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© Piper Verlag GmbH, München 2009
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So hat alles begonnen.
Vor langer, sehr langer Zeit …
Eine Entstehungsgeschichte zu verfassen, ist immer eine besondere Herausforderung. Anders als bei einer Fortsetzung geht es nicht darum, die Abenteuer der Protagonisten fortzuschreiben, sondern im Gegenteil ihre Herkunft, ihre Geschichte und ihre Welt zu erklären. Bestehende Rätsel können auf diese Weise aufgelöst, offene Fragen beantwortet und lose Fäden verbunden werden – und ein ganz neues Abenteuer kann beginnen.
Im Lauf der viereinhalb Jahre, die ich an der »Orks«-Trilogie gearbeitet habe, hat »Erdwelt«, jener urwüchsige, archaische Kontinent, auf dem die Romane spielen, immer größere und detailliertere Züge angenommen. Kulturen sind neu dazugekommen, Topografien wurden ausgefeilt, Städte und Siedlungen ergänzt. Und natürlich hat Erdwelt auch seine eigene Vergangenheit bekommen, eine Historie, die von den mythischen Anfängen im Zeitalter der Drachen über die Dynastie der Elfenkönige bis hin zur von Menschen und Orks geprägten Gegenwart reicht. In diese Vergangenheit einzutauchen und von jener dramatischen Zeit zu erzählen, in der die Welt am Scheideweg zwischen Licht und Finsternis stand, schien mir eine reizvolle Aufgabe. Die Möglichkeit, Erdwelt so zu schildern, wie es eintausend Jahre vor Balbok und Rammar, also noch zur Hochzeit der Elfen und des Ordens der Zauberer gewesen ist, und dem Leser so ganz neue Perspektiven zu eröffnen und ihn mitzunehmen auf eine Reise in eine noch unerforschte Fantasy-Welt, hat mich mit einer Begeisterung erfüllt, die mich von der ersten bis zur letzten Seite getragen hat. Aber natürlich ist es nicht nur mein Enthusiasmus gewesen, der dieses Buch ermöglicht hat.
Mein Dank geht daher an Carsten Polzin von Piper Fantasy, an meinen Lektor Peter Thannisch und meinen Agenten Peter Molden, deren freundschaftliche und unermüdliche Unterstützung das Projekt begleitet hat. Bei Daniel Ernle bedanke ich mich für die wie immer wunderbare Kartenillustration, die den Erdwelt-Kosmos weit nach Süden hin erweitert hat. Und natürlich gilt mein Dank auch meiner Familie, ohne die keine einzige Seite dieses Buches beschrieben wäre.
Die Geschichte Erdwelts und seiner Völker, der Elfen und Orks, Menschen und Zwerge, nimmt in diesem Band ihren Anfang. Er berichtet von mythischen Begebenheiten, von Liebe und Verrat, von Kampf und Intrige – und vom Beginn eines neuen Zeitalters. An die Leser der »Orks«: Schön, dass ihr wieder da seid. An alle anderen: Anschnallen und los geht’s!
Das Abenteuer nimmt hier seinen Anfang …
Michael Peinkofer
Winter 2008
Zauberer |
|
Semias |
Vorsitzender des Hohen Rates |
Cethegar |
sein Stellvertreter |
Farawyn |
Meister, Mitglied des Hohen Rates |
Palgyr |
sein Rivale, ebenfalls Ratsmitglied |
Riwanon |
Meisterin, Mitglied des Hohen Rates |
Labhras; Sgruthgan; Cysguran |
Ratsmitglieder, Anhänger Palgyrs |
Syolan |
Chronist von Shakara |
Codan |
ein naturkundiger Meister |
Atgyva |
Hüterin des Wissens, oberste Bibliothekarin von Shakara |
Daior |
Zaubermeister |
Elfen |
|
König Elidor |
Herrscher des Elfenreichs |
Fürst Ardghal |
sein oberster Berater |
Alannah |
eine elfische Novizin |
Aldur |
ein elfischer Novize |
Alduran |
Aldurs Vater |
Mangon |
Lordrichter von Tirgas Lan |
Accalon |
Kommandant der Grenzfeste Carryg-Fin |
Zenan; Trea; Haiwyl; Pryll; Caia |
Novizen aus Shakara |
Menschen |
|
Fürst Erwein |
Herr von Andaril |
Ortwein von Andaril |
sein ältester Sohn |
Granock |
Novize in Shakara |
Kobolde |
|
Argyll |
Diener Farawyns |
Flynn |
Diener Cethegars |
Níobe |
Dienerin Riwanons |
Ariel |
Diener des Hohen Rates |
Orks |
|
Borgas |
Häuptling der Knochenbrecher |
Gunrak |
ein faihok |
Rambok |
ein widerspenstiger Unhold |
Es wäre schon ziemlich dreist, wollte man behaupten, die Ursachen für den Beginn des Zweiten Krieges und damit für jenen letzten Kampf, der über das Schicksal der Welt entscheiden sollte, wären einfach und klar zu benennen. Weder war es allein die Trägheit der Elfen noch die Gier der Zwerge, weder das Machtstreben der Menschen noch die permanente Gewaltbereitschaft der Orks, die letztlich das Reich ins Chaos stürzten. Es war vielmehr alles zusammen, zahlreiche Kräfte, die den Strom der Vernichtung speisten.
Doch wenn es eine Gruppierung gibt, die in besonderer Weise für die Geschehnisse Verantwortung trägt, dann ist es jener Stand, dem auch ich angehöre, der unwürdige Schreiber dieser Chronik.
Dwethiana.
Die Weisen.
Oder wie die Sterblichen zu ihnen sagen und wie auch ich sie des besseren Verständnisses halber fortan nennen werde: die Zauberer.
Zu allen Zeiten hat es sie gegeben, diejenigen, die das Schicksal oder die Vorsehung mit besonderen Gaben ausgestattet hat. Gaben, die sie befähigen, die Gesetze der Natur zu beugen. Reghas pflegen wir eine solche Gabe zu nennen, die sich nicht selten auch als Bürde erweist, denn sie birgt eine große Verantwortung.
Um diese zu schultern, wurde vor Urzeiten, noch während des Goldenen Zeitalters, der Magische Rat gegründet, dessen Angehörige sich mit einem feierlichen Eid dazu verpflichteten, ihre reghai zum Dienst und zum Wohle aller einzusetzen.
Über Jahrtausende standen die Zauberer den Elfenkönigen bei, beschützten sie und berieten sie bei ihren Entscheidungen, und sie waren maßgeblich daran beteiligt, als das Reich unter der Regentschaft Sigwyns des Eroberers seine bis dahin größte Ausdehnung erfuhr: Von gylmaras im Westen bis zu den Wildlanden im Osten, von yngaia bis an die Gestade der See erstreckte es sich.
Doch Sigwyns Stern sank, als seine Gemahlin Liadin ihn betrog, und das Reich drohte sich zu spalten. Um dies zu verhindern, taten die Zauberer, was getan werden musste, auch wenn es den selbst auferlegten Regeln widersprach: Sigwyn wurde entmachtet, und aus dem Magischen Rat wurde der Hohe Rat der Elfen, der dem König fortan nicht mehr nur beratend zur Seite stand, sondern ihn auch kontrollieren sollte.
