Die stumme Tänzerin

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Samstag, 20. Januar 1926

So sah sie also aus: die Befreiung vom Mief der Kaiserjahre, der Mut, der mit der Faust die altbackene Prüderie zerschlägt, das ehrliche Lachen, das keine Kompromisse eingeht … Varieté! Der sensationelle Abend, an dem sie sich Zutritt zu der Welt der Unerschrockenen und Tabulosen verschaffen wollte, war gekommen, sie saß im Fiasko und …

Ja, was?

Paula lehnte sich in dem rot gepolsterten Sessel zurück und starrte in den halbdunklen Saal mit der Bühne, dem Klavier und den dicht besetzten Tischen. Die Luft war erfüllt von Zigarettenqualm, Weindunst, Schweiß und Parfüm, was das Atmen zur Schwerstarbeit machte. Es wurde gejohlt, gelacht, geklatscht und gerufen. Genau so, wie es in den Gazetten geheißen hatte, in denen diese halbseidenen Sehnsuchtsorte bejubelt wurden. Auch Paulas Kolleginnen schwärmten davon, wenn sie morgens völlig übermüdet zur Arbeit in die Bootsmanufaktur Borgmeister trotteten. Warum also kam bei ihr keine Begeisterung auf?

Bedrückt beobachtete Paula die halbnackten Frauen, die den Treibstoff für die Stimmung in dem spiegelverkleideten Raum bildeten. Obenherum waren sie mit Ketten aus aufgefädelten Kupferringen bekleidet, untenherum mit nur

Sie nippte verdrossen an ihrem Champagner und gestand sich ein, dass es ein Fehler gewesen war hierherzukommen. Dafür besaß sie offenbar ein Talent: sich zu verrennen. Vor anderthalb Jahren hatte sie beschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Sie wollte nicht mehr das verwöhnte Fräulein Tochter des stinkereichen Zündholzfabrikanten Harry Haydorn sein. Sie wollte Abenteuer. Und als sie im Hamburger Anzeiger eine Annonce der Volkshochschule in der Oberalten-Allee entdeckte – Demokratie braucht Bildung! –, hatte sie spontan einen Kurs in Stenographie und Schreibmaschine belegt. Anschließend hatte sie sich bei Borgmeister beworben – und war genommen worden. Endlich selbständig!, hatte sie gejubelt. Sie war zu einer modernen Frau geworden, die ihren eigenen Weg ging.

Doch schon nach kurzer Zeit hatte ihre Stellung sich als öder Alltagstrott entpuppt. Acht Stunden stenographieren, was der alte Borgmeister hinter seinem Riesenschreibtisch ihr diktierte, und den Sermon anschließend abtippen. Einmal hatte sie sich getraut, ihm zu weniger gewundenen Sätzen zu raten. Damit man’s besser verstehen konnte, war doch in seinem Sinn. Hui, da waren aber die Fetzen geflogen. Wenn

Walter, ihr Begleiter an diesem Abend, arbeitete ebenfalls bei Borgmeister. Er war Schiffsbauingenieur, und sie mochte ihn, weil er lustig und unkompliziert war und gern auch mal über den Chef herzog. In seiner Freizeit ging er rudern, er mochte Jazz und gut geschnittene Anzüge. Heute Mittag war er ins Büro gekommen und hatte ihr verstohlen zugeflüstert: «Ich will ins Varieté, hast du nicht Lust mitzukommen?» Und da hatte sie spontan zugesagt.

Nach der Arbeit war sie eilig nach Harvestehude gefahren, wo sie wegen ihres knickerigen Gehalts immer noch bei den Eltern wohnte, und hatte sich so gewagt angezogen, wie es ihr Kleiderschrank hergab. Dann retour zum Hauptbahnhof, wo Walter auf sie gewartet hatte, und nun saßen sie hier im Fiasko.

Tja, nomen est omen, dachte sie und blickte verstohlen auf ihre Armbanduhr.

Walter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und brach in Gelächter aus. Galt seine Begeisterung dem Witz, den der freche Kerl auf der Bühne gerade gerissen hatte? Sicher nicht nur. Ihr Ingenieur war inzwischen angeschickert, und sein Zustand mochte auch etwas mit dem Akkordeonspieler zu tun haben, der sich zwischen den einzelnen Nummern an die Tische drängte und dabei «Mutter, der Mann mit dem Koks ist da» sang. Viele Gäste, darunter auch Walter, hatten nach den Briefumschlägen im Korb an seinem Gürtel gegriffen und dabei wie selbstverständlich ein paar Mark

Inzwischen war ihr aufgegangen, worum es sich bei dem Pulver handeln musste. Kokain, natürlich. Das Lied vom Koks, das der Mann mit dem Akkordeon augenzwinkernd gesungen hatte, war eine Botschaft gewesen, und sie bereute, dass sie nicht doch zu dem Strohhalm gegriffen hatte. Denn das war es doch, was sie wollte: Ins pralle Leben eintauchen! Ihre Stimmung sank auf einen neuen Tiefpunkt.

