Crossroads

Cover

Nach Russ’ Demütigung drei Jahre zuvor hatte Dwight Haefle, der leitende Pfarrer der Gemeinde, den Anteil der Hausbesuche erhöht, die vom Inhaber der zweiten Pfarrstelle zu übernehmen waren. Was genau Dwight mit der so gewonnenen Zeit anfing, abgesehen von häufigeren Urlaubsreisen und der Arbeit an seinem lang erwarteten Lyrikband, war Russ unklar. Aber es gefiel ihm, wie kokett Mrs. O’Dwyer, eine amputierte Dame, die wegen schwerer Ödeme an ein Krankenhausbett im einstigen Esszimmer ihres Hauses gefesselt war, ihn empfing. Es gefiel ihm, dass er routinemäßig von Nutzen sein konnte, vor allem denjenigen, deren Erinnerungsvermögen im Unterschied zu seinem keine drei Jahre zurückreichte. Im Hinsdaler Pflegeheim, wo ihm die Geruchsmischung aus weihnachtlichen

«Pattison», sagte Jim.

«Sie hatten eine Tochter, Frances.» Russ beugte sich über den Rollstuhl seines Schutzbefohlenen und blätterte zu der Seite mit den Cs vor. «Sie hat geheiratet und heißt jetzt Frances Cottrell.»

Selbst wenn es ganz natürlich gewesen wäre, erwähnte er ihren Namen zu Hause nie, aus Angst davor, was seine Frau in seiner Stimme hören mochte. Jim sah sich das Foto von Frances und ihren zwei Kindern näher an. «Oh … Frannie? Ja, an Frannie Pattison erinnere ich mich. Was ist aus ihr geworden?»

«Sie ist wieder in New Prospect. Sie hat vor anderthalb Jahren ihren Mann verloren – schrecklich. Er war Testpilot für General Dynamics.»

«Wo ist sie jetzt?»

«Sie ist wieder in New Prospect.»

«Oh, hm. Frannie Pattison. Wo ist sie jetzt?»

«Sie ist wieder hier. Sie heißt jetzt Mrs. Frances Cottrell.» Russ zeigte auf ihr Foto und sagte es noch einmal. «Frances Cottrell.»

Er war um halb drei auf dem Parkplatz der First Reformed mit ihr verabredet. Wie ein kleiner Junge, der Weihnachten nicht erwarten kann, war er um 12.45 Uhr dort und aß seinen Mittagsimbiss im Auto. An schlechten Tagen, von denen es in den vergangenen drei Jahren viele gegeben hatte, nahm er einen komplizierten Umweg in Kauf – durch den Gemeindesaal ins

Heute jedoch war ein sehr guter Tag, und die Flure der First Reformed waren noch leer. Er ging auf direktem Weg in sein Büro, spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und begann, über seine noch ungeschriebene Predigt für den Sonntag nach Weihnachten nachzudenken, wenn Dwight Haefle wieder im Urlaub wäre. Er fläzte sich in den Stuhl und kämmte sich mit den Fingernägeln die Augenbrauen, kniff sich in die Nasenwurzel, ein Gesicht berührend, dessen kantige Konturen, wie er zu spät begriffen hatte, für viele Frauen attraktiv waren, nicht nur für seine eigene, und fasste eine Predigt über seine Weihnachtsmission auf der South Side von Chicago ins Auge. Er predigte zu oft über Vietnam, zu oft über die Navajos. Kühn von der Kanzel aus zu verkünden, Frances Cottrell und ich hatten das Privileg – ihren Namen auszusprechen, während sie von der vierten Bankreihe aus zuhörte und die Blicke der Gemeinde sie,

