Cover

Donald Trump in den USA, Kim Jong Un in Nordkorea, Jair Bolsonaro in Brasilien, weltweit scheint der Irrsinn zuzunehmen. Kann man etwas dagegen tun und sind die überhaupt wirklich verrückt? Was vor zehn Jahren noch eher Promis aus der zweiten Reihe betraf, hat es jetzt in die Chefsessel dieser Welt geschafft. Da war eine komplette Aktualisierung unvermeidlich. Der Irrsinn hat die Macht übernommen. Was sagt ein Psychiater dazu?

Aber auch Psychiatrie und Psychotherapie haben weitere Fortschritte gemacht. So bringt »Neue Irre!« den aktuellen Stand der Wissenschaft: Alle Psycho-Diagnosen, alle Psycho-Therapien und das in bewährt kurzweiliger und allgemeinverständlicher Form. Was ist Depression wirklich, was sind Angststörungen, was ist Schizophrenie, was tut man gegen Sucht, vor allem gegen die neuen Süchte und schließlich: Ist Burnout out? Der renommierte Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Lütz bringt Licht ins Dunkel des allgemeinen Wahnsinns.

Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe. Geboren 1954 in Bonn studierte er Medizin, Philosophie und katholische Theologie in Bonn und Rom. Von 1997 bis 2019 war er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. 2003 gründete er das Alexianer-Therapie-Forum mit renommieren internationalen Referenten, das er weiterhin organisiert. Bekannt wurde Lütz als Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens«. Soeben erscheint sein Buch »Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg. Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten«. Lütz ist gerngesehener Gast von Talkshows und nimmt in Kolumnen und Artikeln immer wieder zu aktuellen Themen Stellung. Außerdem ist er ein gefragter Vortragsredner und tritt mitunter auch im Kabarett auf.

MANFRED LÜTZ

NEUE

IRRE!

WIR BEHANDELN DIE FALSCHEN

Kösel

In diesem Buch ist aus rein pragmatischen Gründen der Lesbarkeit stets die männliche Sprachform gewählt worden, wofür ich Leserinnen um Verständnis bitte. Der Paartherapeut Jürg Willi konstruierte den Satz:

»Wenn man/frau mit seiner/ihrer Partner/in zusammenleben will, so wird er/sie zu ihr/ihm in ihre/seine oder sie/er in seine/ihre Wohnung ziehen«, um deutlich zu machen, dass eine befriedigende Lösung des Sprachproblems nicht möglich ist. »Ich ziehe die einfache Sprache der zwar korrekten, aber unübersichtlicheren vor.«

Diese Auffassung teile ich.

Manfred Lütz

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Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlagmotiv: 2019 stock.adobe.com

Satz: dtp im Verlag

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-26985-2
V002

www.koesel.de

INHALt

VORWORT

VORSPIEL

EINFÜHRUNG

A UNSER PROBLEM SIND DIE NORMALEN

I WAHNSINN

1. Der ganz normale Wahnsinn – Donald Trump und die Hirnforschung

2. Der wahnsinnig Normale − Einfarbig strammstehen

II BLÖDSINN

1. Der ganz normale Blödsinn − Dieter Bohlen, Heidi Klum und das Wesen der Dinge

2. Der blödsinnig Normale − Über spülende Frauen und röhrende Hirsche

B WARUM BEHANDELN, UND WENN JA, WIE VIELE? – ÜBER UNSINN UND SINN VON PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE

I WARUM ÜBERHAUPT BEHANDELN?

1. Knapp vorbei ist auch daneben – Wenn Irrenärzte irren

2. Fantastisch anormal – Über Genie und Wahnsinn

3. Die Irren und ihre Ärzte – Wie die Psychiatrie erfunden wurde

4. Missverständnisse – Warum Diagnosen nie wahr sind

II WEN BEHANDELN?

