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© 2014 Heiner Müller

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7357-6604-5

Inhalt

Vorwort.

Echten Erfolg im Leben hat nur, wer seinen eigenen Zielen näher kommt.

Worin diese im Einzelfall allerdings bestehen, wird sehr von den jeweiligen Charaktereigenschaften mitbestimmt. Denn jeder stellt zum einen ganz eigene Ansprüche an seine Umgebung und verfügt zum anderen über einen individuell unterschiedlich stark ausgeprägten Gestaltungsdrang. Idealerweise sollte man aber schon den Raum zur Entfaltung seiner Wesenszüge vorfinden und ihn auch ausfüllen können.

Manchmal geht das aber eben nicht:
Grundlegende Eigenschaften wie Risikobereitschaft und Tatkraft sind in den Genen bereits weitgehend vorgegeben, wie vergleichende Untersuchungen an getrennt aufgewachsenen, eineiigen Zwillingen aufzeigten. Diese Eigenarten sind auch nicht zufällig verteilt, sondern von den Eltern vererbte Vorfestlegungen. In einer gewachsenen Gesellschaft sollte da schon eine - allen Anforderungen und den Bedürfnissen aller gerecht werdende - harmonische Verteilung der Charaktere entstehen, in der jeder seinen Platz finden kann.

Deutschland musste aber im Laufe seiner Geschichte einige Auswanderungswellen, vor allem auch vor und nach den Weltkriegen, hinnehmen. Diese Ströme repräsentierten dabei keinen Querschnitt durch alle Wesensarten, stattdessen bestanden sie vornehmlich aus den Entschlussfreudigeren und dem Risiko eher zugewandten, die ihre Lebensplanung und Ziele künftig an besseren Orten zu verwirklichen hofften.

Zurück blieb eine gesellschaftliche Zusammensetzung die verstärkt die pure Existenzsicherung zum Ideal erhob. Einem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis, dem übersteigerten Streben nach Stabilität mit inniger Ablehnung jeder Tendenz zur Utopie, hielt nun kein gesundes Gegengewicht an Visionären, Kulturschaffenden und gesellschaftlichen Vordenkern mehr die Waage. Der nunmehr rar gewordene Unternehmergeist sieht sich im feinmaschigen Netz der alles regelnden Bürokratie gefangen und registriert darin eine, schon den Keim abtötende, Prophylaxe gegen jede Veränderung.

Eine Stimmung von zäher Beharrung weht nicht nur - aber vor allem - durch deutsche Amtsstuben und ein aktiver und kreativer Mensch muss sich dabei langsam fragen, ob es in diesem Land nur noch Platz für sozialvernetzte Lifestyle–Marionetten gibt. Der beherrschende Glaube an die Überlegenheit der etablierten Konsumentengesellschaft nimmt trotz der offensichtlichen Mängel fast fanatische Züge an und die Behinderung alternativer Lebensplanungen lässt missionarischen Eifer vermuten. Der normative Anspruch reicht bis ins Private und wird damit total.

Ein Beispiel. Ein vornehmlich nach deutschen Bedürfnissen ausgerichtetes all inklusive Urlaubs-Ressort wurde meiner Frau und mir als ein Ort annonciert an dem es sich trefflich entspannen ließe und wir unsere Seelen würden baumeln lassen können.

Dieser naturverwöhnte Ort war grauenhaft. So stellten wir uns das Konditionierungscamp einer üblen Sekte vor. Eine Art Hirnwäsche fand im Programmablauf von Schlafen, Essen, netten Spielchen, Sonnenbaden, Flanieren, wieder Essen und Schlafen statt. Dann wurden den antriebsarmen Eventkonsumenten auch noch die letzten individuellen Regungen von der Animation nivelliert, um sie nach ein, zwei Wochen auf dem Abflugsteig der Air–Busse zu entsorgen, wo die nächste Schicht zur Bespaßung bereits angetreten war.

Und das alles nur zum Abschalten? Wovon denn nur? Wo doch schon Zuhause jeglicher Sensibilisierungsinput auf Dauer-AUS steht. Gibt es da überhaupt noch ein Entrinnen?

Führt so ein Scheuklappen(privat?)leben nicht zwangsläufig zum sinnentleerten Dahinvegetieren und damit zur persönlichen Katastrophe?

