Über dieses Buch

Cover

Der tuwinische Erzähler Galsan Tschinag mit dem persönlichsten seiner Bücher. Im Austausch mit der Völkerkundlerin Amélie Schenk ist dieses außergewöhnliche Werk entstanden: eine Liebeserklärung an das Nomadenleben, ein tiefer Blick in die Geheimnisse einer untergehenden Kultur, eine rückhaltlose Bilanz der Wanderungen zwischen Ost und West.

Amélie Schenk

Amélie Schenk ist promovierte Ethnologin. Sie beschäftigt sich insbesondere mit dem Schamanentum verschiedener Naturvölker, lebte bei Indianern Nordamerikas, in Indien und im tibetischen Himalaja. Heute lebt sie vorwiegend in der Mongolei.

Galsan Tschinag

Galsan Tschinag, geboren 1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Er studierte Germanistik in Leipzig und schreibt viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt in Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe und auf Lesereisen.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Galsan Tschinag, Amelie Schenk

Im Land der zornigen Winde

Gespräche

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1997 im Verlag Im Waldgut, Frauenfeld.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30198-6

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Version vom 18.07.2020, 20:19h

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Alles, was ich zu sagen habe

Alles, was ich zu sagen habe, erzähle ich dir. Du bist für mich das Abendland, die nicht-nomadische Welt. Ich weiß, du bist angeschlagen in deinen Grundfesten, irrst umher, bist auf der Suche nach einer neuen Erde, nach einem Halt, den dir bislang keiner hat geben können. Ich weiß auch, du wirst, trotz ständigem Zeitdruck, nun endlich einmal Zeit haben und mir zuhören, schon aus innerer Not heraus. Und unterbrich mich nicht, denn einen Nomaden im Redefluss unterbrechen, heißt ihn bezwingen, ihn eindämmen und letztlich erdrosseln. Und was wäre die Welt ohne ihre Erzähler?

Bin der Schwanengesang eines gehenden Volkes

Ich, der ich für die Welt Galsan Tschinag heiße, genauer: der Galsan des Tschinag, bin in den Tälern und auf den Bergen des Hohen Altai, im äußersten Westen der Mongolei, Irgit Schynykbaj-oglu Dshuruk-uwaa – Fellbaby, Sohn des Reichen Schynyk aus dem Stamme Irgit.

Komme ich nach Europa, überfliege ich jedes Mal sieben Sonnenstunden. Sie sind die Schwelle, die ich überschreiten muss, wenn ich aus der Urgesellschaft, in der mein Volk immer noch lebt, herauskomme in den Auslauf des 20. Jahrhunderts. So schwebe ich eine Zeit lang in den Weiten des Himmelsblau und des Wolken weiß, lasse die Erdenschwere hinter mir. So sitze ich einen Tag lang im Himmel und kann gut nachdenken. Mir ist, ich brauche den langen Flug und das lange Warten, um den Wechsel der Welten überhaupt bewältigen zu können. Ja, Umrüsten muss ich mich jedes Mal, bevor ich meine Füße auf die Gleise einer anderen Welt setze, meine Seele den Pulsschlägen eines anderen Zeitalters angleiche.

Die Leute sind ratlos, gar bestürzt, wenn sie mich sagen hören: Jetzt bin ich fünfzig Jahre alt. Im Grunde aber lebe ich seit 1550 Jahren. Denn in der Tat muss ich jedes Mal, wenn ich die Welten wechsle, so viel Zeit überbrücken.

Und ich glaube, das geschieht auf einen Wink der guten Geister. Denn unmöglich kann ich dies und all das, was mir bisher geglückt ist, im Alleingang erreicht haben. Ich bin ein Mensch, der eigentlich zu gering geschaffen ist: Verfüge über eine ziemlich durchschnittliche Intelligenz, über eine für jegliches Unternehmen ungünstige, eher abweisende als gewinnende äußere Erscheinung, über eine für die Nomadenwelt zu schwache und an vielen Stellen angeschlagene Gesundheit, ja einen schlaffen Leib, bin schwer von Begriff und neige zu Gefräßigkeit und Faulheit.