An den Bürowänden hingen Poster von Charlie Parker mit seinem Saxophon, Dylan Thomas mit seiner Fluppe; ein kleineres, gerahmtes Bild von Paul Robeson neben einem Handzettel für seinen Auftritt in der Judson Church 1952; Russ’ Diplom vom Biblical Seminary in New York; außerdem ein vergrößertes Foto von ihm selbst mit zwei Navajo-Freunden in Arizona aus dem Jahr 1946. Vor zehn Jahren, als er die Stelle des zweiten Pfarrers in New Prospect angetreten hatte, waren diese mit Bedacht gewählten Identitätsbekundungen bei den Teenagern, deren religiöse Entwicklung zu begleiten Teil seiner Aufgabenbeschreibung gewesen war, noch gut angekommen. Doch für die Jugendlichen, die jetzt mit ihren Schlag- und Latzhosen und Stirnbändern die Kirchenflure bevölkerten, waren sie bloß Zeichen der Gestrigkeit. Das Büro von Rick Ambrose, dem Mann mit dem strähnigen schwarzen Haar und dem glitzernden schwarzen Fu Manchu, hatte etwas von einem Kindergarten an sich, mit all den primitiven Malergüssen seiner jugendlichen Jünger, den besonderen, bedeutungsvollen Steinen, gebleichten Knochen und Wildblumenhalsketten, die sie ihm geschenkt hatten, und den im Siebdruckverfahren hergestellten Postern für Fundraising-Konzerte mit keinem für Russ erkennbaren Bezug zu irgendeiner Religion. Nach seiner Demütigung hatte Russ sich in seinem Büro versteckt und zwischen den verblassenden Totems einer Jugend, für die sich niemand außer seiner Frau noch interessierte, still vor sich hin gelitten. Und Marion zählte nicht, denn es war Marion gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, nach New York zu ziehen, Marion, die ihn für Parker, Thomas und Robeson entflammt, Marion, die sich für seine

«Mein Gott, sind Sie das?», hatte sie bei ihrem ersten Besuch in seinem Büro gesagt, im vergangenen Sommer, als sie das Foto aus dem Navajo-Reservat betrachtete. «Da sehen Sie ja aus wie ein junger Charlton Heston.»

Sie hatte Russ um Trauerbegleitung gebeten, was ebenfalls Teil seiner Aufgabenbeschreibung war, wenn auch nicht einer seiner bevorzugten, denn der traurigste Verlust, den er selbst bislang erlitten hatte, war der seines Kindheitshundes Skipper. Er war erleichtert gewesen, als er hörte, dass das Schlimmste, worüber Frances ein Jahr nach dem Feuertod ihres Mannes in Texas klagte, ein Gefühl der Leere war. Auf seinen Vorschlag hin, sich einem der Frauenkreise der First Reformed anzuschließen, hatte sie abgewinkt. «Zum Kaffeeklatsch mit den Damen habe ich keine Lust», sagte sie. «Mir ist klar, dass ich einen Sohn habe, der bald auf die Highschool kommt, aber ich bin erst sechsunddreißig.» In der Tat war nichts an ihr schlabberig, wabbelig, moppelig oder faltig, sie war die Vitalität in Person in ihrem engen, ärmellosen Paisley-Kleid, das Haar naturblond und jungenhaft kurz, die Hände jungenhaft klein und breit. Für Russ war offensichtlich, dass sie bald wieder verheiratet sein würde – dass die Leere, die sie empfand, wahrscheinlich kaum mehr war als die Abwesenheit eines Ehemannes –, aber er erinnerte sich noch an seine Wut, als seine Mutter ihn zu bald nach Skippers Tod gefragt hatte, ob er nicht vielleicht gern wieder einen Hund hätte.

Es gebe da, erklärte er Frances, einen bestimmten Frauenkreis, der anders sei als die anderen, einen Kreis, den er selbst leite und der mit der Partnergemeinde in der Innenstadt, der

«Sie sprechen seinen Namen so einfach aus», sagte Frances. «Ich gehe seit drei Monaten zum Sonntagsgottesdienst und warte immer noch darauf, etwas zu spüren.»

«Nicht mal meine Predigten haben Sie berührt.»

Sie errötete ein wenig, bezaubernd. «So meinte ich das nicht. Sie haben eine sehr schöne Stimme. Es ist nur …»

«Ganz ehrlich, Sie werden an einem Dienstag wahrscheinlich mehr spüren als an einem Sonntag. Ich für meinen Teil wäre lieber auf der South Side, als Predigten zu halten.»

«Ist es eine Negergemeinde?»

«Eine Gemeinde der Schwarzen, ja. Unsere Rädelsführerin ist Kitty Reynolds.»

«Ich mag Kitty. Ich hatte sie im letzten Schuljahr in Englisch.»

Russ mochte Kitty auch, obwohl er spürte, dass sie ihm als männlichem Exemplar der Gattung mit Skepsis begegnete; Marion hatte ihm zu bedenken gegeben, dass Kitty, die nie geheiratet hatte, vermutlich lesbisch war. Für ihre Fahrten zur South Side kleidete sie sich wie ein Holzfäller, und sie hatte schnell Besitzansprüche auf Frances geltend gemacht und dafür gesorgt, dass sie auf dem Hin- wie Rückweg bei ihr mitfuhr anstatt bei Russ im Kombi. Sich ihrer Skepsis bewusst, hatte er Kitty das Feld überlassen und auf einen Tag gewartet, an dem sie verhindert sein würde.

