Inhaltsverzeichnis
 
Kapitel 1 – Zwischen Super-Mamas und Erziehungsnotstand – Wenn aus Kindern ...
 
Kapitel 2 – Was mit unseren Kindern los ist – Von Muffins und nicht gemachten Hausaufgaben
Kinder an die Macht! Kinder an die Macht?
Sara
Über den normalen Umgang mit und die normale Entwicklung von Kindern
Wie ein Kind die Welt erlebt: Weltbilder
Claudia
Kein Einzelfall
Das Imperium schlägt zurück
Vom Gesunden zum Krankhaften – Oder: Warum die aktuellen Debatten von falschen ...
Interview mit einer Betroffenen – Wie Lehrer Schule heute erleben
Philipp
 
Kapitel 3 – Warum die Psyche eine so wichtige Rolle spielt
Fragmente einer gesunden Psyche
Übung macht den Meister – Warum sich psychische Funktionen nur durch ständiges ...
 
Kapitel 4 – Der Abstieg in Stufen – Von der intuitiven Erziehung zur Symbiose
Schulen werden aktiv
Was bedeutet das für das Elternbild?
Erziehung klassisch – Vom Wert der menschlichen Intuition
 
Kapitel 5 – Erste Beziehungsstörung: Partnerschaftlichkeit – Kinder werden aus ...
Das Angebot richtet sich nach den Bedürfnissen der Kinder – ...
Haben Sie nicht was Einfacheres? Partnerschaftlichkeitskonzepte in der Schule
 
Kapitel 6 – Zweite Beziehungsstörung: Projektion – Eltern begeben sich unter ...
Das Kind als Messlatte
Das Kind ist dafür da, dass ich geliebt werden kann
Lassen Sie das Kind doch! Druck durch das außerfamiliäre Umfeld
Omas und Opas sind zum Verwöhnen da – Druck in der eigenen Familie
 
Kapitel 7 – Dritte Beziehungsstörung: Symbiose – Wenn Eltern ihre Psyche mit ...
Die Nervenzelle Mensch
Marcel
Wie das Kind in der Symbiose als Körperteil des Erwachsenen verarbeitet wird
Verarbeitung der kindlichen Impulse als Eigenreiz
Das Kind macht nichts »extra«
Der Erwachsene reagiert auf Kontaktaufnahme des Kindes reflexartig – Wie aus ...
Auswirkungen auf die psychische Entwicklung des Kindes
Auf dem Weg in ein Land, in dem Kinder gehasst werden
Der Lehrer am virtuellen Pranger – Cyberbullying
Exkurs: Ein Blick in die Zukunft – Das Beispiel der japanischen Hikikomoris
 
Kapitel 8 – Die gestörte Gesellschaft
 
Kapitel 9 – Wo wir hinkommen müssen: Die Beziehungsfähigkeit wieder herstellen ...
Kindergarten und Grundschule: Änderungen dringend notwendig
Neue Aufgaben für die Großeltern
Voraussetzung für eine Umkehr: Bewusstwerdung geht vor Lösung
 
Copyright

We don’t need no education
we don’t need no thought control
no dark sarcasm in the classroom
teachers leave them kids alone
aus: Pink Floyd, Another brick in the wall