Ruhe und Ordnung kehrten nach amber zurück, doch mit der Größe des Reichs zeigte sich auch seine Schwäche. Die Verwaltung über weite Entfernungen aufrechtzuerhalten, erwies sich als schwierig, und in jenen Städten, die weit entfernt lagen vom Zentrum des Reichs, schwelte die Glut des Aufruhrs.
König Iliador der Träumer war es, der den Hohen Rat bat, diesem Missstand abzuhelfen, und er wurde gehört. Einem jungen Zauberer namens Qoray, der aus der fernen Stadt Anar stammte, gelang es, die Kraft der Elfenkristalle zu nutzen, um die Pforten von Zeit und Raum zu öffnen und das zu errichten, was wir den Dreistern nannten: eine magische Verbindung, die es uns erlaubte, innerhalb eines Augenblicks von einem Ort des Reichs zum anderen zu reisen. Von Dinas Lan, dem strahlenden Zentrum des Reichs, konnte man mittels des Dreisterns nach Norden in die Ordensburg von Shakara gelangen oder nach Osten ins ferne Anar sowie nach Süden auf jenes Eiland, das zugleich Vergangenheit und Schicksal des Elfenvolks ist – die Fernen Gestade. Durchschritt man jene Kristallpforten, erreichte man einen Augenaufschlag später seinen Zielort, ohne die Mühsal und die Gefahren einer langen Reise auf sich zu nehmen.
Der König zeigte sich davon begeistert und ebenso der Rat, der im Gegenzug für diese Leistung weitere Rechte von der Krone zugesprochen erhielt. Niemand fragte sich, woher Qoray seine Kenntnisse nahm oder was er selbst damit bezweckte. Dies erfuhr die Welt erst, als Scharen grässlicher Unholde aus den Kristallpforten quollen. Da nämlich zeigte Qoray sein wahres Gesicht und nannte sich auf einmal Margok, und unter diesem Namen überzog er amber mit Tod und Verderben.
Lange Jahre währte der Krieg der Elfen gegen jene grobschlächtigen, brutalen Wesen, die Margok unter Zuhilfenahme verbotener Zauber selbst ins Leben gerufen hatte. Margoks Kreaturen nannte er sie – sie selbst jedoch, nicht willens oder nicht in der Lage, dies auszusprechen, gaben sich einen anderen Namen: Orks.
In verlustreichen Kämpfen gelang es, die Unholde zu besiegen und sie zurückzutreiben hinter die Gipfel des Schwarzgebirges, bis an die Gestade des gylmaras, der seither »Modersee« genannt wird. Margok flüchtete, wohin, das fragte niemand. Die meisten, auch viele seiner Anhänger, hielten ihn für tot. Die Kristallpforten wurden geschlossen, und das Silberne Zeitalter begann, in dem die im Krieg zerstörten dinai wieder aufgebaut wurden, diesmal als stolze Festungen mit wehrhaften Mauern, die die Namen Tirgas Lan und Tirgas Dun erhielten.
Die Drachen verließen die Welt, neue Rassen tauchten auf und beanspruchten ihren Platz unter den Völkern Erdwelts, unter ihnen die Zwerge, die Gnomen …
Und die Menschen.
Kaum jemand im Elfenreich maß den Meldungen aus dem Osten Bedeutung bei, in denen es hieß, die wilden Lande jenseits der dwaímaras würden auf einmal von Kreaturen besiedelt, die wie die Söhne Glyndyrs und Sigwyns aufrecht auf zwei Beinen gingen und sich aus dem Zustand ursprünglicher Unschuld erhoben. Doch die Menschen, wie sie sich nannten, waren ebenso strebsam, wie sie fruchtbar waren. So schnell, wie sie sich vermehrten, unterwarfen sie sich das Land im Osten und besiedelten es. Eine Gefahr für das Elfenreich stellten sie dennoch nicht dar. Denn jung und unerfahren, wie sie waren, suchten die gywara Streit unter ihresgleichen und lieferten einander blutige Schlachten, sodass ihr Einfluss nicht zu groß werden konnte. Zu jener Zeit verstanden es sowohl die Könige der Zwerge als auch die Herrscher des Elfenreichs, die Streitigkeiten unter den Menschen immer wieder zu schüren, sodass ihr Volk nicht erstarken konnte.
Jahrtausende vergingen, und die Welt wandelte erneut ihr Gesicht. Um sein Reich inmitten der immer größer werdenden Anzahl von Völkern zu behaupten, brauchte der Elfenkönig mehr denn je die Hilfe des Hohen Rates. Und je größer der Einfluss der Zauberer wurde, desto mehr von ihnen wurden gebraucht.
Überall im Reich suchte man nach ihnen – ohne zu ahnen, dass das, was man fand, den Anfang vom Ende bedeutete …
Aus der Chronik Syolans des Schreibers
I. Buch, 3. Kapitel
Es war ein finsteres Ritual, das auf der Lichtung stattfand, eingehüllt von der Dunkelheit einer mondlosen Nacht und umgeben von der schwarzen Wand des Waldes.
Zehnmal war der dumpfe Schlag der Trommeln erklungen, zehnmal hatte sich die Klinge ins Herz eines unschuldigen Opfers gesenkt, zehnmal war die geheime Formel gesprochen worden, die in verbotenen Schriften die Zeit überdauert hatte.
Carryg ai gwaith …
Zehn Menschen hatten ein grausames Ende gefunden, Dorfbewohner aus dem Süden, die man in den Nächten zuvor aus ihren Hütten verschleppt hatte. Niemand würde je erfahren, was mit ihnen geschehen war. Ihre Schreie hatten sich mit dem heiseren Gebrüll der Urwaldtiere zu einem schaurigen Chor vermischt, um dann jäh zu verstummen.
Carryg ai gwaith …
Das Ritual war beendet, die Anweisungen waren genau befolgt worden, und jeder der in weite Kutten gehüllten Schatten, die auf der Lichtung standen, wartete darauf, dass der Bannspruch seine Wirkung entfaltete.
Carryg ai gwaith …
Stein zu Blut.
Die Veränderung trat so langsam und unmerklich ein, dass sie kaum jemandem auffiel, zumal der flackernde Schein der Fackeln nicht ausreichte, um die Lichtung ganz zu erhellen.
Reglos standen die Schatten inmitten der zehn steinernen Figuren, zu deren Füßen je eines der leblosen Opfer lag, das Herz durchbohrt und die Gesichtszüge in namenlosem Schrecken erstarrt.
Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurden die Mienen der Toten blasser und sanken ihre Augen tiefer in die Höhlen, bis die Toten schließlich den Eindruck erweckten, als hätten sie ihr Leben nicht eben erst ausgehaucht, sondern schon vor langer Zeit, und als hätte die Feuchtigkeit des Dschungels ihre Körper konserviert. Ihre Haut wurde nicht nur bleich, sondern auch runzlig wie welkes Laub, während das Fleisch darunter zu verdörren schien. Bald spannte sich die Haut dünn und ledrig über die Knochen, und die Gesichter wurden zu grässlichen Schädelfratzen. Allerdings blieb der entsetzte Ausdruck darin unverändert.
