Hidden Legacy
Tanz des Feuers
Ins Deutsche übertragen
von Marcel Aubron-Bülles
Wie Feuer und Eis
Ihre außergewöhnliche magische Fähigkeit – zu erkennen, wann jemand lügt – kommt Nevada Baylor in ihrem Job als Privatdetektivin gerade recht. Mit ihrem Fleiß und ihrer Beharrlichkeit hat sie es geschafft, ihre (vielleicht ein bisschen exzentrische) Familie mit ihrer Detektei über Wasser zu halten. Aber in ihrem neuen Fall muss sich Nevada abermals gegen die finsteren Mächte stellen, die Houston bereits einmal zerstören wollten. Aber das ist nichts gegen die erneute Begegnung mit Connor »Mad« Rogan – dem Milliardär, Prime-Magier und herablassenden Idioten (sagt Nevada). Zwischen beiden sprühen die Funken, doch erneut müssen die zwei gegen den Feind zusammenarbeiten, der diesmal noch gefährlicher und noch stärker ist. Und bald schon erkennen Nevada und Connor, dass nichts so sehr brennt wie Eis …
Ein weiser Mann hat einmal gesagt: »Der menschliche Geist ist der Ort, an dem Gefühl und Vernunft im ewigen Kampf gegeneinander antreten. Zum großen Bedauern unserer Spezies sind es immer die Gefühle, die gewinnen.« Das Zitat hat mir sehr gut gefallen. Es erklärte, weshalb ich – obwohl einigermaßen intelligent – immer wieder etwas wirklich Dummes tat. Und es klang viel besser als »Nevada Baylor, Vollidiotin«.
»Tun Sie das nicht«, sagte Augustin hinter mir.
Ich blickte auf den Monitor, auf dem Jeff Caldwell zu sehen war. Er war an einen Stuhl festgekettet, der mit dem Boden verschraubt war, und trug die übliche orangefarbene Gefängniskleidung. Caldwell wirkte nicht sonderlich beeindruckend: ein unauffälliger Mann in seinen Fünfzigern, Glatze, durchschnittliche Größe, durchschnittlicher Körperbau, durchschnittliches Gesicht. Ich hatte heute Morgen einen Artikel über ihn gelesen. Er hatte einen Job bei der Stadt, eine Frau, die Lehrerin war, und zwei Kinder, die beide studierten. Er besaß keine Magie und war mit keinem der Häuser, den mächtigen magischen Familien, die Houston beherrschten, verbunden. Seine Freunde beschrieben ihn als einen freundlichen, rücksichtsvollen Mann.
In seiner Freizeit entführte Jeff Caldwell kleine Mädchen. Er hielt sie bis zu einer Woche am Leben, dann erwürgte er sie und ließ ihre Überreste in von Blumen umgebenen Parks zurück. Seine Opfer waren zwischen fünf und sieben Jahre alt. Ihre Körper erzählten Geschichten, nach denen man sich wünschte, dass die Hölle existierte, nur damit Jeff Caldwell nach seinem Tod dorthin geschickt werden konnte. Vorletzte Nacht war er dabei erwischt worden, die winzige Leiche seines letzten Opfers in ihrem Blumengrab zu deponieren, und wurde festgenommen. Seine Schreckensherrschaft, die Houston ein ganzes Jahr in Angst und Schrecken versetzt hatte, war endlich vorbei.
Es gab nur ein Problem: Die siebenjährige Amy Madrid wurde noch vermisst. Sie war vor zwei Tagen von ihrer Schulbushaltestelle entführt worden, weniger als fünfundzwanzig Meter von ihrem Haus entfernt. Der Modus Operandi war Jeff Caldwells früheren Entführungen zu ähnlich, um ein Zufall zu sein. Er musste sie mitgenommen haben. Und wenn dem so war, bedeutete das, dass sie noch lebte. Ich hatte die Geschichte die letzten zwei Tage verfolgt und auf die Ankündigung gewartet, dass Amy gefunden worden war. Doch die Ankündigung kam nie.
Die Polizei von Houston hatte Jeff Caldwell sechsunddreißig Stunden in die Mangel genommen. Sie hatte sein Haus durchsucht, seine Familie, seine Freunde und Mitarbeiter befragt und seine Handyaufzeichnungen durchforstet. Sie hatten ihn stundenlang verhört. Caldwell verweigerte jede Aussage.
Heute würde er allerdings reden.
»Wenn Sie das einmal tun, werden die Leute erwarten, dass Sie es wieder machen«, sagte Augustin. »Und wenn nicht, werden alle sehr unzufrieden sein. Deshalb greifen Hochbegabte nicht ein. Wir sind auch nur Menschen. Wir können nicht überall gleichzeitig sein. Wenn ein Aquakinetiker ein Feuer löscht und das nächste Mal etwas in Flammen steht und er nicht da ist, wird sich die Öffentlichkeit gegen ihn wenden.«
»Alles klar, verstehe«, erwiderte ich.