Ein Mann am Nebentisch kniff eine der Animierdamen in die Brüste. Das Gesicht des Mädchens verzog sich schmerzhaft – und wurde im nächsten Moment durch ein gekünsteltes Lachen entstellt. Die hatte keinen Spaß an ihrer Arbeit. Wie auch? Sich von fremden Kerlen begrapschen lassen, als wäre man eine Birne auf dem Wochenmarkt!

Paula stieß Walter an. «Ich bin müde, lass uns gehen!»

«Was?» Wieder brach er in Gelächter aus, dann beugte er sich zu ihr vor, um sie zu küssen.

Angeekelt wandte sie das Gesicht ab. «Walter, ich …»

Bevor sie den Satz beenden konnte, drehten sich die Köpfe plötzlich zur Tür. Eine blonde Frau mit apart schrägen Augen hatte mit lautem Münzgeklapper das Fiasko betreten. Sie steckte in der Uniform der Heilsarmee – knöchellanger, biederer Rock mit Bluse, Umhang bis zur Hüfte, eine Kappe mit breitem Rand, die ihre Stirn beschattete, alles in verdrießlichem Schwarz. Dabei war sie so hübsch, als wollte sie damit ihre Aufmachung verspotten. Der Mann am Nebentisch warf ihr grinsend einen Luftkuss zu, doch die Uniformierte

Nun, das war menschlich und schön, aber Paulas Widerwillen gegen das Fiasko wurde dadurch nur noch größer. «Hast du gehört, Walter? Ich will heim.»

Walter stierte schon wieder die Lustdamen an. Nichts deutete darauf hin, dass er sie gehört hatte oder überhaupt noch wahrnahm. Na gut, sie hatte zwei Beine, dann ging sie eben allein! Wahrscheinlich war sie ohne ihn sogar sicherer, besäuselt, wie er war. Paula schob ihren Sessel zurück, schnappte sich ihren Mantel und zog ihre Tasche von der Lehne. Wenig später stand sie draußen auf dem Spielbudenplatz.

Es war bereits kurz vor Mitternacht, doch die Gaslaternen und Lichtreklamen tauchten den Platz immer noch in buntes, unruhiges Licht. Autos bahnten sich hupend ihren Weg durch die Menschenmenge. Die Damen des leichten Gewerbes flanierten auf den Bürgersteigen und beugten sich zu Autofenstern hinab. Im Kiez verlief das Leben spiegelbildlich. Tagsüber waren die Straßen wie leergefegt, nachts begann ein fieberhaftes Treiben.

Paula ging zum Standplatz der Taxen hinüber, aber leider fand sich dort kein einziges Fahrzeug, nur einige Betrunkene lungerten auf einer Bank herum. Sie sah, wie sich einer von ihnen erhob und aus der Gruppe löste. Er starrte zu ihr herüber und beschleunigte seinen Schritt. Himmelherrgott!

Sie schritt aus, so schnell ihre hochhackigen Schuhe es zuließen. Ihr Herz tuckerte im Takt der klappernden Absätze. Die Straße mündete in eine Querstraße und kurz darauf in eine weitere, engere Straße und in noch eine. Irgendwann stand sie an einer breiten Treppe, und schräg unter ihr glänzte die schwarze Elbe mit den Landungsbrücken. Da wollte sie nicht runter. Der Platz vor den Gebäuden am Wasser war zu ungeschützt, es gäbe keine Möglichkeit, sich zu verstecken, falls es heikel wurde. Außerdem machte ihr das Wasser Angst. Sie hatte einmal in der Zeitung das Bild einer Wasserleiche gesehen, die von Aalen angefressen worden war. Scheußlich!

Paula machte kehrt und bog in eine weitere Straße ein, in der Hoffnung, das Millernthor zu erreichen, von wo aus sie den Weg in die anständigeren Stadtteile finden würde. Nur weg aus St. Pauli.

Doch der letzte Schwenker stellte sich als großer Fehler heraus. Denn plötzlich irrte sie zwischen hohen Hauswänden

Sie bog in eine weitere Straße ein. Hier brannte in einigen Wohnungen noch Licht. Außerdem gab es mehrere Amüsierbetriebe, die sich in den Kellern am Fuße von krummgetretenen Treppen befanden, von dort drangen Stimmen und Gelächter zu ihr herauf. Ihre Stimmung hob sich ein wenig.