1. Die kleine Welt der Psychiatrie – Mein Gehirn und ich

a) Was ist das Gute am Schlechten? – Über die Chancen der Krankheit

b) Ansichtssachen – Der Mensch, sein Gehirn und wie das Leben so spielt

2. Das große Reich der Freiheit – Ich und mein Gehirn

a) Freiheit und Krankheit – Diesseits von Gut und Böse

b) Menschenwürde und Wahlfreiheit – Unsere Herren, die Kranken

III WIE BEHANDELN?

1. Eine künstliche Beziehung auf Zeit für Geld – Kleine Einführung in die Psychotherapie

a) Die Psychoanalyse – Sie lächeln so, was verdrängen Sie?

b) Die Verhaltenstherapie – Quadratisch, praktisch, gut

c) Systemische Revolutionen – Wie man Probleme liquidiert

d) Lösungen ohne Probleme – Das Geheimnis der Zahnlücke

2. Zu guter Letzt – Körperlich behandeln, um die Seele zu heilen?

a) Kontroversen – Glanz und Elend der Psychochemie

b) Schockierende Erkenntnisse – Das Ultimatum einer selbstbewussten Patientin

C EINE HEITERE SEELENKUNDE – ALLE DIAGNOSEN, ALLE THERAPIEN

I WENN ES DAS GEHIRN ERWISCHT – KLEINE SCHLÄGE AUF DEN HINTERKOPF ERHÖHEN NICHT DAS DENKVERMÖGEN

1. Wie man ein Chamäleon ertappt – Detektivarbeit

2. Akuter Zoff – Was das Gehirn so alles übel nimmt

3. Chronischer Ärger – Die postmortalen Eroberungen des Herrn Alzheimer

4. Demenzkranke und Normale – Eine Annäherung

II WER SORGEN HAT, HAT AUCH LIKÖR – SUCHT, DIE PEINLICHE KRANKHEIT

1. Firma, Frau und Führerschein – Die sensiblen drei F

2. Das Männchen mit dem Glaskopf – Was die Psychiatrie mit der Mafia verbindet

3. Therapie – Was tun, statt süchtig sein?

4. Süchtige und Normale – Vom Sinn der Sucht

III IRREN IST MENSCHLICH – DIE SCHIZOPHRENIE

1. Schizophrenie im Selbstversuch – Was eine Psychiatrie mit einem Ministerium gemein hat

2. Gute Nachrichten – Eine unheimliche Krankheit verliert ihren Schrecken

3. Die Contergankatastrophe der Psychologie – Über Ursachen und Wirkungen

4. Schizophrene und Normale – Eine irritierende Beziehung

IV HIMMELHOCH JAUCHZEND, ZU TODE BETRÜBT – DEPRESSIVE UND MANIKER

1. Die Depression – Was ist das Gute am Schlechten?

2. Vernichtende Gedanken – Robert Enke und der Germanwings-Absturz

3. Stimmung im Hörsaal – Stress für die Bundeswehr

4. Die Maniker und die Normalen – Eine Erbfeindschaft

V WARUM WIR UNS AUFS PARADIES NOCH FREUEN KÖNNEN – MENSCHLICHE VARIATIONEN

1. Trauma, Angst und Zwang – Gestörte Reaktionen

2. Essen, Trinken, Sexualität – Wenn Bedürfnisse entgleiten

3. Dr. Jekyll und Mister Hyde – Psychiatrische Dramen

4. Extreme Menschen und der letzte Mensch – Wie die Normalen »das Glück« erfanden

DAS ENDE VOM LIED

NACHWORT

SACHVERZEICHNIS

»Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes –

aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.«

Friedrich Nietzsche

VORWORT

Wie oft ich gefragt worden bin, ob Donald Trump eigentlich verrückt ist, kann ich nicht mehr zählen. Und in Lateinamerika ist Brasiliens Präsident Bolsonaro offensichtlich stolz darauf, der »Trump Brasiliens« genannt zu werden. Dass schließlich das Verhalten des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un völlig abgedreht ist, darüber besteht bei uns weitgehende Einigkeit. Die These meines Buches »Irre! Wir behandeln die Falschen, unser Problem sind die Normalen«, die ich vor 10 Jahren aufgestellt hatte, bestätigt sich also inzwischen fast täglich. Damals spielte Donald Trump noch vor allem Golf und haute ab und zu einen menschenverachtenden