»Ich denke nicht, dass Sie das tun. Sie verbergen Ihr Talent, um genau dieser Art kritischer Betrachtung zu entgehen.«
Tatsächlich verbarg ich mein Talent, weil Wahrheitssuchende wie ich extrem selten waren. Wenn ich in ein Polizeirevier hineinspazierte und Jeff Caldwell die Wahrheit entriss, dann würde ich ein paar Stunden später Besuch bekommen. Vom Militär, vom Heimatschutzministerium, vom FBI, von der CIA und von privaten Häusern. Also, einfach von allen, die dringend jemand notwendig hatten, der zu einhundert Prozent korrekte Antworten auf sämtliche Fragen erhielt. Sie würden mein Leben zerstören. Und ich liebte mein Leben. Denn ich leitete die Baylor Investigative Agency, ein kleines Familienunternehmen. Ich kümmerte mich um meine beiden Schwestern und die zwei Cousins, und ich hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Was ich mit meiner Magie tat, war hier vor Gericht nicht zulässig. Nähme ich das Angebot dieser Leute an, würde ich nicht in einem Gerichtssaal sitzen und in einem hübschen Kostüm aussagen. Ich befände mich dann eher an einem dunklen Ort, wo ich einem Kerl gegenüberstünde, den man einen Sack über den Kopf gestülpt, an einen Stuhl gefesselt und beinahe totgeschlagen hatte. Meine Aussage würde über Leben und Tod entscheiden. Ich täte daher alles, um nicht an diesen finsteren, furchtbaren Ort zu gelangen. Okay, fast alles.
»Ich habe jede nur erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen«, sagte Augustin, »aber trotz meiner Bemühungen und Ihres … Outfits besteht die Chance, dass Sie entdeckt werden.«
Ich konnte mein eigenes Spiegelbild im Glas sehen. Ich trug einen grünen Kapuzenumhang, der mich von oben bis unten verbarg, schwarze Handschuhe und eine Skimaske unter der Kapuze. Das Cape und die Handschuhe stammten aus einer Alley Theatre-Aufführung und gehörten der Dame in Grün, der schottischen Straßenräuberin und Heldin der Highlands. Laut Augustin war das Outfit so ungewöhnlich, dass sich die Leute darauf konzentrierten und sich niemand an meine Stimme, meine Größe oder andere Details erinnern würde.
»Ich weiß, wir hatten unsere Differenzen«, begann Augustin. »Aber ich würde Ihnen nicht raten, Ihrem ureigensten Interesse zuwiderzuhandeln.«
Ich wartete auf das vertraute Summen meiner Magie, das mir sagte, dass er gelogen hatte. Es blieb aus. Aus welchem Grund auch immer tat Augustin sein Bestes, um mir eine Vereinbarung auszureden, die ihm direkt zugutekam, und er meinte es ehrlich.
»Augustin, wenn eine meiner Schwestern entführt würde, täte ich alles tun, um sie zurückzubekommen. Im Moment stirbt irgendwo ein kleines Mädchen an Hunger und Durst. Ich kann nicht tatenlos zuschauen und es geschehen lassen. Ich kann einfach nicht. Wir haben eine Abmachung.«
Augustin Montgomery, Herr des Hauses Montgomery und Inhaber von Montgomery International Investigations, besaß die Hypothek auf unser Familienunternehmen. Er konnte mich nicht zwingen, Klienten anzunehmen, aber er hatte mich heute Morgen angerufen, als ich gerade das Polizeirevier betreten wollte, um mein Leben zu zerstören. Er hatte einen Klienten, der ausdrücklich meine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Ich versprach ihm, den Klienten anzuhören, wenn er mir im Gegenzug die Gelegenheit bot, Jeff Caldwell die Wahrheit zu entlocken. Aber nun schien er seine Meinung ändern zu wollen.
Ich drehte mich um und sah Augustin an. Er war ein hochbegabter Illusionsmagier und konnte sein Aussehen kraft seiner Gedanken verändern. Heute war sein Gesicht nicht nur schön, es war so perfekt modelliert wie auf einem Renaissancegemälde. Seine Haut war makellos, sein hellblondes Haar mit chirurgischer Präzision gekämmt, und seine Gesichtszüge besaßen eine solch kühle Eleganz, die geradezu darum bettelte, auf Leinwand oder, noch besser, in Marmor verewigt zu werden.
»Wir haben eine Abmachung«, wiederholte ich.
Augustin seufzte. »Nun gut. Kommen Sie mit!«
Ich folgte ihm zu einer Holztür. Er öffnete sie, und ich betrat einen kleinen Raum, an dessen hinterer Wand ein Einwegspiegel zu erkennen war.
Jeff Caldwell hob den Kopf und blickte mich an. Ich sah in seine Augen und entdeckte nichts. Sie waren völlig ausdruckslos und verrieten nicht die geringste Emotion. Der Einwegspiegel hinter ihm verbarg mehrere Zuschauer. Augustin hatte mir versichert, dass nur die Polizei anwesend sein würde.