Gleichzeitig war zu beobachten, wie das Blut, das den menschlichen Körpern entzogen wurde, unterhalb der Statuen zusammenfloss – dunkelrote Rinnsale, die in dünnen gezackten Linien an den Sockeln und schließlich an den Standbildern selbst hinaufkrochen.
»Es beginnt!«, rief jener Schatten, der das Ritual geleitet hatte und in der Mitte der Lichtung stand, die blutige Klinge noch in der Hand. »Sie erwachen …!«
Nicht nur die Trommeln und Schreie der Opfer waren längst verstummt, sondern auch die Geräusche des Urwalds, so als hielte die Natur den Atem an und harrte bang der Ereignisse, die über die Welt hereinbrechen würden.
Gebannt beobachteten die Vermummten, wie sich die Blutbahnen weiter über die lebensgroßen Figuren ausbreiteten, wie sie den Brustkorb überzogen und die muskulösen geschuppten Arme und sich dabei immer weiter verästelten, wie sie die Klauen bedeckten und den peitschenähnlichen Schweif und wie sie sich schließlich am Hals emporwanden und den kahlen Schädel mit dem zähnestarrenden Maul umhüllten.
Ein heftiger Windstoß ließ die Flammen der Fackeln fauchen und die Blätter der Bäume rascheln, und schlagartig verschwanden die blutigen Linien, die die Standbilder wie Spinnennetze überzogen hatten – geradeso, als hätte sie etwas mit unfassbarer Gier ins Innere der steinernen Figuren gesogen.
Fast im selben Augenblick ging mit den Statuen eine dramatische Veränderung vor sich.
Sie öffneten die Augen.
Wo zuvor noch kalter, grauer Stein gewesen war, loderte auf einmal orangerote Glut, und dann schüttelte der erste der steinernen Krieger die Reglosigkeit ab, die ihn über Jahrtausende hinweg gebannt hatte, und stieg von seinem Sockel.
Das schmutzige Grau des alten Gesteins war zu giftigem Grün geworden, das von schwarzen Linien und Zacken durchzogen war. Die Kreatur legte den Kopf in den Nacken und stieß ein kehliges Zischen aus, wobei ihre gespaltene Zunge vor- und zurückglitt. Dann erst bemerkte sie offenbar die Vermummten auf der Lichtung, und auf einmal zögerte sie.
Sie begriff, dass etwas nicht stimmte, aber sie konnte nicht wissen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie das letzte Mal Angst und Schrecken in dieser Welt verbreitet hatte. Ein ganzes Zeitalter war seither verstrichen.
Doch in dieser mondlosen Nacht, zu jener düsteren Stunde, kehrten die Krieger des Bösen zurück: Einer nach dem anderen erwachte zum Leben und verließ seinen Sockel, auf dem er die letzten Jahrtausende geruht hatte. Unzählige Winter waren gekommen und gegangen – der Blutdurst der Kreaturen jedoch war ungebrochen, und so rissen sie ihre Mäuler auf und entblößten ihre langen spitzen Zähne, während sie sich bedrohlich auf die Vermummten zu bewegten, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihnen ihre Befreiung zu verdanken hatten.
Die Schatten scharten sich um ihren Meister, während sich ihnen die Kreaturen immer mehr näherten. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, ihr Atem zischte voller Bosheit und Wut.
Schon streckten sie ihre Klauen aus, um die Vermummten zu packen – aber es kam nicht dazu.
Denn der Meister hob die noch blutige Klinge in den wolkenverhangenen Himmel und sprach mit lauter Stimme jene Worte, die einst verboten worden waren und dennoch die Jahrtausende überdauert hatten. Sie retteten ihm und seinen Anhängern nicht nur das Leben, sondern machten die furchterregenden Krieger aus dunkler Vergangenheit auch zu ihren ergebenen Dienern.
Gaida ai’lafanor’ma rhula rhyfal’raita’y’taith – Kraft dieser Klinge gebiete ich den Kriegern der Dunkelheit!
Schlagartig verharrten die Kreaturen, blickten mit einer Mischung aus Unglauben und hilfloser Wut zu dem Dolch empor, der mit jenem Blut benetzt war, das in ihren Adern floss – und der dunkle Zauber, dem sie unterlagen und der sie allen Regeln der Natur zum Trotz zu denkenden, auf zwei Beinen wandelnden Wesen gemacht hatte, ließ ihnen keine Wahl, als zu gehorchen.
Die Glut in ihren Augen verlosch, und eines nach dem anderen sank auf die Knie, beugte das kahle schuppige Haupt vor seinem neuen Herrscher und erneuerte zischelnd den Eid, den sie bereits einmal geschworen hatten, vor undenklich langer Zeit.
Einem anderen Herrscher …
Aldur mochte den frühen Morgen; wenn die Dämmerung die Nacht vertrieb und die Sonne über den Horizont stieg, um mit ihrem goldenen Licht das Land zu bestreichen. Morgentau lag auf den Wiesen und verdampfte zu Nebel, und mit dem neuen Tag schien auch neues Leben zu erwachen, so als würde eine Welt geboren.
Aldur stellte sich dann vor, dass die leuchtende Scheibe, die sich immer weiter über diese Welt erhob und deren Strahlen sein Gesicht streichelten und seine Glieder wärmten, calada wäre, der Ursprung allen Lichts. Wen der Urschein erleuchtete, so hieß es, der war gesegnet, dazu ausersehen, große Taten zu vollbringen, und nahm eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Elfenvolkes ein. Aldur hatte diese Vorstellung stets gefallen. Sie war sein geheimer Traum gewesen, und an diesem Morgen stand er der Verwirklichung dieses Traumes näher denn je zuvor in seinem noch jungen Leben.
Der Elfenfürst blinzelte. Leiser Wind zupfte ein Lindenblatt vom Baum und wehte es geradewegs auf seine Schulter. Ein weiteres gutes Zeichen. Das Schicksal war ihm gewogen. Es hieß seinen Aufbruch gut und wollte ihn segnen.
Zugleich war es ein Abschiedsgruß.
Wie lange, fragte sich Aldur wehmütig, würde es dauern, bis er wieder einen Lindenbaum zu sehen bekam? Oder bis er wieder den wärmenden Schein der Sonne in seinem Gesicht spüren durfte? In Shakara, so hieß es, gab es nur den kalten Schein der Kristalle, der die Flure und Gänge der Ordensburg erhellte.
»Sohn«, erklang plötzlich eine sanfte Stimme und holte ihn zurück aus seinen Gedanken.
Aldur blickte auf.
Er war so in sich selbst versunken gewesen, dass er vergessen hatte, dass er am Boden kniete, das Haupt gesenkt, und dass er keineswegs allein war. Zahlreiche Gestalten hatten sich in einem weiten Kreis um ihn versammelt, die die bunten Gewänder des anrythan trugen. Sie erwiesen ihm die Ehre, ihn zu verabschieden.
»Nahad«, erwiderte er leise.