Kapitel 1
Zwischen Super-Mamas und Erziehungsnotstand – Wenn aus Kindern Tyrannen werden
In deutschen Wohnstuben sind sie allabendlich auf den TV-Schirmen zu sehen: »Super-Nannies« oder Super-Mamas werden vor laufenden Kameras in einen Familienalltag eingeschleust, in dem schon längst so ziemlich alles kaputt gegangen zu sein scheint. Ein Familienalltag, der nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir ursprünglich einmal im positiven Sinne damit verbunden haben. Stattdessen: außer Rand und Band geratene Kinder, kreischende, schreiende Eltern und Geschwister: schlagende Beispiele einer menschlichen Entwicklungsstufe, die doch eigentlich unser aller Zukunft sein sollte.
Die Botschaft ist klar: Deutschlands Kinder sind nur noch mit harten Methoden, einer Art »Zero-Tolerance«-Strategie in der Erziehung auf Kurs zu bringen.
Derartige Überzeichnungen von auf Krawall gestylten Dokus deutscher TV-Stationen, gesendet zur Prime-Time, umringt von den teuersten Werbeplätzen des Programms, werden gerne als »Schund«, »Unterschichten-TV« oder »peinlich« gebrandmarkt. Und doch bringen sie oft genug ein latent in der Gesellschaft vorhandenes Gefühl ebenso auf den Punkt wie die fette Schlagzeile eines bundesweit bekannten Boulevard-Blattes, das angeblich keiner liest, aber dessen Inhalt doch jeder kennt. Ihre hohen Einschaltquoten generieren solche TV-Sendungen nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die vorgeführten Phänomene dem Zuschauer merkwürdig bekannt vorkommen und ein Gefühl des »genauso-istes« erzeugen.
Die Sendungen führen genau jene kleinen Tyrannen vor, die zunehmend unser aller Leben bevölkern. Kinder, deren Erziehung vollkommen aus dem Ruder gelaufen zu sein scheint, die nichts mehr mit den »lieben Kleinen« gemein haben, die jeder Vater, jede Mutter sich einmal gewünscht hat.
Das Problem an der Sache ist: Ob Pseudo-Erziehung im Abendprogramm oder feinfühliges, aufwändiges Kümmern besorgter Eltern in den heimischen vier Wänden – all diese Versuche, des Problems Herr zu werden, sind so lange zum Scheitern verurteilt, wie wir einen der wichtigsten Bestandteile des Menschen dabei außer Acht lassen. Bewusst außer Acht lassen, weil wir glauben, er entwickele sich von ganz alleine und sei irgendwann automatisch voll ausgebildet: die Psyche.
Ich sehe in meiner Praxis tagtäglich Kinder und Jugendliche mit vielfältigen Störungen. Im Laufe meiner Tätigkeit als Kinderpsychiater haben sich bei der Analyse der auftretenden Störungen so gravierende Veränderungen ergeben, dass Anlass zu großer Sorge um die gesamtgesellschaftliche Zukunft gegeben ist. Immer weniger arbeits- und beziehungsfähige Jugendliche und Erwachsene werden die Folge sein, wenn sich weiterhin kein Bewusstsein für diese Störungen bildet.
Bei einem großen Teil dieser Kinder und Jugendlichen, die in allen Lebensbereichen Probleme verursachen, haben wir es nach meinem in langjähriger Beobachtung entwickelten Modell mit Menschen zu tun, deren psychischer Reifegrad in etwa auf dem Niveau von maximal Dreijährigen stagniert. Anders gesagt: Diese Jugendlichen sind in einer frühkindlichen psychischen Phase fixiert, ihr körperliches und ihr psychisches Alter klaffen weit auseinander. Sie können dadurch keinerlei störungsfreie Beziehung zu ihrer Umwelt mehr aufbauen. Jeglicher Zugang zu ihnen scheint unmöglich geworden zu sein, sie terrorisieren ihre Umwelt mit einem inakzeptablen Verhalten und sind gegen Steuerungsversuche von außen absolut immun.
Mein Ansatz, der die psychische Entwicklung der Kinder in den Mittelpunkt rückt, ist die einzige Möglichkeit, diesen Trend sinnvoll zu analysieren und Strategien zu entwickeln, wie man ihm wirksam entgegentreten könnte. Das ist bisher nicht so gesehen worden, weil der Grundkonsens innerhalb der für Erziehung und Ausbildung wichtigen Teile der Gesellschaft auf Annahmen beruhte, die dieser Einschätzung zuwiderlaufen. Dieser Grundkonsens lässt sich anhand von drei grundsätzlichen Beziehungsstörungen zwischen Erwachsenen und Kindern beschreiben: der Partnerschaftlichkeit, der Projektion und der Symbiose.
Die fehlende Diskussion über die Annahmen und gesellschaftstheoretischen Meinungen, die hinter dem Konsens stehen, hat dazu geführt, dass bisher kaum Ansätze vorhanden sind, die über die Variation im Grunde immer gleicher pädagogischer Modelle hinausgehen. Diese übereinstimmende Meinung ist jedoch in den letzten Jahren zunehmend ins Wanken geraten, so dass Offenheit gegenüber dem Versuch spürbar ist, das Verhältnis zwischen Eltern, Lehrern, Erziehern und Kindern wieder so zu gestalten, dass Erstere in der Lage sind, Ausbildung und Erziehung wirksam zu steuern. Wir befinden uns mittlerweile in einem Ausnahmezustand, in dem Kinder zu Erziehern ihrer Eltern geworden sind und diese rein lustbetont steuern können, ohne Grenzen aufgezeigt zu bekommen. Der Grund dafür liegt nicht in angeborener Bösartigkeit, sondern darin, dass diese Kinder psychisch gar nicht in der Lage sind, ihr Verhalten als falsch zu empfinden.
Die Beschreibung der genannten drei Beziehungsstörungen wird zeigen, wo die entscheidenden Fehler und Missverständnisse sich verbergen und wo sich mögliche Auswege aus der Misere finden lassen.
