarze«, sagte der Fahrer, »was hat er gemacht? Schnapsladen ausgeräumt, was?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Andy und überlegte fieberhaft, was er tun konnte, um mit geringstem Aufwand möglichst viel aus diesem Taxifahrer herauszuholen. Hatten sie die Wagennummer? Das musste er wohl annehmen. Aber sie würden sich nicht an die City Police oder die Jungs von der Staatspolizei wenden wollen. Fürs Erste waren sie ausgetrickst worden und tappten im Dunklen.

»Die Schwarzen hier. Alles rauschgiftsüchtiges Pack«, sagte der Fahrer. »Erzählen Sie mir nichts, sag ich Ihnen.«

Charlie war eingeschlafen. Andy zog sich die Cordjacke aus, faltete sie zusammen und legte sie ihr unter den Kopf. Er hatte einen vagen Hoffnungsschimmer. Wenn er keinen Fehler machte, könnte es funktionieren. Die Glücksgöttin hatte ihm einen Mann geschickt, der, wie Andy (ohne jedes Vorurteil) dachte, leicht zu beeinflussen war. Der Fahrer war in jeder Hinsicht leicht zu beeinflussen: Er war ein Weißer (bei Farbigen war es aus unerfindlichen Gründen am schwierigsten), er war ziemlich jung (bei alten Leuten war es fast unmöglich) und von mittlerer Intelligenz (gescheite Leute schaffte man am leichtesten, bei dummen war es schwerer, und bei geistig zurückgebliebenen klappte es nie).

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Andy. »Fahren Sie uns nach Albany, bitte.«

»Wohin?« Der Fahrer starrte ihn im Rückspiegel an. »Mann, ich kann doch keine Fuhre nach Albany annehmen. Sind Sie denn verrückt geworden?«

Andy zog seine Brieftasche, in der noch eine Eindollarnote steckte. Er konnte Gott danken, dass dies kein Taxi mit einer schusssicheren Trennscheibe war, in dem man außer durch den Geldschlitz keinen Kontakt mit dem Fahrer hatte. Bei ungehindertem Kontakt konnte man die Leute besser beeinflussen. Er hatte nie ganz begriffen, ob es sich dabei um irgendetwas Psychologisches handelte, aber das spielte im Augenblick keine Rolle.

»Ich gebe Ihnen fünfhundert Dollar«, sagte Andy ruhig, »wenn Sie mich und meine Tochter nach Albany fahren, okay?«

»Mein Gott, Mister …«

Andy drückte ihm den Schein in die Hand, und als der Fahrer die Banknote betrachtete, stieß Andy zu … und er stieß hart zu. Eine schreckliche Sekunde lang fürchtete er, dass er es nicht schaffen würde, dass einfach nichts mehr übrig war, dass er seine letzte Kraft damit verbraucht hatte, dem Fahrer einen nicht existierenden schwarzen Räuber mit karierter Mütze einzureden.

Und dann kam das Gefühl – wie immer begleitet von diesem scharfen Schmerz, als hätte er einen Dolchstoß empfangen. Im gleichen Augenblick schien sein Magen immer schwerer zu werden, und seine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Die Hand zitterte, und er überlegte schon, ob er aufgeben sollte … oder sterben. In diesem einen Augenblick wollte er sterben. Das war immer so, wenn er von seinen Kräften übermäßigen Gebrauch gemacht hatte – Nehmt es, aber übernehmt euch nicht, dieser Spruch, mit dem vor langer Zeit ein Discjockey sein Programm zu beenden pflegte, schoss ihm durch den Kopf und erregte zusätzliche Übelkeit – was immer dieses »es« bedeuten sollte. Wenn ihm genau in diesem Moment jemand eine Kanone zugesteckt hätte …

Dann schaute er zu Charlie hinüber, Charlie, die schlief, Charlie, die sich darauf verließ, dass er sie beide aus dieser Klemme herausholen würde wie aus allen anderen, Charlie, die darauf vertraute, dass er bei ihr sein würde, wenn sie aufwachte. Ja, all diese Schwierigkeiten, außer dass es immer die gleiche Schwierigkeit war, die gleiche verdammte Schwierigkeit, und auch jetzt wieder konnten sie nur eines tun: abhauen. Schwarze Verzweiflung quälte ihn.

Das Gefühl verschwand … aber nicht die Kopfschmerzen. Die Kopfschmerzen würden immer schlimmer werden, bis es war, als hämmerte ihm ein schweres Gewicht auf Kopf und Nacken, das ihm bei jedem Pulsschlag rot glühende Qual verursachte. Helle Blitze würden ihm die Augen tränen lassen, und wie mit brennenden Pfeilen würde der Schmerz das Gewebe ringsum durchdringen. Seine Nasenhöhlen würden verstopfen, sodass er nur noch durch den Mund atmen konnte. Die Schläfen wie durchbohrt. Leise Geräusche enorm verstärkt, normale Geräusche wie die von Presslufthämmern, laute Geräusche unerträglich. Die Kopfschmerzen würden so arg werden, dass es sich anfühlte, als werde ihm in einer Folterkammer der Inquisition der Kopf zerquetscht. Bei dieser Intensität verharrte der Schmerz dann sechs, acht, vielleicht zehn Stunden.