Spruch raus, den aber niemand ernst nahm, Jair Bolsonaro startete gerade erst seine Karriere als Frauenheld und Supermacho und niemand ahnte, dass jemand, der kaum das Wort Politik schreiben konnte, irgendwann einmal der Präsident des bevölkerungsreichsten Landes Lateinamerikas werden würde. Und der kleine Kim Jong-un spielte noch mit seinen Förmchen, wobei er damals schon zu viel Pudding aß. Es ist ja ohnehin schwierig, sich vorstellen zu müssen, dass sogar Hitler und Stalin mal allerliebste kleine Babys waren. Aber wenn heute gewisse Leute einfach nie erwachsen werden und Weltpolitik wie im Sandkasten betreiben, dann kann es schon mal unheimlich werden. Donald Trump hat das psychologische Potenzial des frühpubertären Anführers einer Jugendgang in der New Yorker Westside zu den besten Zeiten dieses legendären Stadtviertels, Jair Bolsonaro ist stets selber erstaunt über seine überraschenden Testosteronschübe und Kim Jong-un sieht immer noch so aus wie ein Elefantenbaby, dem man eigentlich nicht böse sein könnte, wenn er nicht immer wieder garstig würde und dann müssen halt ein paar Leute, bevorzugt Familienangehörige, mal eben über die Klinge springen. Die Normalisierung des allgemeinen Wahnsinns kann Angst machen. Überall laufen immer mehr Irre herum, Massenmörder, Kriegshetzer, Lügner, Betrüger, rücksichtslose Egomanen, aber das Dilemma bleibt: All diese Typen kann man leider nicht behandeln, denn sie sind normal, jedenfalls nicht krank, und gerade deswegen brandgefährlich.

Während vor zehn Jahren bei den gefährlichen Irren vor allem historische Beispiele herangezogen werden mussten, Hitler, Stalin, Mao Tse Tung, tummeln sich heute so viele neue Irre in der Öffentlichkeit, dass schon allein deswegen eine Neuauflage des Buches unumgänglich war. In den vergangenen zehn Jahren hat aber auch die Wissenschaft weitere Fortschritte gemacht und auch ich habe natürlich meine Auffassungen, zum Beispiel zu Medikamenten, weiterentwickelt. Es war das Anliegen des damaligen Buches, endlich eine breitere Öffentlichkeit allgemein verständlich und unterhaltsam auf unter 200 Seiten über alle Psycho-Diagnosen und alle Psycho-Therapien aufzuklären. »Irre« wurde ein Bestseller, im Kabarett, im Fernsehen, bei vielen »Bündnissen gegen Depression«, in Firmen, deren leitende Mitarbeiter kompetenter mit psychischen Problemen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen wollten, und bei großen Kongressen habe ich das Buch vorgestellt und über psychische Krankheiten aufgeklärt.

Aber wenn man den Anspruch hat, den neuesten Stand der Forschung allgemein verständlich für eine breitere Öffentlichkeit darzustellen, muss man ein solches Buch natürlich nach zehn Jahren überarbeiten und in Teilen neu schreiben. Da »Irre!« auch von führenden deutschen Wissenschaftlern positiv aufgenommen wurde, ergab sich jetzt sogar die schöne Möglichkeit, in den verschiedenen Gebieten führende deutsche Forscher für »Neue Irre!« um Anregungen zu bitten. Deswegen danke ich u.a. den Professoren Frank Jessen (Demenz), Andreas Heinz (Schizophrenie), Ulrich Hegerl (Depression), Mathias Berger (bipolare Störungen), Katharina Domschke (Angststörungen), Ulrich Voderholzer (Essstörungen) und Martin Bohus (Persönlichkeitsstörungen) für wichtige Hinweise. Das Buch, das Sie jetzt in Händen halten, verspricht also nicht zu viel, wenn es behauptet, den neusten Forschungsstand zu präsentieren.