Die Verantwortung für diesen Missstand, der in letzter Konsequenz die Existenz unserer friedlich zusammenlebenden Gesellschaft gefährdet, ist nicht in einem Umstand alleine zu finden. Ein ganzes Konglomerat an Einflüssen kommt zusammen und hat für die kindliche Psyche fatale Auswirkungen. Kinder, die aufgrund fehlender psychischer Voraussetzungen nicht in der Lage sind, falsches von richtigem Verhalten zu unterscheiden, entwickeln sich zu eben jenen Tyrannen und Monstern, vor denen wir im Alltag immer häufiger mit einer großen Fassungslosigkeit stehen.
Pädagogik, Erziehungskonzepte, Unterrichtsformen in Kindergarten und Schule, und auch die tägliche Erziehung im Elternhaus, all dies kann erst voll zum Tragen kommen und Kinder auf den richtigen Weg bringen, wenn gleichzeitig darauf geachtet wird, dass ihr psychischer Entwicklungsstand auf einem altersgerechten Niveau ist. Diese Tatsache jedoch haben heute viele für Erziehung zuständige Personen überhaupt nicht mehr auf ihrem persönlichen Radar. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Psyche etwas ist, was sich von selbst, quasi nebenbei entwickelt. Psychische Fehlentwicklungen werden dementsprechend als von außen beeinflusste, spätere Erkrankungen verstanden, die in den meisten Fällen durch Analyse und Beseitigung ihrer Ursachen wieder rückgängig gemacht werden könnten. Auffälliges Fehlverhalten von Jugendlichen wird so gut wie nie auf der Basis einer Betrachtung ihrer psychischen Reife in Augenschein genommen. Viel zu schwer scheint es, sich vorzustellen, dass sowohl relativ harmlose Dinge wie zeitweilige Verweigerungshaltung bei diversen alltäglichen Verrichtungen, als auch schwerwiegende Dinge wie Diebstahl oder Gewalttätigkeit etc. sich vor dem Hintergrund psychischer Reifeprozesse sehr viel besser erklären lassen als mit Modellen, die ausschließlich soziale Einflüsse als prägend annehmen.
Die gängigen Mechanismen zeigt ein Beispiel, das vor etwa anderthalb Jahren kurzzeitig die Republik erschütterte.
Im November 2006 nämlich geriet die Stadt Emsdetten, gelegen im als beschaulich geltenden Münsterland, in die Schlagzeilen. Das war leider nicht positiven Entwicklungen in der 35.000-Einwohner-Gemeinde geschuldet, sondern einer Schreckensnachricht: Ein Schüler der örtlichen Geschwister-Scholl-Realschule hatte mit einem Amoklauf versucht, Mitschüler und Lehrer zu töten. Letztlich blieb es bei elf Verletzten, Glück im Unglück gewissermaßen. Das einzige Opfer war der Amokläufer selbst, 18 Jahre alt; er galt den meisten als Einzelgänger und unberechenbarer Computerspielfanatiker.
»Allgemeine Frustration und Sinnleere«, so ließ sich folgerichtig anschließend der leitende Oberstaatsanwalt vom SPIEGEL zitieren, hätten zu der Tat geführt; die Eltern des Amokläufers erlitten beide einen schweren Schock ob der nie erwarteten Untat ihres Sohnes.
Solche Meldungen erschrecken uns in den letzten Jahren zunehmend, sie sind die Spitze eines Berges, dessen Ausmaß bisher niemand so recht einzuschätzen vermag. Wer in seinem Bekanntenkreis Lehrer, Kindergarten-Erzieher oder anderweitig pädagogisch tätige Menschen hat, kennt zur Genüge die Klagelieder über die scheinbar hoffnungslose Lage bei Kindern und Jugendlichen. Diese erscheinen zu einem großen Teil als respektlos und ohne jede Orientierung an allgemein verbindlichen Werten und Normen. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um Kinder aus intakten Familien, bei denen die üblichen Erklärungsmuster wie »schwierige Kindheit«, »kaputte Familie« oder »ungünstiges soziales Umfeld« nicht greifen.
Schwierigkeiten bereiten zunehmend Kinder und Jugendliche, deren Eltern vom ersten Tag an liebevoll mit ihnen umgehen, für jeden gut gemeinten Erziehungsratschlag dankbar sind und innovative pädagogische Konzepte in die Tat umzusetzen versuchen. Auch der Täter von Emsdetten kam, nach allem, was wir wissen, aus einer funktionierenden Familie, war ein guter Schüler. Dass er als Einzelgänger bekannt war, musste ja nicht zwangsläufig zum Amoklauf führen.
Doch zurück zu den Mechanismen, die in solchen Fällen üblich sind. Die Reaktion, die innerhalb der Gesellschaft in der vergangenen Zeit auf dieses Phänomen zu beobachten ist, setzt in der Hauptsache auf eine Pädagogikdebatte. Schwer unter Beschuss geraten ist dabei die so genannte 68er-Generation, also all jene, die aus der Not einer ganz spezifischen Generationserfahrung, dem Ausbruch aus als zu eng empfundenen Fesseln der Erziehung und Disziplin, eine Tugend gemacht zu haben schienen: Konzepte antiautoritärer Erziehung, überhaupt eine scheinbar totale Ächtung des Autoritätsbegriffes, waren lange Zeit Konsens unter all jenen, die im pädagogischen Bereich tätig waren. Auch bei den Eltern war oft eher die »lange Leine« angesagt, um nicht die gleichen Fehler zu machen, die man bei den eigenen Eltern als prägend erfahren hatte.
Vielfach ist derzeit eine radikale Umkehr zu beobachten. Erziehungsratgeber empfehlen zunehmend mehr Strenge und Konsequenz in der Erziehung, der berühmte »Klapps auf den Hintern« ist wieder diskussionsfähig geworden, wobei die derzeitige Tendenz häufig genug dahin geht, dass eben jener »noch niemandem geschadet habe«. Eine derzeit durchaus salonfähige Feststellung, die, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist, noch vor nicht allzu langer Zeit für große Empörung gesorgt hätte.