Die Community of God war eine kleine, turmlose gelbe Backsteinkirche, ursprünglich von Deutschen errichtet, mit einem seitlich angebauten, teerpappengedeckten Gemeindezentrum. Der überwiegend weiblichen Gemeinde stand ein mittelalter Pfarrer vor, Theo Crenshaw, der dem Frauenkreis den Gefallen erwies, die Vorstadtalmosen ohne Dank anzunehmen. Jeden zweiten Dienstag händigte er Russ und Kitty einfach eine nach Dringlichkeit geordnete Aufgabenliste aus; sie kamen nicht um zu predigen, sondern um zu dienen. Kitty war mit Russ für Bürgerrechte auf die Straße gegangen, doch anderen Frauen aus dem Kreis hatte Russ erklären müssen, dass sie, nur weil es ihnen schwerfiel, «urbanes» Englisch zu verstehen, nicht laut und langsam zu sprechen brauchten, um sich ihrerseits verständlich zu machen. Für die Frauen, die das begriffen und darüber hinaus lernten, ohne Angst auf der South Morgan Street den Block südlich der Sixty-seventh entlangzugehen, war der Kreis eine beeindruckende Erfahrung. Den Frauen, die es nicht begriffen – manche von ihnen hatten sich dem Kreis nur angeschlossen,

Da Kitty ihr bisher nicht von der Seite gewichen war, stand bei Frances die Prüfung noch aus. Als sie in der Morgan Street ankamen, stieg sie widerstrebend aus dem Wagen und musste erst gebeten werden, bevor sie Russ und den anderen Witwen Werkzeugkästen und Tüten voll ausrangierter Winterkleidung ins Gemeindezentrum tragen half. Ihr Zögern wirbelte Zweifel in Russ auf – womöglich hatte er Stil für Substanz, eine Mütze für Abenteuergeist gehalten –, die jedoch in einem Windstoß des Mitgefühls verflogen, als Theo Crenshaw die beiden älteren Witwen anwies, eine Lieferung gebrauchter Bücher für die Sonntagsschule zu katalogisieren, Frances aber überging. Die beiden Männer, sagte er, würden im Keller einen neuen Boiler installieren.

«Und Frances», sagte Russ.

Sie stand abwartend an der Eingangstür. Theo musterte sie kühl. «Es sind eine Menge Bücher.»

«Helfen Sie doch Theo und mir», sagte Russ.

Ihr eifriges Nicken bestätigte seinen Mitgefühlinstinkt und zerstreute den Verdacht, dass er ihr vor allem zeigen wollte, wie stark er war, wie geschickt im Umgang mit Werkzeug. Im Keller zog er sich bis aufs Unterhemd aus, schlang die Arme um den scheußlichen, asbestverkleideten alten Boiler und hob ihn vom Sockel. Mit seinen siebenundvierzig Jahren war er kein langer dürrer Ast mehr, sondern an Brust und Schultern breit geworden wie eine Eiche. Doch für Frances gab es nicht viel anderes zu tun als zuzuschauen, und nachdem das Zuflussrohr wandbündig abgerissen war, sodass er mit Meißel und Schneideisen weiterarbeiten musste, merkte er erst nach einer Weile, dass sie den Keller verlassen hatte.

Das war eine Anweisung, die Frances nicht erhalten hatte. Als sie zur Mittagessenszeit nach oben kamen, hockte sie mit Ronnie neben einer Schachtel Buntstifte auf dem Boden des Gemeindesaals. Ronnie trug einen ausrangierten Parka, eindeutig aus New Prospect, und schaukelte auf den Knien, während Frances eine orangefarbene Sonne auf ein Blatt Zeitungspapier malte. Theo blieb wie angewurzelt stehen, schien etwas sagen zu wollen und schüttelte dann den Kopf. Frances hielt Ronnie ihren Buntstift hin und schaute glücklich zu Russ hoch. Sie hatte ihre eigene Art zu dienen gefunden, indem sie sich jemandem widmete, und er freute sich für sie.

Theo, der ihm in die Kirche folgte, tat es nicht. «Sie müssen mit ihr sprechen. Sagen Sie ihr, Ronnie ist tabu.»

«Ich sehe nicht recht, was es schaden kann.»

«Hat mit ‹schaden› nichts zu tun.»

Er unterhielt sich gerade mit den beiden Witwen, als unten eine Tür knallte und eine wütende Frauenstimme laut wurde. Er sprang auf und lief hinunter in den Gemeindesaal. Frances, ein Blatt Zeitungspapier in der Hand, duckte sich vor einer jungen Frau, die Russ noch nie gesehen hatte. Sie war ausgemergelt, hatte fettiges Haar. Schon aus einiger Entfernung konnte er ihre Alkoholfahne riechen.