So sollten Sie, wenn Sie dieses Buch gelesen haben, für jede Quizshow gewappnet sein, wenn da irgendwelche Psycho-Fragen kommen. Vor allem aber wenn Sie selber mal psychisch erkranken sollten, können Sie hier Näheres erfahren. Angesichts der Tatsache, dass ein Drittel der Deutschen irgendwann im Leben psychisch erkrankt und die zwei Drittel anderen Deutschen Angehörige haben, die psychisch krank sind, ist es nach wie vor eine Schande, dass bei vielen Menschen immer noch mittelalterliche Vorstellungen über psychische Krankheiten herrschen. Die meisten psychischen Erkrankungen sind heilbar. Aber wer weiß das schon! Und weil die meisten das nicht wissen, schleppen sich viele Menschen monate- und jahrelang mit Depressionen und anderen schwer belastenden Erkrankungen herum, obwohl man da wirklich etwas tun könnte. Auch deswegen ist Aufklärung so wichtig. Nach meinem Buch »Irre« bin ich von zahllosen Journalisten interviewt worden und habe jedem auf den Kopf zugesagt: »Auch Sie haben einen psychisch kranken Angehörigen!« Und so gut wie alle haben das bestätigt, denn in jeder Familie gibt es den Onkel, der Alkoholiker war, die merkwürdige Tante, von der man nicht wusste, was genau die eigentlich hatte, den demenzkranken Großvater, die magersüchtige Nichte. Doch jeder denkt, er sei der Einzige, bei dem so etwas vorkomme. Und so spielen sich psychische Krankheiten nach wie vor im Schatten unserer Gesellschaft ab. Das ist deswegen misslich, weil auf diese Weise Gerüchte, Vorurteile und Fake-News das Feld beherrschen und Menschen, die Hilfe brauchen und erhalten könnten, keinen Weg zur rettenden Behandlung finden. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, kann Ihnen das nicht mehr passieren. Es gibt inzwischen entsetzlich viel Wissensmüll, aber ich habe mich darum bemüht, dass das, was Sie hier lesen, Wissen ist, das wirklich hilft.

Doch auch ganz praktisch könnte Sie das Buch retten – vor der Psychiatrie nämlich. Als ich Paul Watzlawick, den berühmten und höchst unterhaltsamen österreichisch-amerikanischen Psychotherapeuten (»Anleitung zum Unglücklichsein«) zu einem Vortrag einlud, gab der dem Publikum einen wichtigen Hinweis: Wenn Sie einen Menschen auf einer geschlossenen psychiatrischen Station besuchen, sagen wir mal am späten Vormittag, und Sie wollen am frühen Nachmittag wieder raus, dann kann da ein kleines Problem auftreten. Zwischenzeitlich war »Übergabe«, der Frühdienst ist weg und Sie kennen keine Schwester mehr, das ist an sich noch nicht schlimm, aber vor allem kennt keine Schwester Sie. Wenn Sie dann die nächstbeste Schwester mit der lockeren Bemerkung beglücken: »Ich will jetzt hier raus!«, dann wird die im Zweifel cool antworten: »Das wollen hier viele!« Werden Sie dann laut und eskalieren: »Ich habe einen Termin, Sie müssen mich jetzt sofort rauslassen, das ist Freiheitsberaubung!«, hören Sie von der Schwester vielleicht nur noch seelenruhig: »Aggressiv wurden hier auch schon einige…« Sollten Sie jetzt im selben provozierenden Stil weitermachen, werden Sie wahrscheinlich nicht rauskommen, sondern im Gegenteil die Voraussetzungen dafür schaffen, zu Recht drinzubleiben. Was also tun? Der Rat von Watzlawick: Fügen Sie sich in Ihr Schicksal und entwickeln ein möglichst störendes Symptom, zum Beispiel schrille Schreie alle zwei Minuten. Wenden Sie sich an den jüngsten Assistenzarzt um therapeutische Hilfe und gehen mit der Symptomatik wieder schnell zurück. »Und dann wird dieser junge Assistenzarzt dafür kämpfen, dass sein therapeutischer Triumph durch Ihre Entlassung gefeiert wird.« Das, so beendete Watzlawick damals seine kabarettistische Einlage, sei die einzige Möglichkeit, da flott wieder rauszukommen! Ohnehin ist die wichtigste Frage in der Psychiatrie: Wie geht es hier raus? Und dafür arbeiten wir.

