H. P. Lovecraft
Die Träume im Hexenhaus
Erzählung
Aus dem Amerikanischen von Alexander Pechmann
FISCHER digiBook
H. P. Lovecraft (1890-1937) ist der einflussreichste und beliebteste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts. Seine Erzählungen erschienen zu seinen Lebzeiten vor allem in Magazinen wie »Weird Tales« und werden heute in Millionenauflagen gedruckt und gelesen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Wie so viele Studenten muss sich der junge Walter Gilman mit einem muffigen Mansardenzimmer zufriedengeben – allerdings in einem sagenumwobenen Hexenhaus. Im 17. Jahrhundert soll dort eine Frau finstere Experimente durchgeführt und in das Raum-Zeit-Kontinuum eingegriffen haben. Erst ist Gilman skeptisch, doch dann wird er von Träumen heimgesicht, in der immer wieder der Name »Azathoth« auftaucht ...
Eine der ungewöhnlichsten Erzählungen H. P. Lovecrafts in ungekürzter Neuübersetzung, der es erstmals gelingt, Lovecrafts speziellen Stil und die besondere Atmosphäre seiner Erzählung in deutscher Sprache schillern zu lassen.
»H. P. Lovecraft ist der bedeutendste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts.« Stephen King
Erschienen bei FISCHER digiBook
Unter dem Titel »The Dreams in the Witch House« erstmals veröffentlicht 1933 in der Zeitschrift »Weird Tales«
Erstdruck der Übersetzung in »H. P. Lovecraft – Das Werk« (FISCHER Tor, 2017)
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einer Idee und unter Verwendung einer Illustration von Jonathan Gray
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490739-0
Walter Gilman wusste nicht, ob die Träume das Fieber verursachten oder das Fieber die Träume. Hinter allem kauerte das brütende, faulige Grauen der uralten Stadt und der muffigen, gottlosen Dachstube unter dem Giebel, in der er schrieb und studierte und mit Ziffern und Formeln rang, wenn er sich nicht gerade auf dem schmalen Eisenbett hin und her wälzte. Sein Gehör war dabei, in einem übernatürlichen und unerträglichen Grad empfindlich zu werden, und er hatte schon vor langer Zeit die billige Kaminuhr angehalten, deren Ticken ihm inzwischen wie Artilleriebeschuss vorkam. Nachts genügten die fast unmerklichen Regungen der schwarzen Stadt vor der Tür, das unheilvolle Trappeln der Ratten in den wurmstichigen Trennwänden und das Knarren der verborgenen Balken des jahrhundertealten Hauses, um ihm das Gefühl zu vermitteln, von einem schrillen Pandämonium umgeben zu sein. In der Dunkelheit wimmelte es stets von unerklärlichen Geräuschen – und doch zitterte er manchmal vor Furcht, dass diese Geräusche abklingen und ihm gestatten würden, gewisse andere, leisere Töne zu vernehmen, die, so vermutete er, hinter den lauteren lauerten.
Er hauste in der unveränderlichen, sagenumwobenen Stadt Arkham mit ihren dichtgedrängten Mansarddächern, die über Dachkammern schwanken und durchhängen, in denen sich in den alten Zeiten jener Provinz Hexen vor den Männern des Königs in der Dunkelheit versteckten. Auch gab es keinen anderen Ort in der Stadt, der tiefer in makabre Erinnerungen getaucht war als die Giebelkammer, in der er wohnte – denn es war dieses Haus und dieses Zimmer, das von der alten Keziah Mason bewohnt worden war, deren Flucht aus dem Gefängnis von Salem bis heute kein Mensch je zu erklären vermocht hatte. Dies geschah 1692 – der Wärter war dem Wahnsinn verfallen und plapperte von einem kleinen pelzigen Ding mit weißen Fangzähnen, das aus Keziahs Zelle gehuscht sei, und nicht einmal Cotton Mather konnte die Kurven und Winkel deuten, die mit einer roten, klebrigen Flüssigkeit an die grauen Steinmauern geschmiert worden waren.
Vielleicht hätte Gilman nicht so eifrig studieren sollen. Nichteuklidische Analysis und Quantenphysik vermögen jedes Hirn überzustrapazieren, und wenn man sie mit Folklore vermischt und versucht, hinter den gespenstischen Anspielungen der Schauermärchen und des irrwitzigen Geflüsters in Kaminecken eine seltsame mehrdimensionale Realität aufzuspüren, dann kann man schwerlich erwarten, frei von geistiger Überspanntheit zu bleiben. Gilman stammte aus Haverhill, doch erst nachdem er sich an der Universität in Arkham eingeschrieben hatte, hatte er begonnen, seine Mathematik mit den phantastischen Legenden der älteren Magie zu verknüpfen. Etwas in der Atmosphäre der betagten Stadt wirkte unmerklich auf seine Vorstellungskraft. Die Professoren an der Miskatonic University hatten ihn gedrängt, sich mehr Zeit zu lassen, und eigenmächtig seinen Lehrplan an mehreren Stellen zusammengestrichen. Darüber hinaus hatten sie ihm untersagt, die zweifelhaften alten Bücher über schreckliche Geheimnisse zu konsultieren, die in einem Gewölbe der Universitätsbibliothek unter Verschluss gehalten wurden. Doch all diese Vorkehrungen kamen zu spät, so dass Gilman bereits einige entsetzliche Andeutungen aus dem gefürchteten Necronomicon des Abdul Alhazred, dem fragmentarischen Buch von Eibon und aus von Junzts verbotenem Werk Unaussprechliche Kulte entnommen hatte, die er nun versuchte, mit seinen abstrakten Formeln über die Eigenschaften des Raumes und die Verbindung bekannter und unbekannter Dimensionen in Übereinstimmung zu bringen.