«Das ist mein Sohn, kapiert? Mein Sohn.»

Ronnie kniete nach wie vor mit den Buntstiften am Boden und schaukelte hin und her.

«He, he», sagte Russ.

Die junge Frau fuhr herum. «Bist du der Mann von der?»

«Nein, ich bin der Pastor.»

Russ trat zwischen die beiden Frauen. «Miss, bitte.»

«Was hast du da?»

«Das ist eine Zeichnung», sagte Frances. «Eine schöne Zeichnung. Die hat Ronnie gemacht. Stimmt’s, Ronnie?»

Besagte Zeichnung war ein willkürliches rotes Gekritzel. Ronnies Mutter streckte den Arm aus und riss sie Frances aus der Hand. «Das ist nicht deins.»

«Nein», sagte Frances. «Ich glaube, das hat er für Sie gemalt.»

«Redet die immer noch mit mir? Oder was hör ich da?»

«Ich glaube, wir müssen uns hier alle mal beruhigen», sagte Russ.

«Die da muss ihren weißen Arsch aus meinem Blickfeld schieben und meinen Jungen in Ruhe lassen.»

«Entschuldigen Sie», sagte Frances. «Er ist so lieb, ich wollte nur –»

«Was redet die immer noch mit mir?» Die Mutter zerriss die Zeichnung in vier Teile und zerrte Ronnie hoch. «Ich hab dir doch gesagt, du sollst von den Leuten hier wegbleiben. Hab ich dir das nicht gesagt?»

«Weiß nich», sagte Ronnie.

Sie gab ihm eine Ohrfeige. «Weißt du nicht?»

«Miss», sagte Russ, «wenn Sie den Jungen noch einmal schlagen, gibt es Ärger.»

«Ja, ja, ja.» Sie steuerte auf den Ausgang zu. «Komm, Ronnie. Wir sind hier fertig.»

Als sie gegangen waren und Frances in Tränen ausgebrochen war und er sie umarmt hatte, wobei er die Schauer ihrer Angst spürte, aber auch wahrnahm, wie gut ihre schmale Gestalt in seine Arme passte und ihr zarter Kopf in seine Hand, war er

«Ich weiß nicht, ob ich hierfür gemacht bin», sagte sie.

«Es war nur Pech. Ich habe sie noch nie gesehen.»

«Aber ich habe Angst vor diesen Leuten. Und das hat sie gemerkt. Und Sie haben keine Angst, deshalb hatte sie vor Ihnen Respekt.»

«Es wird leichter, wenn man immer wiederkommt.»

Sie schüttelte den Kopf, glaubte ihm nicht.

Als Theo Crenshaw vom Mittagessen zurückkam, war Russ zu beschämt, um ihm von dem Zwischenfall zu erzählen. Er hatte keinen Plan für sich und Frances gehabt, keine bestimmte Phantasie, nichts weiter als den Wunsch, ihr nahe zu sein, und nun hatte er die Chance, sie zweimal im Monat zu sehen, durch Eitelkeit und eine Verkennung der Lage vertan. Es war schon schlecht genug von ihm, eine Frau zu begehren, die nicht seine Ehefrau war, aber auch im Schlechtsein war er schlecht. Was für eine schauderhaft passive Taktik es gewesen war, sie in den Keller mitzunehmen. Zu glauben, sie könnte ihn unwiderstehlich finden, wenn sie ihm bei der Arbeit zusah, so wie er sie bei allem unwiderstehlich fand, was er sie tun sah, machte ihn zu der Sorte Mann, die ihre Sorte Frau nie unwiderstehlich finden würde. Ihm zuzusehen hatte sie gelangweilt, und das, was dann geschehen war, war seine Schuld.

In seinem Fury, auf der sich hinziehenden Rückfahrt nach New Prospect, schwieg sie, bis eine der älteren Witwen sie fragte, wie es ihrem Sohn Larry, dem Zehntklässler, bei Crossroads gefalle. Dass ihr Sohn sich der kirchlichen Jugendgruppe angeschlossen hatte, war Russ neu.

«Rick Ambrose muss eine Art Genie sein», sagte Frances. «Zu

«Haben Sie da mitgemacht?», fragte die ältere Witwe.

«Nee. Nicht genügend süße Jungs. Besser gesagt, kein einziger.»