Diese und ähnliche Fragen stellten wir uns über eine geraume Zeit und fanden letztlich nur in einem Aussteigerdasein die geeignete Lösung. Ganz entgegen üblicher Auffassung erkennen wir uns dabei nicht als träge Gammler sondern erleben die Welt aktiv und aus neuem Blickwinkel zunehmend inspirierend und erfüllend. Dazu ist aber ungleich mehr Eigenverantwortung nötig denn ein einfaches Mitschwimmen in der trüben Gemeinschaft. Allerdings führen gerade hier nicht alle Versuche zum Erfolg und ein planloses sich-treiben-lassen ganz sicher zum Desaster.

Ein erfolgreiches Aussteigen macht eine genaue Planung nötig. Vergleichbar am ehesten mit dem Sprung in eine selbständige Erwerb-Existenz, was es im Grunde ja auch ist. Nichts ist wohl wirklich vollkommen und so ist auch zu erwarten, dass ein neu erfundenes Leben einige Mängel und Kinderkrankheiten aufweist. Wenn ich aber insgesamt meine Lebensfreude steigern kann, war es die Mühe wert. Aufwändig ist so ein Aussteigen schon, aber allemal besser als diese Schiene, die zu Nichts als zur Unzufriedenheit führt. Das habe ich lange hinter mir gelassen und bin mir mit meiner Frau darüber einig wohin es geht. Und dieser Weg ist meine Geschichte.

Teil 1, PIXEL

Ich erinnere mich detailgenau an die ersten Tage im Januar 1998, weil sich da mein Blick in die Welt so veränderte, als hätte ich mich bisher rückwärts gehend fortbewegt und mich nun vorsichtig umgesehen und zaghaft umgedreht.

Wir, das sind meine Frau Gabriela und ich, paddelten von unserem Ankerplatz östlich von Alice Town, Bimini, die knapp 50 m bis zur Stützmauer am Ufer. Wie in den letzten Tagen legten wir unser Dingi an den Rand der knapp 4 km langen Inselstrasse, gegenüber dem Verwaltungsgebäude der kleinen Ortschaft, ab. Ich musste es zusätzlich an einer vertrockneten Wurzel festbinden, weil seit Silvester ein Wind aus Nordost ziemlich heftig blies. Ein kleines Hoch vor der Küste von Georgia und nördlich der Bahamas verstärkte hier den Passatwind auf 25 Knoten. Wenn der Wind nicht gar so kräftig gewesen wäre, hätte er uns geradewegs vom Rande der Bahamas nach Miami, Florida, pusten können, wohin wir auch wollten. Aber in dieser Meerenge, von nur 55 sm Breite, herrschte der Golfstrom. Durch die schmale Rinne zwischen der flachen Great-Bahama-Bank und Florida quetschten sich jede Sekunde 70 Mio. Kubikmeter Wasser und erzeugte bei diesem schräg dazu laufenden Gegenwind ein Wasserwaschbrett das so ein kleines Segelboot wie unsere PIXEL hätte leicht aufrebbeln können. So saßen wir hier fest, nur 3 sm nördlich der Insel Cat-Cay und der Stelle wo wir ein halbes Jahr zuvor, aus der Gegenrichtung kommend, einklarierten. Die bewilligten 180 Tage Aufenthaltserlaubnis, wie aus unseren Einreisedokumenten zu entnehmen, waren eigentlich bereits verstrichen. Bei großzügiger Auslegung konnte man darunter zwar auch einfach sechs Monate verstehen, die allerdings in den nächsten Tagen auch vorüber sein würden. Ein unangenehmer Gedanke nicht wegen des illegalen Aufenthalts hier, sondern der Befürchtungen über sondern der Befürchtungen über einen schlechten Eindruck bei den US-Behörden, wo wir uns nach erfolgter Passage würden anmelden müssen. Diese täten sicher einen sehr genauen Blick auf unsere Unterlagen werfen, so wie wir zwischenzeitlich auf Normalos wirken mussten. Wie sollten wir ihnen denn auch unsere innere Metamorphose erklären?

Trotz aller Bedenken über mutmaßliche Konsequenzen zum Abwarten verurteilt, wandten wir uns wie schon die letzten Tage gleich nach dem Frühstück unserer Lieblingsbeschäftigung zu: Dem Pelikanfüttern.