Die anfänglichen Spuren meines Erdenlebens sind verwischt. Die Zeugen, die darüber etwas hätten aussagen können, sind gegangen. So wird niemand mehr im Stande sein, den Monat und den Tag zu nennen, an dem ich geboren wurde. Es ist wohl in den 40er-Jahren geschehen. Eines aber weiß ich: Bin an einem Sonntag im europäischen Sinn ins Leben getreten. Wie sonst hätte mir der Weg zu so vielen Sonnentagen des Lebens freigelegen?

Und dieses Leben ist von Anfang an ein Märchen gewesen. Mein Vater bekam inmitten eines Lebens, wo andere mit vierzehn heirateten, mit erst siebenunddreißig Jahren meine Mutter zur Frau. Und diese brachte mich auch erst mit siebenunddreißig Jahren auf die Welt, in einer Jurte in den Schwarzen Bergen. Von den vier Kindern, die sie zuletzt gebar, blieb als Einziges ich am Leben. Ich blieb und gedieh selbst dann, als ich einmal in einen Kessel mit siedender Milch stürzte und mir die Haut des ganzen Rumpfes verbrühte.

Vater war so närrisch in mich verliebt, dass er mich jeden Morgen aus dem Bett hob und aus der Jurte hinaus bis zu der Stelle trug, die mir würdig genug erschien, darauf zu pullern. Dieses Spektakel dauerte so lange, bis der alternde Vater unter dem Gewicht des heranwachsenden Sohnes eines Morgens zusammenbrach. Und wenn ich erst an Mutter denke! Sie war bereit, mich so lange zu stillen, bis mir die ersten Milchzähne ausfielen, und gab mir auch später noch ihre Brüste, so oft ich danach verlangte, selbst in einem Alter, in dem ich schon so manches Liebesgedicht verfasst hatte.

Nun, ich wurde verhätschelt, blieb aber doch ein anständiges Wesen: Hatte meine Großmutter, die bereit war, allein für mich zu leben, es aber dann doch nicht verhindern konnte, heimgehen zu müssen. Und hatte ich nicht geschworen und beschlossen, mit ihr zusammen eine eigene Jurte zu bewohnen, eigene Herden zu besitzen und so meinetwegen auch zu einem Baj, einem Fürsten, zu werden? Ich blieb bei diesem Vorsatz. Zwar wurde mir später der Kopf gründlich und mit vielem vollgestopft, so mit einer Ideologie, die allwisserisch meinte, Besitz sei etwas Schlechtes und Wahrheit dürfe man nur dann als solche anerkennen, wenn sie dem Besitzlosen nütze. Und heute? Da bleibe ich erst recht bei meinen alten Ideen. Ein Großteil der Mitmenschen wirft angesichts eines neuen Gottes, der Geld heißt, all seine Heiligtümer über Bord und maskiert sich, als gelehrige Untertanen neuer Herrscher.

Ein Märchen ist es auch gewesen, als vor reichlich drei Jahrzehnten an einem stinkig trüben Herbstmorgen ein Nomadenkind der Tuwa in der preußischen Hauptstadt Berlin ankam und in das sächsische Leipzig weitergeleitet wurde, um dort zu studieren. Nur war das Kind weder der Sprache des Landes noch der Schrift des Kontinents mächtig, allein es war erfüllt vom Willen, alles zu lernen, was zu lernen war. Ein Lomonossow, dessen Biografie es gelesen hatte, war ihm der Leuchtstern: Jener, der Bauernsohn im kalten Norden Russlands, hatte sich inmitten des Winters zu Fuß auf den Weg gemacht, um die Reichsstadt St. Petersburg zu erreichen und dort sich das Wissen anzueignen. Dieses, das Hirtenkind aus dem Mongolischen Altai irgendwo hinter dem Ural, war zur Zeit des warmen Herbstes mit der Eisenbahn gereist. Und das Hirtenkind wähnte sich unter einem günstigeren Stern als jener Bauernjunge. Das musste irgendwie stimmen. Denn dem Nomadenjungen hatte der Staat einen Studienplatz zugesprochen, während dem anderen nicht einmal der eigene Vater den Segen erteilt hatte. Gemeinsam war beiden nicht nur der Lernwille, sondern auch die Tatsache: Jeder der beiden stellte das berühmte unbeschriebene Blatt Papier dar, und jeder war im Besitz eines ausgeruhten Kopfes. Der aus dem russischen Bauerngeschlecht der nordischen Kühle war zwar schriftkundig, aber bei Weitem nicht überbelastet. Wohingegen der Nomadenkopf von Stille und Weiten umweht war. Und zudem, wenn auch schriftunkundig, war er ein offen stehendes, leeres Archiv, aber vor Kurzem geprägt und auf lange Sicht erweckt von nächtelangen und melodietollen Epen und Schamanengesängen.