Aus dem Mund von Frances kommend, war das Wort Genie wie Säure auf Russ’ Gehirn. Er hätte es stoisch hinnehmen sollen, doch an seinen schlechten Tagen war er unfähig, Dinge nicht zu tun, die er später bereuen würde. Fast war es so, als täte er sie, weil er sie später bereuen würde. Wenn er sich im Nachhinein vor Scham wand und sich in der Einsamkeit erniedrigte, fand er zurück zu Gottes Gnade.

«Wissen Sie», sagte er, «warum die Gruppe Crossroads heißt? Weil Rick Ambrose dachte, Jugendliche könnten sich mit dem Namen eines Rocksongs identifizieren.»

Das war eine heikle Halbwahrheit. Russ selbst hatte den Namen ursprünglich vorgeschlagen.

«Also habe ich ihn gefragt – das musste ich ihn fragen –, ob er den Originalsong von Robert Johnson kennt. Und er sieht mich verständnislos an. Für ihn, müssen Sie wissen, beginnt die Musikgeschichte nämlich mit den Beatles. Glauben Sie mir, ich habe die Cream-Version von ‹Crossroads› gehört. Ich weiß genau, was das ist: Da haben sich ein paar Typen aus England bei einem echten schwarzamerikanischen Meister des Blues bedient und tun so, als wäre es ihre Musik.»

Frances, mit ihrer Jagdmütze auf dem Kopf, blickte unverwandt auf den Lastwagen vor ihnen. Die älteren Witwen hielten den Atem an, während der zweite Pfarrer ihrer Gemeinde den Leiter des Jugendprogramms niedermachte.

«Ich habe übrigens die Originalaufnahme von Johnsons ‹Cross Road Blues›», prahlte er unausstehlich. «Als ich noch in Greenwich Village gewohnt habe – ich habe da mal gelebt,

Danach herrschte betretenes Schweigen. Das letzte Novembertageslicht erstarb in Buntstiftfarben unter den Wolken am Vorstadthorizont. Für Russ gab es jetzt mehr als genug, wofür er sich später schämen konnte, mehr als genug, um sicher zu sein, dass er es verdiente zu leiden. Die Ahnung am Tiefpunkt seiner schlimmsten Tage, dass ihm recht geschah, das Gefühl des Nachhausekommens, wenn er gedemütigt wurde – das war es, was ihn wissen ließ, dass Gott existierte. Schon jetzt, als er auf das ersterbende Licht zufuhr, hatte er einen Vorgeschmack von ihrer Wiedervereinigung.

Auf dem Parkplatz der First Reformed blieb Frances noch im Wagen sitzen, nachdem die anderen sich verabschiedet hatten. «Warum hat sie mich gehasst?», sagte sie.

«Ronnies Mutter?»

«So hat noch nie jemand mit mir geredet.»

«Es tut mir sehr leid, dass Ihnen das passiert ist», sagte er. «Aber das meinte ich vorhin mit dem Schmerz. Stellen Sie sich vor, Sie sind so arm, dass Ihre Kinder das Einzige sind, was Sie

«Ich würde versuchen, selbst besser mit ihnen umzugehen.»

«Ja, aber das liegt daran, dass Sie nicht arm sind. Wenn Sie arm sind, passieren Ihnen die Dinge einfach. Es kommt Ihnen so vor, als könnten Sie nichts kontrollieren. Sie sind gänzlich von Gottes Gnade abhängig. Deshalb sagt uns Jesus, die Armen sind gesegnet – nichts zu haben bringt einem Gott näher.»

«Den Eindruck, dass diese Frau Gott besonders nah war, hatte ich nun nicht gerade.»

«Eigentlich können Sie das nicht wissen, Frances. Sie war ja ganz offenbar wütend und verstört –»

«Und stinkbesoffen.»

«Und mitten am Tag stinkbesoffen. Aber wenn wir nur eins von diesen Dienstagen lernen, dann sollte es doch das sein: dass es Ihnen und mir nicht zusteht, über die Armen zu urteilen. Wir können nur versuchen, ihnen zu dienen.»

«Sie meinen also, es war mein Fehler.»

«Überhaupt nicht. Sie haben auf eine edle Regung Ihres Herzens gehört. Das ist nie ein Fehler.»

Er hörte jetzt eine edle Regung seines eigenen Herzens: Er könnte für sie immer noch ein guter Pastor sein.