Wie es diesmal sein würde, wusste er nicht. Noch nie hatte er seine psychischen Kräfte bei schon fast eingetretener Leere so sehr verausgabt. Wie lange ihn auch die Kopfschmerzen in den Klauen behielten, er würde während dieser Zeit nahezu hilflos sein. Charlie würde ihn in ihre Obhut nehmen müssen. Weiß Gott, das hatte sie schon mehr als einmal getan … Aber sie hatten immer Glück gehabt. Wie oft hatte man Glück?

»Verdammt, Mister, ich weiß nicht recht …«

Das bedeutete, dass er irgendeinen Ärger mit der Polizei vermutete.

»Der Handel gilt nur, wenn Sie meiner kleinen Tochter nichts davon sagen«, bemerkte Andy. »Sie war in den letzten zwei Wochen bei mir. Sie muss morgen früh wieder bei ihrer Mutter sein.«

»Besuchsrechte«, sagte der Fahrer. »Darin kenn ich mich aus.«

»Wissen Sie, ich sollte eigentlich mit ihr fliegen.«

»Nach Albany? Wahrscheinlich Ozark, stimmt’s?«

»Stimmt. Nun habe ich aber eine Todesangst vor dem Fliegen. Ich weiß, wie verrückt sich das anhört, aber es ist so. Gewöhnlich bringe ich sie mit dem Wagen zurück, aber diesmal hat meine Frau gemeckert, und … ich weiß nicht.« Andy wusste wirklich nicht. Er hatte die Geschichte ohne lange Überlegung zusammengebastelt, und jetzt schien er in eine Sackgasse geraten zu sein. Das lag an seiner Erschöpfung.

»Dann setze ich Sie also am alten Flugplatz von Albany ab, und Mutti meint, Sie sind geflogen, klar?«

»Natürlich.« Ihm dröhnte der Kopf.

»Und außerdem denkt Mutti dann nicht, dass Sie ein Jammerlappen sind, stimmt’s?«

»Ja.« Konnte der Kerl nicht endlich die Klappe halten? Die Schmerzen wurden schlimmer.

»Fünfhundert Dollar, nur um nicht fliegen zu müssen«, murmelte der Fahrer, und schüttelte den Kopf.

»Das ist es mir wert«, sagte Andy und setzte noch einmal nach. Mit ruhiger Stimme und dem Fahrer fast direkt ins Ohr fügte er hinzu: »Und Ihnen sollte es das auch wert sein.«

»Hören Sie zu«, sagte der Fahrer mit verträumter Stimme, »ich lehne doch keine fünfhundert Dollar ab. Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen, sag ich Ihnen.«

»Okay«, sagte Andy und lehnte sich zurück.

Der Taxifahrer war beruhigt. Er wunderte sich nicht über Andys fadenscheinige Geschichte. Er wunderte sich nicht darüber, wieso ein siebenjähriges Mädchen im Oktober ihren Vater besuchte, wo sie doch zur Schule musste. Er wunderte sich auch nicht darüber, dass die beiden nicht einmal eine Tasche bei sich hatten. Er machte sich nicht die geringsten Sorgen. Er war psychisch beeinflusst worden.

Und dafür würde Andy jetzt büßen müssen.

Er legte eine Hand auf Charlies Knie. Sie schlief fest. Den ganzen Nachmittag waren sie unterwegs gewesen – seit Andy sie in der Schule aufgesucht und mit einer Allerweltsausrede aus der zweiten Klasse herausgeholt hatte … Ihre Großmutter ist schwer krank … Muss nach Hause … Tut mir leid, dass ich mitten im Unterricht stören muss. Und dann die große Erleichterung. Wie hatte er gefürchtet, Charlies Platz in Mrs Mishkins Unterrichtsraum leer zu finden, die Bücher fein säuberlich im Pult verstaut: Nein, Mr McGee … Sie wurde vor zwei Stunden von Freunden abgeholt … Sie hatten ein Entschuldigungsschreiben von Ihnen … Das war doch in Ordnung? Ihm kamen Erinnerungen an Vicky, das plötzliche Entsetzen an jenem Tage, als er in das leere Haus kam. Die wilde Suche nach Charlie. Schließlich hatten sie sie schon einmal in ihrer Gewalt gehabt, oh ja.