Ob »Klapps« oder nicht »Klapps«, eines scheint in der gegenwärtigen Diskussion über jeden Zweifel erhaben: Der Schlüssel zu einer Änderung im Zustand unserer Kinder und Jugendlichen liegt in einer neuen Pädagogik und darauf aufbauenden didaktischen Modellen. Es wird indes nicht gesehen, dass man es sich damit zu einfach macht. Natürlich kann man »Alte Pädagogik« und »Neue Pädagogik« gegenüberstellen und daraus banale Erkenntnisse formulieren wie etwa die, dass es für Kinder besser sei, manchmal ein »Nein« zu hören, oder auch Entscheidungen in einem kommunikativen Prozess zu finden, anstatt einfach den Anweisungen des Lehrers zu folgen und diese auszuführen. Kaum jemand wird diesem Ansatz, der hier nur stellvertretend für viele weitere Ideen einer »Neuen Pädagogik« steht, widersprechen. Nur: Was braucht das Kind, um diese kommunikative Leistung überhaupt erbringen zu können? Wie ist der Lärmpegel und das sowohl Lehrer als auch Mitschüler missachtende Kommunikationsverhalten vieler Schüler heute mit solchen Ansätzen in Einklang zu bringen?
Ich verfolge demgegenüber einen grundlegend anderen, und vor allem neuen Gedanken, um in der Sackgasse der aktuellen Debatte kehrt zu machen und nach neuen Wegen zu suchen, die schließlich auch zu sinnvollen pädagogischen Bemühungen führen können. Um diese Wege zu finden, muss man sich auf das Feld der Tiefenpsychologie und der Psychiatrie begeben.
Ich verstehe meine Ausführungen somit keinesfalls als Beitrag zur Diskussion um eine wie auch immer geartete »Neue Pädagogik«. Sie sind auch nicht als Erziehungsratgeber misszuverstehen. Ich fordere vielmehr, sich endlich darauf zu besinnen, dass die Debatten um Erziehungsmodelle, Schulformen, pädagogische Konzepte in Kindergärten und Horten solange wirkungslos bleiben werden, bis wir begriffen haben, welche Grundvoraussetzung all diese Dinge brauchen: nämlich eine psychische Reife unserer Kinder, auf deren Grundlage alles Weiterführende überhaupt erst greifen kann.
Viele der in diesem Buch beschriebenen Fallbeispiele aus den Bereichen Kindergarten, Schule und Heim werden ihnen als Leser bekannt vorkommen, entweder aus eigener – leidvoller – Erfahrung oder aus den Erzählungen von Bekannten und Freunden, die ganz ähnliche Situationen erlebt haben und immer wieder erleben. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass keines dieser Beispiele irgendeine Gruppe diskreditieren soll. Weder Kindern, noch Erziehern oder Eltern soll Schuld zugewiesen werden. Ich führe hier keine Schulddiskussion, die die Gesellschaft letztlich weiter spalten und den Blick auf die eigentliche Problematik verstellen würde. Worum es geht, ist, zu verstehen, dass sich die unterschiedlichsten Symptome scheinbar erziehungsresistenter Kinder und Jugendlicher auf eine gemeinsame Sache zurückführen lassen, nämlich fehlende psychische Reife.
Erst, wenn auf der Basis einer solchen Erkenntnis Erwachsene lernen, ihr eigenes Verhalten kritisch zu reflektieren, wird es möglich sein, Kindern wieder den Platz in der Gesellschaft zukommen zu lassen, auf den sie ein Recht haben. Das bedeutet: Kinder müssen wieder als Kinder gesehen werden. Heute sind wir dazu übergegangen, sie uns als kleine Erwachsene ebenbürtig zu machen und damit restlos zu überfordern.
Ein erstes Fallbeispiel: Das Beispiel Niklas oder: Ein ganz normaler Tag in einer Grundschule
Nach dem morgendlichen Gong um 8.15 Uhr stellen sich alle Kinder einer Klasse geordnet auf. Auch die Klasse 1c hat ihren festen Platz, die Kinder stehen zu zweit und warten auf ihre Lehrerin. Nur zwei Kinder laufen um die Gruppe herum. Nachdem die Lehrerin kommt und sie bittet, sich mit aufzustellen, gehen sie gemächlich an das Ende der kleinen Schlange.
Niklas läuft noch durch die Sträucher und versteckt sich. Als er sieht, dass seine Klasse zur Eingangstür geht, schreit er laut: »Hier bin ich!« Die Lehrerin winkt ihm auffordernd zu. Darauf hin rennt N. schnell zu seiner Klasse und drängt sich vor die anderen Kinder, was zu Ärger und auch zu einer Gefahrensituation auf der Treppe zwischen ihm und einigen anderen Kindern führt. Die Lehrerin will ihn an die Hand nehmen, um sein rüpelhaftes Schubsen und Drängeln für die anderen Kinder abzumildern, doch Niklas wehrt sich heftig und läuft einfach weiter.
Vor der Klasse angekommen, wirft er erst einmal seinen Schulranzen in die Mitte des Flures. Die Lehrerin stellt den Ranzen an die Seite, damit die anderen Kinder nicht darüber stolpern und es ihm nicht gleichtun. Während sich alle anderen ausziehen, ihre Jacken aufhängen und die Schuhe ins Regal stellen, steht Niklas daneben und schaut zu. Erst als die meisten Kinder schon in der Klasse sind, zieht auch er seine Jacke aus und wirft sie in Richtung Kleiderhaken.