«Ich weiß – wenn man aufgewühlt ist, kann man das schwer so sehen», sagte er sanft, «aber was Sie heute erlebt haben, das erleben Menschen in diesem Viertel tagein, tagaus. Beschimpfung, Misshandlung, Rassenvorurteile. Und ich weiß, dass Schmerz auch Ihnen nicht fremd ist – ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie durchgemacht haben. Wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie genug Schmerzen gelitten haben und im Moment lieber nicht bei uns mitarbeiten möchten, werde ich Sie

Frances dachte einen Moment über seine Worte nach. «Sie haben recht», sagte sie. «Es fällt mir in der Tat schwer, das so zu sehen.»

Und damit schien die Sache erledigt. Als er Frances am nächsten Tag anrief, wie jeder gute Pastor es getan hätte, sagte sie, ihre Tochter habe Fieber, sie könne gerade nicht telefonieren. Bei den Gottesdiensten der folgenden zwei Sonntage sah er sie nicht, und auch die nächste Fahrt zur South Side ließ sie aus. Er erwog, sie noch einmal anzurufen, und sei es nur, um seinen Vorrat an Scham wiederaufzufüllen, aber die Reinheit des Schmerzes, den ihr Verlust ihm bereitete, passte perfekt zu den dunklen Nachmittagen und langen Nächten der Jahreszeit. Früher oder später hätte er sie sowieso verloren – allerspätestens, wenn einer von ihnen starb, sehr wahrscheinlich um einiges früher –, und sein Bedürfnis, wieder mit Gott in Verbindung zu sein, war so dringend, dass er den Schmerz fast gierig annahm.

Doch dann, vor vier Tagen, hatte sie ihn angerufen. Sie habe eine scheußliche Erkältung gehabt, müsse aber in einem fort an seine Worte im Auto denken, sagte sie. Sie könne sicher nicht so sein wie er, aber sie glaube, eine Hürde genommen zu haben, und Kitty Reynolds habe von einer Weihnachtslieferung an die South-Side-Gemeinde gesprochen. Dürfe sie da mitkommen?

«Auf unserem Plattenspieler kann man 78er abspielen», sagte sie. «Ich finde, wenn ich da jetzt mitmache, sollte ich versuchen, die Kultur von denen besser zu verstehen.»

Die Formulierung Kultur von denen ließ ihn zusammenzucken, aber so schlecht im Schlechtsein war selbst er nicht, dass er nicht gewusst hätte, was es hieß, jemandem Musik zu leihen, die einem selbst viel bedeutete. Er ging in den unbeheizbaren zweiten Stock seines klobigen, von der Kirche gestellten Hauses hinauf und verbrachte gut eine Stunde auf den Knien, um 78er auszuwählen und immer wieder neu auszuwählen, weil er zu erahnen versuchte, welche zehn Platten zusammen wohl am ehesten Gefühle bei ihr auslösen könnten, wie er sie schon für sie empfand. Seine Verbindung mit Gott hatte sich verflüchtigt, aber das war im Moment kein Problem. Das Problem war Kitty Reynolds. Er musste Frances unbedingt für sich allein haben, aber Kitty war schlau, und er war ein schlechter Lügner. Jede Finte, die ihm einfiel, zum Beispiel die, sie für drei Uhr zu bestellen und mit Frances schon um halb drei aufzubrechen, würde unweigerlich Kittys Verdacht erregen. Er sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als offen mit ihr zu reden, mehr oder weniger zumindest, und ihr zu sagen, Frances habe in der Stadt ein kleines Trauma erlitten, und er müsse mit ihr allein sein, wenn sie mutig an den Ort des Geschehens zurückkehre.

«Für mich klingt es so», hatte Kitty am Telefon zu ihm gesagt, «als hättest du die Sache vermasselt.»

«Stimmt. Hab ich auch. Und jetzt muss ich versuchen, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Dass sie noch mal hinfahren will, ist zwar ein gutes Zeichen, aber die Sache bleibt heikel.»