Damals hatte ich übrigens das Buch auch von Betroffenen- und Angehörigenvertretern lesen lassen, weil es natürlich immer eine Gratwanderung ist, ein unterhaltsames Buch über manchmal so bedrängende Erkrankungen zu schreiben, aber nur so erreicht man die Spaßgesellschaft und wenn die es nicht checkt, dann hilft alle Aufklärung nicht wirklich weiter. Dennoch soll der Witz niemandem im Halse stecken bleiben und deswegen war ich erleichtert, dass »Irre« und sein Stil auch von Betroffenen geschätzt wurde. Mein Freund Eckart von Hirschhausen hatte mit seinem launigen Vorwort ein Übriges getan, um für weitere Verbreitung zu sorgen und er war es auch, der mich ermutigte, das Thema im Kabarett und im Theater vor einem Publikum zu präsentieren, das sich eigentlich nur unterhalten wollte, aber dann gleichzeitig Wissen über ein wichtiges Thema von der Veranstaltung mit nach Hause nahm. Und das ist auch Ziel dieses Buches: dass etwa ein alerter Manager, der normalerweise nie ein »Psychobuch« in die Hand nehmen würde, das liest, weil er gehört hat, es sei ein unterhaltsamer Bestseller – und anschließend zum ersten Mal seinen schizophrenen Vetter anruft, weil er kapiert hat: Der ist gar nicht so verrückt, wie ich eigentlich dachte. Schließlich war es dann vor allem der Film im WDR-Fernsehen mit Jürgen Becker, der viele Zuschauer erreichte.

Diese erfreuliche Entwicklung soll »Neue Irre« jetzt fortsetzen. Auch dieses neue Buch soll beweisen, dass Psychiatrie und Psychotherapie keineswegs nur bierernste Geschichten zu erzählen haben, sondern dass Menschen mindestens genauso interessant sind wie Bäume und Bienen, über deren Befindlichkeit manche heute besser informiert sind als über den Gesundheitszustand ihres psychisch kranken Nachbarn. Menschen sind – abgesehen von einigen ziemlich irren Exemplaren – meiner Erfahrung nach sogar erheblich interessanter und liebenswürdiger als Bäume und Bienen. Und einige von ihnen sind dabei sehr speziell, geradezu außergewöhnlich. Man nennt sie Patienten und hat abenteuerliche Vorstellungen davon. Wie sie wirklich sind, was sie erleben, was sie denken, worunter sie leiden und wie man ihnen heute helfen kann, darüber geht dieses Buch.

Bornheim, den 1. August 2020

Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz

VORSPIEL

Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um aggressive Nationalisten, um Terroristen, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Politiker auf Ego-Trip – und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über in der Psychiatrie beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!