Dann will er in die Klasse gehen. Da die Lehrerin noch in der Klassentür steht, hält sie ihn mit dem Hinweis zurück, er möge bitte seine Schuhe auch ausziehen. Niklas schreit laut: »Nein!« Daraufhin verweist die Lehrerin auf das gute Beispiel der anderen Kinder und erinnert an die Klassenregel. Erst als Niklas sieht, dass auch seine Freundin Anne die Schuhe auszieht, ist er bereit, dasselbe zu tun (Hausschuhe zieht er aber trotzdem nicht an). Nun darf er den Klassenraum betreten. Er geht aber nicht wie die anderen Kinder zu seinem Platz, sondern rutscht auf den Knien durch den Raum und zieht seinen Schulranzen über den Boden hinter sich her bis zu seinem Einzelplatz. Dort wirft er den Ranzen noch einmal lautstark auf den Boden und setzt sich dann auf seinen Platz.
Nachdem alle Kinder ihre Plätze eingenommen haben, stehen sie auf, um sich einen guten Morgen zu wünschen. Dieses Ritual ist verbunden mit einer kleinen Gymnastikübung. Während alle Kinder mit Blick zur Lehrerin stehen, stellt sich Niklas auf seinen Stuhl mit Blick in die Klasse. Um einen weiteren Eklat zu vermeiden, wechselt die Lehrerin ihren Standort, so dass der Junge nicht mehr im Mittelpunkt steht (Niklas hat bereits seinen Einzelplatz direkt neben dem Pult). Diese Reaktion der Lehrerin hindert ihn jedoch nicht daran, den Guten-Morgen-Gruß zu verändern und lautstark in die Klasse »Arschloch, Wichser« zu brüllen und dies im Rhythmus der Guten-Morgen-Grußes. Die Lehrerin legt ihm begütigend die Hand auf die Schulter, und er setzt sich wieder hin.
Während der sich anschließenden kurzen Leseübung (Wörter mit dem neuen Buchstaben werden von der Tafel gelesen, und der neue Buchstabe wird an der Tafel nachgesprochen) meldet sich Niklas nicht zum Lesen. Wenn aber ein Kind ein Wort nicht sofort ausspricht oder langsam Buchstabe für Buchstabe liest, schreit Niklas irgendein zuvor gehörtes Wort dazwischen, was zur Verunsicherung mancher Kinder führt. Die Lehrerin bittet ihn, sich auch ein Wort auszusuchen und es an der Tafel zu zeigen. Er erwidert, das zuvor in die Klasse gerufene Wort sei sein Wort und für ihn reserviert. Als er sein Wort vorlesen darf, gelingt es ihm nur mit Hilfe der Lehrerin.
Eine sich anschließende schriftliche Aufgabe wird von ihm erst einmal verweigert. Er könne das nicht, und er mache das auch nicht. Angebotene Hilfe schlägt er in schroffem Ton aus und will sich auf einen Rundgang durch die Klasse machen. Als die Lehrerin auf der Bearbeitung der Aufgabe besteht und ihm das Aufstehen streng verbietet, bleibt Niklas an seinem Tisch sitzen, rutscht aber mit diesem ständig zur Tafel und wieder zurück. Als er damit keine Aufmerksamkeit mehr weckt, schaut er den anderen Kindern eine Weile ruhig beim Arbeiten zu. Dann nimmt er ein mitgebrachtes Vorschullernheft aus seinem Schulranzen und will damit arbeiten. Die Lehrerin schaut sich das Heft an, sucht für ihn passende Seiten und interessante Aufgaben heraus. Niklas schaut sie sich an, weigert sich dann aber, diese zu bearbeiten und erzwingt, sich selbst ausgesuchte Aufgaben zu erledigen.
In der nächsten Stunde geht die Klasse zum Sportunterricht in die Turnhalle. Die Lehrerin hat Stationen zum Springen und Balancieren als Thema der Stunde gewählt. Niklas nimmt normalerweise am Sportunterricht gar nicht teil, sondern versucht sich meist hinter den blauen Sportmatten herumzudrücken bzw. ziel- und planlos durch die Halle zu laufen. Als er beim Gang zu den Umkleidekabinen die aufgebauten Stationen sieht, zieht er sich schnell die Sporthose an und läuft sofort in die Turnhalle. Den Kindern ist der Stationenbetrieb bekannt. Sie dürfen sich die Stationen nach dem Umziehen frei wählen. Niklas sucht sich eine Station zum Springen aus und beginnt auch ohne Probleme. Nach kurzer Zeit beschweren sich ein paar Kinder, weil er sich immer vordrängt. Die Lehrerin bittet ihn, die Reihenfolge einzuhalten und die unbedingt erforderlichen Sportschuhe anzuziehen. Danach könne er seine Sprungübungen fortsetzen. Niklas ärgert sich darüber so sehr, dass er die Lehrerin mit »Arschloch« beschimpft. Sie nimmt ihn am Arm und geht mit ihm in den Vorraum der Turnhalle. Dort erklärt sie ihm, dass sie sich durch solche Beschimpfungen beleidigt fühlt und sich diesen Ton verbittet. Außerdem würde sie ihn ja auch nicht beleidigen. Dann weist sie ihn zum wiederholten Male auf die für ihn gefährliche Situation beim Springen ohne Turnschuhe hin. Er reagiert gar nicht, sondern schaut nur starr und ausdruckslos in die Turnhalle und zu den anderen Kindern.
Wieder zurück in der Klasse, setzt er sich an seinen Einzeltisch und packt sein Frühstück aus. Während er frühstückt, ist er leise. Erst zum Ende hin rülpst er ein paar Mal laut in die Klasse, was von den Kindern schon gar nicht mehr wahrgenommen wird.
Mittags holt die Mutter Niklas ausnahmsweise einmal persönlich ab. Die Lehrerin berichtet ihr kurz von den schwierigen Phasen am Vormittag, die Mutter ist ganz erstaunt von diesem Verhalten, weist aber ihren Sohn zurecht. Niklas hört ihr ohne erkennbare Reaktion zu und schaut dabei den langen Flur entlang.
Solche und ähnliche Situationen und Verhaltensweisen ergeben sich jeden Tag, in jeder Stunde. Es gibt keine besonders guten und keine besonders schlechten Tage. Alle sind irgendwie gleich. Geprägt von Niklas.
Nur: Niklas ist kein Einzelfall. Kinder wie Niklas kommen in nahezu jeder Gruppe, jeder Klasse vor und prägen die Situation heutigen Schulunterrichtes leider in prägnanter Weise.