«Und sie ist schnucklig, und es ist Weihnachten. Wenn du es

Er hatte sich gefragt, wie Kitty das meinte – ob sie ihn für einzigartig gut und vertrauenswürdig hielt oder für einzigartig asexuell, unmännlich und harmlos. So oder so hatte es den erregenden Effekt gehabt, seine bevorstehende Verabredung mit Frances noch verbotener erscheinen zu lassen. In gespannter Voraussicht hatte er seine endgültige Auswahl von Blues-Platten und einen schmuddeligen alten Mantel aus dem Haus und in sein Kirchenbüro geschmuggelt, so ein Schafsfellding aus Arizona, das ihm, wie er hoffte, einen gewissen Schneid verleihen würde. In Arizona hatte er Schneid besessen, und ob das nun fair war oder nicht – er glaubte, dass es seine Ehe war, die ihm den Schneid genommen hatte. Als Marion sich nach seiner Demütigung loyal auf die Fahnen geschrieben hatte, Rick Ambrose zu hassen und ihn diesen Scharlatan zu nennen, hatte Russ sie angeschnauzt – abgekanzelt – und erklärt, Rick sei vieles, nur kein Scharlatan; die schlichte Tatsache sei die, dass er, Russ, seinen Schneid verloren habe und keinen Zugang mehr zu jungen Leuten finde. Er geißelte sich und verübelte es Marion, dass sie seiner Lust daran in die Quere kam. Die Scham, die er fortan täglich empfand, egal, ob er am Büro von Ambrose vorbeiging oder, um genau das zu vermeiden, einen feigen Umweg machte, hatte ihn mit dem Leiden Christi in Verbindung gebracht. Es war eine Qual, die ihn in seinem Glauben stärkte, während Marions zu sanfte Hand auf seinem Arm, wenn sie ihn trösten wollte, eine Qual ohne geistlichen Vorteil war.

Als es endlich auf halb drei zuging, hörte er, vor seiner Schreibmaschine mit dem noch immer leeren Blatt sitzend, die Crossroads-Teenager aus der Schule angeschwärmt kommen und um den Honigtopf Ambrose schwirren, das Gestampfe ihrer Schritte und die lauten Flüche, die Mr. Scheiß-Piss-Arsch noch

Schlechte Verbrecher übersehen offensichtliche Dinge. Das Verhältnis zu seiner Tochter Becky war angespannt, seit sie sich im Oktober ohne erkennbaren Grund Crossroads angeschlossen hatte, aber zumindest war ihr bewusst, wie tief sie ihn damit verletzt hatte, und er sah sie nach der Schule nur selten in der Kirche. Perry dagegen war jedes Taktgefühl fremd. Perry, bei dem ein IQ von 160 ermittelt worden war, sah zu viel und grinste zu viel über das, was er sah. Perry wäre ohne weiteres imstande, Frances anzusprechen, scheinbar geradeheraus und respektvoll, dabei aber irgendwie keins von beidem, und er würde definitiv den Schafsfellmantel bemerken.

Russ hätte den Umweg zum Parkplatz nehmen können, aber der Mann, der den in Kauf nahm, war nicht der Mann, der er heute sein wollte. Er straffte die Schultern, vergaß absichtlich, die Blues-Platten mitzunehmen, damit er und Frances einen Grund hätten, nach Einbruch der Dunkelheit in sein Büro zurückzukehren, und trat hinaus in eine dichte Nebelbank aus Rauch, dem Zigarettenqualm eines Dutzends Jugendlicher, die auf dem Flur lagerten. Von Perry war auf den ersten Blick nichts zu sehen. Ein pummeliges, apfelbäckiges Mädchen lag zufrieden quer über den Schößen dreier Jungs auf dem durchgesessenen alten Diwan, der trotz der leisen Proteste, die Russ Dwight Haefle gegenüber erhoben hatte (der Flur war ein Fluchtweg), hereingezerrt worden war, damit die Jugendlichen dort warten

Den Blick auf den Boden gerichtet, bewegte Russ sich voran, bahnte sich einen Weg um die bejeansten Waden und beturnschuhten Füße. Doch als er sich dem Zimmer seines Gegenspielers näherte, konnte er aus dem Augenwinkel sehen, dass dessen Tür halb offen stand; und dann hörte er ihre Stimme.

Unwillkürlich hielt er inne.

«Es ist so toll», hörte er Frances sprudeln. «Vor einem Jahr musste ich ihm praktisch eine Pistole an den Kopf halten, um ihn in die Kirche zu kriegen.»

Von Ambrose waren durch die Türöffnung nur ausgefranste Jeanssäume und abgewetzte Arbeitsstiefel sichtbar. Aber der Stuhl, auf dem Frances saß, war der Tür zugekehrt. Sie sah Russ, winkte ihm zu und sagte: «Sehen wir uns gleich draußen?»

Gott allein wusste, was für ein Gesicht er machte. Er ging weiter, schoss blind über das Ziel des Haupteingangs hinaus und stand plötzlich vor dem Gemeindesaal. Durch große Löcher in der Außenhaut lief sein Rumpf mit dunklem Wasser voll. Die Dummheit, nicht ein einziges Mal daran gedacht zu haben, dass sie zu Ambrose gehen könnte. Die klarsichtige Gewissheit, dass Ambrose sie ihm wegnehmen würde. Die Schuld, die er auf sich lud, indem er sein Herz vor der Frau verschloss, die er zu lieben und zu ehren gelobt hatte. Die Selbstgefälligkeit zu glauben, dass sein Schafsfellmantel irgendetwas anderes aus ihm machen würde als einen törichten, gestrigen, abstoßenden Clown. Er hätte sich das Ding am liebsten vom Leib gerissen und seinen gewohnten Wollmantel geholt, aber er war zu feige, um durch den Flur zurückzugehen, und wenn er den Umweg nehmen und den staubigen Stier sehen würde, müsste er, in seinem jetzigen Zustand, womöglich weinen.

