Banditen-Papa

Cover

Fußnoten

  1. «Knuddler» nannten die beiden ihre besondere Umarmung. Es war eine Mischung aus Knutscher und Knuddeln, daher der Name.

  2. Die längste je gemessene Sitzung eines großen Geschäftes beträgt vier Tage. Es wurde von einem 240 kg schweren Opernsänger namens Antonio Lasagnotti produziert und hätte ein Fußballfeld bedecken können.

WROOOAAM!

WROOOAAM!, machte Papas Auto, als es über die Sandstrecke preschte. Franks Vater war Rennfahrer für Stockcars. Das war ein gefährlicher Sport. Die Autos krachten ineinander …

… während sie immer im Kreis herumrasten.

Papa steuerte einen alten Mini, den er selbst aufgemotzt hatte. Er hatte die englische Fahne auf das Auto gemalt und es «QUEENIE» getauft, weil er ein großer Fan der englischen Königin war. Das Auto war ebenso berühmt wie Papa. QUEENIES

WROOOAAM!

Papa war der König der Fahrbahn. Er war der beste Stockcar-Fahrer, den die Stadt je gesehen hatte. Die Leute reisten aus dem ganzen Land herbei, um ihn fahren zu sehen. Niemand gewann öfter Rennen als er. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr hielt Papa die Pokale in die Höhe, und die Menge jubelte und schrie seinen Namen:

HUUP! HUUP!

… und lächelten und winkten. Frank war jedes Mal furchtbar stolz auf seinen Papa. Und er bekam sogar bessere Noten in Mathe, nachdem sein Lehrer beim Elternabend mit Papa ein Foto machen durfte.

Frank war Papas größter Fan. Er himmelte ihn an. Papa war sein Held. Frank wollte unbedingt später ein genauso

Wie man sich denken kann, sahen Vater und Sohn sich sehr ähnlich. Sie waren beide klein und rundlich und hatten abstehende Ohren. Frank sah aus wie eine geschrumpfte Ausgabe seines Vaters. Er wusste, dass er niemals der Größte oder der Hübscheste oder der Stärkste oder der Schlaueste oder der Lustigste in der Klasse sein würde. Aber er hatte erlebt, welche Wunder sein Vater durch sein Können und seinen Mut auf der Rennbahn vollbringen konnte. Und das wollte er auch erleben.

Papa erlaubte Frank nicht, bei den Rennen zuzuschauen. Das Rennen begann am Abend mit zwanzig Autos, die die Sandbahn entlangpreschten, doch am Ende blieb immer nur noch ein einziges Auto übrig. Die Fahrer wurden bei den Zusammenstößen oft schwer verletzt, und manchmal verletzten sich sogar die Zuschauer, weil die Autos in die Ränge rasten.

«Das ist zu gefährlich, Kumpel», sagte Papa. Gilbert nannte seinen Sohn immer «Kumpel». Sie

«Aber Papa …», bettelte Frank, wenn sein Vater ihn abends zudeckte.

«Kein Aber, Kumpel. Ich möchte nicht, dass du dabei bist, falls ich verletzt werde.»

«Aber du bist der Beste! Du wirst niemals verletzt!»

«Kein Aber, habe ich gesagt. Jetzt sei ein braver

Papa küsste seinen Sohn immer auf die Stirn, bevor er zur Arbeit auf die Rennbahn ging. Frank schloss dann die Augen und tat so, als würde er schlafen. Doch sobald er hörte, wie die Tür zufiel, kroch er aus dem Bett und schlich den Flur hinab bis zur Haustür, damit seine Mutter ihn nicht hörte. Sie schloss sich allerdings immer in ihrem Schlafzimmer ein und telefonierte im Flüsterton, sobald ihr Mann aus dem Haus war. Dann lief Frank im Schlafanzug den ganzen Weg bis zur Rennbahn.

Direkt vor dem Stadion befand sich ein riesiger Turm aus rostigen alten Autos, die bei vorigen Rennen ineinandergefahren waren. Diesen Turm kletterte Frank hinauf. Von dort hatte er den besten Blick auf das Rennen. Er saß dann im Schneidersitz auf dem Dach des obersten Autos und sah all die Stockcars vorbeirasen. Jedes Mal, wenn QUEENIE vorbeischoss und der Motor dabei laut aufbrüllte, jubelte der Junge:

Und eines Nachts passierte es wirklich.

Außer Kontrolle

Am Abend des Unfalls schien an Papas Auto irgendetwas von Anfang an nicht zu stimmen. Anstatt zu brüllen wie sonst, gab der Mini ein kreischendes Geräusch von sich, als würde er gleich explodieren.

