Almas Sommer

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Toblach, Mitte Juli 1910

Die Düsternis packte sie, und Alma spürte, hoffte, fürchtete wieder einmal, das wäre der Anfang vom Ende. Nicht von ihrem Ende. Was für ein lächerlicher Gedanke. Von seinem natürlich. Von ihrem gemeinsamen – ihretwegen. Sie spürte seine Hand die ihre drücken. Ein bisschen zu fest, wie immer schon. Wie hatte sie dieses Bisschen zu fest geliebt, so sehr ganz am Anfang, als sie sich erstmals begegneten. Ein bisschen weniger von Jahr zu Jahr. Nun war es ihr gleichgültig, seit Längerem schon. Ein Schauder überkam sie.

Die Sonnenstrahlen stachen durch die Gewitterwolken, die sich über das Tal gelegt hatten wie eine schwarzgraue Federbettgarnitur. Die Gipfel der Pustertaler Berge, der hellen Dolomiten im Süden, des dunklen Alpenhauptkamms im Norden, waren heute nicht zu sehen. Es war ihr egal. Sie machte sich nichts aus Bergen. Aus Gipfeln schon gar nicht. Ihr wurde schnell schwindelig. Allein schon diese aufdringliche frische Bergluft war ihr unangenehm, viel zu viel Sauerstoff, der ihren Kopf zum Drehen brachte.

Ein Stadtmensch wie sie war nicht gemacht für diese Frische. Das war, als steckte man Kühe, die Almwiesen gewohnt waren, in ein Kaffeehaus. Ihre Idealluft war die Wiener Gesellschaftsluft, New York ihretwegen, Champagnerluft, Denkerluft, parfumgetränkter Schweiß. Tabakrauch auf feiner Seide. Nicht Almentau auf grober Schafswolle.

Dazu auch noch diese Höhe! Sie war sich sicher, bei mancher vergangenen hiesigen Bergtour die Dünne der Luft gespürt zu haben, auch wenn ihr der Bergführer, der kernige Löffler Franz,

Der Mont Blanc! Ihr reichte das hier. Während die anderen am Gipfel jauchzten, sich in die Arme fielen – der Gustav adrenalintrunken mit dem Löffler um die Wette grinste –, war ihr das Kotzen gekommen.

Sie spürte, dass Gustav ihre Hand nun noch fester drückte, sie hörte das Knirschen der Steine unter den Sohlen ihrer Stöckelschuhe, es wunderte sie eh, dass sie auf diesem vermaledeiten, von Kuhfladen gesäumten, staubigen Sandweg noch nicht umgeknickt war. Was für eine blödsinnige Idee – natürlich Gustavs! –, vom Trenkerhof in Altschluderbach zu Fuß ins Dorf nach Toblach zu spazieren.

Er hatte sie gebeten, doch die Wanderschuhe anzuziehen. Sie hatte nur verächtlich auf die seinen geschaut. Diese klobigen, braunen Ungeheuer. Nein, nein, er mochte allenthalben in seine böhmische Bäuerlichkeit zurückverfallen. Sie war Wienerin. Wiener Blut trug Stöckelschuhe, wenn es zum Abendessen ins beste Haus am Platz ging. Auch wenn das beste Haus nur der Goldene Hirsch, ein ranziges Bauernwirtshaus, war.

Wurscht!

«Diese Luft!», hörte sie ihn schwärmen, während ihr selbst die Luft wegblieb. Sie spazierten – von flanieren konnte unter diesen Umständen ja keine Rede sein! – vorbei an fleischfarbenen, bauchigen Häuserwänden mit dunklen Fensterbrettern. «C+M+B»-Inschriften prangten auf dunklen Holztürrahmen, lebensgroße, holzgeschnitzte Jesusse hingen an Kreuzen unter den Schindeldächern. Die Köpfe zu Boden geneigt, die Gesichter verzerrt, die Haut blassgelb, die Brust blutig, die Schenkel

«Herrlich!», jauchzte Gustav.