Die Tür schloss sich hinter mir.
»Was ist hier los?«, fragte Caldwell.
Meine Magie berührte seinen Verstand. Iih! Als würde man seine Hand in einen Eimer voller Schleim stecken.
»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen«, sagte er.
Die Wahrheit. Er glaubte das wirklich. Sein leerer Blick war nur ein weiterer Teil seiner ausdruckslosen Maske.
»Wollen Sie einfach da stehen bleiben? Das ist lächerlich.«
»Haben Sie Amy Madrid entführt?«, fragte ich.
»Nein.«
Meine Magie summte in meinem Gehirn. Lüge. Du Drecksack!
»Halten Sie sie irgendwo fest?«
»Nein.«
Lüge.
Meine Magie brach sich Bahn und umklammerte seinen Schädel wie ein Schraubstock. Jeff Caldwell erstarrte. Seine Nasenflügel bebten, seine Atmung beschleunigte sich im Einklang mit seinem steigenden Puls. Schließlich spiegelte sich auch in seinem Blick ein Gefühl wider – kaltes, grenzenloses Entsetzen.
Ich öffnete den Mund und ließ die volle Kraft meiner Magie in meine Stimme fließen. Sie klang tief und unmenschlich. »Sagen Sie mir, wo sie ist!«
Menschen beim Lügen zu ertappen war für mich ein Kinderspiel, völlig mühelos zu meistern. Jemanden zu zwingen, meine Fragen zu beantworten, war eine ganz andere Geschichte. Bis vor ein paar Monaten hatte ich nicht einmal gewusst, dass ich die Macht dazu besaß. Jeff Caldwells Verstand zu durchsuchen war, wie durch eine Kloake zu schwimmen. Er kämpfte gegen jeden meiner Schritte, während sein Wille panisch aufbegehrte und den eigenen Verstand aus Selbstschutz zu zerstören drohte. Die Kunst besteht nämlich nicht darin, einfach nur Informationen zu beschaffen, sondern seinen Geist so weit unversehrt zu lassen, dass er noch vor Gericht gestellt werden kann. Ich hatte sowieso bekommen, was ich wollte, und als ich das Gebäude von MII verließ, hatten sich bereits unzählige Polizeifahrzeuge mit eindringlichem Sirenengeheul die Capitol Street entlang aufgemacht.
Jeff Caldwell hatte mir meine gesamte Energie entzogen. Das Fahren kostete mich große Mühe, aber irgendwie schaffte ich es durch den berüchtigten Verkehr Houstons, bog auf die Straße zu unserem Haus ab und überfuhr fast ein Stoppschild. Das hätte durchaus ins Auge gehen können, denn an dieser Ecke hatten Lieferwagen die fiese Angewohnheit, so zu fahren, als ob keine anderen Fahrzeuge existierten.
Zum Glück kam mir heute niemand entgegen. Ich blickte trotzdem die Zufahrtsstraße entlang. Eine sechzig Zentimeter hohe stählerne Straßensperre mit dicken Stacheln blockierte den Zugang. Nach den Vertiefungen im Straßenpflaster zu urteilen, konnte sie in den Boden versenkt werden. Mit ein bisschen Blut und ein paar zerrissenen Klamotten auf den Stacheln würde das hier in jeden postapokalyptischen Film passen. Diese Sperre war vor ein paar Tagen noch nicht da gewesen. Es musste offensichtlich nach dem letzten Mal, als zwei Lastwagen kollidiert waren, zu einer ernsthaften Klage gekommen sein.
Ich gähnte und fuhr weiter. Fast zu Hause. Fast. Ich fuhr auf den Parkplatz vor unserem Lagerhaus und parkte meinen Mazda Minivan zwischen dem blauen Honda Element meiner Mutter und dem 2005er Ford Mustang von Bern. Der alte Civic meines Cousins war vor einem Monat einen grausamen Tod gestorben, als die Nachkommen zweier magischer Familien beschlossen, sich auf dem College-Parkplatz zu prügeln. Dabei hatten sie versucht, sich gegenseitig mit fünfhundert Pfund schweren, äußerst dekorativen Steinen aus der Landschaftsgestaltung zu zermalmen. Leider stellte sich heraus, dass sie ziemlich schlecht zielen konnten, und sie überlebten. Ihre Familien erstatteten uns und fünf weiteren Autobesitzern den entstandenen Schaden. Nun nahm ein metallisch-blaugrau schillernder Mustang den ehemaligen Platz des Civic ein.
Man hatte keine Anklage erhoben. Denn in unserer Welt war Magie die ultimative Macht. Wenn man sie besaß, stellte man plötzlich fest, dass die meisten Regeln nur für andere Leute galten.
Ich quälte mich aus dem Auto und gab den Zahlencode am Türschloss ein. Die schwere Tür klickte hörbar. Ich wuchtete sie auf, trat hinein und schloss sie hinter mir. Die vertrauten Bürowände, der schlichte beigefarbene Teppich und die Glaspaneele begrüßten mich.