Sobald Papa QUEENIE an der Startlinie in Position gebracht hatte, bockte das Auto wie ein buckelnder Stier.

An diesem schicksalhaften Abend saß Frank wie immer oben auf dem Autostapel vor dem Stadion. Es war tiefster Winter, und Wind und Regen wirbelten um ihn herum. Aber auch wenn er bis auf die Haut durchnässt war, wollte Frank niemals ein Rennen verpassen.

Sobald die Flagge den Start des Rennens anzeigte, musste Papa sich richtig anstrengen, um die Kontrolle über sein Auto zu behalten.

Das Brüllen des Minis war nicht zu hören, sondern nur dieses kreischende Geräusch. Ein ängstliches Schweigen senkte sich über die Zuschauermenge. Frank wurde übel.

Plötzlich schoss hinten aus QUEENIES Auspuffrohr eine riesige Explosion hervor.

«PAPA, schrie Frank. Doch über die Entfernung und bei all den Motorengeräuschen der anderen Autos konnte Papa seinen Sohn nicht hören. Frank wollte unbedingt helfen, irgendetwas tun, aber er konnte das Geschehen nicht aufhalten.

Der Mini wurde immer schneller und ließ sich nicht mehr bremsen.

Plötzlich schlingerte QUEENIE scharf, um einen Frontalzusammenstoß mit einem Ford Capri zu

… und zerbrach in seine Einzelteile.

«NEIN, PAPA, NEIN, schrie Frank von seinem Turm herab.

Unten auf der Rennstrecke fuhren die Autos ineinander.

Metall knallte auf Metall, und Glas splitterte.

Hastig kletterte er den Turm hinunter und rannte durch die Menschenmenge zum Auto seines Vaters. Ein Krankenhaushubschrauber knatterte bereits über der Unfallszene und landete schließlich daneben. Frank hielt seinem Vater im Wrack die Hand, während die Feuerwehrmänner ihn aus dem Fahrzeug schnitten.

«Was machst du denn hier, Kumpel?», flüsterte Papa. «Du solltest zu Hause im Bett sein.»

«Tut mir leid, Papa», antwortete Frank.

«Ich werde einen Riesenknuddler brauchen, wenn ich hier raus bin.»

«Alles wird gut, Papa. Das verspreche ich.»

Aber es war ein Versprechen, das Frank nicht halten konnte.

Welches Bein?

TATÜ-TATAA! TATÜ-TATAA!

Frank hielt seinem Vater die Hand, während sie zum Krankenhaus rasten. Gilberts rechtes Bein war beim Unfall total zerquetscht worden, und er verlor eine Menge Blut.

«Mr. Goodie», sagte der Arzt, sobald Papa in die Notaufnahme gebracht worden war, «ich habe sehr schlechte Nachrichten für Sie. Wir müssen Ihnen das Bein amputieren.»

«Welches Bein?», antwortete Papa, der trotz allem seinen Humor noch nicht verloren hatte.

«Das rechte, natürlich. Wenn wir nicht sofort operieren, werden Sie vermutlich sterben.»

«Ich will nicht, dass du stirbst, Papa!», sagte Frank.

Während Papa in den OP gebracht wurde, versuchte Frank immer wieder, seine Mutter anzurufen, doch es war stundenlang besetzt. Die Operation dauerte die ganze Nacht. Frank lief im Wartebereich auf und ab und konnte nicht schlafen. Als sein Vater am Morgen endlich aus der Narkose erwachte und die Augen aufschlug, sah er als Erstes seinen Sohn.

«Kumpel, du bist der Beste», flüsterte Papa. Er hatte offensichtlich große Schmerzen.

«Ich bin ja so froh, dass du es geschafft hast, Papa», antwortete Frank.

«Natürlich. Ich will doch dabei sein, wenn du groß wirst. Wo ist deine Mutter?»

«Ich weiß es nicht, Papa. Ich habe die ganze Nacht versucht, sie anzurufen, aber es war immer besetzt.»

«Sie wird schon kommen.»

 

«Oh, Gilbert!», rief Franks Mama bei Papas Anblick, und dann brach sie in Tränen aus.

Das Familientreffen war jedoch nur kurz, denn sie verabschiedete sich schnell wieder. Gilbert musste monatelang im Krankenhaus bleiben, doch die Besuche seiner Frau wurden seltener und seltener und fielen immer kürzer aus. Die Schwestern bauten jedoch für Frank ein Klappbett auf, und dort schlief er jede Nacht an der Seite seines Vaters.

Eines Tages brachten die Ärzte ein Holzbein für Gilbert. Es passte perfekt. Innerhalb weniger Tage lernte er, damit zu laufen, und bestand darauf, den

«Ich kann immer noch alles tun!», sagte Papa stolz.