«Gottesfürchtige Trottel, diese Tiroler!», flüsterte Alma in sich hinein.

«Diese Wolken, dieser Nebel, heute wird’s gewittern, stürmen, schneien womöglich», frohlockte Gustav unbeirrt weiter. «Morgen wird es aufklaren, die Sonne wird strahlen, dann werden wir die Gipfel sehen, unsere geliebten Gipfel! Schön, dass du nun endlich da bist, Alma, Almschi, Almschilein! Auch wenn ich mit dir schimpfen muss, so wenig hast du mir aus Tobelbad geschrieben, zerrissen hätt’s mich beinahe, schlimm zerrissen, Almschili, das Schlimmste befürchtete ich schon, hättest ruhig öfters schreiben können.»

Wieder der Druck seiner Hand, eindeutig zu fest jetzt. Viel zu fest.

«Bin richtig hungrig», sprach er entschlossen weiter, «ich werde eine klare Suppe schlürfen, ja, das werde ich. Vielleicht etwas weißes Fleisch dazu probieren. Zwei dünne Streifchen, drei maximal. Mir läuft’s Wasser im Munde zusammen. Fontänen. Ganze Wasserfälle. Almschidalmschibaldschilein! Ich darf nicht vergessen, der Wirtin zu sagen, die Suppe und die Pute bloß nicht zu würzen. Kein Salz! Keine Soße drüber. Keine Gewürze. Keine Butter, lieber nicht. Das bringt mich alles um.»

Gustav drückte sie an sich, drückte ihr einen Schmatzer auf den Kopf. Auf den Kopf! Warum nicht auf die Wange? Warum nicht auf den Mund? Zum Glück nicht auf den Mund, dachte sie. Suppe? Hasste sie. Aber sie liebte Butter. Außer der vom Trenkerhof, ihrem Sommerfrischedomizil, die ja wirklich ganz scheußlich schmeckte. Ja, die hasste sie wahrlich auch. Hasste sie auch ihn schon? Nein. Sie liebte ihn nur weniger.

Sie freute sich auf keine Suppe, sie bestellte sonst nur, wenn

Wie konnte es sein, dass Liebe verschwand und wieder entstand? Wie konnte es ihr passieren, dass sie liebend aufs Leben hereinfiel? Sie wollte ihn spüren. Ihn lieben. Sie blinzelte zu Gustav hinüber, musterte ihn. Der spitze Schädel, die hohe Stirn. Die immerfort blinzelnden Äuglein hinter den runden Brillengläsern. Die knochige Nase, die eingefallenen Wangen, der zarte Mund. Sie bemerkte, dass seine Hand nicht mehr drückte, die Wärme seiner Handfläche wärmte ihre Hand nicht mehr, kurz zog er an ihr, dann ließ er sie los. Im Nu war er ihr ein paar Schritte voraus. Wie sie es geliebt hatte, dieses Drängen, diese Eile, diese Energie, mit der er sie durchs Leben trieb. Einer wie Gustav, der flanierte nicht, der rannte, zerrte, zog. Er trieb sie an. Hatte sie angetrieben. Nun war alles anders.

Er war ihr schnell zehn Meter voraus. Je schneller er lief, desto langsamer ging sie. Er stampfte mehr, als er schritt, den Hut nicht auf dem langen Kopf, sondern zwischen den Fingern gekrallt. Wie ein alter, vom Winter ausgemergelter Hirsch wirkte er, von Jägern umzingelt. Aus dem dunklen, grünen Wald herausgejagt, im Labyrinth des Dorfes verloren, von den Häusern umzingelt. Ohne Ausweg.