Mein Zuhause.
Der Tag war vorbei. Endlich. Ich atmete tief durch und zog meine Schuhe aus. Bevor ich die Verkleidung als schottische Straßenräuberin angelegt hatte, war ich bei einem Klienten vorbeigefahren. Deswegen trug ich immer noch eines meiner. »Wir sind nicht arm«-Outfits. Ich besaß zwei teure Kostüme und zwei Paar passender High Heels, und ich hatte das erste getragen, als ich zu einem Kunden gegangen war, der sich vielleicht von angemessenem Aussehen beeindrucken ließ, und das zweite, als ich die Bezahlung einkassierte. Die Stöckelschuhe, die ich heute hatte anziehen müssen, sollten als Foltergeräte des Bösen verboten werden.
Jemand klopfte an die Tür.
Hatte ich mir das nur eingebildet?
Es klopfte erneut.
Ich drehte mich um und warf einen Blick auf den Monitor. Ein blonder Mann stand vor meiner Tür. Klein und kompakt, mit einem ernsten Gesicht und nachdenklichen blauen Augen, etwa Ende zwanzig. Er hielt eine braune Ledermappe mit Reißverschluss in seinen Händen. Cornelius Harrison von Haus Harrison.
Vor ein paar Monaten hatte Augustin mich dazu gebracht, nach Adam Pierce zu suchen, einem verrückten Pyrokinetiker mit perfektem Stammbaum. Cornelius war von seiner Familie gezwungen worden, die Rolle von Adams »Jugendfreund« zu spielen. Etwas, das er absolut verabscheut hatte. Cornelius hatte mir bei meiner Untersuchung geholfen. Seine ältere Schwester stand derzeit an der Spitze von Haus Harrison.
Der Cornelius, an den ich mich erinnerte, war sauber rasiert und sorgfältig gekleidet. Dieser Cornelius war zwar noch gut angezogen, aber seine Wangen waren von Stoppeln überzogen, und dunkle Ringe umschatteten seine Augen, als ob er etwas gesehen hätte, das ihn bis ins Mark getroffen und zutiefst erschüttert hatte.
Ein kleines Mädchen stand neben ihm und trug einen kleinen Sailor Moon-Rucksack. Sie musste ungefähr drei oder vier Jahre alt sein. Sie hatte dunkle Haare, und ihre Augen zeigten asiatische Ursprünge, aber ihre Gesichtszüge erinnerten mich an Cornelius. Diese ernsten, prüfenden Blicke waren absolut identisch. Ich wusste, dass er eine Tochter hatte, aber ich hatte sie nie kennengelernt. Ein großer Dobermann saß neben dem Mädchen, so groß wie das Kind selbst.
Was konnte ein Mitglied von Houstons magischer Elite von mir wollen? Was auch immer es war, es konnte nichts Gutes verheißen. Baylor Investigative Agency war auf kleine, unscheinbare Ermittlungen spezialisiert. Im Gegensatz zu allen Privatdetektivromanen klopften weder wunderschöne Witwen auf der Suche nach dem Mörder ihres Mannes noch milliardenschwere Junggesellen mit vermissten Schwestern regelmäßig an unsere Bürotür. Versicherungsbetrug, untreue Ehepartner und Hintergrundüberprüfungen waren unser täglich Brot. Bitte lass es keine untreue Ehefrau sein! Es machte die Dinge unglaublich kompliziert, wenn es um Kinder ging.
Ich öffnete die Tür. »Mr Harrison. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Abend«, sagte Cornelius mit leiser Stimme. Sein Blick richtete sich auf die Schuhe in meiner Hand und suchte dann wieder mein Gesicht. »Ich brauche Ihre Hilfe. Augustin sagte, ich könnte vorbeikommen.«
Augustin … Oh! Cornelius war also der Klient, den Montgomery für mich bestellt hatte.
»Kommen Sie rein, bitte.«
Ich ließ sie herein und schloss die Tür.
»Du musst Matilda sein.« Ich lächelte das kleine Mädchen an.
Sie nickte.
»Ist das dein Hund?«
Sie nickte wieder.
»Wie ist sein Name?«
»Bunny«, sagte sie mit leiser Stimme.
Bunny musterte mich mit der Art von Misstrauen, die man normalerweise Klapperschlangen vorbehielt. Cornelius war ein Tiermagier, eine seltene Art von Magie, und das bedeutete, dass Bunny kein Hund war. Er entsprach eher einem geladenen Sturmgewehr, das in meine Richtung zeigte.
»Er kann lächeln«, warf Matilda ein. »Lächle, Bunny!«
Bunny zeigte mir eine endlos scheinende Reihe strahlend weißer Reißzähne. Ich widerstand dem Verlangen, mehrere Schritte zurückzuweichen.
»Gibt es einen Raum, wo Matilda warten kann, während wir uns unterhalten?«, fragte Cornelius.