Angelruten waren auf allen Bootsstegen nicht erlaubt, so trugen wir ein paar Meter Angelschnur mit Haken und gelben Gummiködern versteckt in der Hand. Die Stege der Marinas waren öffentlich zugänglich und ragten von Land aus in die geschützte Bay, in der auch etwa 300 m nördlich unsere PIXEL ankerte. In dem Wasser, das so Gin-clear war, wie die Amis gerne schwärmten, blitzten die Schuppen der Yellowtail-Jacks auf, die eifrig um die Pfosten der Stege flitzten. Schon gut handgroß geworden jagten sie jetzt meist unerreichbar tief für die Pelikane, die ihnen von den Stegpfosten aus nachspähten. Die kleineren Fische, die sonst näher an der Oberfläche schwimmen, fehlen im Winter und so entschied es der Zufall vielleicht doch noch einen Unachtsamen zu erwischen, über das Leben oder den Hungertod der Pelis. Viele Stege waren von den letzten tropischen Stürmen beschädigt. Schief eingedrückt, mit angebrochenen Pfosten und ausgerissenen Bohlen, konnte kein Boot mehr daran festmachen und die müde lauernden Pelikane hatten sie für sich alleine. Die traurig-schöne Szene war für uns unwiderstehlich anziehend und wir setzten uns auf den Steg und ließen die Haken zwischen den baumelnden Füssen ins Wasser. Jigging, nennt man die Zupfbewegung, mit der man den Haken rhythmisch hochzieht, um ihn dann wieder absinken zu lassen.

Seit Jahrtausenden taten das die Menschen und die Fische hatten es bisher nicht gelernt, nicht mehr darauf hereinzufallen. Kaum zischte die gespannte Schnur kreuz und quer durchs Wasser, waren die eben noch trägen und teilnahmslosen Pelis zu nervös zitternden Gierhälsen verwandelt. Sie tappten aufgeregt mit ihren Lappenfüßen auf der Stelle und stießen mit langen Schnäbeln vor, wenn ich ein Fischchen in die Gruppe warf. Als wollte er seinen Erfolg damit anzeigen, reckte sich ein Schnabel aus dem wilden Knäuel ganz lang hoch und schluckte heftig an dem Bissen. Als hätten sie auf dieses Zeichen gewartet, watschelten die Enttäuschten sofort einige Schritte auseinander. Die lautlose Ruhe dabei war für uns schlimmer, als hätten sie geseufzt. Schwer sich da zu merken wer schon einen abbekommen hatte. So blieben wir auf jeden Fall bis wir sicher waren, dass alle Bäuche unserer geduldig dreinschauenden Familie zumindest etwas gefüllt waren, was meist bis zum Nachmittag dauerte. In diesen Tagen besprachen Gabriela und ich unser bisheriges Leben und wenn wir manchmal einen größeren Fisch erwischten, war unser Dinner auch gesichert. Nie wollten wir noch anders leben.

Und mit der erstmaligen Kreuzung unseres Weges sahen wir uns selbst in Erinnerung aufs Meer hinausschauen, als wenn wir unser vergangenes halbes Jahr eben noch vor uns hätten. Das Blaugrün des Meeres und das Blauweiß des Himmels traten in den zarten Hintergrund eines darüber gelegten Gemäldes aus kaum bewältigten Erlebnissen. Was früher nur leere Hoffnung im Blick auf den Horizont war, wurde an derselben Aussicht zur übererfüllten Gewissheit mit der Zuversicht auf weitere reiche Ernten für den Lebensspeicher. Wir versicherten es uns gegenseitig: Beide wünschten wir uns nur noch, in immer weiteren solchen Schleifen, ein Leben lang umher zu ziehen.

Wir waren endlich angekommen.

Bis dahin hatte ich eigentlich noch eine Menge weiterer Ziele und Vorhaben, aus denen sich dann abermals andere ergeben sollten. Stattdessen brachte uns unsere Reise zu einem Ausgangspunkt zurück und das vermeintlich ohne echte Resultate. Das Wichtigste aber hatte ich dabei beinahe übersehen. Dieses neue Gefühl und die bedeutende Einsicht: Ich muss überhaupt nichts erreichen, gehe wohin ich will und bin bereits am Ziel.

Ich war zum Aussteiger geworden, lange nachdem ich einen Entschluss dafür fasste, und um zu erzählen wie es dazu kam, muss ich etwas weiter ausholen:

Geboren bin ich 1956 in Ludwigshafen am Rhein und wuchs in einem nahe gelegenen Dorf auf. Die Freizeiten verbrachten meine Eltern über Sommer mit meinen Geschwistern und mir an den alten Stromarmen des begradigten Rheins. Vor allem in den Ferien zog es uns ans Wasser der Mittelmeer- und Atlantik-Küsten von Frankreich, Portugal und meist Spanien. Leben und das Naturerlebnis an einem Ufer wurden für mich untrennbar.