Mahler fragte sich, mit wie vielen Gedanken so ein Gehirn, sein Gehirn, wohl zeitgleich jonglieren konnte. Wie viele Eindrücke zeitgleich verarbeiten. Diese Sinne! Sind’s nicht doch ein paar zu viele? Wäre der moderne Mensch nicht erst komplett, wenn er es schaffte, sie einzeln einzusetzen? Wie bei einem Orchester, da tost mal alles zusammen, volles Programm, dann ist da aber das Blech ja auch mal still, wenn das Holz rumort, so wie zu Beginn des finalen Adagios der Neunten. So ein Part, das befahl Mahler seinem Gehirn eindringlich, musste unbedingt auch in der Zehnten wieder vorkommen. Nur halt noch genialer, noch ungehörter, noch finaler!

In der dicken, schweißschwangeren Gasthausluft japste er nach Sauerstoff, überlegte sich, wie er sein Gehirn nur dazu zwingen könnte, diesen immens wichtigen Gedanken bis später zu behalten, dann überlegte er es sich anders, nein, zu wichtig war dieser Einfall, um ihn den Launen des Erinnerungsvermögens zu überlassen. Wie viele geniale Gedanken von genialen Menschenkindern waren der Welt wohl schon abhandengekommen, weil diese Genies sie nicht notiert hatten. Da hatte der alte Schopenhauer schon recht, viel zu viele geniale Gedanken waren durch Peitschenknalle vernichtet worden. Weg. Für immer.

Wir würden wohl längst in Maschinen durch die Luft schweben, den Mond besiedeln, Melodien nicht nur hören, sondern auch riechen und schmecken können, dessen war Mahler sich gewiss, wenn ein jeder geniale Gedanke eines jeden genialen Denkers der Menschheitsgeschichte vor dem Vergessen bewahrt worden wäre. Ja, ja, sein jüngster Gedankenstreich musste schriftlich festgehalten werden. Schnell!

Er musterte seine eigenen Hände, seine Finger waren keinesfalls besonders lang, auch nicht fein, mitnichten käsig. Aber sie waren länger, feiner, käsiger als diese Bauernfinger, die Haare auf den Rücken zarter, ebenfalls länger, die Fingernägel wirkten poliert, im Vergleich beinahe wie Mädchennägel. Das erfüllte ihn mit Freude. Um die Schönheit dieser Nägel hatte er, der einst notorische Nagelbeißer, lange mit sich gerungen. Damals. Ihr zuliebe. Mit ihrer Liebe. Mit ihrer Hilfe. Alles an ihm alterte, nur die Nägel nicht, sinnierte sein Hirn, während der Blick weiterwanderte. Er entdeckte die Zeitung, den Pustertaler Boten, auf der Holzbank, er nahm sie zur Hand, überflog die Schlagzeilen der Titelseite.

Wiener Politikgeschacher, lästiges Zeug. Mahler machte mit dem Bleistift einen Strich auf den Zeitungsrand, nur zur Kontrolle, ob er denn auch schrieb, dann setzte er an und merkte sogleich, dass er vergessen hatte, was er sich notieren wollte. Er malte zwei Blumen an den Rand des Papiers. Das mit den Sinnen, das mit den vielen Gedanken, die so ein Schädel gleichzeitig zu denken hatte, darüber hatte er doch nachgedacht und dass er doch wohl ein noch viel besserer Komponist werden konnte, wenn er die Möglichkeit besäße, fünf der sechs Sinne herabzudimmen, volle Konzentration auf das Gehör.

Er lehnte sich zurück, kurz wurde ihm schwindelig, dann

Nur noch helles Flackern unterm Dunkel der Augenlider, er drückte die Nasenflügel zusammen, tatsächlich, ihm war, als ob der Gasthausgeruch weniger wurde, weniger Weingeruch, weniger Kalbskopf – Gott, wie der stank! –, weniger Schweiß. Er versuchte, an nichts zu denken, keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur das Jetzt, und ja, da schau her, der Gasthauslärm, wie magisch verwandelte er sich in – Musik! Es klappte also, ja, wie neulich schon einmal. Dies Gasthaus, welch Inspiration! Das Brummeln, das Scheppern, das alles musste er unterbringen, eine vertonte Gasthausszene, ja, das wär’s! Gasthausszene, kritzelte er immer noch geschlossenen Auges auf das Zeitungspapier, riss blind das Stück Papier vom Rest der Zeitung ab, steckte es in die Innentasche des Jankers, überlegte, welche Grundtonart das wohl war, was er da hörte, irgendwas in Moll auf jeden Fall.