Aber Charlie hatte an ihrem Platz gesessen. Wie groß war sein Vorsprung? War er ihnen um eine halbe Stunde zuvorgekommen? Fünfzehn Minuten? Weniger? Er mochte gar nicht daran denken. Sie hatten bei Nathans noch eine Kleinigkeit gegessen, und den Rest des Nachmittags waren sie unterwegs gewesen, immer in Bewegung. Jetzt konnte Andy sich eingestehen, dass er in einem Zustand blinder Panik gewesen war – sie waren mit der U-Bahn und mit dem Bus gefahren, aber die meiste Zeit waren sie gelaufen. Und jetzt war die Kleine völlig fertig. Er warf ihr einen langen, liebevollen Blick zu. Sie trug schulterlanges Haar von leuchtendem Blond, und im Schlaf war ihr Gesicht von überwältigender Schönheit. Sie sah Vicky so ähnlich, dass es wehtat. Auch er schloss die Augen.

Auf dem Vordersitz betrachtete der Fahrer nachdenklich die Fünfhundertdollarnote, die der Kerl ihm gegeben hatte. Er schob sie in eine Extratasche am Gürtel, in der er sein Trinkgeld aufbewahrte. Es kam ihm nicht eigenartig vor, dass dieser Mann auf dem Rücksitz mit einem kleinen Mädchen und einer Fünfhundertdollarnote in der Tasche durch New York gelaufen war. Er machte sich auch keine Gedanken darüber, wie er die Sache mit seinem Fahrdienstleiter regeln sollte. Er dachte nur daran, wie aufgeregt seine Freundin Glyn sein würde. Glynis lag ihm ständig damit in den Ohren, was Taxifahren doch für ein elender und uninteressanter Job sei. Abwarten, bis sie diese elende, uninteressante Fünfhundertdollarnote sah.

Andy hielt auf dem Rücksitz den Kopf nach hinten und die Augen geschlossen. Die Kopfschmerzen suchten ihn heim, so unvermeidlich, wie ein schwarzes Pferd zu einem feierlichen Leichenbegängnis gehört. Er spürte den Hufschlag in den Schläfen. Ein monotones Stampfen.

Auf der Flucht. Er und Charlie. Er war vierunddreißig Jahre alt, und bis vor einem Jahr war er Dozent für Englisch am Harrison State College in Ohio gewesen. Harrison war eine verschlafene kleine Universitätsstadt. Das gute alte Harrison im Herzen Amerikas. Der gute alte Andrew McGee, ein anständiger und stattlicher junger Mann. Eine solide Stütze der Gesellschaft.

Erbarmungslos trabte der reiterlose Rappe in seinem Kopf herum, warf mit eisenbeschlagenen Hufen weiche Brocken grauen Gehirngewebes auf, hinterließ Hufabdrücke, die sich mit geheimnisvollen Blutströmen füllten.

Der Taxifahrer war leicht zu beeinflussen gewesen. Das stand fest. Ein ausgezeichneter Fahrer.

Er nickte ein und sah Charlies Gesicht. Und Charlies Gesicht verwandelte sich in Vickys Gesicht.

Andy McGee und seine Frau, die hübsche Vicky. Sie hatten ihr die Fingernägel herausgerissen, einen nach dem anderen. Vier Stück hatten sie ihr herausgerissen, und dann hatte sie geredet.

Das war jedenfalls seine Vermutung. Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger. Dann: Aufhören. Ich werde reden. Ich werde alles sagen, was Sie wissen wollen. Wenn Sie nur aufhören. Bitte. Sie hatte also geredet. Und dann … vielleicht war es nur ein Unfall … dann war seine Frau gestorben. Nun, es gibt Dinge, die größer sind als wir beide, und andere Dinge sind größer als wir alle.

Die Firma zum Beispiel.

Der reiterlose Rappe trabte weiter und immer weiter: Seht nur, ein schwarzes Pferd.

Andy schlief.

Mit seinen Erinnerungen.

Longmont, Virginia: Die Firma

1 Zwei hübsche Landhäuser im Südstaatenstil lagen einander gegenüber. Die weite Rasenfläche zwischen beiden Gebäuden war von einigen elegant gewundenen Fahrradwegen durchzogen, und eine zweispurige Kiesanfahrt führte von der Hauptstraße her über einen Hügel auf das Gelände. Ein wenig entfernt stand neben einem dieser Häuser eine leuchtend rot gestrichene und in makellosem Weiß abgesetzte große Scheune. In der Nähe des anderen sah man einen langen Stall, der in dem gleichen hübschen, weiß abgesetzten Rot gehalten war. Hier standen Pferde aus den besten Gestüten, die im Süden zu finden waren. Zwischen Scheune und Stall befand sich ein großer, flacher Ententeich, in dessen unbewegter Oberfläche sich der Himmel spiegelte.

In den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts hatten die ursprünglichen Eigentümer ihre Anwesen verlassen und waren im Bürgerkrieg gefallen, und alle überlebenden Angehörigen waren ohne Nachkommen gestorben. Im Jahre 1954 waren beide Grundstücke zu einem Komplex zusammengelegt und in Regierungsbesitz übernommen worden. Hier hatte die Firma ihr Hauptquartier.