Nebenbei ging ich auch zur Schule und dem Abi folgte eine Augenoptikerlehre - damit man etwas hat - und danach ein Maschinenbaustudium in Kaiserslautern. Vor der Bundeswehr konnte ich mich erfolgreich drücken und auch den anderen normalen Alltagszwängen wollte ich dadurch entgehen, dass ich selbständig wurde und einen Hightech-Ökoladen gründete.

Gabriela ließ ihrem Abitur eine Parkettlegerlehre folgen, weil ihr Vater Inhaber eines Fußbodenlegerbetriebes war. Danach studierte sie Architektur in Kaiserslautern, wo wir uns kennen lernten. Wir führten unser Ladengeschäft gemeinsam und heirateten 1994 nicht nur aus Steuergründen. Zwischenzeitlich teilte sie auch meine Leidenschaften fürs Segeln und Windsurfen. Technik war für mich immer nur Mittel zum Zweck und neben meinem Interesse für Biologie und Meteorologie war es das Reisen was mir die meiste Freude bereitete, auch weil es bei Gabriela dieselbe Begeisterung wecken konnte.

Bis dahin schien eigentlich alles Bestens geregelt um den Rest des Lebens genüsslich abzuspulen, wenn sich da nicht eine Unzufriedenheit breitgemacht hätte, die zunächst von ein paar unwesentlich erscheinenden Umständen herrührte.

Als Freier Unternehmer sah ich mich immer mehr eingekeilt zwischen Ordnungsamt, Eichamt, Zollamt, Finanzamt, Banken und Versicherungen. Das verursachte einen Aufwand den ich nicht delegieren konnte und mir zunehmend die Zeit für die Dinge stahl, die mir in der Arbeit Freude machten. Der Spielraum als Selbständiger war begrenzter als anfänglich angenommen. Dauernd stieß ich auf neue bürokratische Hürden. Man musste wohl Jurist sein um nicht ständig unwissendlich gegen Gesetze zu verstoßen. Früher wurden doch Kleinbetriebe meist von geschickten Handwerkern oder Ingenieuren geführt, die neuen Inhaber waren jetzt aber vermehrt Anwälte oder Makler.

Auch in der Freizeit spürte ich engere Schranken. Als mein bisher favorisierter Ausgleich für den Berufalltag schied das Windsurfen künftig aus, weil entweder die geeigneten Seen der Umgebung dafür gesperrt wurden, oder der Weg zur Küste übers Wochenende viel zu weit war. Das Erste meiner beiden Hobbys war mir damit schon genommen. Meine Bereitschaft mit dem entstehenden Frust weiterzuleben, endete allerdings an dem Tag als an unserem Altrhein das Ankerliegen von Sportbooten zum Zwecke der Übernachtung verboten wurde. Neben den vielen kleinen Ärgernissen die mir im täglichen Leben im Umgang mit Kunden, Lieferanten und vor allem Behörden die Laune vermiesten, kam damit der finale Anschlag auf meine Lebensfreude. Diese höchst unnötige und überflüssige Verfügung schränkte die Ausübung meines einzigen, verbliebenen Hobbys so ein, dass ich künftig keinen Spaß mehr daran haben konnte.

Im Klartext bedeutete dies nämlich, dass künftig alle Boote über Nacht in ihre Häfen zurück mussten. Der Hauptgrund aber, weswegen man sich so etwas mit nicht unerheblichem Zeit- und Kostenaufwand unterhält, ist doch der, dass es sich damit ein wenig Abstand – im eigentlichen Sinne - gewinnen lässt. Ohne die Belästigung neugieriger Mitmenschen, einfach nur vom Boot aus beim Frühstück die Enten füttern, oder ohne Zwänge und Alltagsprobleme nur mal auszuspannen. Wo war das denn sonst noch möglich? Sollte ich mich in Zukunft nur noch hinter herunter gelassenen Rollläden zurückziehen können?