Kapitel 2
Was mit unseren Kindern los ist – Von Muffins und nicht gemachten Hausaufgaben
Ich arbeite seit über zwanzig Jahren als Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das bedeutet, dass in meiner Praxis täglich Kinder und Jugendliche vorstellig werden, deren Eltern, meist nach reiflicher Überlegung, zu dem Schluss gekommen sind, dass bei ihrem Nachwuchs besorgniserregende und behandlungsbedürftige Auffälligkeiten im Verhalten vorliegen. Dabei handelt es sich keineswegs mehrheitlich um Familien aus prekären sozialen Verhältnissen, sondern überwiegend um Angehörige der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht. Die Eltern dieser Kinder lassen das Engagement für das Wohlergehen ihres Nachwuchses keineswegs vermissen, im Gegenteil: Sie sind besorgt, bemüht und würden ihrem Selbstverständnis nach alles dafür tun, glückliche und zufriedene Kinder heranzuziehen.
Um einen Eindruck von einem typischen Elterngespräch zu bekommen, mag der Fall des zehnjährigen Sebastian dienen. Saskia Schulze, seine Mutter, erzählt im Interview von einem Gespräch beim Elternsprechtag, bei dem mehrere Lehrer sie darauf hinwiesen, ihr Sohn ließe besorgniserregende und korrekturbedürftige Lerndefizite erkennen.
Frau Schulze, Sie erzählten, dass Sie letzte Woche zum Elternsprechtag in Sebastians Schule waren. Was haben die Lehrer Ihnen dort berichtet?
Einige Lehrer haben mir von auffälligen Lerndefiziten meines Sohnes berichtet. Er sei unaufmerksam, habe Schwierigkeiten, Anweisungen des Lehrers zu befolgen und sei generell gegen Versuche der Lehrer, vernünftig mit ihm zu reden, immun. Das ist aber nichts Neues oder Ungewöhnliches.
Sie kennen diese Hinweise also schon?
Ja, Sebastian hat schon einige Zeit Probleme, in der Schule mitzukommen. Auch die Klagen der Lehrer, er interessiere sich nicht für ihre Anweisungen, habe ich schon häufiger vernommen.
Beunruhigt Sie das?
Naja, wissen Sie, natürlich wäre es schöner, er würde überall gut mitkommen. Aber als seine Mutter weiß ich auch, dass Sebastian auf eine eigene Art und Weise lernt und die Schwierigkeiten in der Schule vor allem daher rühren, dass seine Lehrer das nicht ausreichend berücksichtigen.
Was heißt das genau?
Man darf bei ihm auf gar keinen Fall irgendeinen Zwang oder Druck ausüben, sondern muss ihn seinen ganz eigenen Weg machen lassen. Er ist eben von seiner Persönlichkeit her so, dass es ihm schwerfällt, sich danach zu richten, wenn eine Person wie der Lehrer ihm einen Arbeitsauftrag quasi aufzwingt.
In der Schule muss er aber doch lernen, im Klassenverband zu arbeiten und mitzukommen. Ist Ihnen das nicht wichtig?
Wichtiger ist mir, dass er möglichst viel Spaß hat, denn nur dann hat er auch Lust, zu lernen. Die Zwänge in der Schule, durch den Lehrer und den festgelegten Stoff, behagen ihm nicht, da ist es kein Wunder, dass er nicht vernünftig mitarbeitet.
Wie beurteilen Sie denn die Hinweise seiner Lehrer auf die Lerndefizite?
Sebastian kann sehr viel, das weiß ich, er zeigt es eben nur nicht so, weil er mit der klassischen Situation in der Schule nicht klarkommt. Ich vermute eher, dass seine Lehrer den Stoff nicht so erklären, dass er es versteht; zum Teil mag es auch an seinen Mitschülern liegen, die ihn stören.
Die Defizite sind aber ja zweifelsohne vorhanden. Was wollen Sie denn dagegen unternehmen?
Natürlich möchte ich Sebastian gerne helfen, damit er bessere Noten bekommt. Ich habe ihn jetzt bei einem Nachmittagsprogramm angemeldet, bei dem den Kindern das Lernen spielerisch beigebracht wird. Das dürfte für ihn genau das Richtige sein, weil dort der Spaß im Vordergrund steht.
Sebastians Mutter wirkt von ihren Antworten her um ihren Sohn bemüht, sie macht sich Gedanken, wie die Lernschwierigkeiten ihres Sohnes behoben werden können, es ist ihr keinesfalls egal, was mit diesem in der Schule passiert. Selbst den erheblichen finanziellen und zeitlichen Aufwand mit dem Besuch der Nachmittagsschule scheut sie nicht, damit es nur Sebastian gut gehen möge.
Ihre Antworten sind in mehrfacher Hinsicht typisch für solche Gespräche:
- Die Verantwortung für die Schwierigkeiten des Kindes liegt bei den Lehrern.
- Eigentlich ist das Kind ganz anders, zeigt es nur nicht.
- Das Kind hat keinen Spaß und kann deshalb nicht zeigen, was es eigentlich drauf hat.
- Mit dem Versuch, »fachkundige« Hilfe durch die Nachmittagsschule hinzuzuziehen, kann dem kindlichen Defizit Abhilfe geschaffen werden.
Frau Schulze, wie auch andere Eltern in ähnlichen Situationen suchen oft händeringend nach Erklärungen für das Verhalten ihrer Kinder und geben sich alle Mühe, ihrer elterlichen Verantwortung gerecht zu werden. Und doch sitzen diese Familien irgendwann bei mir im Behandlungszimmer. Oft haben vorherige therapeutische Bemühungen, gleich welcher Natur keinen Erfolg gebracht, so dass eine psychiatrische Behandlung als der letzte Ausweg erscheint.
Doch ist die Beschäftigung mit der menschlichen und in diesem Fall vor allem der kindlichen Psyche eben nicht dieser letzte Ausweg, sondern muss – ganz im Gegenteil – als Ausgangspunkt jeglicher weitergehender therapeutischer Bemühungen gesehen werden. Denn die Erkenntnisse, die ich aus meiner langjährigen Tätigkeit gewonnen habe, lassen zwingend darauf schließen, dass der Schlüssel zu einem großen Teil unserer gesellschaftlichen Probleme in den erheblichen Defiziten der in der Gesellschaft handelnden Personen begründet liegt.