Um zehn Minuten nach neun an einem sonnigen Oktobertag – es war der Tag, nachdem Andy und Charlie New York mit dem Taxi in Richtung Albany verlassen hatten – fuhr ein älterer Mann mit freundlich blitzenden Augen und einer britischen Wollmütze auf dem Kopf mit dem Rad auf eines der Häuser zu. Hinter ihm, am zweiten Hügel, lag der Kontrollpunkt, den er passiert hatte, nachdem der Computer der Sicherungsanlage seinen Daumenabdruck überprüft hatte. Der Kontrollpunkt befand sich innerhalb einer doppelten Stacheldrahtumzäunung. Der über zwei Meter hohe äußere Zaun war alle zwanzig Meter mit Hinweisschildern markiert: VORSICHT! REGIERUNGSGELÄNDE. DIESER ZAUN FÜHRT STROM VON GERINGER SPANNUNG! Tagsüber war die Spannung tatsächlich niedrig. Nachts jedoch ließ der auf dem Grundstück installierte Generator sie auf eine tödliche Voltzahl steigen, und jeden Morgen fuhren fünf Bedienstete mit kleinen elektrisch betriebenen Golfkarren um den Zaun herum und entfernten die toten verschmorten Kaninchen, Maulwürfe, Vögel und Murmeltiere, gelegentlich ein in einer Lache von Gestank liegendes Stinktier und manchmal ein Stück Rotwild. Und zweimal fand man sogar auf ähnliche Weise verbrannte Menschen. Der Abstand zwischen beiden Stacheldrahtzäunen betrug gut neun Meter. Tag und Nacht ließ man in diesem Areal Wachhunde frei laufen. Es waren Dobermannhunde, und sie waren darauf dressiert, sich vom elektrisch geladenen Zaun fern zu halten. An jeder Ecke der Anlage gab es Wachtürme, die ebenfalls rot und weiß gestrichen waren. Sie waren mit Leuten besetzt, die als Experten im Umgang mit todbringendem Präzisionsstahl bezeichnet werden konnten. Der ganze Komplex wurde von TV-Kameras überwacht, und die Bilder wurden ständig vom Computer ausgewertet. Das Anwesen von Longmont war absolut einbruchsicher.

Der ältere Mann fuhr weiter und hatte für jeden, der ihm begegnete, ein freundliches Lächeln. Ein kahlköpfiger alter Mann, der eine Baseballmütze trug, bewegte ein Stutfohlen mit schmalen Fesseln. Er hob die Hand und rief: »Hallo, Cap! Ist das nicht ein herrlicher Tag?«

»Wunderbar«, stimmte der Mann auf dem Rad zu. »Und viel Spaß, Henry.«

Er erreichte die Vorderseite des nördlichen Gebäudes, stieg vom Rad und klappte den Ständer hinab. Tief atmete er die warme Morgenluft ein und eilte die breiten Verandastufen hinauf und zwischen den hohen dorischen Säulen hindurch.

Er öffnete die Tür und betrat die große Eingangshalle. Hinter einem Schreibtisch saß eine rothaarige junge Frau, die eine Statistik vor sich liegen hatte. Eine Hand deutete auf eine Stelle in dem Buch, die andere lag in der halb geöffneten Schublade und berührte eine Smith & Wesson, Kaliber achtunddreißig.

»Guten Morgen, Josie«, sagte der ältere Herr.

»Hallo, Cap. Nicht gerade sehr pünktlich.« Hübsche Mädchen durften sich solche Dreistigkeiten erlauben. Duane hätte sich das nicht erlauben dürfen, wenn er heute am Empfang gesessen hätte.

»Meine Gangschaltung klemmt, Darling.« Er steckte den Daumen in den dafür vorgesehenen Schlitz. Etwas in der Konsole rasselte, und auf Josies Tischplatte flackerte ein grünes Licht auf, das nicht wieder ausging. »Und nun sei schön brav.«

»Ich werde mir Mühe geben«, sagte sie kokett und schlug die Beine übereinander.

Cap lachte dröhnend und durchquerte die Halle. Sie sah ihm hinterher und überlegte, ob sie ihm hätte sagen sollen, dass Wanless, dieser alte Schleicher, vor zwanzig Minuten gekommen war. Aber er würde es ohnehin bald erfahren. Sie seufzte. Der Vormittag dieses herrlichen Tages war garantiert versaut, wenn man sich mit diesem alten Gespenst unterhalten musste. Aber ein Mann wie Cap, der in seiner Stellung so viel Verantwortung trug, musste so etwas wohl gelegentlich schlucken.