Dann hörte er ein gackerndes Lachen, ein verstimmtes Cis-Dur ins Moll hineinprusten. Alma! Er öffnete die Augen. Ja, er hatte sich vorgenommen, nicht zu ihr hinüberzuschauen, nun tat er es doch. Er hatte sich längst eingestanden, dass er nie von ihr loskommen würde. Nie! Alma, seine Liebe, seine Lust, sein Leben, seine Sehnsucht, sein Schicksal.

Seine Liebe, seine Lust, sein Leben, seine Sehnsucht, sein Schicksal hatte sich eng an einen Bauernbuben geschmiegt. Mahler spürte den Liebeshasszorn in sich. Plötzlich taten ihm all seine alten Knochen noch mehr weh, als sie ihm eh schon wehtaten seit ein paar Wochen. Jeder einzelne, so schien ihm, schmerzte. Wie jung und schön der Bub war! Milchige Haut. Mahler stellte sich dessen nach frischer Kuhmilch duftenden Atem vor, den sie in diesem Moment wohl in sich aufsog. Was

Er schaute nun doch zu ihr. Sah ihren begierigen Blick. Ihre hohen, rosafarbenen Wangenknochen, ihre feinen Augenbrauen, ihre dicken Ohrläppchen, ihr zartes Haar, ihr üppiges Kinn, den vollen Mund, die weiche Haut. Ja, er liebte das alles. Auch, allem voran und doch auch überhaupt nicht: ihre krankhafte, hysterische Lustigkeit.

Alma hielt den Kopf ihm abgewandt, aber er war sicher, sie kämpfte damit, sich nicht umzudrehen, er war sicher, sie wünschte sich, im Hinterkopf Augen zu haben, um seine eifersüchtigen Blicke zu sehen. Eifersucht, verdammte! Geht nicht ohne. Die Eifersucht nicht zeigen, das hatte er sich selbst geschworen, wie oft schon? Er wusste, dass er dies alles auf Dauer nicht durchhalten würde, er wusste, dass sie den längeren Atem hatte, keine Eifersucht zu kennen schien, er hatte das alles schon zu oft erlebt, er fürchtete sich davor, es darauf ankommen zu lassen. Das einzig Gute: Diese verdammte Eifersucht, sie half beim Komponieren.

Er schloss die Augen erneut, alle Sinne möglichst ruhen lassen! Alle bis auf die Ohren. Doch es klappte nicht mehr. Das Gasthausgeklimper folgte keiner Melodie mehr, da war nur noch anarchischer Lärm, auch Almas Gackern war weg, die Stimmen am Tisch nebenan legten sich über das Grundrauschen. Es wunderte Mahler, wie klar er jedes Wort der krächzenden Bauernkehlen vernahm. «Ein Genie», sagte einer. «Ein Besessener», sagte ein Zweiter. «Ein Kaliber», pflichtete ein

Mahlers Herz pochte hitzig. Genie! Schöpfer von Meisterwerken. Zufrieden sank er in sich zusammen. Er bemerkte, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen. Sie hatten wohl gar nicht gesehen, dass der, über den sie sprachen, am Nachbarstisch saß. Zumal ihnen den Rücken zugedreht. Er und Alma waren ja schon früh ins Gasthaus gekommen, er hatte seine Suppe und die zweieinhalb Fleischstreifen – ohne Würze, ohne Salz, ohne Soße, ohne Butter! – ja schon verspeist. Er hatte sich mit Alma ja schon gestritten, während der Goldene Hirsch sich gefüllt hatte, noch bevor die Männer, denen er nun lauschte, sich an den Nachbarstisch gesetzt hatten. Noch bevor sie ihre Kalbsköpfe bestellt hatten, da war Alma schon längst wütend aufgestanden, weil er nicht mit ihr tanzen wollte.