Im nächsten Moment jedoch begann ihre Haut zu kribbeln. Da vorn, wo die Straße einen Bogen schlug – war da nicht was gewesen? Tatsächlich, eine Gestalt huschte von einem Hauseingang zum nächsten. Und dann, nicht weit entfernt, entdeckte sie einen weiteren Schatten, der sich in einen Hauseingang duckte. Erschrocken rettete Paula sich hinter ein Auto, das vor einem der Häuser parkte. Nur weg von hier! Egal wohin!

Doch leider war eine Flucht unmöglich. Wie aus dem Pflaster gewachsen, trottete auch von der anderen Seite der Gasse plötzlich eine Gestalt heran, den Kopf gesenkt, als wäre sie müde. Offenbar war Paula noch nicht bemerkt worden. Sie nutzte die Gunst des Augenblicks, um sich eine schmale Kellertreppe hinabzuflüchten.

Ängstlich starrte sie auf das schmutzig feuchte Mauerwerk am Eingang. Wenn einer der Schatten sie gesehen hatte, saß sie in der Falle.

Doch nichts geschah.

Langsam atmete sie ein und aus, dann nahm sie ein paar

Gerade wollte Paula ihren Vorsatz in die Tat umsetzen, als sie sah, wie die Frau eine der Kellerkneipen schräg gegenüber ansteuerte. Dort angekommen, riss sie sich die Kappe vom Kopf und löste den Knoten, mit dem sie ihr Haar gebändigt hatte. Üppige blonde Locken flossen über ihre Schultern. Jemand öffnete, und Paula sah, wie sich die Soldatin der Nächstenliebe in Männerarme warf. Küsse und Gelächter, dann klapperte der Spendentopf. Na, da sollte doch der Teufel …

Das Pärchen verschwand in der Kaschemme, und Paula beschloss, den Ausweg aus dem Straßenlabyrinth allein zu suchen. Doch plötzlich brach oben auf der Straße die Hölle los. Männer stürmten aus den Hauswinkeln, Pistolenschüsse zerrissen die Nacht, Rufe, Proteste, Befehle, Schmerzensschreie … Dann bogen hupende Polizeiautos aus den Seitenstraßen ein und versperrten die Zugänge zu den Kellerkneipen. Von den Pritschen im hinteren Teil der Wagen sprangen Uniformierte und rannten die Stufen hinab. In einigen Häusern wurden die Fenster aufgerissen, und neugierige Gesichter beugten sich heraus.

Die Polizisten zerrten Männer und Frauen, von denen einige nur in Decken gehüllt waren, aus den Kneipen. Ein paar der Frauen kreischten und spuckten die Polizisten an.

«Mitkommen!»

Paula erstarrte. Ein massiger Kerl mit Uniform und Tschako auf dem Kopf hatte sich vor ihr aufgebaut und richtete den Lauf einer Pistole auf sie.

Wortlos packte er sie am Arm und zerrte sie zu einer grünen Minna, die ebenfalls in die Gasse gerollt war. Die beiden hinteren Türen des großen Wagens standen offen, und er schubste sie mit anderen Aufgegriffenen in das rollende Gefängnis. Zwei Holzbänke standen einander gegenüber. Paula wurde zum hinteren Ende des Kastenwagens gedrängt und stolperte vor einer der Bänke zu Boden. Ihr Oberkörper wurde von zwei behosten Männerbeinen zusammengequetscht. Neben ihr hustete jemand, andere fluchten, irgendwo schluchzte eine Frau. Als keine Seele mehr in das vierrädrige Monstrum passte, fiel die Tür zu. Mit einem Schlag war es stockdunkel. Stiller wurde es allerdings nicht. Der Mann, zwischen dessen Beine Paula geraten war, zog ihren Kopf an den Haaren so nach oben, dass er ihr einen schiefen Kuss zwischen Nase und Auge drücken konnte. Sofort schlug sie ihre Fingernägel in seine Beine, er fluchte und ließ sie wieder los.

Auf der Fahrt wurden sie ordentlich durchgeschüttelt, aber es dauerte zum Glück nur kurz. Dann wurde die Sardinenbüchse wieder geöffnet. Die Insassen mussten durch ein Spalier von Polizisten auf einen von Mauern umgebenen Innenhof treten, über ihnen blitzten Sterne wie Theaterbesucher, die ein amüsantes Spektakel beobachteten.