Mir wurde bewusst, dass jederzeit weitere, willkürliche Beschränkungen meinen Spielraum noch mehr einengen konnten und sah mich dieser klaren Tendenz hilflos ausgeliefert. Mein Toleranzbereich, mich mit diesem strangulierenden System zu arrangieren, war ausgeschöpft. Meine letzten Freiräume schrumpften zusehends und reichten zur rechtmäßigen Entfaltung meiner Individualität nicht mehr aus. Meine Bescheidenheit ging aber nicht soweit, dass ich jede weitere Eingrenzung einfach so hinnahm um im verbliebenen Rest zu verkümmern. Ich wusste immer, was ich nicht wollte und hielt es mir auch fern. Aber allein diese Abwehr kostete jetzt schon zuviel Kraft. Die Zwänge nahmen trotzdem zu und umso mehr ich weitere Verpflichtungen nur deswegen einging um dafür ein wenig zusätzlichen Platz zum geringfügig komfortableren Überleben einzuhandeln. Übervorteilt, und weit davon entfernt meinen echten Bedürfnissen nachzukommen, kam ich letztlich zu meinem Resultat. Wie ein Esel der hinter einer vorgehaltenen Karotte herläuft, oder noch schlimmer: Ich mag gar keine Karotten.

Meine Frau Gabriela und ich begannen mit der Analyse unserer Situation und der Möglichkeiten für unsere Zukunft. Im Ergebnis kündigten wir die Mitarbeit an unserem Lebensabschnitts-Staat (LaSt) auf.

Die Analyse.

Ein Jeder wird in eine Welt geboren in der bereits alles verteilt ist. Und weil diese Verteilung auch niemals gerecht war, wird es auch nicht weniger unfair wenn das kodifizierte Recht es nachträglich zu rechtfertigen sucht. Damit ist der Kampf unserer Vorfahren gegen die Unbillen der Natur, dem Verdrängungskampf gegen den Mitmensch gewichen. Mein Freiraum läuft immer auf eine Einschränkung anderer hinaus, und bei noch mehr Konkurrenz wird es insgesamt enger. Es ist nicht mehr wie zu Zeiten der Oklahoma-Sooners, jenen Pionieren die sich einfach ein Stück Land abstecken konnten das sie künftig ernähren sollte. Bei sieben Milliarden Menschen geht es heute nur noch darum allen Anderen das abzujagen was man für sich selbst braucht. Im heutigen Verdrängungswettbewerb ist es jedenfalls erfolgsträchtiger eher in der Jurisprudenz bewandert zu sein, als vergleichsweise in den Naturwissenschaften. In der urbanen Gesellschaft ist derjenige im Vorteil der die Feinheiten der gesetzmäßigen Übervorteilung beherrscht, will damit sagen, den Rahmen des Erlaubten auszunutzen weis. Wer kein Massenmensch ist, der das Bad in der Menge liebt und dem keine Disco voll genug sein kann, und wer sein Selbstwertgefühl nicht ausschließlich von der Wertschätzung seiner Mitmenschen abhängig macht, kurzum, wem Streben nach Anerkennung und die Meinungen der Anderen nicht das Allerwichtigste sind, lebt in der zivilisierten Welt mit hohem Konfliktpotential. Massenhafte Gleichförmigkeit ist Voraussetzung und Resultat für ein harmonisches Zusammenleben im überfüllten Gehege. Die Anbiederung geht schon so weit, dass selbst Privates und Intimstes gesellschaftlichen Normen und Schablonen genügen muss. Wohnungseinrichtungen, Haartrachten, Haustiere und sogar die Vornamen der Kinder sind alle gleich und müssen „in“ sein. Selbst die Vorgärten sehen aus wie die Parkplätze vor Supermärkten und Mode nennt man die Kapitulation des eigenen Geschmacks vor dem Zeitgeist. Glaubt mir: Das Selbstbewusstsein braucht weder Applaus noch Anerkennung - diese nährt nur einen hohlen Stolz!

Die Natur gibt sich die größte Mühe zur Vielfalt und der Massenmensch ist erst dann zufrieden, wenn er sich mit seinesgleichen in unterschiedslosem Einerlei erlebt und daraus Zustimmung zu all seinen Scheinbedürfnissen schöpft. Anpassung bis zum geistigen Klon.

Wenn jeder Weltbürger die identischen Ideen, Träume und Werte besitzt, ist die Packungsdichte vielleicht sogar noch zu erhöhen und die Entwicklungsgeschichte endet in allüberstrahlender Erfüllung: Dem milliardenfach identischen Homo consumens in Batteriehaltung!