Und so ging das Märchen weiter. Ich werde es dir erzählen. Und immer, sobald wir Zeit haben, werde ich dich in Stücken damit unterhalten. In diesem Märchen, das mein Leben sein soll, bin ich der Junge gewesen, der von Anfang an gewusst haben muss, eines Tages werde ich doch zum König! So will es das Märchen doch?

Ich glaube an Geister. Dies wohl, weil ich einer bin, der an das Glück gewöhnt, ja mit diesem verwandt ist. So sehr ich mein Leben als eine Fortsetzung des der Väter und deren Väter und der Mütter und deren Mütter betrachte, so darf ich es auch als eine glückliche Verkörperung edler Taten und guter Wünsche eines Volkes begreifen, das die Liebe zur eigenen Erde und die Sehnsüchte nach der unbekannten Ferne in einer Brust durch Zeiten und Welten getragen haben muss.

Und dennoch: Ich bin eine Bestellung der Zeit.

Ich muss der Schwanengesang eines Volkes sein, das nun bald aus der Geschichte gehen wird.

Stein am Hang des Lebensberges

Komm, setz dich zu mir. Schau dir die Hütte meiner Eltern an. Sie steht seit über dreißig Jahren an dieser Stelle, und solange meine Eltern lebten, war das für mich mein Zuhause. Vorher hatten sie eine Jurte. Dann war es so, dass sie alt geworden waren und nicht mehr umherziehen wollten. Da mein älterer Bruder hier Russischlehrer war und im Ort zu leben hatte, blieben sie in seiner Nähe. Dass er, Bruder Gagaa, sich um die beiden kümmern sollte, das war schon vorher, vor vielen Jahren festgelegt, als ich die zehnte Klasse hinter mir hatte. Und als ich dann von Zuhause wegging, gab es eine große Beratung der ganzen Sippe, und die Eltern haben in Gegenwart aller ihrer Kinder gesagt, ich solle ohne Bedenken gehen, wohin es mich treibt, und Gagaa sei derjenige, der sich um die beiden kümmern würde. Er sei ihr und ich sei des Volkes Kind. Ich sollte mich um den großen Stamm kümmern. Wenn einer von uns beiden erkrankt oder stirbt, hat mein Vater gesagt, so brauchst du nicht zu kommen, dein Bruder ist da. So ist es dann auch geschehen, ich kam weder zu Vaters noch zu Mutters Tod. Erst später, als sie schon zu zwei Hügeln geworden waren, kam ich vorbei und hatte mit Erde zu tun, die nach Sonne und Gras und vielem mehr roch.

In dieser Hütte haben die Eltern fast zwanzig Jahre zusammengelebt, mein Vater bis zu seinem Tod im Jahre 1978 und meine Mutter bis zu ihrem Tod im Jahre 1993. Da drüben ist Vaters Bett und hier ist das der Mutter. In verschiedenen Jahren, zu verschiedenen Zeiten bin ich hierher, in diese Hütte zurückgekommen. Die viereckige Hütte hat etwas Rundes für mich, ist wie Vaters Jurte, in der ich irgendwann geboren wurde.

Mein größeres Zuhause ist der Altai. In Ölgij, der Bezirksstadt wo ich immerhin sechs Schuljahre zu verbringen hatte, habe ich mich keine Stunde zu Hause gefühlt. Das ist eine mir fremde Welt. Mit ihr verbindet mich eigentlich nichts. Bin immer froh, wenn ich sie so schnell wie nur möglich verlassen darf. Erst an dem owoo, an dem wir gestern haltgemacht haben, an diesem Eingang zum Hochaltai, da fühle ich mich an der Schwelle ins eigene Land.