Um diese kühne Behauptung zu belegen, reicht es aber nicht, sich mit den Merkwürdigkeiten der Normalen zu befassen, man muss die Verrückten kennenlernen. Das ist freilich für Normalbürger nicht so leicht möglich. Denn früher hat man psychisch kranke Menschen in Anstalten irgendwo auf die grüne Wiese verfrachtet in der treuherzigen Annahme, frische Luft könne ja nicht schaden. Als man dann merkte, dass das beherzte Herausoperieren merkwürdiger Mitbürger aus ihrer menschlichen Mitwelt die Betreffenden noch merkwürdiger machte, verlegte man sie zwar schleunigst wieder mitten in unsere Städte. Doch nun leben diese Menschen in so unglaublich professionell geleiteten Einrichtungen, dass Otto Normalbürger den Eindruck hat, man brauche mindestens eine Universitätsausbildung, um mal einen Schizophrenen nach dem Bahnhof zu fragen. Die allgemeine Wichtigtuerei gewisser Psychofachleute hat ein professionelles Getto geschaffen, das dem normalen Menschen psychisch Kranke oft so fremd erscheinen lässt, als kämen die von einem anderen Stern.

Was ist da zu tun? Aufklärung ist angesagt. Aufklärung über wahnsinnig Normale und ganz normale Wahnsinnige. In diesem Buch habe ich mir daher vorgenommen, allgemein verständlich alle psychischen Krankheiten und alle gängigen Therapien auf dem heutigen Stand der Wissenschaft darzustellen.

Die ganze Psychiatrie und Psychotherapie auf 200 Seiten? Hören Sie nicht auf Leute, die mit hochgezogenen Augenbrauen behaupten, über Psychiatrie und Psychotherapie könne man nur dicke humorlose Wälzer schreiben! Ich habe das Buch sicherheitshalber von führenden Experten lesen lassen, die selbst dicke Lehrbücher geschrieben haben – und die fanden, die vorliegenden 200 Seiten würden völlig reichen. Schließlich wurde das Buch auch noch von einem von mir sehr geschätzten Metzger gelesen, der streng auf Allgemeinverständlichkeit achtete. Eines ist also sicher: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, dürfen Sie definitiv mit jedem Verrückten reden, schlimmstenfalls auch mit sich selbst.

Das Buch ist übrigens sogar für Chirurgen, die natürlichen Feinde der Psychiater, geeignet. Chirurgen befassen sich zwar in der Regel nicht mit Büchern, weil die nicht bluten. Doch lesen sie mit Begeisterung Gebrauchsanweisungen – und das hier ist eine Gebrauchsanweisung für außergewöhnliche Menschen und solche, die es werden wollen.

Aus haftungsrechtlichen Gründen muss ich noch eine Warnung vorausschicken. Ich habe mich, wie üblich, dem Thema humorvoll genähert. Das ist nicht jedermanns Sache. Da der Verlag sich weigerte, Scherze gesondert zu kennzeichnen, sind möglicherweise Menschen aus Ostwestfalen zum Verständnis des Buches auf Hinweise ihrer rheinischen Verwandtschaft angewiesen. Überhaupt Ost-West-Falen. Ostfalen ist ja noch in Ordnung, Westfalen ist für uns Rheinländer schon ein Problem, aber Ost-West-Falen – da weiß man ja überhaupt nicht, wo man hinfahren soll. Ein geradezu klassisches Double-bind, eine Doppelbotschaft, die aus Sicht der systemischen Therapie zu Schizophrenie, Borderline-Störung oder Schlimmerem führen kann. Dennoch wirken die Menschen in diesem entlegenen Landstrich erstaunlich normal – und laden mich trotz meiner üblen Beschimpfungen immer wieder zu Vorträgen ein. In Wirklichkeit haben Westfalen nämlich auch Humor – nur später!