Nicht, das der Eindruck entsteht, ich hätte etwas gegen 7 Milliarden Menschen - nur, warum alle gleichzeitig? Könnte man sie nicht auf 1.000 oder 10.000 Jahre verteilen? Oder haben wir’s irgendwie eilig?

Für Gabriela und mich war es jedenfalls zu eng geworden und wir begannen uns Alternativen zu überlegen.

Kaum wirklich überraschend ist die Erde nicht überall gleich dicht besiedelt, sondern sogar recht ungleichmäßig. Um das Jahr 2000, ungefähr 750 Millionen allein in dem winzigen Europa. Ebensoviel wie in ganz Afrika, oder sogar auf dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent. Genau genommen lebt etwa die Hälfte der Weltbevölkerung bereits in den Gebieten Europa, Indien und China allein. Die Überbevölkerung in Europa ist dabei allerdings besonders belastend, weil ein Europäer einen 20fach höheren Ressourcenverbrauch und die damit zusammenhängende Umweltschädigung verursacht, wie vergleichsweise ein Inder.

Die stürmische Entwicklung in Südost-Asien und in Indien wird allerdings diese Situation in Zukunft angleichen und damit für die Erde allgemein nicht gerade verbessern. Von den drei Ballungsgebieten China, Indien und Europa abgesehen, aber der Vollständigkeit halber nicht verschwiegen, existieren auf der Welt noch weitere Bevölkerungshotspots: Das Niltal und die US-Ostküste, in dieser Gewichtung aber eher nachrangig, ebenso die vereinzelten Megastädte sonstiger Entwicklungsländer.

Wir können aber erwarten, dass wenn die Gebiete um Indien und Südost-Asien in Zukunft mit Europa, in Sachen Entwicklungsstand und Grad der Vernetzung, gleichziehen, wir uns alle im wahrsten Sinne warm anziehen müssen. Falls dort dieselbe konsumorientierte und -abhängige Mainstream-Society entsteht, hält das Erdöl nämlich nicht mehr lange. Wenn wir schlussendlich noch berücksichtigen, dass Europa nicht einmal ein eigenständiger Kontinent ist - eher eine Art Wurmfortsatz Asiens - und damit grenzübergreifend zwei Drittel der Weltbevölkerung beheimatet, ist leicht einzusehen, dass wir in den hiesigen westasiatischen Provinzen in Zukunft keine Verbesserung unserer Lebensumstände erwarten durften. Grundsätzlich wurde uns klar, dass wir uns eine neue Heimat werden suchen müssen und die wohl eher in den entlegeneren Teilen der Welt.

Die Vorbereitung.

Wir begannen damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Als Erstes suchten und fanden wir einen Käufer für unser Ladengeschäft. Das war ein deutlicher Einschnitt, hatte sich doch seit Jahren so viel um unsere Firma gedreht. Man kann sich sicher vorstellen, dass ich es in den Monaten danach vermied in den Bereich der Fußgängerzone zu gehen, in dem sich unser Laden befand. Auch deshalb kündigten wir schnell unsere schöne Wohnung mit Parkettfußboden und Balkon im Stadtzentrum. Somit waren wir Erwerbs-, und bald auch Obdachlos.

Eine der Grundvoraussetzungen zum Aussteigen ist die Minimierung sämtlicher Ausgaben. Wie es unserer Art entsprach, gingen wir dabei radikal vor: Kündigung aller Versicherungen mit Ausnahme der freiwilligen Krankenversicherung. Die Lebensversicherungen konnten wir beitragsfrei erhalten. Als künftige Notunterkunft bauten wir uns in den ungenutzten Lager- und Büroräumen der ehemaligen Firma meiner Schwiegereltern eine Wohnung aus. Teilweise aus vorhandenem Lagermaterial gefertigt, konnten wir nach gut zwei Monaten intensiver Arbeit auf eine anderthalb Zimmerwohnung aus 3 Sorten Parkettresten mit Kochnische und Dusche/WC verweisen. Ein elektrobetriebener 80 Liter Warmwasserspeicher und ein Kaminofen mit Edelstahlrohr vervollständigten die Selbstbaubehausung im Charme eines Wochenendhauses. Strom, Wasser und Abwasser wurden an das Eigenheim meiner Schwiegereltern angeschlossen und hielten die Installationskosten niedrig.