Mit Hochaltai meinen wir die fünf großen Flüsse und die Flusstäler und die hohen Berge, das sind dreiunddreißig Schneegipfel. Dann noch sehr, sehr viele schneelose Berge und die Steppen; und dazwischen drei große Seen, die wir alle Meere nennen, Aber wenn ich an das Zuhause im engeren Sinne denke, dann denke ich natürlich an diese Hütte.

Wir sagen nicht Heimat, Wir sagen wörtlich »Fall-Erde« – düschgen dsher und »Wasch-Wasser« – dshungan sug. Damit meinen wir die Erde, auf die man aus dem Mutterleib gefallen ist, und das Wasser, mit dem man gewaschen wurde. Wenn wir eigenes Land sagen, denken wir an die Erde und das Wasser und die Luft darüber, den Himmel. Der Himmel ist unser Vater, die Erde unsere Mutter. Und der Hochaltai ist meine große Jurte, im Gegensatz zu meiner kleinen, elterlichen, Diese ist zeitweilig, während die andere, die große, ewig ist.

All die hochgestochenen Begriffe wie Heimat, Vaterland gibt es auch in unseren Sprachen. Bei den Mongolen heißt es übrigens Mutterland. Heimat ist ein großes Wort. Die Menschen hier in diesen Bergen haben eine gewisse Scheu, so große Wörter in den Mund zu nehmen. Wir nennen all das ganz konkret: Erde, Wasser, Luft, Wind. Und wenn wir an einen Fluss herangehen, nachdem wir lange fort waren, nach ein paar Monaten, gar nach einem oder mehreren Jahren, dann tauchen wir als Erstes die Hand ins Wasser und benetzen damit die Stirn. Gehen wir von hier weg, dann nehmen wir einen kleinen Stein und eine Prise Erde mit. Altaisteine und Altaisand haben mich über die Erdkugel begleitet. Ich habe sie immer bei mir, wo ich auch bin. Denn wenn man auf diese Weise Sichtbares, Greifbares bei sich hat und darunter die Heimat versteht, dann, glaube ich, fiele es einem leichter, die Erde, ja den Planeten als Ganzes überhaupt als Heimat der Menschheit zu begreifen. Meine Heimat ist zwar sehr klein, aber je weiter ich mich von ihr entferne, umso größer wird mein Heimatbegriff. Wenn ich in Ulaanbaatar sitze, dann denke ich an den Hochaltai als meine Heimat, und wenn ich nach Europa fahre, dann denke ich an die Mongolei als meine Heimat, und wenn ich vielleicht nach Amerika fahren würde, dann wäre es sicher Eurasien, und wenn ich als Astronaut im Kosmos umherflöge, dann würde ich mich, das weiß ich, nach der Erde als meiner Heimat sehnen.

Auch in Afrika werde ich einen Teil der Mutter Erde vorfinden, und im Himmel darüber werde ich einen Teil von Vater Himmel sehen. Darum gibt es für mich keine fremde Erde und keine eigene, keinen fremden Himmel und keinen eigenen. Himmel ist immer Vater, Erde ist immer Mutter. Ehrfurcht habe ich vor jedem Fleck Erde und vor jedem Tupfen Himmel.

Hier ist nun einmal der Altai, das ist gerade die Ecke, wo ich geboren wurde. Damit bin ich natürlich besonders verwachsen. Das ist für mich die Erde an sich. Nur um meine eigene Ecke zu lieben, muss ich keine fremde verdammen. Es gibt in dem Sinne keine eigene und keine fremde Ecke, weil ich sehe, die Erde ist einheitlich, ist ein Körper. Und wenn ich jetzt aus Liebe zur Mongolei, sagen wir, die Philippinen hassen oder sie gar zerstören würde, so ist das, wie wenn ich mir aus Liebe zu meiner Hand die Fußzehen abhacken würde. Aber werde ich das tun?