Der Zwischenfall auf der Mandersfarm

1 Charlie McGee saß auf der Kante ihres Motelbetts in Apartment 16 und gähnte und reckte sich, während Cap mit Steinowitz in Longmont über ihre Zukunft diskutierte. Die helle Morgensonne schien aus einem Himmel von makellosem Herbstblau herab schräg durchs Fenster. Im freundlichen Tageslicht sah alles schon nicht mehr so schlimm aus.

Sie sah zu ihrem Daddy hinüber, der als regloser Klotz unter den Decken lag. Ein schwarzes Haarbüschel schaute hervor – das war alles. Sie lächelte. Er gab sich immer solche Mühe. Wenn er hungrig war und sie auch, und sie hatten nur einen Apfel, biss er nur einmal ab, und sie durfte den Rest essen. Wenn er wach war, gab er sich immer große Mühe.

Aber wenn er schlief, klaute er alle Decken.

Sie ging ins Bad, streifte die Unterwäsche ab und drehte die Dusche auf. Während das Wasser warm wurde, benutzte sie die Toilette und ging dann in die Duschkabine. Als das heiße Wasser herabrieselte, schloss sie lächelnd die Augen. Es gab nichts Schöneres auf der Welt als die ersten zwei Minuten unter einer heißen Dusche.

(Gestern Abend warst du sehr böse)

Sie blickte finster vor sich hin und legte die Stirn in Falten.

(Nein. Daddy sagte, das war ich nicht.)

(Du hast dem Mann die Schuhe in Brand gesteckt, du böses, böses Mädchen, findest du es schön, dass der Teddy ganz verbrannt ist?)

Ihr Unbehagen mischte sich jetzt mit Angst und Scham. Der Gedanke an den Teddy wurde ihr gar nicht recht bewusst; er schwang nur mit, und wie es so oft der Fall war, schien ihr Schuldgefühl untrennbar mit einem Geruch zusammenzuhängen – einem Geruch von Brand und Rauch. Glimmender Stoff. Ein brennender Teddybär. Und dieser Geruch ließ verschwommen das Bild ihrer Eltern vor ihr erstehen, wie sie sich riesengroß über sie beugten; und sie hatten Angst; sie waren wütend, sie sprachen laut, und ihre Stimmen klangen, als ob Felsbrocken einen Berghang hinunterpoltern, wie man es im Kino sieht.

(»Du böses, böses Mädchen! Das darfst du nicht tun! Tu es nie, nie wieder!«)

Wie alt war sie damals gewesen? Zwei? Drei? Wie weit konnte ein Mensch sich zurückerinnern? Das hatte sie Daddy einmal gefragt, aber er wusste es nicht. Er sagte nur, dass er sich daran erinnerte, einmal von einer Biene gestochen worden zu sein, und seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er damals erst fünfzehn Monate alt war.

Dies war ihre erste Erinnerung: die großen Gesichter, die sich über sie beugten; die lauten Stimmen, wie Felsbrocken, die einen Berghang hinunterrollen; und ein Geruch wie eine verbrannte Waffel. Der Geruch war von ihrem Haar gekommen. Sie hatte ihr eigenes Haar in Brand gesteckt, und es war fast ganz abgebrannt. Danach hatte Daddy von »Hilfe« gesprochen, und Mami war ganz komisch geworden, zuerst lachte und dann weinte sie. Und dann lachte sie wieder so schrill und seltsam, dass Daddy ihr ins Gesicht schlug. Sie erinnerte sich daran, weil es, soviel sie wusste, das einzige Mal war, dass Daddy so etwas getan hatte. Vielleicht sollten wir daran denken, ihr »helfen« zu lassen, hatte Daddy gesagt. Sie waren im Bad, und ihr Kopf war nass, denn Daddy hatte sie unter die Dusche gesteckt. Oh ja, hatte Mami gesagt, lasst uns Dr. Wanless aufsuchen, der wird uns sehr »helfen«, wie er es schon einmal getan hat … und dann das Gelächter, das Weinen, wieder Gelächter, dann der Schlag.

(Du warst so BÖSE gestern Abend)

»Nein«, murmelte sie unter dem Rauschen der Dusche. »Daddy sagte nein. Daddy sagte, es hätte … auch … sein … Gesicht treffen können.«

(DU WARST EIN SEHR BÖSES MÄDCHEN GESTERN ABEND)

Aber sie hatten das Geld aus den Münzapparaten doch gebraucht. Daddy hatte es gesagt.

(SEHR BÖSE)

Und dann dachte sie wieder an Mami zu der Zeit, als sie selbst fast sechs war. Sie dachte nicht gern daran, aber es kam ihr nun einmal in den Sinn, und sie konnte es nicht verdrängen. Es war gewesen, bevor die bösen Männer kamen und Mami wehtaten.