Vor ihm stand Alduran, der zugleich sein Vater war und sein Lehrmeister. Von dem Augenblick an, da offenbar geworden war, dass das Schicksal Aldur mit einer Gabe bedacht hatte, war der junge Elf den magischen Pfaden gefolgt. Er war Aldurans Schüler gewesen und von diesem in der Zauberkunst unterwiesen worden. Er hatte die ersten Prüfungen abgelegt und sich seiner Gabe als würdig erwiesen. Nun sollte er den letzten Schritt tun, die letzte Etappe der Reise antreten, an deren Ende er jene Ehren erlangen würde, die auch schon seinem Vater zuteilgeworden waren.
»Die Stunde des Abschieds ist gekommen«, sagte Alduran, dessen blassen, von blondem Haar umwehten Zügen die vielen Jahre, die er schon lebte, nicht anzumerken waren, denn alle Mitglieder des Elfenvolkes hörten zu altern auf, sobald sie das Erwachsenenalter erreicht hatten; dass manche Elfen älter aussahen als andere, hing mit ihrem Seelenleben zusammen und mit dem Grad ihrer inneren Reife. Faktisch jedoch waren sie vom Tage ihrer Volljährigkeit an anmarwa, was bedeutete, dass ihre Existenz in der sterblichen Welt nicht enden würde – es sei denn, sie fanden ein gewaltsames Ende oder entschlossen sich, der Welt zu entsagen und nach den Fernen Gestaden zu reisen, dem Ursprung und dem Ziel allen elfischen Strebens.
Aber so weit war Alduran noch lange nicht …
Aldur schluckte, als er seinen Vater vor sich stehen sah, den silbernen Reif in Händen, mit dem er seinen Sohn krönen und damit seine Volljährigkeit für alle erkennbar machen würde. Aldurs Gestalt straffte sich. Wie oft in den letzten Jahren hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt, wie hart dafür gearbeitet – und nun, da er gekommen war, wünschte er sich fast, er wäre noch nicht gekommen. Er wollte sein Heim verlassen, wollte hinausziehen in die Fremde, um Ruhm und Ehre zu erwerben und das Erbe seines Vaters anzutreten – aber zugleich gab es auch etwas in ihm, das sich bereits zurücksehnte in die Geborgenheit jener Wände, die ihm während der vergangenen knapp zwei Jahrzehnte Schutz und Zuflucht gewesen waren, Heimat und Trost.
Aldur hatte seine Mutter nie kennengelernt. Unmittelbar nach seiner Geburt hatte sie Erdwelt verlassen und sich zu den Fernen Gestaden begeben. Sein Vater jedoch war geblieben und der beste Lehrherr gewesen, den sich ein Junge, dem reghas zuteilgeworden war, nur wünschen konnte. Niemals hatte es Alduran an Aufmerksamkeit oder Härte fehlen lassen, sodass aus dem Halbwüchsigen mit der außergewöhnlichen Begabung ein junger Mann geworden war, der seine Fähigkeit wohl zu gebrauchen wusste. Sie sinnvoll einzusetzen und mit den Gaben anderer Magier zu vereinen, war das nächste Ziel, aber dies konnte nicht innerhalb des väterlichen Horts erreicht werden, sondern nur an einem weit entfernten Ort, der jenseits des Großen Gebirges lag und umgeben war von der eisigen Kälte des yngaia.
Die Ordensburg von Shakara …
Dort, im spirituellen Zentrum des Elfenreichs, in der geistigen Heimat aller Zauberer, würde er seinen Weg zu Ende gehen. Aldur hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde.
»Sohn«, sagte Alduran noch einmal, und seine Stimme bebte dabei wie das Laub im Wind, »wie viele Väter wie mich gibt es auf dieser Welt? Wie viele, die sich rühmen dürfen, einen Sohn wie dich zu haben? Wie viele, denen das Glück widerfährt, die Welt durch die Augen ihres Kindes zu sehen und auf diese Weise noch einmal zu erleben, was ihnen selbst vor langer Zeit zuteilwurde? Nie zuvor war ich stolzer als in diesem Augenblick.«
»Danke, nahad«, erwiderte Aldur und senkte wieder den Blick. »Ihr wählt Worte, die ich nicht verdiene. Ich habe nur stets versucht, Euch ein guter Schüler zu sein.«
»Du bist weit mehr als das gewesen, Aldur. In mancher Weise sehe ich mich in dir, und ich erinnere mich, wie ich selbst einst an dieser Stelle kniete, um aus den Händen meines Vaters die Krone der Volljährigkeit zu empfangen. Auch ich war begierig darauf zu erfahren, was sich jenseits dieses Hains befindet, und zugleich voller Furcht vor dem, was mich erwartete. Und ich hatte auch allen Grund dazu. Denn ich verfügte nicht annähernd über deine Kräfte, Sohn, und meine Gabe, die sich darauf beschränkt, das Grün der Bäume und Gräser wachsen zu lassen, lässt sich mit der deinen nicht vergleichen. Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich sage es dir wieder: Du, Aldur, könntest dereinst der größte und mächtigste aller Magier Erdwelts werden!«
Die Versammelten spendeten Beifall, indem sie die Handflächen gegeneinander rieben. Es klang wie das Rauschen des Waldes und mischte sich unter das Rascheln des Windes in den Bäumen.
»Wisse«, fuhr Alduran fort, »dass ich nie zuvor in meinem Leben einen strahlenderen Jüngling erblickte. Nie zuvor hatte ich einen Schüler, der meinen Lehren so gehorsam folgte und der auch nur annähernd so begabt war im Umgang mit den Kräften, die ihm die Vorsehung schenkte. Auf Schultern wie den deinen ruhen in diesen unruhigen Zeiten die Hoffnungen unseres Volks.«
Erneut bekundeten die Anwesenden ihr Wohlwollen und ihre Zustimmung, indem sie die Handflächen aneinander rieben. Auf ein Zeichen Aldurans hin setzte der Beifall schlagartig aus, und ein Augenblick der Stille trat ein. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Aldur wusste, dass der bedeutsame Moment gekommen war. Er schloss die Augen – dann spürte er das kühle Silber der Krone auf seiner Stirn.
»Erhebe dich, Sohn«, sagte Alduran, »als vollwertiges Mitglied deines Volkes, um deinen Platz in der Geschichte Erdwelts einzunehmen.«
Aldur stand auf. Erst dann öffnete er die Augen und blickte in das Gesicht seines Vaters, das vor Stolz strahlte. Aldur erwiderte das Lächeln, wenn auch nicht aus innerer Freude, sondern aus Pflichtgefühl und Gehorsam. Er wandte sich den Anwesenden zu, um ihren Beifall und ihre Glückwünsche entgegenzunehmen, und in diesem Moment war ihm, als wandte er nicht nur seinem Vater den Rücken zu, sondern auch dem Leben, das er bislang geführt hatte, fernab vom Weltgeschehen und umgeben vom Immergrün der Bäume. Sein Leben, so schien es ihm plötzlich, hatte gerade erst begonnen, und eine ganze Welt wartete darauf, von ihm erobert zu werden.
»Aldur«, sagte sein Vater, nachdem der Applaus auf der Lichtung verklungen war, »vergiss niemals, wer du bist. In deinen Adern fließt das Blut von Königen – erweise dich dessen würdig.«
»Das werde ich, nahad«, versprach Aldur.