So geht es mir auch mit anderen Menschen. Ich liebe meine Stammesgenossen, meine Sippe, meine Verwandten, aber aus Liebe zu ihnen würde ich nie einen Fremden verachten oder ihm gar Schaden zufügen. Das sind genauso unsere Brüder und Schwestern, nur kenne ich sie im Augenblick nicht so gut. Ich weiß, verschiedene Linien führen zu allen Menschen. Noch weiß ich nicht, welche Fäden von mir zu dir laufen. Aber wenn ich rede, wenn du redest, wenn wir unsere Worte zusammenrücken, unsere Erfahrungen Zusammenlegen und nachforschen, dann werden wir es wissen.

Du sagst manchmal, der Stein ist schön. Steine sind für uns weder schön noch hässlich. Steine sind. Und dieser eine Stein hier, der ist etwas Besonderes wegen der Flechten darauf. Der daneben ist es wegen der Farben. Aber beide sind unnachgiebig, unbestechlich, sind eben das, was nur Steine sein können. So stehen wir auch zu den Bergen. Jeder Berg ist für uns vor allem und einfach Berg. Er ist weder schön noch hässlich. Als Berg ist er immer groß. Und wir sagen ja zu ihm Großvater. Voriges Jahr hatte ich Gäste. Zehn Leute kamen zu mir, und ein Hirte lud uns zu sich ein und schlachtete einen Hammel, denn er wollte uns ein Essen geben. Vorher hatte ich ihm geschildert, was für eine weite Reise die Leute auf sich genommen hatten, um hierher zu kommen. Seine Frage war nun: »Weshalb?« Meine Antwort: »Um die Berge zu beschauen, unsere Berge sind so schön.« Das konnte er nicht verstehen.

Sass lange so da, dachte nach, und sagte dann mehr für sich als zu uns: »Komische Menschen, die kommen, um sich Berge anzuschauen!«

Unser Verhältnis zur Natur ist einfach anders. Ein Berg ist ein Berg, und wenn ich auf diesem Berg sitze, dann bin ich Stein und ruhe. Eine weitere Aufgabe habe ich nicht. Und wenn ich dann über die Steppe gehe, dann bin ich Gras, ich fühle, wie ich wachse oder verdorre, dufte oder raschle. Und wenn ich durch einen Fluss gehe, dann bin ich Wasser, ich fließe. Diesen Gedanken kann ich auf andere Dinge auch übertragen. Mal bin ich Gletscher, mal Baum, mal Luft, immer bin ich Teil der Erde und des Himmels und dessen, was dazwischen ist.

Wir hatten ja angefangen über die Berge, die Flüsse, die Luft zu sprechen. All das zusammen ist der Altai, und wir nehmen ihn zunächst einmal als einen Farbkörper wahr. Dieser ist blau-weiß. Die erste Grundfarbe ist blau: Der Himmel ist blau, und auch die Berge sehen aus der Ferne alle blau aus. Selbst der Schieferstein, aus dem der Altai zur einen Hälfte besteht, leuchtet blau. Dann nimm die vielen Gewässer, alle sind blau. Und dazu das blendende Weiß, das kommt vor allem von den Gletschern; und auch die Wolken, die Jurten, die Schafherden leuchten weiß. Im Sommer kommt noch das Grün dazu. Die Felsen sind meistens rot, können aber häufig auch grün schimmern. Und die Steine haben die verschiedensten Farben. Dies alles zusammen wird von den Tieren belebt. Sind die Schafherden weiß, so sind die Yakherden schwarz-bunt, die Pferdeherden braunbunt und die Kamelherden rot-bunt. Sobald wir auf den Altai hinausschauen, erfassen wir diese Farben sofort, denn wir sind Menschen, die auf Farben sehr schnell ansprechen. Unsere Trachten sind kräftig in den Farben. Wir lieben keine Zwischenfarben, wir tragen Kontrastfarben und sind bestrebt, uns schön anzuziehen. Und schön ist es für uns immer mit vielen Farben. Einfarbigkeit können wir nicht leiden, uns steht der Sinn nach Buntheit. Grau, das in Ostdeutschland so geliebt wurde, das mögen wir nicht. In der DDR waren die meisten, die etwas auf sich hielten, in graue Anzüge gekleidet, graue Mäntel, graue Handschuhe, graue Schuhe. Das war die Farbe der DDR. Daran hat sich später der ganze sozialistische Osten angesteckt. Und so ist es in unseren Städten heute immer noch. Das Parlamentsgebäude in Ulaanbaatar ist ein recht schönes, stabiles Haus. Aber es ist so aschgrau, und. das ist etwas, was wir überhaupt nicht begreifen können. Jede andere Farbe würden wir annehmen, aber Schwarz und Grau bitte nicht. Auch die demokratisch ummaskierte Elite scheint sich für Grau entschieden zu haben, und dies wahrscheinlich bewusst, um sich vom Nomadischen abzusetzen.