Paula starrte an den Hausfassaden hinauf, die den Hof umschlossen. Waren sie im Stadthaus gelandet, dem Sitz der Polizei? Die Gendarmen schubsten die Gefangenen weiter und bellten Kommandos.

Der Mann, zwischen dessen Beinen sie festgesessen hatte, nutzte das Gedränge und drückte sich an sie. Erneut versuchte er, Paula einen nassen Kuss direkt auf den Mund zu geben. Im nächsten Moment knallte eine Frau, die sich an

Paula trat zu einem der Polizisten und erklärte mit so viel Würde wie möglich: «Hier liegt ein Irrtum vor. Ich …»

«Schnauze», herrschte der Mann sie an.

Ihr Zutrauen in die Ordnungsbehörden erlitt einen gehörigen Dämpfer. Sie war Paula Haydorn. Sie hatte das Lyzeum Lerchenfeld für höhere Tochter besucht. Ihr Vater gehörte zu Hamburgs Wirtschaftsgrößen. Und nun interessierte das keinen?

Man schubste sie mit den anderen Inhaftierten durch eine Tür in einen breiten Flur hinein und dort in Richtung einer Treppe, die in einen Keller hinabführte. Beängstigende Bilder tauchten in Paulas Kopf auf: eine finstere Zelle, in der sie, womöglich in Gesellschaft der Heilsarmeesoldatin und ihres Begleiters, die Nacht verbringen müsste. Später dann der Rausschmiss aus der Bootsmanufaktur, der Klatsch, den Walter verbreiten würde, die Reaktion ihrer Eltern …

Gehetzt starrte sie die Wände entlang. Lauter Türen, so weit sie sehen konnte. Unter einer von ihnen schimmerte Licht hindurch. Da arbeitete wohl noch jemand.

Plötzlich brach neben Paula ein Tumult aus, als der widerliche Küsser der Soldatin der Nächstenliebe eine schallende Ohrfeige versetzte. Vielleicht passte es ihm nicht, wie sie ihn für sich vereinnahmte. Die Frau taumelte gegen die Wand, richtete sich wieder auf und ging zum Gegenangriff über. Es gelang ihr trotz der Handschellen, ihn zu Boden zu schubsen,

Während die Polizisten versuchten einzuschreiten, nutzte Paula die Gelegenheit und huschte zu der Tür mit dem Lichtspalt. Hastig zupfte sie ihr Kleid zurecht, dann klopfte sie und schlüpfte ins Zimmer, ohne auf Antwort zu warten.

Irritiert sah sie sich um. Was hatte sie erwartet? Sicher nicht drei Frauen. Nicht um diese Zeit, nicht in einem feinen Büro, das kaum für die stupide Schreibarbeit geeignet war, die man Weibsbildern gewöhnlich zumutete. Und ganz sicher kein Büro, in dem Papiere durch die Luft segelten und man einander anzischte.

«Gut, ich hab’s verstanden», fauchte die Werferin der Kladde, aus der die Blätter gesegelt waren, eine noch junge Frau mit weiblichen Kurven und akkurater Dauerwelle. Bei ihr schien es sich tatsächlich um eine Sekretärin zu handeln. Aufgebracht zupfte sie am gestärkten Kragen ihrer weißen Bluse und zog diesen dabei so fest, als wollte sie sich damit erwürgen. Dann schnappte sie sich eine Handtasche von einem Tisch in der Ecke, der fast vollständig von einer der hochmodernen Mercedes-Elektra-Schreibmaschinen eingenommen wurde. Kurz hielt sie inne, als wartete sie auf eine Entschuldigung, dann rauschte sie zitternd an Paula vorbei aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Danach herrschte erst einmal Stille. Vom Flur klangen die Geräusche nur sehr gedämpft zu ihnen herein. Die beiden anderen Frauen blickten einander an. Die ältere von ihnen, ein scharfäugiges Weib um die vierzig, deren biedere Kleidung wirkte, als wollte sie damit ihre geistige Regsamkeit verschleiern, saß hinter einem großen, dunklen Schreibtisch. Die andere stand beim Fenster, und … Paula versuchte, nicht zu starren, doch das war unmöglich. Dass es sich um eine Frau

Zum ersten Mal in dieser Nacht verspürte Paula plötzlich das Kribbeln, dessentwegen sie am Abend zum Kiez aufgebrochen war. Kurzerhand bückte sie sich und begann, die verstreuten Papiere aufzusammeln. Sie legte die Seiten ordentlich aufeinander, packte sie in die Kladde zurück und platzierte diese neben der Schreibmaschine. Als sie sich wieder umwandte, waren die Blicke der Frauen auf sie gerichtet.