Alma hatte alleine auf einem Stuhl eine Pirouette gedreht, zur Belustigung des Gasthauspöbels um sie herum, dann hatte sie sich an die Theke gestellt, sich einladen lassen. Mal von dem, mal von dem. Zu ihm an den Tisch hatten sich ungefragt Bauern und Hirtenbuben gesetzt. Diese Flegel. Das machte man doch nicht, sich einfach hinsetzen. In New York vielleicht, aber in Wien ganz bestimmt nicht. Ja, Nein. Die am Tisch nebenan, die ihn lobpreisten, sie hatten ihn wohl einfach nicht gesehen. So musste es sein.

Nun schwiegen die Männer. Er überlegte, was er tun sollte, wenn sie wieder anfingen, ihm zu huldigen. Aufstehen, sich umdrehen, an ihren Tisch gehen. Würden sie ihn sofort erkennen? Oder wussten sie vielleicht überhaupt nicht, wie er aussah? Kannten ihn nur vom Namen, aus der Zeitung – er schielte kurz zum Boten – oder von seinen Melodien her?

Konnte sein. War wohl so. Er war ja so selten im Dorf

«Musst du mir erst mal erklären, was das sein soll, ein Psychologe», sagte ein Vierter, «ein Ins-Hirn-Hineinschauer! Mein Großvater ist mit hundertdrei Jahren gestorben, mein Vater ist dreiundneunzig und wohlauf, die sind so alt geworden, ohne sich auf eine Couch von so einem Hirndoktor zu legen. Die Ofenbank hat’s auch getan.» Grölendes Gelächter. Mahler stand das Herz kurz still. Schweiß auf der Stirn. Er biss sich auf die Lippen. Erneuter Schwindel. Wie so oft in den vergangenen Tagen. Augen auf. «Ofenbank, Depp! Da geht’s um ganz etwas ganz anderes», sagte wieder der Dritte. Gustav kämpfte mit dem Zorn, blinzelte, lugte rüber. Da saßen zwei in abgewetzten Anzügen, die anderen waren wohl Bauern.

«Der soll ruhig kommen, der Herr Psychologe, dieser Schöpfer! Meister! Dieses Genie! Wie heißt der?», sagte immer noch der Vierte.

«Freud heißt der. Dr. Sigmund Freud aus Wien», antwortete der Dritte.

«Wie, was ist er denn jetzt, der Herr Freud? Psycho… dings… loge oder Doktor …», konterte der Vierte.

Wieder Gelächter. Wieder blinzelte Mahler, er sah, dass die Herrschaften an der Theke – ein paar Bauern in verschwitzten Hemden und ein paar Toblacher, die versuchten, wie Wiener auszusehen – wie mit Geisterschritten näher kamen und sich um den Tisch scharten. Er sah, dass auch Alma und der Almbub sich zu ihnen drehten. Augen wieder zu.

«Unterlechner, du dummer Bauer, der Dr. Freud, das ist eine Bekanntheit. Den kennen sie überall. In Berlin. Auch drüben in

«Ja, wer denn?» Ein Fünfter beugte sich nun zum Tisch hinab.

«Wie, wer denn?», fragte der Dritte verwirrt zurück.

«Wer wir dann wieder sind?», der Fünfte wieder.

«Wir? Wir sind wir – wer denn sonst?», schrie einer aus der zweiten Reihe.

Und dann schrie bald alles durcheinander. Lauteres Gelächter, das Quietschen von Stuhlbeinen über dem Holzboden, das Klappern eines umfallenden Stuhls.