Dann empfinden wir unseren Altai als einen Körper von Tönen. Die Flüsse, das sind sehr schnell fließende und vielerorts herabstürzende Höhenflüsse. Da hörst du ein solches Gedonner und Getöse von diesen Wassern. Dann ist da der Wind, den hörst du ständig. Und denk nur an die Tiere. Und doch ist alles in sich ruhend, weit und still, aber eine Totenstille herrscht dennoch nicht. Ständig hörst du die große Natur als eine nie endende Symphonie. Die Berge sind spitz, oft sturzsteil. Die Bergsteppen sind da als Weiden, sind weit und hoch. Vom Sehen, vom Hören nehmen wir ihn wahr, unseren Altai. Dann aber auch vom Geruch her. Der Gletscher hat einen ganz starken, seltsamen Geruch. Es ist Altwassergeruch. Da liegt Schnee von Jahrmillionen. Und wenn der Schnee solange liegen bleibt als Eisschnee und sich diese Gerüche von verschiedenen Jahrhunderten und Jahrtausenden dort gehalten haben, dann empfindest du das dort oben. Kommt hinzu die Würze vom Steppengras, von solch starkduftenden Kräutern wie Wermut, Salbei, kaltem Beifuß, dann riechst du die Urkraft der Berge. Unkraut gibt es für uns nicht. Das sind alles Pflanzen, die die Erde braucht und die auch wir brauchen. Dann riechst du die Wälder, die immer noch da sind, wenn auch kleiner geworden, die Tiere, die alle anders, aber alle so gut riechen, dass wir viele Bezeichnungen dafür haben, niemals aber vom Stinken reden. Für euch stinken sie vielleicht. Aber Stinken kommt von Menschen, Tiere stinken niemals. Der Tuwa ist ein Mensch, der auf den Geruch sehr viel Wert legt und die Welt und den nächsten Menschen durch die Nase wahrnimmt.

Wenn der Tuwa einen Wald in der Ferne sieht, sieht er vor allem den Wald, der seinen Ahnen Schatten gespendet hat. Er sieht darin auch den Wald, der seinen Kindern und Kindeskindern weiterhin Schatten spenden wird. Er freut sich darüber, dass dieser Wald immer noch so dasteht wie schon zu Zeiten der Ahnen. Und er hofft und ist bei dieser Hoffnung froh, dass diese Wälder noch so stehen werden zu Zeiten der Kinder und Kindeskinder. Ein Städter, so kommt es mir vor, sähe in dem Wald vor allem das Holz, er wäre glücklich, wenn er die Bäume schlagen und die Balken herübertragen könnte und schließlich diese Balken geschichtet vor sich sehen würde. Und wie würde er sich freuen, wenn er daraus Bretter machen könnte! Überglücklich aber wäre er erst, wenn er diese Bretter zu Stühlen und Tischen verarbeitet sähe. Und am allerbesten würde er sich fühlen, wenn er von diesem Wald ein Stück abgetrennt und einen Zaun ringsum gezogen hat und wenn er denken dürfte: Das ist nun mein Wald, Wir freuen uns, wenn wir von unserem Wald reden können.