Kinder an die Macht! Kinder an die Macht?

Als Herbert Grönemeyer 1986 musikalisch forderte, Kindern die Macht zu geben, weil diese nicht von der Machtgier und der Skrupellosigkeit der Erwachsenen getrieben seien, war das zwar unter dem besonderen Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl sinnbildlich als Protest gegen die Fehler der Elterngeneration zu verstehen, spiegelte jedoch gleichzeitig auch ein Menschen- oder besser gesagt Kinderbild wider, das sich heute in geradezu grotesker Art und Weise zum gesellschaftlichen Konsens aufgeschwungen hat.
Vordergründig scheint die Kinderwelt in den westlichen aufgeklärten Gesellschaften heute mehr denn je in Ordnung zu sein. Es gibt keine Zehnjährigen mehr, die in Bergwerken schuften müssen, damit die Großfamilie daheim genug zu essen hat. Konnte die Literatur um 1900 noch ein eigenes Genre des Schulromans hervorbringen, das den Lehrer als Tyrannen zeichnete, man denke an Frank Wedekinds’ »Frühlings Erwachen«, Robert Musils »Der junge Törleß« oder entsprechende Kurzgeschichten von Rainer Maria Rilke, so werden die Buchseiten heute mit pädagogischen Konzepten und bildungstheoretischen Schriften gefüllt, die nur eines zum Ziel haben: es dem Schüler so leicht wie möglich zu machen, höhere Bildungsstufen zu erklimmen und ein erfolgreiches, selbst bestimmtes sowie erfülltes Leben zu führen.
Kinderrechte sind ein großes Thema, so hat sich beispielsweise auf kommunalpolitischer Ebene die Einführung so genannter Kinderparlamente in vielen Gemeinden eingebürgert. Kinder dürfen dort ähnlich wie die Erwachsenen in einem parlamentarischen Meinungsbildungsprozess Positionen zu Entscheidungen im Gemeindewesen entwickeln, die anschließend in die Entscheidungsfindung des Stadtrates mit einfließen.
Das Kind an sich erscheint uns heute geradezu als Heilsbringer. Verstärkt wird dieser Effekt durch den Kindermangel der modernen Gesellschaft. Die Tatsache, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger Kinder geboren wurden, macht das Kind wie in einem marktwirtschaftlichen Vorgang zu einem raren und damit begehrenswerten bzw. wertvollen Gut, das bevorzugt behandelt werden muss.
Kinder werden auf diese Art und Weise in eine Rolle hineingezwängt, für die sie nicht geeignet sind, da ihnen sämtliche psychischen Eigenschaften fehlen, diese Rolle ausfüllen zu können. Die Rolle, die ihnen zugewiesen wird, ist die eines Partners der Erwachsenen.
Trifft man Erwachsene, die sich über Kinder im Kindergarten- oder frühen Schulalter unterhalten, hört man häufig Sätze wie »Mein Kind hat einen starken Willen, es setzt sich durch, weil es weiß, was es will«. Mit solch einer Beschreibung wird dem Kind eine eigene Persönlichkeit zugeschrieben, die es in einem so frühen Stadium seines Lebens noch gar nicht haben kann, da die Persönlichkeitsentwicklung erst mit dem achten oder neunten Lebensjahr einsetzt. Abhängig ist sie in der Folge sowohl von genetischen Anteilen der Eltern als auch von individueller Förderung einzelner Persönlichkeitsanteile.
Was die Eltern aus dem Beispiel mit Persönlichkeit verwechseln, sind schlicht kindliche Verhaltensweisen, die jedes Kind in diesem Alter zeigt. So wirken Kleinkinder immer »willensstark«, da sie psychisch gesehen noch in der Annahme leben, sie seien alleine auf der Welt und könnten rein lustbetont ihren Willen ausleben. Diese Kinder haben noch nicht gelernt, ihre Außenwelt und andere Menschen als Begrenzung ihres eigenen Ichs anzusehen.
Das Problem besteht darin, dass viele Eltern, aber auch Erzieher und Lehrer, das Gefühl dafür verloren haben, den Kindern diese Begrenzung zu vermitteln. Sie nehmen das Kind in seiner vermeintlichen Persönlichkeit wahr und bestärken es eher noch in den angenommenen Merkmalen. Damit wird jedoch eine altersgerechte Weiterentwicklung des Kindes verhindert, es verbleibt in einer frühkindlichen psychischen Phase und wird immer Schwierigkeiten haben, sich im Alltag zurechtzufinden, der ständig das Anerkennen von Grenzen fordert.
Wie sich das in der Realität auswirkt, zeigt das Beispiel von Sara, sieben Jahre alt.