Unser Beispiel machte auch gleich Schule: Ein Bekannter erwarb einen ehemaligen Fachwerk-Stall und baute sich einen alternativen Landsitz hinein. Zwar nicht ganz erlaubt, aber gemütlich. Der Spareffekt bei einem solchen Eigenheim ist jedenfalls beträchtlich. Nur bei der Postadresse und beim Meldeamt war etwas Phantasie gefragt.

So war es uns gelungen unseren tristen aber teuren Lebensstil von mehreren Tausend Euro (incl. Ladenmiete) auf wenige Hundert pro Monat zu drücken. Und das bei gleichzeitig gestiegener Lebensqualität, was wir selbst kaum glauben konnten. Wo wir früher schon aus Zeitmangel nach Ladenschluss ins Restaurant mussten – mehrmals die Woche, was irgendwann wirklich keinen Spaß mehr machte - hatten wir nun reichlich Zeit und kochten uns die aufwändigsten und zudem leckersten Abendessen selbst. Auf einmal füllten ganz andere Tätigkeiten den Tag aus. Früher konsumierten wir gedankenlos aus einem zufälligen Angebot der Märkte, jetzt wurden wir kreativ. Das erstreckte sich vom Essen, über die Kleidung bis zum Basteln von Lampen und Möbeln. Eine Wandlung vom simplen Verbraucher zum Schöpfer. Unser Leben gefiel uns jetzt schon besser als je zuvor. Eigentlich hätten wir das schon viel früher haben können. Aber hätten wir es auch gewollt?

Gerechterweise muss ich zugeben, dass ich mich bis 1990, dem Jahr meiner Geschäftsgründung, doch ziemlich ausleben konnte und hernach nicht das Gefühl haben musste, etwas versäumt zu haben. Weiterhin verfüge ich bereits über ein geringes Vermögen das bei äußerst bescheidener Lebensführung immerhin wenigstens das pure Überleben sichern und damit schon knapp als Altersgrundversorgung ausreichen kann. Somit konnte ich recht entspannt der näheren Zukunft entgegenschauen. Darin unterscheide ich mich aber kaum von vielen Anderen. Es kommt wohl nur darauf an in welcher Höhe das gefühlte Existenzminimum individuell angesiedelt ist.

Als Beispiel sei hier ein guter Bekannter beschrieben, der um die 45 Jahre ist, als Single lebt und seit 15 Jahren in einer leitenden Position ein prima Einkommen hat. Das unbelastete Eigenheim seiner Eltern, die eine hohe Rente beziehen, ist bereits ihm und seinem verheiratetem Bruder mit Nießbrauchvorbehalt übereignet. Über diese Haushälfte hinaus gehört ihm noch die Einliegerwohnung, die er selbst nutzt. Außerdem hat er durch sein hohes Einkommen bereits jetzt einen stattlichen Rentenanspruch und ist damit insgesamt für das Alter hinreichend abgesichert. Was will der Mensch mehr?

Die nächsten 20 Jahre bis zum Rentenalter könnten einmal so aussehen:

Mindestens 40 Stundenwoche, 40 Kurzurlaube, 40 Heimspiele seines Fußballvereins, 40 Programme der Provokative - der 4. Gewalt im Staate - und 400 Zucker. Oder, er klinkt sich aus der bürgerlichen Existenz aus, zieht im Sommer in eine Sennerhütte und macht Käse, was er schon immer machen wollte. Er bräuchte ja nur für sein augenblickliches Leben zu sorgen und das gelänge ihm sicher leicht.

Wer also in einer ähnlich günstigen Ausgangssituation ist - und das sind doch recht Viele - muss sich nicht damit abfinden sein ganzes Leben hinter einer vorgehaltenen Karotte herzulaufen. Wichtig ist hier nur und ausschließlich, dass keine Notwendigkeit nach größeren, vererbbaren Hinterlassenschaften besteht und man nur für sich selbst verantwortlich bleibt.

Also: Keine Kinder!

Gerade hier wird unmissverständlich klar, dass die Planung aufs Genaueste die Voraussetzung für ein erfolgreiches Aussteigen ist, und man sich nicht darauf vertrösten kann, dass sich schon alles irgendwie regelt.

Die Frage, ob man denn unbedingt eigene Kinder haben muss, ist zugegebenermaßen heikel und wird nicht einfach und allgemein zu beantworten sein. Ich will es dennoch versuchen und muss dafür grundsätzlicher werden.