Bei uns gibt es nicht mehr viele Bäume. Wir hatten große Lärchenwälder. Dann kamen, vor sechzig oder siebzig Jahren, die Kasachen, und sie haben die Bäume geschlagen. Heute haben wir ganz, ganz wenig Wald. Eine Statistik aus dem Jahre 1950 besagt, dass ein Prozent unseres Bezirkes bewaldet sei. Inzwischen wird dieser Prozentsatz höchstens noch 0,001 betragen. Wir haben eine eigenwillige Beziehung zu den Bäumen. Denn in jedem von ihnen sehen wir einen Bruder. Wir sprechen von den Bruderbäumen. Ganz besonders wichtig ist für uns die Lärche. Für den Wald sagt man arga, das ist auch die Lärche. Die steht schlechthin für den Baum, für den Wald. Der Tuwa sägt keinen lebenden Baum ab, er darf das Holz nur nehmen, wenn ein Baum tot ist, am Boden liegt. Damals haben wir nur Reisig gesammelt oder umgefallene Bäume fortgeschleppt. Wurde dennoch ein fester Baumstamm gebraucht, hat man sich bei ihm, dem Bruder, entschuldigt, bevor man die Säge an ihn legte. Dies ist eine feierliche Handlung wie beim Schlachten eines Tieres.

Dann kam die Zeit der Kasachen, die Zeit der Kommunisten. Ich war dabei, als wir Schüler der ersten bis vierten Klasse Bäume schlugen. Auf einem roten Tuch waren weiße Papierbuchstaben aufgeklebt, und der kämpferische Satz lautete: »Wir haben keine Furcht vor dir, Natur. Wir werden dir den Reichtum entreißen!« Dann sind wir mit Äxten und mit Sägen ausgerückt und haben angefangen, die jungen Lärchen zu fällen. In diesem großen Flusstal, an der Mündung von den drei Flüssen Haraaty, Homdu und Ak Hem gab es viel Wald, noch vor zwanzig Jahren. Da konnte man nach den Kamelen, nach den Pferden und Yaks tagelang suchen, wenn Tiere verlören gingen. Heute gibt es hier fast keine Bäume mehr, die paar Hundert, oder vielleicht die letzten paar Dutzend Bäume stehen noch, aber selbst diesen letzten alten Lärchen ist unten das Holz bereits abgeschlagen worden. Der Baum steht zwar noch, ist aber schon saftlos, und so sprechen wir von Baumborz. Borz ist ja das Trockenfleisch. Diese toten Bäume kann man, wenn es sein muss, auch fällen. Das sind keine Lebewesen mehr, das ist nur stehendes Holz.

Zu der Espe haben wir eine besondere Beziehung, da sie der Fäulnis entgegensteht. Das haben bereits die Menschen in grauer Vorzeit entdeckt. Wenn man in einen Heuschober nur einen Espenzweig reinsteckt, der nicht einmal länger als zwei Handspannen zu sein braucht, wird das gelagerte Heu nicht verfaulen. Es kann regnen, ringsum nass sein, neblig werden, das Heu wird durch diesen einen Espenzweig frisch bleiben.

Neulich haben Wissenschaftler bei Ausgrabungen von Gräbern der alten Türken Espenholz und Espenzweige gefunden. Die Espe heißt auf tuwinisch terek. Wir sprechen von gök terek. Gök ist eigentlich das Wort für blau, steht aber gelegentlich auch für grün. Wir sagen gök und meinen damit auch das erste Gras. Kurz gesprochen: Gök terek ist die Bezeichnung gewesen für diejenigen, die die Espe irgendwie verehrten. Aus dem Wort gök terek ist im Laufe der Jahrhunderte gök türek geworden. Damit sind die Blauen Türken gemeint, die von den turksprachigen Völkern so verherrlicht werden wie etwa die Großmogulen von den Mongolen. Die Turkologen und Mongolisten streiten sich ja heute darüber, woher gök türek käme. Für mich ist die Sache einfach: die junge Espe, das Espengrün. Schade, dass unter den Wissenschaftlern, die etwas zu sagen haben, kein Tuwa ist. Wenigstens ein Rätsel der Sprachwissenschaft könnte er schnell lösen.