Falls Gott sein Gebet erhörte, dann wählte er den Weg, ihn daran zu erinnern, dass er sich selbst erniedrigen, an die Armen denken und anderen dienen musste, um eigenes Leid zu ertragen. Russ ging ins Gemeindesekretariat und trug Kisten mit Spielzeug und Konserven zum Parkplatz. Mit jeder Minute, die verstrich, verschlimmerte sich die spät hereinbrechende Schlechtigkeit des Tages. Warum war Frances bei Ambrose? Was konnten sie zu besprechen haben, das so viel Zeit in Anspruch nahm? Die Spielsachen schienen alle neu zu sein oder wenigstens so unverwüstlich, dass sie als neu durchgingen, aber Russ schaffte es, weitere Minuten zu überstehen, indem er die Lebensmittelkisten durchforstete, die allzu bequemen oder gedankenlosen Spenden (Perlzwiebeln, Wasserkastanien) aussortierte und Trost im Gewicht von Jumbodosen Schweinefleisch mit Bohnen, Chef-Boyardee-Pasta, Birnenhälften in Sirup fand: in der Vorstellung, wie willkommen jede einzelne davon einem Menschen sein würde, der echten Hunger litt und nicht nur spirituell ausgehungert war wie er.

Es war 14.52 Uhr, als Frances voller Spannkraft auf ihn zugehüpft kam, wie ein Junge. Sie trug ihre Jagdmütze und, heute, eine dazu passende Wolljacke. «Wo ist Kitty?», sagte sie strahlend.

«Kitty fürchtete, dass kein Platz mehr für sie ist, wegen all der Kisten.»

«Sie kommt nicht mit?»

Unfähig, Frances in die Augen zu schauen, konnte er nicht sagen, ob sie enttäuscht war oder, schlimmer noch, Verdacht schöpfte. Er schüttelte den Kopf.

«Das ist ja albern», sagte sie. «Ich hätte doch auf ihrem Schoß sitzen können.»

«Nicht recht? Es ist ein Privileg! Ich fühle mich sehr besonders heute. Ich bin ein gutes Stück weitergekommen.»

Sie machte einen leichtfüßigen kleinen Ballettschritt, um ihrem Weiterkommen Ausdruck zu verleihen. Er fragte sich, ob das Gefühl, von dem sie sprach, dem Besuch bei Ambrose vorausgegangen oder durch ihn verursacht worden war.

«Na schön», sagte er und knallte die Heckklappe des Fury zu. «Wir sollten jetzt besser losfahren.»

Das war eine dezente Anspielung darauf, dass sie sich verspätet hatte, die einzige, die er sich erlauben wollte, und sie ging nicht darauf ein. «Muss ich irgendwas mitnehmen?»

«Nein. Nur sich selbst.»

«Das Einzige, ohne das ich nie das Haus verlasse! Ich schaue nur noch kurz nach, ob ich meinen Wagen abgeschlossen habe.»

Während sie zu ihrem eigenen, neueren Wagen hinüberhüpfte, beobachtete er sie. Ihre Laune schien nicht nur in diesem Moment, sondern überhaupt besser zu sein, als seine es je gewesen war. Auf jeden Fall besser, als er Marions je erlebt hatte.

«Ha!», jubelte Frances ihm quer über den Parkplatz zu. «Abgeschlossen!»

Er reckte beide Daumen hoch. Er reckte nie für irgendwen beide Daumen hoch. Es fühlte sich so merkwürdig an, dass er nicht wusste, ob er es richtig gemacht hatte. In der Hoffnung, dass kein anderer, insbesondere Perry, es mitbekommen hatte, blickte er sich um. Außer zwei Teenagern, die mit Gitarrenkästen auf die Kirche zugingen und – vielleicht bewusst – nicht in seine Richtung schauten, war niemand zu sehen. Einer der beiden war ein Junge, den er kannte, seit er als Zweitklässler in die Sonntagsschule gekommen war.

Wie es wohl wäre, mit einem Menschen zusammenzuleben, der zur Freude fähig war?