Sara

Sara ist die Tochter von Luise Falkenberg und der ganze Stolz ihrer Mutter. Vom Kleinstkindalter an hatte Frau Falkenberg eine klare Devise: Sara sollte selbstständig werden, eine eigene Persönlichkeit entwickeln und sich keinesfalls von anderen vorschreiben lassen, was sie zu tun oder zu lassen hat.
Dementsprechend ist Sara immer voll und ganz in ihrer Autonomie gefördert worden, sie hat schon im Kindergartenalter selbstständig entschieden, was sie anzieht, zu welchen Zeiten sie essen wollte und was zum Essen auf den Tisch kommt. Auch ihre Spielkameraden wurden von ihr in jedem Fall selbst ausgewählt; wer vor ihren Augen keine Gnade fand, wurde nicht mehr eingeladen.
Wenn Sara sich doch einmal an Regeln des Zusammenlebens im elterlichen Haushalt halten sollte, wurden diese in mühevoller Kleinarbeit gemeinsam erstellt und ausführlich diskutiert.
In der Schule benimmt sich Sara ebenfalls sehr selbstständig. Allerdings sind die daraus entstehenden Situationen eher nicht dazu angetan, dass Frau Falkenberg stolz auf ihre Tochter sein könnte. Diese weigert sich nämlich häufig, ihre Hausaufgaben zu erledigen, auch die zum (von ihr gewünschten) Erlernen des Geigenspiels notwendigen Übungsstunden werden von ihr gerne boykottiert.
Frau Falkenberg versteht jedoch nicht, woran diese Verweigerungshaltung liegen könnte und ist verzweifelt über die Verhaltensweise ihrer Tochter. Die reagiert grundsätzlich wütend auf Aufforderungen, die Hausaufgaben zu machen oder auf der Geige zu üben. Sie schreit ihre Mutter an, wird bisweilen sogar handgreiflich und schlägt oder tritt sie. Auch das Herumwerfen von Gegenständen gehört zu ihren bevorzugten Reaktionsweisen in Konfliktsituationen, vorrangig werden dabei Gegenstände zerstört, die der Mutter besonders lieb sind. Versuche von Frau Falkenberg, Sara zu etwas zu bewegen, werden von dieser grundsätzlich boykottiert.
An diesem Beispiel wird klar, was geschieht, wenn Eltern wünschenswerte Selbstständigkeit ihrer Kinder damit verwechseln, ihnen keinerlei Regeln für ihr tägliches Verhalten an die Hand zu geben.