«Und was bringt uns zu so später Stunde die Ehre Ihres Besuchs?», fragte die Ältere hinter dem Schreibtisch.

«Ich will Anzeige erstatten.»

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann brach die Frau in Gelächter aus.

Paula fühlte eine seltsame Erregung in sich aufsteigen. Diese beiden arbeiteten offenbar für die Polizei. Dunkel erinnerte sie sich, dass sie auf einer Abendgesellschaft ihrer Mutter von einer Weiblichen Kriminalpolizei gehört hatte, die vor einigen Monaten ins Stadthaus eingezogen sein sollte. Ein Skandal, den man aber dulden müsse, weil einflussreiche Männer, deren Namen Paula nichts sagten, sich für diese neue Abteilung eingesetzt hätten. Das mussten sie sein, die mutigen Kriminalinspektorinnen, die sich gegen das Verbrechen stellten.

Es gab Momente, die nach Entscheidungen verlangten. Paula angelte sich ein Formular vom Schreibmaschinentisch der Polizistin, schnappte sich einen Bleistift und begann, auf

Mit entschiedenen Strichen warf sie die Konturen der eifersüchtigen Heilsarmeesoldatin auf das Papier. Sie hielt kurz inne, um sich die Form der Lippen in Erinnerung zu rufen, setzte die mandelförmigen Augen ein, dann folgten mit zarten Strichen die Wangenkonturen … ein kleines Muttermal seitlich des linken Ohres war ihr aufgefallen … die Haare …

Als Paula fertig war, schob sie das Blatt über den Schreibtisch. Die Frau im Kostüm nahm es entgegen. Sie zog die Augenbrauen zusammen und reichte das Papier an die Kollegin mit dem Schlips weiter.

Diese stieß einen leisen Pfiff aus. «Ist das die Frau, über die Sie sich beschweren wollen?» Ihre Stimme war dunkel und kühl.

Paula nickte.

«Wie heißt sie denn?»

«Weiß ich nicht. Ich habe sie nur zweimal kurz gesehen. Einmal im Fiasko, das ist …» Gut, das brauchte sie wohl nicht zu erklären. Sicher kannten die Kämpferinnen gegen das Verbrechen sich auf St. Pauli aus. «Sie hat dort in einer Uniform der Heilsarmee Geld gesammelt. Später wurde ich Zeugin, wie sie eine Kellerkneipe aufsuchte, in der sie vorhin auch festgenommen wurde. Die Frau sammelt garantiert nicht im Auftrag der Heilsarmee. Sie ist eine Betrügerin.» Paula schnappte sich ein zweites Blatt. Auch den widerlichen Galan der Frau bannte sie aufs Papier. «Ich vermute, dass sie für diesen Mann tätig ist.»

«Erich Stöver und seine Gerlinde. Sieh einer an!», murmelte die ältere der beiden, die offenbar den höheren Rang bekleidete. «Und was treibt Sie dazu, die beiden anzuschwärzen?»

«Ist das nicht Bürgerpflicht?»

«Eine Bürgerpflicht, die Sie …», ein Blick auf die Wanduhr über der Tür, «nachts um halb eins ins Polizeipräsidium treibt?»

Im Flur war es still geworden. Es schien auch niemand nach Paula zu suchen. Sehr gut. Wenn man sie hier aus dem Zimmer warf, konnte sie mit ein bisschen Glück das Stadthaus unbehelligt verlassen.

Die Frau mit der Krawatte deutete auf Paulas Gesicht. «Unangenehme Begegnung gehabt?»

Paulas tastete nach ihrer Wange und spürte eine Schürfwunde. «Kann man so sagen», entgegnete sie wortkarg. Ihre Hoffnung sank wieder.

«Dann waren Sie möglicherweise Teil der kleinen Gesellschaft, die gerade von unseren Kollegen mit einem Bett für die Nacht versorgt wird?»

Paula begann zu ahnen, dass man in diesem Gebäude, wo das Aufdecken von Lügen zum Tagesgeschäft gehörte, durch die Wahrheit am ehesten überzeugen konnte. Also schilderte sie, wie sie mit Walter im Fiasko gewesen war, wie sie das Lokal ohne ihn verlassen hatte und dann in dieses …

«Razzia», erläuterte die Frau hinterm Schreibtisch. «Man nennt es Razzia.»

Wie sie also in diese Razzia geraten und anschließend hier gelandet war. Sie ließ auch Erichs widerliche Küsse nicht aus.

«Und nun wollen Sie, dass wir ihn und Gerlinde drankriegen.»