»Natürlich. Hier entlang, bitte.«
Ich öffnete die Tür zu einem Konferenzraum und schaltete das Licht an. Matilda nahm ihren Rucksack ab, legte ihn auf den Tisch und kletterte dann auf den nächsten Stuhl. Sie öffnete ihre Tasche und fischte ein Tablet, ein Malbuch und einige Filzstifte heraus.
Bunny nahm zu Matildas Füßen Platz und warf mir einen bösen Blick zu.
»Möchtest du einen Saft?« Ich öffnete den kleinen Kühlschrank. »Ich habe Apfel oder Kiwi-Erdbeere.«
»Apfel, bitte.«
Ich reichte ihr das Trinkpäckchen.
»Danke!«
Da war etwas seltsam Erwachsenes an der Art, wie sie sich verhielt. Wenn Cornelius so als Kind gewesen war, mussten ihn Adam Pierce und sein Chaos verrückt gemacht haben. Kein Wunder, dass er sich von beiden Häusern distanziert hatte.
»Haben Sie viele Kunden mit Kindern?«, fragte Cornelius.
»Nur ein paar, und die Trinkpäckchen gehören mir. Ich verstecke sie hier vor meinen Schwestern. Das ist der einzige Ort, an dem sie nicht geklaut werden. Lassen Sie uns in meinem Büro reden.«
Ich führte Cornelius über den Flur zu meinem Büro, und der Anblick, der mich dort erwartete, ließ mich fast explodieren. Eine Seite aus dem Bridal-Magazin klebte an meiner Glastür. Auf ihr war eine Frau in einem spektakulären Kleid mit langen weißen Federn zu sehen. Jemand – wahrscheinlich Arabella – hatte meinen Kopf aus irgendeinem Selfie herausgeschnitten und ihn über den der Braut geklebt. Ein großes Herz, mit rosa Marker gezeichnet und mit Glitzer bestreut, schmückte das Brautkleid. In das Herz hatte jemand N+R = BIG LOVE geschrieben. Kleine rosa Herzen schwebten um mein Gesicht.
Das vermutlich beste Beispiel, um einen ersten guten Eindruck zu hinterlassen. Ich wünschte mir in diesem Augenblick, dass sich der Boden unter mir auftun und mich verschlingen möge.
Durch die Glastür war ein weiteres Brautfoto zu erkennen, das mit glitzernden Dollarzeichen geschmückt auf meinem Schreibtisch stand. Mit äußerster Sorgfalt hatte Catalina große Blockbuchstaben auf das Brautkleid geschrieben: Heirate ihn! Wir brauchen Geld fürs College.
Ich musste meine Schwestern umbringen. Es gab einfach keine andere Möglichkeit. Keine Geschworenen dieser Welt würden mich für so etwas verurteilen. Ich könnte mich selbst vor Gericht vertreten und würde trotzdem gewinnen.
Ich zog das Foto vom Glas ab und öffnete meine Bürotür. »Bitte.«
Cornelius ließ sich in einem der beiden Stühle für Klienten nieder. Ich nahm das zweite Foto vom Schreibtisch, zerknüllte beide und warf sie in den Müll.
»Heiraten Sie bald?«, fragte Cornelius.
»Nein.«
R stand für Rogan. Connor Rogan, nur dass ihn niemand so nannte. Sie nannten ihn Mad Rogan, die Geißel Mexikos, den Schlächter von Merida, der Mann, der die Innenstadt von Houston beinahe dem Erdboden gleichgemacht hatte, um die ganze Stadt zu retten. Mad Rogan und der Rest der Menschheit würden nie so richtig warm miteinander werden. Er zerteilte Gebäude in zwei Hälften, warf Busse wie Baseballs in der Gegend herum, und als er und ich mit Adam Pierce fertig gewesen waren, hatte er mich gebeten, seine … Geliebte zu werden. Es bedurfte meines ganzen Willens, sein Angebot abzulehnen. Sogar jetzt, als ich an ihn dachte, schoss mein Puls in die Höhe. Leider war meine Großmutter Zeuge unseres Abschiedskampfes gewesen und hatte mich wissen lassen, dass wir ohnehin früher oder später heiraten würden. Diese Tatsache hatte sie meinen beiden Schwestern und den beiden Cousins mitgeteilt, und da drei von ihnen unter achtzehn waren, nahmen ihre Sticheleien kein Ende.
»Kaffee? Tee?«, fragte ich.
»Nein, danke.«
Wenn ich meine Augen schloss, kam die Erinnerung an Mad Rogan zurück, wie er in meinem Büro stand. Ich konnte seine Hände auf meiner Haut spüren. Ich wusste noch genau, wie er schmeckte. Diesem Gedanken schlug ich so hart die Tür ins Gesicht, dass mein ganzer Schädel klapperte. Rogan und ich waren Geschichte, bevor überhaupt irgendetwas hatte geschehen können.