(Nein, getötet, sie haben sie getötet)

Ja, also bevor sie sie töteten und Charlie abholten. Daddy hatte sie auf den Schoß genommen, um ihr vorzulesen, aber diesmal waren es nicht die gewohnten Märchenbücher mit Bildern. Stattdessen hatte er einige dicke Bücher ohne Bilder. Sie hatte widerwillig die Nase gerümpft und ihre Bilderbücher verlangt.

»Nein, Charlie«, hatte er gesagt. »Ich will dir ein paar andere Geschichten vorlesen. Ich denke, du bist jetzt alt genug, und deine Mutter meint das auch. Die Geschichten erschrecken dich vielleicht ein wenig, aber es ist wichtig, dass du sie kennst. Es sind wahre Geschichten.«

Sie erinnerte sich an die Titel einiger der Bücher, aus denen Daddy vorgelesen hatte, denn die Geschichten hatten sie erschreckt. Das eine hieß Vorsicht! und war von einem gewissen Charles Fort. Ein anderes, Was keine Wissenschaft erfasst, hatte ein Frank Edwards geschrieben. Ein weiterer Titel lautete Die Wahrheit der Nacht. Ein anderes Buch war Pyrokinese: Fallbeschreibungen, aber Mami hatte Daddy gebeten, ihr daraus nichts vorzulesen. »Später«, hatte Mami gesagt, »wenn sie älter ist, Andy.« Und dann war das Buch weggestellt worden, und Charlie war froh gewesen.

Die Geschichten waren wirklich erschreckend gewesen. Die eine handelte von einem Mann, der sich in einem Park selbst verbrannt hatte. In einer ging es um eine Frau, die in ihrem Wohnanhänger verbrannt war, und außer der Frau und einem Teil des Stuhls, auf dem sie vor dem Fernseher gesessen hatte, war nichts mitverbrannt. Einiges war zu kompliziert gewesen, als dass sie es verstanden hätte, aber sie erinnerte sich daran, dass ein Polizist gesagt hatte: »Wir haben für diesen Todesfall keine Erklärung. Vom Opfer waren nur noch die Zähne und ein paar verkohlte Knochen übrig. Um einen Menschen so zuzurichten, hätte man eine Lötlampe gebraucht. Dabei war im übrigen Raum nicht einmal etwas angesengt. Wir können uns nicht erklären, warum nicht der ganze Anhänger in Flammen aufgegangen ist.«

Die dritte Geschichte handelte von einem großen Jungen – er war elf oder zwölf –, der zu brennen begonnen hatte, während er sich am Strand aufhielt. Sein Vater hatte ihn ins Wasser geworfen und sich selbst dabei schwere Verbrennungen zugezogen, aber der Junge hatte weitergebrannt, bis er total verkohlt war. In einer Geschichte war ein junges Mädchen verbrannt, als sie dem Priester im Beichtstuhl ihre Sünden beichtete. Charlie wusste gut über die katholische Beichte Bescheid, denn ihre Freundin Deenie hatte ihr davon erzählt. Deenie sagte, man müsste alle die schlimmen Dinge, die man während der Woche getan hatte, dem Priester erzählen. Deenie ging noch nicht zur Beichte, denn sie hatte ihre heilige Kommunion noch nicht empfangen, aber ihr Bruder Carl tat es. Er ging in die vierte Klasse und musste alles erzählen, selbst dass er in Mutters Zimmer geschlichen war und von ihrer Geburtstagsschokolade genommen hatte. Denn wenn man es nicht dem Priester erzählte, konnte man nicht mit CHRISTI BLUT gewaschen werden und kam an DEN HEISSEN ORT.

Charlie hatte sehr wohl verstanden, worum es in all diesen Geschichten ging. Als sie die mit dem Mädchen im Beichtstuhl gehört hatte, war sie so erschrocken gewesen, dass sie in Tränen ausbrach. »Werde ich mich denn verbrennen?«, fragte sie schluchzend. »Wie damals, als ich klein war und mein Haar Feuer fing? Werde ich ganz aufbrennen?«

Und Mami und Daddy waren ganz bestürzt gewesen. Mami war blass und biss sich auf die Lippen, aber Daddy hatte den Arm um Charlie gelegt und gesagt: »Nein, mein Kleines. Nicht, wenn du immer vorsichtig bist und nicht an diese … Sache denkst. Diese Sache, die dir manchmal passiert, wenn du aufgeregt bist oder Angst hast.«

»Was ist das?«, hatte Charlie weinend gefragt. »Was ist das, sagt mir, was das ist, ich weiß es nicht einmal. Ich will es auch nie wieder tun, das verspreche ich!«

Mami hatte gesagt: »Soweit wir wissen, Schatz, nennt man es Pyrokinese. Es bedeutet, dass man Feuer verursachen kann, indem man einfach nur an Feuer denkt. Es passiert meistens, wenn die Leute sich aufregen. Einige Leute haben offenbar diese … diese Fähigkeit ihr ganzes Leben lang, ohne es überhaupt zu wissen. Und andere Leute … nun, sie verlieren plötzlich die Kontrolle über diese Fähigkeit und dann …« Sie konnte nicht weitersprechen.