«Die beiden sind mir ziemlich egal», brach es aus ihr heraus. «Ich habe aber keine Lust, die Nacht in einer Zelle zu verbringen, darum stehe ich hier. Das Zuhören liegt Ihren Kollegen leider nicht besonders. Außerdem …» Ihr Blick wanderte zu dem Schreibtisch in der Ecke. Dann sagte sie etwas, das sie selbst wohl am meisten überraschte: «Ich bin Sekretärin. Ich arbeite in der Bootsmanufaktur Borgmeister, drüben am Schaarsteinweg, schon seit zwei Jahren. Ich kann telefonieren, organisieren, stenographieren, tippen … Alles also, was man von einer guten Kraft erwartet.» Sie gab sich einen Ruck. «Kann es sein, dass hier gerade eine Stelle frei geworden ist?»

Die Frau hinter dem Schreibtisch brach erneut in Gelächter aus.

Mittwoch, 10. April

Schweißgebadet grub Waldemar Moor sich aus seinen Kissen. Albträume waren sein Fluch, immer schon gewesen. Gewöhnlich trieften sie von Gewalt, es wurde darin gedroschen, gestochen und gewürgt, was das Zeug hielt. Aber das Schlimmste war das hassenswerte Kreischen der Weiber! Sein Kopf dröhnte davon, auch jetzt. Teufel noch mal, wo hatten die bloß ihre Stimmen her!

Stöhnend kam er auf die Füße und torkelte zu der Waschschüssel mit dem blauen Porzellanrand. Er hatte sie vor dem Schlafengehen mit kaltem Wasser gefüllt, das tat er immer. Hastig schaufelte er sich das kühle Nass ins Gesicht. Raus mit dem Dreck aus seinem Kopf! Er schöpfte mit beiden Händen, das Wasser lief ihm Brust und Bauch hinab und sammelte sich um seine nackten Füße. Die Stimme, die in seinem Schädel tönte, wurde leiser, aber ganz verstummen …

Abrupt hob Moor den Kopf und starrte auf sein Spiegelbild in dem silbernen Rahmen. Nee, er hatte gar nicht von Weibern geträumt, ging ihm plötzlich auf. Sondern von Jonny. Der kleine Jonny war durch seinen Traum gegeistert. Ihm hatte auch diese schrille Stimme gehört. Moors Mund wurde trocken, als blitzartig die Erinnerung zurückkehrte. Sein

Das wäre ja auch fast mal wirklich passiert. Jonnys Mutter, das Dreckstück, hatte nicht richtig auf ihn aufgepasst. Die ließ ihn einfach am Elbe-Kai laufen. Hundert Schritte voraus, was ihr jede Chance nahm, ihn zu retten, wenn er über die Kante zu fallen drohte – wobei sie ohnehin nicht schwimmen konnte. Moor hatte das Ganze zufällig bemerkt, als er die breite Treppe zu den Landungsbrücken hinabstieg, auf der Suche nach den beiden. «Zwei Jahre! Der ist zu lütt», hatte er hinuntergebrüllt. Wie konnte sie den kleinen Bengel einfach …

Als Moor sich umdrehte, prallte er gegen die Tür seines Kleiderschranks. Das brachte ihn zur Besinnung. Die Annemie war weg, dafür hatte er ja gesorgt, gleich nach dem dämlichen Hafenspaziergang. Jetzt hütete Edith seinen Sohn. Auf die konnte er sich verlassen, sie war zuverlässig wie der Sonnenaufgang. Er hatte mit ihr eine Art Vertrag geschlossen. Dafür, dass sie tagsüber auf Jonny aufpasste, musste sie abends erst gegen zehn zum Busenwackeln auf die Bühne, und danach brauchte sie auch keinen Kunden mehr anzunehmen. Das waren ihre Bedingungen gewesen, und ihm war’s die Sache wert. Sein kleiner Sohn war wie ein Stück von seinem Herzen.

Moor ging über den Flur zu dem Badezimmer, das er sich vor Jahren geleistet hatte. Damals war sein Laden noch gut gelaufen. Direkt nach Kriegsende waren die Deutschen wie besessen davon gewesen, ein Stückchen Glück zu ergattern, und sei’s nur für ein paar Stunden in einem Puff. Sogar die Kriegsversehrten hatten ihm die Bude eingerannt, und er hatte eigens einige Zimmer für sie herrichten lassen, mit besonders hohen Betten. Das Tingeltangel war berühmt

Moor verscheuchte die unangenehmen Gedanken. Er erledigte sein Geschäft, kehrte in sein Zimmer zurück und begann, sich anzukleiden. Im Spiegel fiel ihm ein Kratzer unter seinem linken Auge auf. Wann hatte er sich den denn eingefangen? Er hatte keinen blassen Schimmer. Zu viel gesoffen, dachte er müde und fuhr sich über den schwarzen Schnurrbart. Das war in letzter Zeit sein Dilemma. Sobald es sich anbot, griff er zur Flasche. Er musste aufpassen.