»So wirst du Aldurans Hain nun verlassen und dich auf den Weg nach Norden begeben. Meine Diener werden dich nach Shakara begleiten, danach jedoch wirst du auf dich allein gestellt sein.«
»Ich weiß, nahad.«
»Nur drei Dinge nimm mit dir: dieses Empfehlungsschreiben, das ich aufgesetzt habe und mit dem ich meinen besten Schüler der Obhut des Ordensmeisters Semias empfehle« – er überreichte Aldur einen schmalen Köcher aus Leder, der das Schriftstück enthielt – »sowie die Gabe, die dir verliehen wurde. Gebrauche sie weise, zum Ruhm deines Geschlechts und zum Wohle ganz Erdwelts. Willst du das schwören?«
»Ich schwöre es, nahad«, erwiderte Aldur ohne Zögern, dessen Gedanken den Ereignissen bereits vorauseilten. In seiner Vorstellung hatte er den väterlichen Hort bereits verlassen und den Schutz der Wälder, hatte die Straße nach Norden eingeschlagen, wo sein Schicksal auf ihn wartete. Ein innerer Drang, wie er ihn nie zuvor verspürt hatte, erfüllte ihn mit einem Mal, und er wollte nur noch fort, das Blütentor durchreiten und die Enge des Hains hinter sich lassen, um großen Abenteuern und Taten entgegenzueilen.
Entsprechend steif stand er da, als Alduran ihn umarmte und ihn zunächst auf die Wangen, dann auf die gekrönte Stirn küsste. Noch einmal applaudierten die Gäste. Ihre Reihen teilten sich, und der Zug der Diener erschien. Sie führten ein schlankes weißes Pferd mit sich, das von strahlender Schönheit war. Es war gezäumt und gesattelt. Unruhig scharrte es mit den Hufen.
»Alaric ist das dritte, das ich dir mit auf den Weg geben möchte«, fuhr Alduran in seiner Aufzählung fort. »Das Gestüt, dem er entstammt, ist nicht weniger königlich als dein eigenes, denn seine Ahnen waren es, auf denen Sigwyn einst in die Schlacht ritt. Sorge gut für ihn, und er wird dich auf seinem Rücken sicher an jedwedes Ziel tragen.«
»Danke, nahad«, sagte Aldur. Statt Alduran noch einmal zu umarmen, verbeugte sich der Jüngling respektvoll, wie es ein Schüler vor seinem Lehrer tat, dann wandte er sich um, und raschen Schrittes ging er auf den Hengst zu, der laut schnaubte und in dessen Augen ein unstetes Feuer loderte. Offenbar, dachte Aldur, sehnte er sich ebenso nach der Ferne wie er selbst.
Er griff nach den Zügeln, tätschelte den Hals des Tieres und strich über seine lange Mähne. Dann schwang er sich in den Sattel, dessen Leder sich weich auf dem Pferderücken schmiegte, und Aldur hatte das Gefühl, vor Abenteuerlust und Tatendrang zu bersten. Alaric, der dies zu spüren schien, wieherte und bäumte sich auf der Hinterhand auf, und der silberne Reif um Aldurs Stirn blitzte im frühen Licht des Tages, als der junge Zauberer das Tier wendete und zum Tor hinausritt. Die Dienerschaft schloss sich ihm an, und unter den Blicken Aldurans und seines Gefolges verließ der Zug den Hain.
Die Augen des Fürsten füllten sich dabei mit Tränen, denn ein Gefühl sagte ihm, dass er den jungen Mann, der seine Obhut verließ, niemals wiedersehen würde.
Und er sollte recht behalten.
Wie anders als in den Ehrwürdigen Gärten war es an diesem Ort.
Es gab kein Licht, keine Sonne und damit auch keine Wärme, die die Voraussetzung für jedes Leben war. Es wuchsen keine Bäume und keine Blumen, die in prächtigen Farben blühten. Es gab keine Brunnen, die lustig plätscherten, und keine Flöten spielten fröhliche Weisen.
Kälte, Stille und Dunkelheit herrschten in der Kerkerzelle, und dennoch war es dort nicht annähernd so finster wie in Alannahs Seele.
Immer wieder sah sie die schrecklichen Ereignisse vor ihrem inneren Auge, ohne dass sie verstehen oder auch nur im Ansatz begreifen konnte, was tatsächlich geschehen war.
Und vor allem: Warum war es gerade ihr passiert?
Nichts hatte darauf hingedeutet, nichts die Katastrophe erahnen lassen. Dennoch war es aus ihr hervorgebrochen, so unvermittelt wie ein Sommergewitter, wie ein Blitz, der aus heiterem Himmel in ein Gebäude einschlug.
Noch immer sah sie ihn vor sich, wie er sich am Boden wand, schreiend und am ganzen Körper zitternd. Überall war Blut gewesen, an ihren Kleidern und an ihren Händen, die sie noch immer wie von Sinnen rieb, obwohl Alannah sie in der Dunkelheit nicht einmal sehen konnte, als könnte sie damit die Schuld wegreiben, die an ihr klebte – auch wenn sie völlig ahnungslos gewesen war, unwissend im gefährlichsten Sinn des Wortes.
In der Dunkelheit, die sie umgab, hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie bereits an diesem düsteren Ort weilte, und es entzog sich auch ihrer Kenntnis, ob es draußen Tag war oder Nacht. Ihr Kerker, der sich tief unter den Mauern Tirgas Lans befand, hatte keine Fenster und nur eine Tür, die aus massivem Eisen bestand und mehrfach verriegelt war. An Flucht war also nicht zu denken. Aber Alannah wollte auch nicht fliehen. Denn selbst wenn es ihr gelungen wäre, dieser Zelle zu entkommen – vor ihrem schlechten Gewissen gab es kein Entrinnen. Unablässig würde es sie verfolgen und sie peinigen. Immer wieder würde es ihr vor Augen führen, was sie getan hatte, denn die schrecklichen Bilder hatten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt.
Irgendwann vernahm sie ein Geräusch: Schritte, die durch den Korridor auf der anderen Seite der Tür hallten und sich rasch näherten.
Alannah hielt den Atem an.
Würde sie nun endlich erfahren, was mit ihr geschehen würde? Und vor allem: Bekam sie Aufschluss über das, was sich in den Ehrwürdigen Gärten zugetragen hatte?
Unmittelbar vor ihrer Zellentür setzte der harte Klang der Schritte aus. Alannah hörte dumpfe Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dann wurden die eisernen Riegel zurückgezogen, und die Zellentür schwang knarrend auf.
»Lady Alannah?«
Der fahle Schein einer Kristallfackel blendete Alannahs Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und es dauerte einen Moment, bis sie wieder etwas erkennen konnte. Dann gewahrte sie auf der Türschwelle eine große, Respekt einflößende Gestalt, die in einen weiten Umhang mit Kapuze gehüllt war. Ein Diener begleitete die Gestalt und trug die Fackel.
»Lady Alannah?«, fragte der fremde Besucher noch einmal. Seine Stimme klang streng, unverhohlene Anklage lag darin.