»Dann verbrennen sie«, hatte Daddy gesagt. »Wie es bei dir war, als dein Haar Feuer fing. Aber du kannst lernen, es zu kontrollieren, Charlie. Du musst es lernen. Und Gott weiß, dass es nicht deine Schuld ist.« Als er das sagte, hatten sich seine und Mamis Blicke kurz getroffen, und es schien etwas zwischen ihnen vorzugehen.

Wieder hatte er ihr den Arm um die Schultern gelegt und gesagt: »Ich weiß, dass du manchmal nichts dafür kannst. Es ist ein Missgeschick, wie damals, als du noch klein warst und nicht daran dachtest, zur Toilette zu gehen, weil du spieltest, und als du dir dann die Hosen nass machtest. Wir nannten es damals ein Missgeschick – weißt du das noch?«

»Ich tu das nie mehr.«

»Nein, natürlich nicht. Und bald wirst du auch diese andere Sache unter Kontrolle haben. Aber vorläufig, Charlie, musst du uns versprechen, dass du dich nie, nie, nie wieder so aufregen wirst, wenn du es irgend schaffst. Denn sonst zündest du Feuer an. Und wenn du es tust, wenn du es nicht verhindern kannst, dann versuch, es von dir wegzuschieben. Versuch, ins Freie zu laufen. Versuch, es ins Wasser zu lenken, wenn Wasser in der Nähe ist.«

»Aber richte es niemals gegen einen Menschen«, hatte Mami gesagt, und ihr Gesicht war ganz ruhig und blass und sehr ernst. »Das wäre sehr gefährlich, Charlie. Du wärest ein sehr böses Mädchen. Du könntest nämlich« – sie rang nach Worten –, »du könntest einen Menschen töten.«

Und dann hatte Charlie hysterisch geweint; es waren Tränen des Entsetzens und der Reue, denn Mami hatte beide Hände verbunden, und Charlie wusste, warum Daddy ihr diese schrecklichen Geschichten vorgelesen hatte. Denn am Vortag, als Mami ihr verboten hatte, Deenie zu besuchen, weil sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hatte, war Charlie sehr böse geworden, und dann war plötzlich aus dem Nichts dieses schreckliche Feuerding gekommen, wie ein böser, nickender und grinsender Kastenteufel, und sie war so wütend gewesen, dass es aus ihr herausgefahren war und Mami getroffen hatte, und dann hatten Mamis Hände gebrannt. Und es hätte schlimmer kommen können,

(Es hätte viel schlimmer kommen können, hätte ihr Gesicht treffen können.)

denn, weil das Becken voll Seifenwasser für den Abwasch gewesen war, wurde es nicht ganz so schlimm, aber trotzdem war es SEHR SCHLIMM gewesen, und sie hatte versprochen, dass sie es nie, nie, nie wieder …

Das warme Wasser prasselte ihr über Gesicht, Brust und Schultern und hüllte sie so warm ein, dass ihre bösen Erinnerungen und ihre Besorgnisse schwanden. Daddy hatte gesagt, dass es in Ordnung war. Und wenn Daddy etwas sagte, stimmte es. Er war der klügste Mann der Welt.

Dann richtete sie ihre Gedanken auf die Gegenwart, und sie dachte über die Männer nach, von denen sie verfolgt wurden. Sie waren von der Regierung, hatte Daddy gesagt, aber von einem bösen Teil der Regierung. Sie arbeiteten für einen Teil der Regierung, den man »die Firma« nannte. Von diesen Männern wurden sie ständig verfolgt. Wo sie auch hinkamen, tauchten wenig später die Männer von der Firma auf.

Wie es ihnen wohl gefallen würde, wenn ich sie in Brand stecke?, fragte etwas in ihr kalt, und schuldbewusst und entsetzt schloss sie ganz fest die Augen. Es war hässlich, so etwas zu denken. Es war böse.

Wenn man böse Gedanken hatte, musste man dafür büßen.

Das hatte Deenie ihr gesagt.

Washington, D.C.

1 In dem Augenblick, als Cap Hollister kurz an ihn dachte, saß John Rainbird in seinem Zimmer im Mayflower Hotel und sah sich eine Fernsehshow an. Er war nackt. Er saß im Sessel, die bloßen Füße genau nebeneinander gestellt, und verfolgte die Sendung. Er wartete darauf, dass es dunkel wurde. Wenn es dunkel war, würde er darauf warten, dass es spät wurde. Wenn es spät war, würde er darauf warten, dass es früh wurde. Wenn es früh wurde, würde er aufhören zu warten, ins Zimmer 1217 hinaufgehen und Dr. Wanless töten. Dann würde er wieder nach unten gehen und über das nachdenken, was Dr. Wanless ihm vor seinem Tod gesagt haben würde, und irgendwann nach Sonnenaufgang würde er noch ein wenig schlafen.