Ich nahm Platz und versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich über Cornelius wusste. Er hatte sich von seinem Haus distanziert und war aus dessen Territorium in eine sehr komfortable, aber für die Standards des Hauses bescheidene Residenz gezogen. Er war Hausmann, während seine Frau irgendwo arbeitete – ich hatte keine Ahnung, wo. Er verabscheute die ganze Familie Pierce. Das war so ziemlich alles.
»Warum erzählen Sie mir nicht von Ihrem Problem, und ich kann Ihnen sagen, ob wir in der Lage sind, eine Lösung dafür zu finden.«
»Meine Frau wurde am Dienstagabend ermordet.«
Oh mein Gott! »Das tut mir sehr leid!«
Cornelius rutschte tiefer auf seinem Stuhl. Seine hohlen Augen starrten mich ausdruckslos an. Seine Worte schwebten zwischen uns in der Luft, unauslöschlich.
»Wie ist es passiert?«
»Meine Frau ist … war bei Haus Forsberg angestellt.«
»Forsberg Investigative Services?«
»Ja. Sie gehörte zu den Anwälten in ihrer Rechtsabteilung.«
Die Anzahl an Privatdetekteien war klein, und man lernte seine Konkurrenten schnell kennen. Full-Service-Dienstleister – und vor allem Schwergewichte – wie Augustins MII waren selten. Die meisten von uns spezialisierten sich, und Matthias Forsbergs Firma konzentrierte sich auf die Verhinderung von Wirtschaftsspionage, was bedeutete, dass sie Wanzen aufspürten, Informationssicherheits-Audits und Risikobewertungen durchführten. Gerüchten zufolge wechselte Forsbergs Firma schon mal die Seiten, wenn die Bezahlung stimmte, und tat all die Dinge, vor denen sie Klienten eigentlich schützen sollte. Hin und wieder hörte man auch, dass jemand sie vor Gericht bringen wollte. Aber bis heute war kein einziger Streitfall ins Licht der Öffentlichkeit geraten, was bedeutete, dass Haus Forsberg eine solide Rechtsabteilung besaß.
»Am Dienstagabend rief meine Frau um halb zehn an, um mir zu sagen, dass sie länger arbeiten würde.« Cornelius sprach mit tonloser Stimme. »Um elf Uhr betrat sie mit drei anderen Anwälten ihrer Abteilung das Hotel Sha Sha – und sie verließen es in Leichensäcken. Es gibt feststehende Abläufe, wie Dinge zu regeln sind, wenn jemand im Dienste eines Hauses stirbt. Als ich heute Morgen Haus Forsberg kontaktierte, wurde mir gesagt, dass der Tod meiner Frau eine Privatangelegenheit sei, die nichts mit ihrem Job zu tun hätte.«
»Was lässt Sie glauben, dass es doch damit zu tun hat?« Das Hotel Sha Sha war ein teures Boutique-Hotel an der Main Street. Es war klein, privat und vornehm genug, um einem geheimen Treffen den nötigen Glanz zu verleihen, ohne dass man direkt bankrottgehen musste. Ich hatte mehr als nur einen untreuen Ehemann bis dorthin verfolgt.
»Ich mag kein Hochbegabter sein, aber ich bin immer noch ein Begabter und Mitglied eines Hauses. Wenn ich um Informationen bitte, bekomme ich sie.« Cornelius griff in die Mappe und reichte mir ein Blatt Papier. »Jemand hat zweiundzwanzigmal auf Nari geschossen. Ihr Körper« – seine Stimme zitterte –, »ihr Körper war von Kugeln durchsiebt.«
Ich überflog den Bericht des Gerichtsmediziners. Nari Harrisons Körper wies sowohl an der linken als auch an der rechten Körperseite Schusswunden auf. Diese Treffer hatten gleichzeitig geschehen müssen, denn die Geschossflugbahn änderte sich, wenn das Opfer zu Boden fiel. Zwei der Schusswunden befanden sich auf ihrer Stirn. Der Gerichtsmediziner hatte angemerkt, dass auf ihrem Gesicht Schießpulverpigmentierungen zu finden waren. An den Rand des Berichts hatte jemand etwas hingekritzelt, als ob diese Person nicht viel Zeit gehabt hätte. HK 4.6 x 30 mm. Spuren von PPTA. Schießpulverpigmentierung, dreißig bis fünfundvierzig Zentimeter.
In meiner Brust machte sich ein schreckliches Gefühl breit, als ob sich unter meinem Herzen eine schwere kalte Kugel bildete, die mit jeder Sekunde weiter anwuchs. »Wer hat diese Notizen gemacht?«
»Der Detective, der für diesen Fall zuständig ist. Das ist alles, was er mir geben konnte, und es brauchte ziemlich viel, um es überhaupt zu bekommen.«
»Hat er Ihnen die Notizen erklärt?«
Cornelius schüttelte den Kopf.