Er humpelte zwar, und Frank hielt den ganzen Weg über seine Hand, doch schließlich kamen sie zu Hause an.

Als sie in ihre Wohnung kamen, war Mama nicht da. Sie hatte einen Zettel auf den Küchentisch gelegt. Darauf stand:

Fiese Männer

«Was soll das bedeuten, Papa?», fragte Frank. «Was tut ihr leid?»

«Dass sie uns verlassen hat.»

«Kommt sie denn nicht wieder?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

«Weil deine Mama jetzt mit einem kleinen Mann in einem großen Haus lebt.»

«Aber …!»

«Es tut mir leid, Frank. Ich habe mein Bestes gegeben. Aber mein Bestes war für sie wohl nicht gut genug.»

«Das tut mir leid, Papa.»

«Ich brauche einen Knuddler

Vater und Sohn nahmen sich gegenseitig in den Arm und hielten sich fest, und dann weinten und weinten sie, bis sie nicht mehr konnten.

Papa sprach auch in Zukunft niemals schlecht über seine Frau – die nun seine Exfrau war –, doch Frank war tieftraurig darüber, dass seine Mutter sich nicht einmal von ihm verabschiedet hatte.

Auch wenn sie jetzt in einem riesigen Haus lebte, lud Mama ihn niemals zu sich ein. Nicht ein einziges Mal. Als sie Franks Geburtstag zum zweiten Mal hintereinander vergaß, hatte Frank ebenfalls keine Lust mehr, seine Mutter zu sehen. Wochen und Monate vergingen, ohne dass sie miteinander sprachen, und dann wurde es immer schwieriger, sie auch nur anzurufen. Also tat er es nicht.

Papa verlor nach dem Unfall alles. Nicht nur sein Bein, sondern auch seine Frau. Und schon bald sollte er noch etwas verlieren, was ihm lieb war:

seinen Job.

Also versuchte Papa, einen anderen Job zu finden, irgendeinen Job. Doch in der Stadt gab es nicht viele freie Stellen, und niemand wollte einen Mann mit Holzbein einstellen.

Papa war daran gewöhnt, ein Held zu sein, doch nun fühlte er sich wie eine Null.

Niemand hupte mehr, wenn die beiden die Straße entlanggingen, und jetzt konnten sie es sich auch nicht mehr leisten, ins Restaurant zu gehen, wo sie auch bestimmt keine doppelten Portionen mehr bekommen hätten.

An Franks elftem Geburtstag kaufte Papa seinem Sohn eine riesige Modell-Rennbahn. Frank war glücklich.

Doch sosehr er seine Modell-Rennbahn auch liebte, fragte Frank sich doch voller Sorge, woher sein Vater, der nun schon seit ein paar Jahren arbeitslos war, auf einmal so viel Geld hatte, um sie zu bezahlen. Frank wusste, dass nur wenige Kinder so eine Modell-Rennbahn besaßen. So etwas kostete Hunderte von Pfund. Und Papa besaß keine Hunderte von Pfund.

Sie fuchtelten mit Zetteln herum und schrien irgendetwas von offenen Schulden. Dann drängten sie sich an Frank vorbei in die Wohnung und nahmen alles mit, was sie für einigermaßen wertvoll hielten. Erst kam der Fernseher dran, dann das Sofa und schließlich Franks Hochbett.

Nach diesen Besuchen sah Papa immer ganz verzweifelt aus und saß nur noch schweigend da. Frank tat sein Bestes, um seinen traurigen Papa wieder aufzumuntern.

«Sei nicht traurig, Papa», sagte er. «Ich hole unsere Sachen eines Tages alle zurück, das verspreche ich. Wenn ich erwachsen bin, dann werde ich Rennfahrer so wie du.»

«Komm her, Sohn, und gib mir einen Knuddler

Die beiden umarmten sich, und damit war alles wieder gut. Sie waren vielleicht arm, doch im

Das lag daran, dass der Junge den besten Papa auf der Welt hatte. Jedenfalls dachte er das.

Streng geheim

Eines Abends, sie aßen gerade kalte Baked Beans in ihrer kalten Wohnung, gab Papa beim Abendessen etwas bekannt.

«Ab heute wird alles anders.»

Frank sah seinen Vater beunruhigt an. Auch wenn die beiden nichts besaßen, mochte der Junge doch alles so, wie es war. Papa legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter.

«Das ist kein Grund, sich Sorgen zu machen, Kumpel. Alles wird besser werden.»

«Aber wie?»

«Toll, Papa! Das freut mich aber für dich!»

«Ich freue mich auch», antwortete Papa, aber er sah gar nicht erfreut aus.

«Was ist das für ein Job?»