John Rainbird war mit sich im Reinen. Er war mit fast allem im Reinen – mit Cap, der Firma und den Vereinigten Staaten. Er war im Reinen mit Gott, Satan und dem Universum. Wenn er mit sich selbst noch nicht völlig im Reinen war, dann nur, weil seine Reise noch nicht zu Ende war. Er hatte viele ehrenvolle Narben davongetragen. Es war nicht wichtig, dass die Leute sich vor Angst und Ekel von ihm abwandten. Es war nicht wichtig, dass er in Vietnam ein Auge verloren hatte. Wie viel man ihm zahlte, war nicht wichtig. Er nahm es, und das meiste davon gab er für Schuhe aus. Er liebte Schuhe außerordentlich. Er besaß ein Haus in Flagstaff, und, obwohl er selbst sich dort selten aufhielt, ließ er sich all seine Schuhe dorthinschicken. Wenn er einmal Gelegenheit fand, sein Haus aufzusuchen, bewunderte er seine Schuhe – Gucci, Bally, Bass, Adidas, Van Donen. Schuhe. Sein Haus war ein seltsamer Wald; in jedem Zimmer wuchsen Schuhbäume, und er ging dann von Raum zu Raum, um die Schuhfrüchte zu bewundern, die an ihnen wuchsen. Aber wenn er allein war, ging er barfuß. Sein Vater, ein reinrassiger Irokese, war barfuß beerdigt worden. Jemand hatte seine Mokassins gestohlen.

Außer an Schuhen war Rainbird nur an zwei Dingen interessiert. Das eine war der Tod. Natürlich sein eigener Tod. Auf dieses Unvermeidliche hatte er sich schon seit zwanzig Jahren vorbereitet. Anderen den Tod zu geben, war immer sein Beruf gewesen, das einzige Metier, das er meisterhaft beherrschte. Als er älter wurde, begann er, sich immer mehr für den Tod zu interessieren, wie Maler sich immer mehr auf Licht und Schatten konzentrieren, wie Schriftsteller nach immer neuen Sprachnuancen tasten, ähnlich Blinden, die Braille lesen. Was ihn am meisten interessierte, war der Augenblick des Todes … der Augenblick, da man seinen Geist aushaucht … der Übergang aus dem Körper und dem, was die Menschen als Leben kennen, in etwas anderes. Welche Empfindungen hatte man bei diesem Hinweggleiten? Glaubte man, es sei ein Traum, aus dem man erwachen würde? Gab es den Christenteufel mit seiner Gabel, bereit, mit ihr die kreischende arme Seele aufzuspießen wie Fleisch auf einen Bratspieß, und mit ihr zur Hölle zu fahren? Ob es ein Glücksgefühl sein würde? Wusste man, dass man starb? Was sehen die Augen eines Sterbenden?

Rainbird hoffte, dass er es eines Tages selbst feststellen würde. In seinem Gewerbe kam der Tod oft rasch und unerwartet innerhalb von Sekundenbruchteilen. Er hoffte, dass er, wenn sein eigener Tod ihn ereilte, Zeit haben würde, sich darauf vorzubereiten und alles bewusst zu erleben. In letzter Zeit war er immer mehr dazu übergegangen, die Gesichter der Menschen, die er tötete, genau zu beobachten. Er versuchte, das Geheimnis in ihren Augen zu lesen.

Der Tod interessierte ihn.

Was ihn außerdem noch interessierte, war das kleine Mädchen, um das sie sich alle solche Sorgen machten. Diese Charlene McGee. Cap war überzeugt, dass Rainbird über die McGees kaum etwas wusste und von Lot Sechs noch nie gehört hatte. In Wirklichkeit wusste Rainbird fast so viel wie Cap selbst – was extreme Zwangsmaßnahmen gegen ihn gerechtfertigt hätte, wenn es Cap zu Ohren gekommen wäre. Man vermutete bei dem Mädchen große Fähigkeiten – vielleicht eine ganze Reihe von Fähigkeiten. Er, Rainbird, hätte das Mädchen gern kennengelernt, um sich über diese Fähigkeiten zu informieren. Er wusste auch, dass Andy McGee ein Mann war, der, wie Cap es nannte, »potenziell die Fähigkeit hatte, andere geistig zu beherrschen«. Das allerdings kümmerte John Rainbird wenig. Er hatte noch nie einen Mann kennengelernt, der ihn beherrschen konnte.

Die Fernsehsendung war zu Ende, und es folgten die Nachrichten. Eine gute war nicht darunter. Rainbird blieb sitzen. Er aß nicht, trank nicht und rauchte nicht. Sauber und nüchtern saß er da und wartete auf die Zeit des Tötens.