Die Frau, die er liebte, war tot. Jetzt sollte ich ihm von Angesicht zu Angesicht erläutern, wie sie genau gestorben war.
Ich atmete tief durch, um meine Stimme wieder in den Griff zu bekommen. Er war zu mir gekommen, um meinen professionellen Rat einzuholen. Ich musste ihm sagen, was meiner Meinung nach geschehen war.
»Ihre Frau wurde aus einer Heckler & Koch MP7 mit Munition von hoher Durchschlagskraft beschossen. Eine brutale Waffe, die für die deutsche Armee und die Anti-Terror-Abteilungen der deutschen Polizei und speziell für den Durchschlag von schusssicheren Westen entwickelt wurde. Sie ist für militärische Zwecke gedacht. Das Muster der Schusswunden deutet darauf hin, dass sich ihre Frau in der Mitte zweier sich kreuzender Schussfelder befunden hat.«
Ich nahm mir einen Kaffeebecher mit einem kleinen Kätzchen darauf und stellte ihn in die Mitte des Schreibtisches, schnappte mir zwei Stifte und legte sie diagonal vor den Becher, einen nach links, den anderen nach rechts weisend.
»PPTA steht für Polyphenylenterephthalamide, also Aramidfasern. Sie trug eine schusssichere Weste.«
»Das ergibt keinen Sinn.« Cornelius starrte mich an. »Sie hat eine kugelsichere Weste getragen, ist aber trotzdem gestorben.«
»Ja. In Romanen schützen schusssichere Westen vor allem. In Wirklichkeit sind sie aber nur durchschusshemmend. Die Westen sind in verschiedenen Schutzstufen erhältlich. Ihre Frau trug wahrscheinlich eine Weste des Level III, was bedeutet, dass sie mehrere Kugeln des Kalibers 7,62 mm überstanden hätte. Aber selbst wenn man eine kugelsichere Weste trägt, fühlt sich jeder Treffer an, als ob man mit einem Vorschlaghammer Bekanntschaft machen würde. Im Fall ihrer Frau wurde ihr Körper mehrfach von Geschossen aus einer Waffe getroffen, die als ›Persönliche Verteidigungswaffe‹ für den militärischen Einsatz und das Durchschlagen kugelsicherer Westen konzipiert wurde. Sie war sofort tot.« Zumindest das konnte ich ihm mit Bestimmtheit sagen.
Er schien keinen Trost daraus zu schöpfen.
Ich musste weiterreden. Ich hatte damit angefangen, also musste ich es auch zu Ende bringen. »Schießpulverpigmentierungen treten auf, wenn jemand aus nächster Nähe erschossen wird und sich Pulverreste auf der Haut des Opfers ablagern. Dazu gehören Verbrennungen, Rußspuren, kleine Löcher und Risse in den oberen Hautschichten, wenn die Pistole nahe genug abgefeuert wurde.«
Er hatte seine rechte Hand zur Faust geballt. Die Knöchel seiner Hand waren weiß. Er stellte sich wahrscheinlich Naris Gesicht vor.
»Laut diesem Bericht hat jemand Ihrer Frau zwei Kugeln in die Stirn gejagt, nachdem sie bereits tot war und auf dem Boden lag. Der Detective schätzte den Abstand auf dreißig bis fünfzig Zentimeter.« Exakt der Abstand, wenn jemand eine Heckler & Koch gerade nach unten hielt.
»Warum? Sie war schon tot.«
»Weil die Leute, die das getan haben, gut ausgebildet und gründlich waren. Wenn wir die Berichte über die anderen drei Anwälte bekommen, ist es sehr wahrscheinlich, dass ihnen auch in den Kopf geschossen wurde. Eine Gruppe von Leuten überfiel ihre Frau und ihre Kollegen, tötete sie mit militärischer Präzision und blieb noch lange genug vor Ort, um durch dieses Schlachtfeld zu spazieren und zwei Kugeln in den Kopf jedes Anwesenden zu jagen, nur um sicherzustellen, dass es keine Überlebenden gibt. Das haben sie mitten in Houston getan, sie haben sich nicht bemüht, unauffällig zu sein, und sie sind damit durchgekommen. Das war nicht nur eine professionelle Hinrichtung. Das war eine Nachricht.«
»Wir sind stärker als ihr. Wir können das jederzeit und überall mit jedem von euch machen«, sagte Cornelius leise.
»Genau.«
Er verstand die Machenschaften der Häuser besser als ich. Den größten Teil seines Lebens hatte er sie aus der ersten Reihe beobachtet.