Die zweigeschlechtliche Fortpflanzung hat sich gegenüber der Eingeschlechtlichen, wie einfacher Zellteilung oder Sprossung, als erheblich vorteilhafter erwiesen. Die Möglichkeit der Kombination von Erbinformation stellt ein gigantisches Potential zur Entwicklung neuer Arten dar. Nicht die Mutation als alleinige Reaktion auf Umwelteinflüsse verändert eine Art, sondern alle Nachkommen der zwei- oder mehr-geschlechtlichen Fortpflanzung unterscheiden sich ein wenig voneinander und bieten deswegen schon Krankheitserregern weniger Angriffsfläche.

Die Individualität war erfunden und setzte sich bis auf die Bereiche durch, wo extreme Energieeinsparung gefragt war. Denn Aufwändiger ist die Zweigeschlechtlichkeit schon. Die Natur hat dafür den meist stärksten Trieb erfunden - häufig noch vor dem Selbsterhaltungstrieb - um die passenden Partner zusammenzuführen, was aber in aller Regel dem Einzelnen zum persönlichen Nachteil gereicht: Den Sexualtrieb.

Tigerweibchen vertreiben sofort nach der Begattung das vorübergehend aggressionsarme Männchen aus dem Revier, Spinnenmädchen nutzen zuweilen die Spinnenbübchen als Häppchen und See-Elefanten zerfleischen sich mit ihren Nebenbuhlern um die Gunst der Haremsdamen die dann noch lange an den Folgen des kurzen Genusses und an der Sorgepflicht zu Tragen haben.

Die Belohnung für diese Handlung ist nicht der Orgasmus allein, sondern schon vorher haben beispielsweise Singvögel beim Nestbau nachweislich Freude am Tun. Hinterher, wenn das befruchtete Resultat nicht mehr rückgängig zu machen ist, hält die Naturchemie noch allerhand an Beschützerinstinkt- oder Mutterglück-Drogen bereit, um zur Arterhaltung - und nur deswegen - auch das Individuum bei Laune zu halten.

Wäre der Wunsch nach Nachkommenschaft für sich schon selbstverständlich, dann bräuchte es den Sexualtrieb nicht. Es soll nicht heißen, dass es keinen Kinderwunsch gibt, der ist dann aber lediglich soziologisch determiniert. Dass dieser über die Rückkoppelung aus dem Brutpflegetrieb herrühren kann, und damit wieder die Brücke zur Biologie schlägt, bedeutet keine Einschränkung, denn alles hängt in einer Reihenfolge vom Auslöser ab, und das ist eben die Lust. Wer also die Konsequenzen des Sex vermeidet, genießt die Falle der Natur als Geschenk und vermisst eine eventuelle Dreingabe aus Unkenntnis nicht.

Die Entkoppelung von Sex und Fortpflanzung ist naturgegeben und allein daran schon zu erkennen, dass die eigentliche Befruchtung frühestens einen Tag, aber eher 2 bis 4 Tage nach dem Geschlechtsakt, stattfindet. Und zwar vom Wirtskörper völlig unbemerkt z.B. im Schlaf, beim Wäschebügeln, auf der Toilette oder sogar während einer weiteren Begattung mit - pikanterweise - vielleicht sogar einem anderen Partner.

Was aber bewegt unsereins ganz allgemein zu irgendeiner Handlung überhaupt? Ist der Trieb immer ein stärkeres Motiv als die reine Einsicht? Aber wenn ich dann dieses Gefühl der Unzufriedenheit mit meiner Umgebung als ursächlichen Antrieb für meinen Ausstieg identifiziere, habe ich denn damit nicht der Chemie meines Urschlammes erlaubt mein Denken zu lenken und zu beschneiden, und somit den Sitz des höchsten Grades meiner Individualität zu amputieren?

Irgendwie schon, denn ein Gefühl ist häufig der Anstoß um einen Denkprozess überhaupt erst einzuleiten. Wenn jemand zum Beispiel davon träumt ein Haus zu kaufen oder zu bauen, wird ihn die Vorfreude darauf einerseits sicher zu hohem Einsatz motivieren, und ihn andererseits die Aussicht auf alle damit verbundenen Anstrengungen leicht beiseite schieben lassen. Die rein vernünftigen Gründe zum Haus werden die Selben bleiben, die emotionalen unterliegen Veränderungen und sind anfänglich sicher dominant. Jedenfalls erlebt er eine fühlbare Verbesserung seiner Lebenssituation schon in der Vorfreude.