Was aber heißt Altai? Das kommt von ala, bunt, und dag, Berg, Bunte Berge also. Dies aber auf Tuwa. Im Kasachischen und Kirgisischen heißt es Alatau. Der Altai ist eine der längsten Gebirgsketten der Erde überhaupt, durchläuft Territorien von fünf Staaten der Erde, und allein in der Mongolei ist er nahezu 3000 km lang. Allzu verständlich, dass wir unseren Altai als das Höchste verehren. Wir haben ja kein Wort für Gott. Der Spruch, den wir jeden Tag zigmal aussprechen, lautet: Ej baj Aldajym! Oh, mein reicher Altai! Und das sage ich auch, selbst wenn ich viele tausend Kilometer vom Altai entfernt bin, unbewusst immer, wenn ich den Himmel oder das Höchste herbeirufen will. Auch in anderen Gebirgen, die anders, die Hangaj, Hentij heißen, oder in der berühmten ostmongolischen Steppe, vor allem aber in der Verlorenheit am anderen Ende der nomadischen Welt bete ich: Ej baj Aldajym! Damit meint man nicht die Berge, die Felsen, sondern das ganze Universum.

Berge erwecken Ehrfurcht. Sie sind erhaben, streben himmelwärts. Wer auf einem Berg steht, ist dem Himmel näher. Daher heißt es immer: Wenn du frühmorgens aufstehst, dann geh auf die Berge. Das siehst du auch heutzutage noch bei den Nomaden. Sie erheben sich frühmorgens, gehen auf die Berge mit dem Fernglas in der Hand, setzen sich und betrachten mitunter sehr lange, zunächst ohne, dann mit, dann wieder ohne Fernglas die ganze Umgebung. Dies geschieht zunächst aus praktischen Gründen: Wo ist das Pferd? Wo sind die Kühe? Wo sind die Nachbarn? Wer zieht weg, wer kommt in die Gegend? Dann aber gehen die Betrachtungen weiter, in die eigene Tiefe. Das ist jeden Morgen eine Reise in sich selbst. Man bringt Ordnung in seine innere Welt. So kommt man zu der großen Ruhe, die man jeden Tag braucht. Denn erst wer eine ganz bestimmte Zeit auf dem Berg so zugebracht hat, der ist wieder aufgefüllt mit dem notwendigen inneren Frieden. So ist ein jeder Berg ein erster Schritt zum Himmel, zum Himmlischen, zum zeitlos Ewigen.

Viele Orte sind mit Legenden und historischen Begebenheiten verbunden. Auch zu dieser Stelle hier, dem Kamelhals, gibt es eine uralte Legende. Es ist die von Sardakban, dem Tuwa-Weltschöpfer. Sardakban ist ein Riese in Gestalt eines Menschen. Er hat die Welt, den Hochaltai erschaffen. Und als er das Wasser noch hinzufügen wollte, entzog er den Gletschern das Wasser für die großen Seen und hob entlang des dort unten verlaufenden Flusstales einen Graben aus. Und gerade an dieser Stelle hier, wo wir sitzen, machte er Halt und wollte sich ein bisschen ausruhen und schlafen. Vorher aber hat er eine Schaufel mit Sand, die er mitführte, einfach fallen gelassen, daraus ist dieser Berg vor uns, der eigentliche Kamelhals entstanden. Aus einer Schaufel Sand nur! Von dort oben sieht man, dass das alles Sand ist. Und die Stelle, wo er gegraben hat, werden wir unterwegs sehen, dort liegt der Gelbe See. Und während er so schlief, füllte sich diese Stelle mit Wasser, brach aus und durchschlug die Bergfestung und bildete schließlich eine Flussschlinge.

Hörst du das Eis zerspringen? Siehst du, wie die Schollen den Fluss hinuntertreiben? Im Herbst und Frühjahr, da gibt es große Detonationen überall im Hohen Altai, besonders im April, wenn das Eis schmilzt und in großen Brocken abbricht. Im November, wenn die Flüsse zufrieren, dann gibt es auch oft ein Getöse, das kommt vom Zusammenprall sich übereinander schiebender Eisschollen. Die riesigen Eisblöcke, die wir gestern dort oben sahen, sind vom letzten November. Das Flusswasser, dem plötzlich sein Bett zu eng wird, schiebt die tonnenschweren Eisstücke wie Holzspäne übereinander und wirft sie manchmal hoch auf die Uferwiese. Der Volksmund spricht dann vom Röhren des Flussbullen, wenn nachts das Eis kracht. Man meint, ein jedes größere Gewässer berge in sich einen Bullen, der immer dann röhrt, wenn er anfängt, sich mit Eis zu panzern oder sich zurückzieht und das Eis so zum Bersten bringt.