«Ein Fahrerjob.»

«Stockcar-Fahren?», fragte Frank aufgeregt.

«Nein», sagte Papa. Er schien zu überlegen. «Aber ich werde schnell fahren. Sehr schnell.»

«Wow!» Franks Augen leuchteten auf wie die Scheinwerfer eines Autos.

«Ja! Wow! Und ich verdiene Geld. Viel Geld. Wir können uns den Fernseher zurückholen.»

«Der Fernseher ist langweilig. Ich höre lieber deine Rennfahrergeschichten.»

«Okay, Kumpel, dann holen wir uns das Sofa zurück!»

Der Junge dachte nach. Es war nicht besonders gemütlich, beim Essen auf einer Holzkiste zu sitzen. «Aber mich stören die Splitter im Hintern gar nicht.»

«Ehrlich?», lachte Papa, und dabei wackelte er auf der Holzkiste vor und zurück.

«Ha! Ha!»

«Also gut, also gut. Ich weiß, was du wirklich wiederhaben willst.»

«Was?»

«Deine Modell-Rennbahn.»

Der Junge schwieg. Die Rennbahn vermisste er wirklich. «Ja, vielleicht, Papa.»

«Es tut mir wirklich leid, dass sie die mitgenommen haben, Kumpel.»

«Nicht schlimm, Papa.»

Frank spürte, dass irgendwas an seinem Vater merkwürdig war – er wusste nur nicht, was. Lag es an diesem geheimnisvollen Job?

«Also, was wirst du denn fahren, Papa? Einen Rennwagen?»

«Nein, ich muss zwar schnell fahren, aber auf normalen Straßen.»

«Nein.»

«EINEN FEUERWEHRWAGEN

«Nein.»

Der Junge riss die Augen auf. «Doch nicht für die Polizei?»

Papa brachte es fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. «So was in der Art, ja.»

Frank zerbrach sich den Kopf. «Papa, was meinst du mit ‹So was in der Art›?»

«Na ja, das ist STRENG GEHEIM

«ERZÄHL’S MIR, verlangte der Junge.

«Es wäre ja nicht mehr STRENG GEHEIM, wenn ich es dir erzähle!»

«Na ja, aber beinahe STRENG GEHEIM

«Ich kann nicht, Kumpel. Tut mir leid. Aber ich werde dafür bezahlt. Sehr gut bezahlt. Mit sehr viel Geld. Und wir können uns Sachen kaufen. Massenhaft Sachen. Neue Schuhe, Spielsachen, Computerspiele, was immer du willst.»

Frank sah mit Sorge, wie die Augen seines Vaters immer größer wurden. Es klang alles zu schön, um wahr zu sein.

Das nahm Papa den Wind aus den Segeln. «Ja, ja, mach dir keine Sorgen. Ich werde hier sein. Ich gehe nirgendwohin.»

«Versprochen?»

«Ja, ja, versprochen, Kumpel.»

«Und du wirst auch nicht verletzt?», fragte der Junge. Auf keinen Fall wollte er, dass sein Vater auch noch sein linkes Bein verlor.

«Versprochen!», sagte Papa und hielt drei Finger seiner rechten Hand hoch. «Pfadfinderehrenwort. Ha! Ha!»

«Du warst doch nie bei den Pfadfindern.»

«Das macht nichts. Nun iss deine Baked Beans auf, du musst jetzt ins Bett!»

Wie alle Kinder auf der Welt wusste Frank genau, wann seine Schlafenszeit war und wann nicht. «Aber jetzt ist noch nicht Schlafenszeit!», protestierte er.

«Die Zeit, in der du schlafen gehst, ist Schlafenszeit.»

Diese Logik ärgerte Frank.

«Tante Flip kommt gleich, um auf dich aufzupassen.»

«Oh nein», antwortete Frank.

«Nun sei nicht so. Sie ist die einzige Familie, die wir haben. Und das Beste an ihr ist, dass sie immer bereit ist, zum Babysitten vorbeizukommen.»

«Ich bin aber kein Baby!»

«Das weiß ich, Kumpel.»

«Wo gehst du überhaupt hin?»

«Ich treffe mich nur mit Leuten im Pub.»

«Kann ich mitkommen, Papa?»

«NEIN

«BITTE, bettelte der Junge.

«Nein! Das ist nur was für Erwachsene. Außerdem dürfen Kinder gar nicht in den Pub.»

«Aber ich will mit.»

«Sorry, Kumpel, das geht nicht. Jetzt komm, gib mir einen Knuddler

An diesem Abend war der Knuddler noch fester als sonst. Papa hielt seinen Sohn immer ein wenig länger im Arm, wenn er sich um etwas Sorgen

Noch nicht.