Er wusste, dass sein Zimmer sich in dem alten Hexenhaus befand – tatsächlich hatte er es ebendeswegen genommen. Die Chroniken von Essex County enthielten so manches über Keziah Masons Verhandlung, und das, was sie unter Folter dem Gericht audiendo et terminando gestanden hatte, faszinierte Gilman maßlos. Sie hatte Richter Hathorne von Linien und Kurven erzählt, die man dazu bringen könne, auf Wege hinzuweisen, die durch die Mauern des Raums zu anderen, jenseitigen Räumen führten, und hatte angedeutet, dass solche Linien und Kurven häufig anlässlich gewisser mitternächtlicher Zusammenkünfte im dunklen Tal des weißen Steins hinter Meadow Hill und auf der menschenleeren Insel im Fluss Verwendung fänden. Sie hatte auch vom Schwarzen Mann gesprochen, von ihrem Eid und ihrem neuen Geheimnamen Nahab. Dann hatte sie diese Zeichen an die Wände ihrer Zelle gemalt und war verschwunden.
Gilman glaubte die merkwürdigen Geschichten über Keziah und hatte einen eigenartigen Kitzel verspürt, als er erfuhr, dass ihr Haus nach mehr als 235 Jahren immer noch stand. Als er die in Arkham kursierenden Gerüchte vernahm, dass Keziah noch immer in dem alten Haus und den schmalen Gassen umging, dass Schlafende dort und in anderen Häusern unregelmäßige Bisswunden erlitten hätten, die von menschlichen Zähnen zu stammen schienen, dass man kindliche Schreie gehört hatte, als der 1. Mai und Allerheiligen anstanden, dass man kurz nach diesen gefürchteten Feiertagen einen Geruch in der Dachkammer des alten Hauses wahrgenommen habe und dass ein kleines, pelziges Wesen mit scharfen Zähnen in dem fauligen Bauwerk und der Stadt spuke und in den schwarzen Stunden vor Tagesanbruch neugierig Menschen beschnuppere, beschloss er, an diesem Ort zu wohnen, koste es, was es wolle. Ein Zimmer war leicht zu bekommen, denn das Haus war unbeliebt, schwer zu vermieten und wurde seit langem als billige Unterkunft angeboten. Gilman hätte nicht sagen können, was er dort zu finden erwartete, doch er wusste, er wollte in dem Gebäude sein, in dem irgendein Zwischenfall einer unbedeutenden alten Frau des 17. Jahrhunderts mehr oder weniger plötzlich eine Einsicht in mathematische Abgründe gewährt hatte, die vermutlich die modernsten Erkenntnisse von Planck, Heisenberg, Einstein und de Sitter in den Schatten stellte.
Er untersuchte die getäfelten und verputzten Wände an jeder zugänglichen Stelle, wo die Tapete sich abgeschält hatte, auf Spuren kryptischer Muster, und binnen einer Woche gelang es ihm, die östliche Dachstube zu mieten, wo Keziah angeblich ihre Hexenkunst ausgeübt hatte. Sie hatte von Anfang an leergestanden, da niemand es lange darin ausgehalten hatte, doch der polnische Hausbesitzer vermietete sie inzwischen nur noch ungern. Gilman lebte dort jedoch völlig unbehelligt bis ungefähr zu der Zeit, als er an dem Fieber erkrankte. Weder flitzte Keziah durch die düsteren Säle und Kammern, noch kroch ein kleines pelziges Wesen in sein trostloses Nest, um ihn zu beschnuppern, und seine unablässige Suche nach Aufzeichnungen der Hexenbeschwörungen blieb erfolglos. Zuweilen ging er in schattigen Labyrinthen ungepflasterter, muffig riechender Gassen spazieren, wo unheimliche braune Häuser unbekannten Alters sich neigten und schwankten und höhnisch durch schmale Fenster mit kleinen Fensterscheiben grinsten. Er wusste, hier hatte sich einst Merkwürdiges abgespielt, und unter der Oberfläche deutete sich vage an, dass womöglich nicht alles aus jener grässlichen Vergangenheit – zumindest nicht in den dunkelsten, schmalsten und verschlungensten Gassen – verschwunden war. Er ruderte auch zweimal hinaus zu der übel beleumundeten Insel im Fluss und machte eine Skizze der einzigartigen Winkel, die von den Reihen moosbewachsener Menhire gebildet wurde, deren Herkunft so ungewiss war und die seit unvordenklichen Zeiten dort standen.