»J-ja?«
Der Besucher trat vor und schlug die Kapuze zurück. Scharf geschnittene Gesichtszüge kamen darunter zum Vorschein, die eiserne Entschlossenheit verrieten. Das lange dunkle Haar war streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, die schmalen Augen blickten Alannah in stillem Vorwurf an.
»Ihr wisst, wer ich bin?«, erkundigte er sich.
»Sollte ich das?«, fragte Alannah.
»Ich bin Mangon, Lordrichter von Tirgas Lan«, stellte der Fremde sich vor, und Alannah erstarrte innerlich.
Auch wenn sie ihm noch nie zuvor begegnet war, hatte sie natürlich schon von Mangon gehört, dem obersten Richter des Reiches. Sein Sinn für Gerechtigkeit war legendär, aber auch seine Erbarmungslosigkeit gegenüber jenen, die das Gesetz missachteten. Nie hätte Alannah geglaubt, ihm eines Tages gegenüberzustehen, schon gar nicht als Angeklagte – aber genau das war nun der Fall. Verwirrt fragte sie sich, warum sich der Lordrichter persönlich ihres Falles annahm.
»Wahrscheinlich fragt Ihr Euch«, sagte Mangon, sie offenbar bis in den letzten Winkel ihrer Seele durchschauend, »weshalb ich hier bin.«
»D-das ist wahr«, gab Alannah zu.
»Eure ebenso unüberlegte wie frevlerische Tat hat Seine Majestät den König in eine überaus schwierige Lage gebracht.«
»In eine schwierige Lage? Wie das?«
»Dieser Jüngling, der in den Ehrwürdigen Gärten auf grausame Weise sein Leben verlor, war nicht irgendein Mensch, Lady Alannah. Er war der jüngste Sohn des Fürsten von Andaril.«
»Aber der Fürst von Andaril ist ein Vasall des Reiches«, wandte Alannah ein. »Er wird nicht …«
Sie unterbrach sich selbst, als ihr klar wurde, wie unsinnig ihre Worte waren. Der Fürst von Andaril mochte dem Elfenkönig treu ergeben sein, er war in erster Linie ein Mensch, und als solcher war ihm Rache für seinen Sohn wichtiger als seine Loyalität gegenüber seinem König.
»Unser Herrscher muss Vorsicht walten lassen«, erklärte Lordrichter Mangon. »Unter den Menschen gärt und brodelt es. Einige wollen sich wohl gegen uns erheben. Das sind nicht mehr die Primitiven, mit denen es noch unsere Väter zu tun hatten. Ihre Macht und ihr Einfluss wachsen beständig, und es gibt nicht wenige, die behaupten, dass dieser Rasse die Zukunft gehört. Umso wichtiger ist es, dass diese Sache bereinigt wird. Die Folgen wären ansonsten unabsehbar, womöglich würde ein neuer blutiger Krieg ausbrechen.«
»Keine Sorge«, versicherte Alannah. »Ich werde alles tun, was zur Klärung des Falles beiträgt.«
»Klärung?« Mangon hob die schmalen Brauen. »Was gibt es zu klären? Ihr habt den Jungen umgebracht, das wisst Ihr so gut wie ich. Ihr seid eine Mörderin!«
»I-ich weiß«, sagte Alannah leise, während sie sich zum ungezählten Mal fragte, was nur geschehen war. Eben noch war sie ein Kind der Ehrwürdigen Gärten gewesen, geliebt, geschätzt und von allen geachtet – und von einem Augenblick zum anderen fand sie sich in einer Kerkerzelle wieder und wurde des Mordes beschuldigt.
»Dann gesteht Ihr die Tat?«, fragte der Lordrichter.
Alannah seufzte. Was sollte sie auf diese Frage antworten? Sollte sie das Offensichtliche bestreiten? Leugnen, dass sie es gewesen war, die den armen Jungen getötet hatte? Als Kind der Ehrwürdigen Gärten war sie zuvorderst der Wahrheit verpflichtet. Die Wahrheit stand über allen anderen.
»Ja«, sagte Alannah leise, »ich gestehe, dass ich den Menschen getötet habe.«
»Wie kam es dazu?«, wollte Mangon wissen, und Alannah hatte das Gefühl, dass sein gestrenger Blick sie geradewegs durchbohrte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich.
»Ihr wisst es nicht mehr?«
Alannah schüttelte den Kopf. »Nein, ehrenwerter Herr Lordrichter, das sagte ich nicht. Ich habe das, was geschah, nicht etwa vergessen, doch weiß ich nicht, wie es geschah. Ich – ich kann es mir nicht erklären.«
»In diesem Fall, werte Lady, kann ich Eurem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Ihr habt den Jungen kaltblütig ermordet!«
»Das ist nicht wahr!«, beteuerte Alannah.
»Nein?« Der Lordrichter trat einen Schritt auf sie zu. »So berichtet mir, was geschah, auch wenn Ihr es nicht erklären könnt, wie Ihr Euch auszudrücken beliebt. Erzählt es freiheraus und überlasst die Erklärungsversuche jenen, die sich mit den Motiven von Mördern und Totschlägern auskennen. Und bleibt bei der Wahrheit«, sagte er drohend. »Wenn Ihr mich belügt, werde ich es erkennen.«
»Ich bin ein Kind der Ehrwürdigen Gärten und der Wahrheit verpflichtet«, erinnerte ihn die Gefangene. »Dennoch«, fügte sie dann kleinlaut hinzu, »werdet Ihr mir nicht glauben, so fürchte ich.«
»Ihr solltet nicht versuchen, mit mir zu spielen.« Mangon verschränkte grimmig die Arme vor der Brust. »Ich durchschaue Euch, Alannah. Indem Ihr versucht, mir weiszumachen, ich wäre Euch gegenüber voreingenommen, wollt Ihr mich milde stimmen. Aber dieser Plan wird nicht aufgehen.«
»Es ist kein Plan«, versicherte Alannah. »Was ich Euch zu sagen versuche, ist nur …«
»Eure Aussage!«, verlangte der Lordrichter streng, und der jungen Elfin blieb nichts anderes, als ihm zu berichten – auch wenn sie bereits zu wissen glaubte, wie dieses Verhör enden würde.
Mit ihrer Verurteilung …
»Es war am frühen Morgen«, begann sie dennoch. »Ich war zeitig erwacht und hatte den Rosenteich aufgesucht, um mich mit einem Bad zu erfrischen, wie ich es öfter tue. Aber an diesem Morgen fühlte ich, dass etwas anders war.«
»Inwiefern?«
»Ich hatte den Eindruck, beobachtet zu werden«, antwortete Alannah. »Ich sah mich um und fragte, ob da jemand sei, aber ich erhielt keine Antwort. Also nahm ich an, dass ich mich wohl geirrt hätte. Das merkwürdige Gefühl jedoch blieb. Als ich dann aus dem Wasser stieg, hörte ich ein verdächtiges Geräusch. Ich wollte nach meinen Kleidern greifen, aber noch ehe ich dazu kam, teilte sich das Gebüsch, und ein Jüngling trat daraus hervor …«
»Ein Mensch«, ergänzte Mangon.