Der Chef des Kleingartenvereins Immergrün hatte ihm das letztens auch unter die Nase gerieben. «Wenn du so weitersäufst, bist du für uns nicht mehr zuverlässig genug. Ich sag’s dir im Guten.»

Solche Sätze stellten, auch wenn sie dreimal im Guten gesagt wurden, eine Drohung dar, darüber war Moor sich im Klaren. Das Immergrün war einer der mächtigsten Hamburger Ringvereine. Es mischte im Drogenhandel mit und bestimmte, wer an welchen Stellen die Puffkunden abgreifen durfte. Es war für seinen Laden überlebenswichtig, dass er dort Mitglied war.

Er zog sich die Hose über den Hintern und die Hosenträger auf die Schultern. Dann griff er zum Jackett, denn er legte Wert darauf, gut gekleidet zu sein. Gehörte zum Renommee und machte ihm außerdem Spaß. Als er zur letzten Musterung vor den Spiegel trat, fiel ihm wieder der Kratzer auf. Solche Verletzungen stammten von Frauen. Männer

Mürrisch trat er in den Flur und stieg die Treppen hinab. Als sein Blick auf die mit Goldfarbe bemalten Wandleuchter fiel, die er entlang der Treppenstufen angebracht hatte, gestattete er sich trotz seines teuflischen Kopfwehs ein Lächeln. Annemie hatte die gekauft, als sie noch lebte, und sie hatte auch die Holzgeländer goldgelb streichen lassen. Sah gediegen aus, da hatte sie ein Händchen für gehabt.

Das kurze Glücksgefühl erlosch jedoch, als Moor die Bar betrat. Fredi war dabei, die Tische abzuwischen. Er hatte das Grammophon angestellt und tänzelte mit seinem nassen Lappen rum wie … wie eine Klosettfliege, dachte Moor, und ihn packte der übliche Groll, wenn es um seinen älteren Sohn ging. Der Trottel machte ihn rasend. Er war zwölf Jahre alt, benahm sich aber wie ein Kleinkind. Mit ein paar raschen Schritten war Moor bei ihm und knallte ihm eine. Fredi stolperte, in seinen Augen flackerte es kurz, aber dann riss er sich zusammen und begann, wie ein Verrückter zu wischen. Sogar zum Aufmucken fehlte ihm der Mumm. Gut, dass Jonny aus anderem Holz geschnitzt war!

«Wo steckt der Kleine?»

«Der ist doch mit Edith raus», flüsterte Fredi.

«Hm!» Moor warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Halb sieben. Gegen acht kamen die ersten Gäste. «In einer Stunde blitzt es hier. Ist das klar?» Er hieb eine Faust auf den Tresen. «Was hab ich gesagt?»

«In einer Stunde blitzt es», echote Fredi und schrubbte wie besessen über das Holz.

Im Zoo?

Na, endlich blitzte mal was Konkretes in seinem zugekleisterten Schädel auf. Edith hatte mit dem Kleinen zum Zoologischen Garten fahren wollen, genau. Das hatte sie gesagt. Sein Junge war ganz wild auf die Tiere. Besonders die Affen hatten es ihm angetan. Natürlich auch das Raubtiergehege, aber bei den Affen quiekte er immer vor Vergnügen. Moor beschloss, eine Spritztour zu machen. Sein roter Quadrilette parkte an der Straße. Die Karre hatte er sich trotz seiner Geldnöte im vergangenen Herbst geleistet. Irgendwann musste man sich schließlich auch mal was gönnen. Vorsichtig wegen der Kopfschmerzen, schob er sich hinters Steuer.

Die Strecke zum Zoologischen Garten war kurz, er lag direkt beim Dammtor-Bahnhof, gegenüber vom Botanischen Garten. Als Moor das Auto parkte, sah er, dass die Leute bereits aus dem Haupteingang strömten. Das Kassenhäuschen war leer, aber einer der Zoowärter, der daneben die Stellung hielt, rief ihm etwas zu, wahrscheinlich, dass keine Besucher mehr reindürften. Moor achtete nicht darauf. Hastig eilte er an den Hirschgehegen vorbei. In der Raubvogelvoliere krakeelten die Habichte und Falken. Eine Frau keifte ihre Kinder an, die sich nicht zum Ausgang zerren lassen wollten. Los, rüber zum Affenhaus.