Darf man aber überhaupt über psychisch Kranke humorvoll reden? Ich finde ja. Denn Humor ist eine Form, Dinge und Menschen liebevoll ins Leben einzubeziehen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Humor. Ich habe das bei der Gruppe »Brücke-Krücke« gelernt, die mir vor 35 Jahren in Bonn zugelaufen ist und in der behinderte und nichtbehinderte Jugendliche ihre Freizeit verbringen. Wenn da einer meiner behinderten Freunde hinreißend witzig ist, hat er auch ein Recht, dass man über ihn lacht. Wer jedenfalls glaubt, über »unsere armen psychisch kranken Menschen« nur mit ernster Miene voller Betroffenheit in Feierstunden reden zu dürfen, der grenzt diese Mitmenschen aus als Objekte unserer affektierten Soziallaunen. Vor allem aber kann man über uns Normale eigentlich nur humorvoll reden. Denn, Hand aufs Herz, Menschen, die so normal sind, dass es wehtut, also die sogenannten Normopathen, sind zumeist hinreißend witzig.

EINFÜHRUNG

Die Leber wächst mit ihren Aufgaben, behauptete Eckart von Hirschhausen. Gilt das nicht auch für das Gehirn? Der Kabarettist Jürgen Becker ist da anderer Auffassung. Er hält Bandwürmer evolutionär für fortgeschrittener, weil sie das Gehirn wieder abgeschafft hätten. Sie lebten als Schmarotzer im Darm, seien bestens ernährt und fühlten sich auch sonst sauwohl. Ein Gehirn sei da völlig überflüssig. Wir Menschen dagegen steckten voller Probleme. Wir hätten größte Schwierigkeiten, uns reibungslos zu ernähren, effektiv fortzupflanzen und auch sonst Spaß am Leben zu haben. Daher müssten wir ein Gehirn mit uns rumschleppen, das aber im Ergebnis nur Probleme löst, die wir ohne dieses überflüssige Luxusorgan gar nicht hätten.

Sei’s drum. Gegenüber den Tieren sind wir jedenfalls »Mängelwesen«, wie uns der Philosoph Arnold Gehlen ins Stammbuch schrieb. Daher, meinte er, brauchten wir Menschen Institutionen, die uns über unsere Mängel hinweghelfen. Schließlich sind wir am Anfang unseres Lebens ziemlich pflegebedürftig und am Ende schon wieder. In der kurzen Zwischenzeit organisieren wir die Pflege – der kommenden und der scheidenden Generation. Im Grunde sind wir normalerweise behindert und haben uns eine ganze Menschheitsgeschichte lang unter schweißtreibendem Einsatz unserer Gehirne damit herumgeplagt, Ferngläser zur Unterstützung der Augen zu erfinden, Hörgeräte zur Unterstützung der Ohren, Autos zur Unterstützung der Fortbewegung und Kleider zur Bedeckung unserer lächerlich unbehaarten Haut.

Diese Bemühungen müssen uns nicht gut bekommen sein. Denn gegenüber Tieren neigen wir zu merkwürdigen Verhaltensweisen. Der Biologe Midas Dekkers weist darauf hin, dass zum Beispiel Sport etwas völlig Unnatürliches sei: »Kein Tier treibt Sport. So dumm ist es nämlich nicht.« Es gibt wohl auch keine Säugetierart, die sich so ausdauernd gegenseitig umbringt. Und das liegt keineswegs an eher schlichten, muskelbepackten Gemütern. Der Psychiater Thomas Fuchs sagt, dass bei steigender Kultivierung die Neigung sogar noch zunimmt, sich gegenseitig abzumurksen. Mittlerweile scheinen sich ganz normale Menschen aller Nationen dazu verschworen zu haben, der Menschheit in naher Zukunft ganz unblutig den Garaus zu machen, nämlich durch nachhaltigen Ruin des Klimas. Und wenn junge Leute lauthals erklären, sie würden doch noch gerne genau in dieser nahen Zukunft ein bisschen weiterleben, erklären die üblichen Normalen, diese jungen Leute seien inkompetent, weil sie eben jung seien, am besten würden doch die Leute, die das Klima erfolgreich ruiniert hätten, mit denselben Methoden jetzt alles wieder gutmachen. Wahnsinn? Nein, Klimapolitik! Die Lage ist brisant. Vor einem wirklichen Weltgerichtshof sähe es verdammt schlecht für uns aus. Man müsste befürchten, dass die ganze Menschheit wegen nachweislich verrücktem Verhalten und akuter Fremdgefährdung der gesamten Schöpfung in die Psychiatrie eingewiesen würde.