»Ich weiß nicht, wie es ihm gelingen konnte, die Ummauerung der Ehrwürdigen Gärten zu überwinden – dennoch stand er plötzlich vor mir, wirklich und leibhaftig, und seine Blicke schienen mich zu verschlingen. Ich erschrak, weil ich mich hilflos und ausgeliefert fühlte, und riss abwehrend die Arme empor – und in diesem Moment geschah es.«
»Ihr habt ihn getötet«, sagte der Lordrichter.
Alannah nickte.
»Obwohl er Euch noch nicht einmal angerührt hatte.«
»Es ist Sterblichen verboten, die Ehrwürdigen Gärten zu betreten«, stellte Alannah klar. »Dieser Jüngling begehrte zu sehen, was kein sterblicher Mann je erblicken darf.«
»Und dafür habt Ihr ihn bestraft.«
»Ja«, stimmte sie zu, »und nein. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist.«
»Das will ich Euch sagen: Ihr habt die Brust des Jungen durchbohrt, und das mit derartiger Kraft, dass die Tatwaffe im Rücken wieder ausgetreten ist. Und während er zuckend vor Euch am Boden lag und starb, hattet Ihr noch die Geistesgegenwart, die Waffe zu verstecken, sodass man sie bisher nicht finden konnte. Ist es nicht so gewesen?«
»Nein.« Alannah schüttelte entschieden den Kopf. »Es gab keine Tatwaffe.«
»Keine Tatwaffe?« Mangon zeigte ihr ein freudloses Grinsen. »Wollt Ihr behaupten, Ihr, eine junge Elfin von zartem Wuchs, hättet mit bloßer Hand seinen Brustkorb durchstoßen?«
»Keineswegs«, antwortete Alannah, »aber es gab auch keine Waffe, wie Ihr sie begreift. Es war etwas, das … das aus meinen Händen kam.«
»Aus Euren Händen? Was redet Ihr da?«
»Ich habe Euch gesagt, Ihr würdet mir nicht glauben.«
»Und das wundert Euch?«
»Ich verstehe es selbst nicht, Herr Lordrichter«, versicherte Alannah mit Verzweiflung in der Stimme. »In dem Augenblick, als dieser junge Mensch mir gegenüberstand, ist etwas mit mir geschehen. Eine Veränderung, die ich weder verstehe noch angemessen beschreiben kann. Aber in diesem Moment, als ich nackt und scheinbar völlig hilflos war, fühlte ich plötzlich eine innere Kraft, wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe – und auf einmal lag dieser Mensch blutüberströmt vor mir.«
»Wollt Ihr behaupten, Eure Gedanken hätten ihn durchbohrt?«, fragte Mangon, und leiser Spott lag in seiner Stimme. »Oder gar Euer Blick?«
»Nein. Was seinen Brustkorb durchschlug, war etwas, das aus meinen Fingerspitzen kam.« Alannah betrachtete ihre schlanken Hände, während sie sprach. »Es war kalt, und es war hart und dazu spitz wie ein Speer. Es durchstieß die Brust des Jungen, noch ehe ich selbst recht begriff, was geschah.«
»Wovon genau sprecht Ihr?«, wollte Mangon wissen.
»Eis«, sagte sie leise. »Ich spreche von Eis, Herr Lordrichter. So klar wie Kristall – und so tödlich wie eine Klinge …«
Es gab Leute, die nannten Andaril eine Burg, was zum Teil richtig war, denn ein zinnenbewehrter Turm bildete den Mittelpunkt der Siedlung, in den bei Gefahr zumindest jene flüchten konnten, die es verstanden hatten, sich beizeiten die Gunst und das Wohlwollen des Fürsten Erwein zu sichern.
Manche nannten Andaril auch eine Stadt, was auf die vielen Hütten und Häuser zurückzuführen war, die sich rings um die Burg erstreckten und zwischen denen sich ein unüberschaubares Gewirr enger und engster Gassen wand. Händler boten dort ihre Waren feil, und wie es hieß, gab es kaum etwas, dass es in Andaril nicht zu kaufen gab, von der Liebe einer Hure bis hin zur Klinge eines gedungenen Mörders. Und dann waren da noch jene, die Andaril schlicht als Dreckloch bezeichneten, als stinkenden Haufen Abfall.
Granock gab diesen Leuten durchaus recht, hatte aber erfahren müssen, dass die übrigen Städte des Ostens von Sundaril bis Taik kaum besser waren. Schmutz übersäte auch dort die Gassen, der Gestank war nicht weniger beißend, und wenn man nicht zu den Privilegierten gehörte, war man dazu verurteilt, sein Leben in schäbigen Baracken zu fristen, zusammen mit Ratten und anderem Ungeziefer, und von den wenigen Brocken Fleisch zu leben, die die Obrigkeit einem großmütig hinwarf, die sich dann darüber amüsierten, wenn sich die Armen darum balgten wie Hunde um einen abgenagten Knochen.
Granock hasste sie.
Die Edlen in ihren noblen Gewändern. Die Ritter und Fürsten, die geschworen hatten, das einfache Volk zu schützen, es in Wahrheit jedoch ausbeuteten und unterdrückten. Am meisten jedoch hasste er jene, die diese Welt beherrschten und die all diese Missstände hätten beseitigen können, wenn sie es nur gewollt hätten. Stattdessen jedoch kümmerten sie sich nur um ihre eigenen Belange.
Die Elfen.
Es kam selten genug vor, dass sich einer von ihnen in den Menschenstädten blicken ließ, aber wenn es doch geschah, so ließ es sich Granock nicht nehmen, es den spitzohrigen Burschen heimzuzahlen. Auf dem Schwarzmarkt wurden Höchstpreise für ein Elfenschwert bezahlt, auch elfische Schmuckstücke und Fibeln standen hoch im Kurs. Die Elfen waren die Herren der Welt und entsprechend wohlhabend, folglich hatte Granock kein Problem damit, sich an ihnen zu bereichern. Auch reiche Kaufleute aus Taik oder Girnag, die aus purer Prahlerei einen Beutel klingenden Goldes am Gürtel trugen, waren ein lohnendes Ziel – so wie die beiden, die in diesem Augenblick das Wirtshaus verließen.
Knarrend öffnete sich die Tür, aus dem Schankraum fiel gelbes Licht auf die Gasse, das den Schmutz und den Unrat beleuchtete. Eine Meute Ratten spritzte mit entsetztem Quieken davon.
Die Umrisse zweier feister Männer waren zu sehen, die heiser lachten. Ihre Zungen waren bereits schwer vom Alkohol, und Granock zweifelte nicht daran, dass sie den Weg zum nächsten Bordell einschlagen würden, um dort für bare Münze zu erstehen, was jede Frau mit halbwegs gutem Geschmack ihnen andernfalls verweigert hätte. Noch war also reichlich Gold in ihren Beuteln.
Granock lugte hinter einer Häuserecke hervor, zog sich die Kapuze seines Umhangs noch tiefer ins Gesicht und wartete ab. Die beiden Betrunkenen torkelten genau in seine Richtung.