Als Moor das Gebäude mit den geräumigen Käfiganlagen betrat, schlug ihm der typische Tiergeruch entgegen. Er lief durch die Gänge und rief nach Jonny. Keine Antwort. Stattdessen tauchte ein weiterer Zoowärter auf und forderte ihn auf, sich zum Ausgang zu begeben.

Die Wärter wurden rabiat, sie wollten in den Feierabend und trieben die Bummler Richtung Tor. Aber Moor, der es hasste, wenn man ihm Vorschriften machte, bog hinter dem Affenhaus auf einen Nebenweg ab und strebte in die entgegengesetzte Richtung, wo es noch einen weiteren, kleineren Ausgang gab. Was natürlich blödsinnig war. Wenn Edith und Jonny den Zoo besucht hatten, hätten sie das große Tor genommen, weil sich dort die Haltestelle der Tram befand. Trotzdem ging er weiter, vorbei am Konzertplatz und dem Elefantengehege, wo ein dicker Idiot gereizt zum Ausgang deutete. Als er den Bürgersteig der Rentzelstraße erreichte, blieb er stehen. Warum, verfluchte Scheiße, war er nur so nervös? Das passte doch gar nicht zu ihm.

Moor trottete unter den Kastanien entlang und bog in die Jungiusstraße ab. Hier lag, dem Zoo gegenüber, der alte Friedhof, den sie vor knapp zwanzig Jahren geschlossen hatten, weil er die Toten nicht mehr fasste. Er schritt an der Außermauer entlang, bis er ein flaches Gebäude mit einem gewölbten Eingangstor unter einer Kuppel erreichte. Unruhig blieb er stehen. Er war hier mal mit Edith und Jonny zusammen reingegangen. Dunkel erinnerte er sich an eine Kapelle mit zwei Ausgängen rechts und links, die auf den eigentlichen Friedhof führten. Edith hatte sie zu einem Grab geführt, in dem ihr einziges Kind bestattet worden war, das sie in jungen Jahren geboren und kurz nach der Geburt wieder verloren hatte. Jonny war in Tränen ausgebrochen, als er begriff, dass man in der grauen Erde ein Baby eingebuddelt

Mit einem Mal begann sein Herz zu wummern. Was, wenn Edith den Jonny erneut auf den Friedhof mitgeschleift hatte? Weiber schossen doch immer quer. Die hielten sich an keine Regeln, wenn man sie nicht Auge behielt. Von seiner Unruhe getrieben, öffnete er das Tor. In dem kreisrunden Andachtsraum hatten es sich die Obdachlosen aus der Stadt gemütlich gemacht. An den Wänden lagen Strohsäcke und in den Ecken Lumpen. Doch noch waren die Herumtreiber nicht zurückgekehrt. Die bettelten in den Hauptstraßen, bis die Sonne unterging.

Er durchquerte den Raum und verließ ihn durch eines der Seitentore. Langsam schritt er den Hauptweg entlang, der von alten Bäumen gesäumt wurde. Die Gräber – fast alle voller Unkraut – reihten sich aneinander. Einzelgräber, Sammelgräber, Gruften. Auf einem moosbesetzten weißen Gefäß entzifferte er den Schriftzug Gertrudenvase – was auch immer das bedeuten mochte. Es dämmerte bereits. Der Anblick der Gräber schlug ihm aufs Gemüt. Was tat er hier eigentlich? Er sollte nach Hause fahren. Sicher wartete sein Junge dort bereits auf ihn. Und doch konnte er sich nicht losreißen. Eine Angst, die er selbst nicht begriff, trieb ihn weiter.

«Jonny?»

Hörte er ein leises Weinen? Oder war das Einbildung? Moor blickte zu einer zweiten, kleineren Kapelle, die sich seitlich an eine der Friedhofsmauern schmiegte. Kam das Geräusch von dort? Jedenfalls stand die Tür einen Spalt weit offen. Zögernd ging er auf das verfallende Gemäuer zu und zog die Tür ganz auf. Im Dachgebälk fehlten etliche Ziegel, sodass die verblassende Abendsonne helle Flecken in den Raum warf. Rechts von der Tür entdeckte er den

Er trat näher und stierte entsetzt auf ihren Leib, in dem von der Brust bis zur Scham ein langer, blutiger Schnitt klaffte. Blut bedeckte den Fliesenboden, auf dem sie lag. Er blickte in ihr Gesicht. Und hörte jemanden schreien.

Sich selbst.

Außer sich vor Angst brüllte er Jonnys Namen.