Sigmund Freud kam auch nach Toblach? Mahler wusste nichts davon. Freud! Er kannte ihn natürlich, doch waren sie sich noch nie begegnet. Es hieß in Wiener Kreisen, dem Doktor Freud würde das blasonierte Salonieren nicht zusagen, ebenso wenig wie ihm selbst, dachte Mahler, es war Alma, die ihn von einer Gesellschaft voller narzisstischer Selbstinszenierer, neureicher Plapperer, notorischem Gesindel und blasierter Parvenüs in die nächste schleppte. Vielleicht, so dachte er, müsse er diesen Freud tatsächlich einmal kennenlernen. So von Misanthrop zu Misanthrop. Vielleicht sogar hier in Toblach, sollte er tatsächlich diesen Sommer noch anreisen. Obgleich es selten glückte, überlegte er weiter, dass zwei Menschenmeider sich verstanden.

«Dass der tatsächlich anreist, der Herr Doktor, das halte ich freilich für ein Gerücht, sonst nichts», sagte wieder der eine Bauer. «Was hat der Bote Sommer für Sommer nicht schon alles geschrieben, wer angeblich kommen wollte? Sogar der Johann

Mahler sackte in sich zusammen. Presste die Augen zusammen, die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Fester, noch fester! Strauss, ausgerechnet Strauss. Diese Ausgeburt der Dreivierteltakttrivialität. Was verstanden diese dummen Bauern schon. Ja, sagte er sich, ja, er müsse diesen Herrn Dr. Freud wohl doch mal treffen, mal fragen, ob das denn gehe, irgendwie, das mit den Sinnen. In Toblach, sonst in Wien. Vielleicht konnte er das Thema dort bei einem gemeinsamen Kaffeehausbesuch ansprechen, am Opernplatz, bestenfalls im Sacher, da saß er am wenigsten ungern, auch wenn er wusste, dass die allermeisten seiner Bekanntschaften lieber ins Theatercafé gingen, warum wohl? Die Melange schmeckt scheußlich da, der Kirschkuchen fad.

Er fasste nach seiner Teekanne, schenkte sich nach, nahm die verächtlichen Blicke der Weintrinker um sich herum wahr. Vielleicht sollte er mit Freud zunächst brieflich korrespondieren, nicht vergessend, die Briefe sorgsam aufzubewahren. Für die Nachwelt! Freud  – Mahler – Die Briefe! Nein, Mahler – Freud – Die gesammelten Korrespondenzen! Ja! Tee, noch mehr Tee!

Mahler trank den Becher leer. Gierig. Schenkte sich noch einmal ein. Tee half. Meistens zumindest. Warum eigentlich nicht eine Oper schreiben, dachte er sich plötzlich. Eine Oper mit einer zünftigen Gasthausrauferei mittendrin. So wie es sich gehörte. Und die Chronisten würden für die Nachwelt aufschreiben, wo ihm Idee und Inspiration dazu gekommen waren.

Freud! Strauss! Warum redeten die über Freud und Strauss, überhaupt über irgendwen, wenn ein Gustav Mahler am Nebentisch saß. Das hatte ihn nun doch sehr getroffen. Seine schönen Fingernägel fraßen sich ins Tischholz. Er fasste erneut nach dem Becher Tee, schaute beim Trinken auf, ihre Blicke kreuzten sich. In Almas Blick: Verachtung.

«Steh auf, Brandstätter, wenn du ein Mann bist. Oder traust du dich nicht, dich einem Bauer zu stellen», schrie die Bauernstimme von vorhin.

«Geh, Unterlechner, setz dich hin. Trottel», antwortete einer spöttisch.

«Nenn mich gern Trottel, aber meine Viecher nennt keiner nicht dumm, du dummer Mensch», wieder der Bauer. Ruhiger jetzt. Beleidigt.