Ein verwegenes Grinsen huschte über seine sonnengebräunten, von wirrem dunklem Haar umrahmten Züge. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Opfern eine Chance zu geben, eine Möglichkeit, ihre Barmherzigkeit über ihre Gier und ihre Ichsucht zu stellen, und er wollte auch diesmal keine Ausnahme machen, obwohl sein Magen bis zu den Knien hing und er eine anständige Mahlzeit gut hätte vertragen können.
Inzwischen waren sie so nah heran, dass er hören konnte, worüber sie sich unterhielten.
»Hassu gehört?«, fragte der eine Kaufmann den anderen.
»Was’n?«
»Der jüngsse Sohn von Fürss Erwein …«
»Was iss mit ihm?«
»Tot«, sagte der eine nur.
»Issas wahr?«
»Jawoll.« Ein tiefes Rülpsen war zu hören. »Angeblisch soll’s ’ne Elfin gewesen sein.«
»Ei-eine Elfin?«
»Genau. Der junge Herr war ssu Bessuch in der Elfenstadt, und da ham se ihn einfach abgestochen.«
»Oje«, meinte der andere Kaufmann, um im nächsten Moment in albernes Kichern zu verfallen.
»Was hassu denn? Iss keine komische Geschichte.«
»Nee«, gab der andere zu. »Musse nur grade an was denken.«
»Woran?«
»Dass ich froh bin, dass ich nich’ abgestochen wurde – sonst könnte ich jetz’ nich’ zu Madame Lavanda und ihren Damen gehen, und das wär’ verdammt schade.«
»Da hassu recht. Verdammt schade …«
Wieder lachten die beiden und klopften sich gegenseitig auf die Schulter. In diesem Moment erreichten sie jene Häuserecke, hinter der Granock lauerte und nun hervortrat.
»Almosen!«, krächzte er und gab sich Mühe, dabei möglichst elend zu klingen. »Bitte ein Almosen, ihr hohen Herren …«
»Hundsfott!«, fuhr der eine Kaufmann ihn an und schien schlagartig stocknüchtern. »Was fällt dir ein, mich derart zu erschrecken?«
»Verzeiht, Herr«, gab sich Granock unterwürfig. »Wenn Ihr nur eine milde Gabe für mich hättet. Ich habe weder etwas zu essen noch ein Dach über dem Kopf.«
»Das ist dein Problem, Bettler«, beschied ihm der Kaufmann hart, »und ganz gewiss nicht meines!«
»Aber Euer Beutel ist voller Gold – könnt Ihr nicht etwas davon erübrigen?«
»Bist du von Sinnen? Mein Gold geht dich überhaupt nichts an! Sei froh, wenn ich dich nicht bei der Stadtwache melde und prügeln lasse. Gesindel wie dich sollte man davonjagen.«
»Jawoll«, stimmte der andere Kaufmann zu. »Oder erschlagen wie eine Ratte!«
»Das ist eine sehr gute Idee«, stimmte sein Saufkumpan zu. »Und jetzt hinweg, Bursche, ehe ich meinen Dolch ziehe und dir damit das ungewaschene Gesicht in Streifen schneide!«
»Ist das Euer letztes Wort?«
»Mein allerletztes«, versicherte der Hartherzige – und brachte sich damit um sein Geld.
Denn Granock machte keine Anstalten, sich davonzumachen, wie es von ihm verlangt wurde – stattdessen hob er die Hände und streckte sie den Kaufleuten verlangend entgegen.
»Was soll das denn jetzt, Bursche? Hast du immer noch nicht begriffen, dass du von mir nichts …?«
Der feiste Kaufmann verstummte inmitten seiner Rede. Und nicht nur das – er erstarrte auch, und das im wörtlichen Sinn: Sein Mund blieb offen stehen, und seine Hand verharrte am Griff des Dolchs. Der andere Händler teilte das Schicksal seines Kumpels. Stieren Blickes und mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht starrte er Granock an.
»Was denn, hohe Herren?«, fragte dieser, während er daranging, die Erstarrten um ihre Geldbeutel zu erleichtern. »Solltet Ihr Eure Meinung etwa geändert haben und mir doch etwas geben wollen? Habt Ihr plötzlich Euer großes Herz entdeckt? Aber nein, doch nicht gleich die ganze Börse!«
Mit einem Messer durchschnitt er kurzerhand ihre Gürtel und nahm die Beutel mit dem Gold an sich – dass dadurch die seidenen Hosen ihren Halt verloren und bis auf die Knöchel nach unten rutschten, war nur eine kleine Revanche für das, was die Armen tagtäglich erdulden mussten.
»Ihr könnt froh sein, Freunde, dass ich Euch nur die Gürtel durchschneide und nicht die Kehlen«, beschied er ihnen, während er sah, wie es im Augenwinkel des einen Kaufmanns zuckte, unendlich langsam, aber deutlich erkennbar. Der Effekt ließ bereits nach – er musste zusehen, dass er wegkam.
»Bis zum nächsten Mal«, feixte er und tippte sich zum Gruß mit zwei Fingern an die Stirn. Dann wandte er sich um und rannte mit wehendem Umhang die Gasse hinab, um in der Dunkelheit zu verschwinden.
Zwei, drei Minuten lang lief er, dann wurden seine Schritte auf einmal langsamer, und er blieb stehen. Er hatte plötzlich das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, und sah sich um.
Da gewahrte er in einem dunklen Torbogen eine noch dunklere Gestalt, die dort völlig reglos stand.
»Guten Abend«, grüßte sie ihn, und Granock glaubte, im Dunkel ein blitzendes schmales Augenpaar auszumachen. »Ich habe auf dich gewartet …«
Granocks Entsetzen war nicht tief genug, um länger als einen Augenblick zu währen. Er war ohne Eltern auf der Straße aufgewachsen und hatte von Kindesbeinen an gelernt, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Entsprechend robust und unerschrocken war er.
»Wer ist da?«, fragte er in die Dunkelheit, weniger aus Interesse, als um Zeit zu gewinnen. Vielleicht, sagte er sich, war dies ja sein Glückstag, und er würde Gelegenheit erhalten, noch einmal reiche Beute zu machen.
»Du bist ein Dieb«, stellte der Schemen fest, von dem Granock im wenigen Mondlicht, das in die enge Gasse fiel, kaum mehr als dunkle Umrisse ausmachen konnte. »Ein einfallsreicher Dieb zweifellos, aber nichtsdestotrotz nur ein Dieb.«
»Und?«, fragte Granock dagegen. Der Fremde sprach mit eigenartigem Akzent und singendem Tonfall.
»Wie viel hast du erbeutet? Zehn Goldstücke? Fünfzehn?«
»Wer weiß«, sagte Granock achselzuckend und wog die klimpernden Beutel in der Hand. »Hab es noch nicht gezählt.«
»Auf jeden Fall ein guter Fang«, stellte der Fremde fest.
»Auf jeden Fall.«
»Und damit bist du zufrieden, Granock?«
Der junge Dieb merkte auf. »Woher kennst du meinen Namen?«
»Ich habe dich beobachtet, Junge«, entgegnete der Fremde zu seiner Verblüffung, »schon eine ganze Weile lang. Und ich weiß manches über dich – vielleicht mehr als du selbst.«