Muss bei solcher Lage der Dinge dann nicht damit gerechnet werden, dass angesichts dieser total verrückten Menschheit diejenigen, die von den Menschen selbst sogar ausdrücklich als verrückt bezeichnet werden, ein Ausmaß an Verrücktheit erreichen, das alle Grenzen sprengt? Doch das ist eigenartigerweise nicht der Fall. Wenn spektakuläre Straftaten psychisch Kranker passieren, werde ich manchmal von Fernsehsendern interviewt. Nach angemessener Würdigung des Einzelfalles weise ich dann stets darauf hin, dass, statistisch gesehen, psychisch Kranke weniger Straftaten verüben als Normale. Mein Fazit: »Hüten Sie sich vor Normalen!«

Woran liegt dieser merkwürdige Befund? Menschen mit einer psychischen Störung machen oft den ganz normalen Wahnsinn unserer Gesellschaft einfach nicht mit. Demgegenüber fällt dann mitunter ihr jeweils höchst individueller Wahnsinn gar nicht mehr so sehr ins Gewicht. Ja, die psychische Störung kann sich sogar als besondere Fähigkeit herausstellen. Psychisch kranke Menschen sind, wertfrei beschrieben, zunächst einmal einfach nur außergewöhnlich, viele sind zum Beispiel aufgrund ihrer psychischen Störung außergewöhnlich friedfertig.

Die meisten leiden allerdings unter ihrer Außergewöhnlichkeit. Deswegen haben sich Ärzte ihrer angenommen und die Psychiatrie erfunden. Dabei wurden Therapien entwickelt, mit denen man Leiden vermindern und aus außergewöhnlichen Menschen wieder gewöhnliche Menschen machen konnte. Doch ob Gewöhnlichsein immer von Vorteil ist? Jedenfalls haben moderne Therapeuten neuerdings entdeckt, dass es ganz unsinnig ist, die psychische Störung nur wie irgendeine Macke zu behandeln, die man möglichst schnell weghobeln muss. Denn nicht selten kann man das Problem sogar mit einigen genialen Kunstgriffen zur Lösung umarbeiten. »Was ist das Gute am Schlechten?«, fragte schon Paul Watzlawick. Er begründete damit eine »ressourcenorientierte« Sicht von Psychotherapie, die sich bemühte, Licht auf die Fähigkeiten eines Menschen zu werfen, der sich selbst bisher eigentlich nur als Bündel von Problemen sah. »Die Lösung hat mit dem Problem nichts zu tun«, ergänzte der große Therapieerfinder Steve de Shazer und plädierte dafür, den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit radikal und ausschließlich auf die verborgenen oder vergessenen Kräfte des Patienten zu richten. Wird der Patient wieder auf seine Fähigkeiten aufmerksam, dann können die auch wieder wirken und das reiche allemal, um gute wirksame Lösungen zu finden.

Normale dagegen müssen gar nichts neu beleuchten. Wegen eines allzu dicken Fells oder wegen eines öden Gutwetterlebens haben sie nie die Chance, an wirklich herausfordernde Grenzen zu gelangen. Normalsein kann ein tragisches Schicksal bedeuten. Kein Wunder, dass sich die Normalen daher rächen, Kriege anzetteln, sich aufs Rauben, Morden und Betrügen verlegen, um dem Leben eine Spannung zu verleihen, die es sonst nicht hätte. Manchmal spielen sie auch einfach nur verrückt. »Es ist ganz nützlich, wenn man überall für verrückt gehalten wird«, sagt Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany«.