«Ist gut, schenkt ihm noch einer etwas ein, Wein beruhigt, nicht?», wieder der andere, dieser Brandstätter wohl, dann plötzlich leiser. Der Mann beherrschte die seltene Kunst, so zu flüstern, dass ihn doch jeder hören konnte: «Ich verrat euch mal was, wer ganz sicher kommt, dieses Jahr. Der Thronfolger! Franz Ferdinand, der Erzherzog! Da schaut’s ihr, gell? Mit seinem Automobil will der Halt bei uns machen. Auf seinem Weg nach Venedig und Triest.» Der Lärmpegel senkte sich ehrfürchtig. Nur noch Grummeln und leises Zischen: «Der Thronfolger, Franz, Franz Ferdinand!»

Mahlers Herz pochte nun wieder wie verrückt. Es war ihm, als pochte es in seinem gesamten Körper. Im Hals, hinter der Stirn, im linken Ohr, in der Brust, im Bauch, in den Fingern, in

Mahler beobachtete die Bauern an den anderen Tischen, sie aßen, tranken, rülpsten, warfen Salzburger Spielkarten in die jeweilige Tischmitte, sie bestellten schreiend, was faszinierte die an so einem Erzherzogsgroßmaul? Warum interessierte es sie nicht zumindest gleichermaßen, dass er, Gustav Mahler aus Wien, Komponist von Symphonien, von Liedern und Chorwerken, Vertoner ihrer Welt, Vertoner der Berge, der Wiesen, der Kühe, der Natur, unter ihnen weilte, warum merkten die nicht, dass er am Nebentisch saß? Gab’s doch nicht! Schwafelten vom fernen Freud, vom toten Strauss und bemerkten den lebendigen, nahen Mahler nicht. Verstanden halt nichts von Musik, diese Bauern. Diese Tölpel. Hinterwäldler. Die dachten wohl, jeder Dorfkapellmeister sei ein begnadeter Dirigent. Ja, nein, sie verstanden es einfach nicht. Er versuchte, Mitleid zu entwickeln, Mitleid mit diesen zurückgebliebenen Kreaturen, um nicht erneut dem soeben kurz abgeschwollenen Zorn anheimzufallen. Diese armseligen, geistlosen, dummen, bildungsfernen, gotteshörigen Geschöpfe. Es gelang ihm nicht. Der Zorn brannte erneut auf, loderte hoch.

Am liebsten wäre er nun aufgesprungen, hätte Alma gepackt, sie über die Gasthausschwelle nach draußen getragen. Am

Er nahm seinen Hut in die Hand, nickte den Bauern um ihn herum zu, stand auf, alles schaute noch auf den Nachbarstisch, die Blicke: gierig. Doch sie gierten nicht nach den Kalbsköpfen, geschwenkt serviert, mit roten Zwiebelstücken und Speckknödelscheiben, mit Pfifferlingen und Petersilie, sie gierten danach, dass der Disput nun doch endlich weitergehen mochte. Das konnte es doch nicht gewesen sein! Alles war doch serviert für eine zünftige Gasthausrauferei!

Mahler trat zu Alma, die gelangweilt Fussel von ihrer Bluse zupfte. Geschah ihr recht, dass dieser Bauernlump, an den sie sich im Zorn des Streits rangeworfen hatte, sich nun mehr für eine Gasthausposse interessierte als für sie. «So, wir gehen jetzt!» Er packte sie am Oberarm.

«Pfff, geh du, ich bleib!» Sie hob das Kinn. Dieser vermaledeite Stolz!

«Du …» Er drückte fest.

«Ich schrei gleich.» Sie hob die eine Hand, formte die Finger zu Krallen.

Er wich zurück. «Alma, ich bitte dich …»

Sie formte ihre Augen zu Schlitzen.

«Alma, sei doch …»

Er machte alles nur noch schlimmer. Er konnte nicht