»Mr Harrison, Sie sind hierhergekommen, um meine Meinung einzuholen. Lege ich zugrunde, was Sie mir gesagt haben, dann glaube ich, dass Haus Forsberg darin verwickelt ist. Wir wissen nicht, ob Ihre Frau …«
»Nari«, sagte er. »Ihr Name ist Nari.«
»Wir wissen nicht, ob Nari im Interesse des Hauses oder diesem zuwidergehandelt hat. Wir wissen, dass Haus Forsberg so tut, als ob nichts passiert wäre. Was entweder bedeutet, dass man Ihre Frau und die anderen zur Warnung getötet hat. Oder, dass das Haus die Nachricht der Mörder verstanden hat und sie ihm gehörig Angst einjagt. Ich empfehle Ihnen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
Cornelius hatte alle Muskeln seines Gesichts so fest angespannt, dass seine Haut beinah zerriss. »Das ist mir nicht möglich.«
Er würde das nicht überleben, das musste ich ihm ausreden. Ich lehnte mich vor. »Das ist ein Krieg zwischen Häusern. Beim letzten Mal haben Sie mir erzählt, dass Sie sich absichtlich von Ihrem Haus distanziert haben. Dass Sie Ihre Familie lieben, aber dass Sie von ihr benutzt worden sind und Ihnen das ganz und gar nicht gefallen hat.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, erwiderte er.
»Hat sich das geändert? Wird Ihnen Ihr Haus helfen?«
»Nein. Selbst wenn sie es vorhätten, sind unsere Ressourcen begrenzt. Haus Harrison ist nicht ohne Mittel, aber meine Familie ist sehr zurückhaltend, wenn es um solche Auseinandersetzungen geht, besonders in meinem Fall. Ich bin das jüngste Kind und kein Hochbegabter. Ich bin nicht notwendig für die Zukunft des Hauses. Wenn es um meinen Bruder oder meine Schwester ginge, lägen die Dinge vielleicht anders.«
Er sprach diese Worte ganz nüchtern aus. Meine Familie würde alles für mich tun. Wenn ich in einem brennenden Haus gefangen wäre, würde jeder Einzelne von ihnen, einschließlich meiner Schwestern und Cousins, dort hineinlaufen und versuchen, mich zu retten. Cornelius’ Frau war tot, und seine Familie würde nichts tun. Das war so ungerecht.
»Es liegt allein an mir«, sagte er.
Ich senkte meine Stimme. »Sie haben nicht die Mittel, um diesen Krieg zu führen. Ihre Tochter sitzt nebenan. Sie hat bereits ihre Mutter verloren. Wollen Sie wirklich, dass sie auch noch ihren Vater verliert? Sie sind der Einzige, den sie noch hat. Was passiert mit ihr, wenn Sie sterben? Wer wird sich um sie kümmern?«
»Ich könnte auch in den nächsten zehn Sekunden eine Gehirnblutung bekommen. Sollte das passieren, werden Naris Eltern Matilda großziehen. Meine Schwester hat meine Tochter nicht mehr gesehen, seit sie ein Jahr alt war. Mein Bruder hat seine Nichte nie getroffen. Keiner von ihnen ist verheiratet. Sie wären kein guter Ersatz.«
»Cornelius …«
»Wenn Sie vorhaben, mir zu sagen, dass man sich durch Rache nicht besser fühlt …«
»Das kommt auf die Rache an«, sagte ich. »Adam Pierce eine zu verpassen war einer der schönsten Augenblicke meines Lebens. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, zaubert es mir ein Lächeln ins Gesicht. Aber Rache hat ihren Preis. Meine Großmutter ist fast verbrannt. Mein ältester Cousin wäre beim Zusammenbruch der Innenstadt fast gestorben. Ich selbst hätte ein halbes Dutzend Mal fast ins Gras gebissen. In diesem Fall wird der Preis zu hoch sein.«
»Das entscheide ich.«
Er warf mir einen stählernen Blick zu. Er würde nicht klein beigeben.
Ich lehnte mich zurück. »Nun gut. Aber Sie müssen jemand anders finden, der Ihnen bei dieser Selbstmordmission hilft.«
»Ich hätte gerne Ihre Unterstützung«, warf er ein.
»Nein. Auch wenn Sie anscheinend Ihr Leben gern möglichst schnell beenden möchten, werde ich Sie nicht noch bei dieser Selbstmordaktion unterstützen. Außerdem ist die Baylor Investigative Agency eine sehr kleine Firma. Wir sind auf risikoarme Aufträge spezialisiert. Ich bin für eine solche Aufgabe nicht qualifiziert.«
Er zeigte auf den Bericht des Gerichtsmediziners. »Sie scheinen mir sehr qualifiziert zu sein.«
»Ich kenne mich mit Waffen aus, Mr Harrison, weil ich mütterlicherseits in der Tradition einer Soldatenfamilie stehe. Meine Mutter und meine Großmutter sind beide Veteranen. Das bedeutet nicht, dass ich in der Lage bin, einen solchen Auftrag zu übernehmen. Engagieren Sie jemand anders.«
»Wen?«
»Augustin.«
»Ich habe bereits mit Augustin gesprochen. Er war so freundlich, offen zu mir zu sein. Mit dem Geld, das mir zur Verfügung steht, kann ich mir keine vollständigen Ermittlungen leisten. Mit meinem Geld kann ich mir die ein oder andere Überwachung und die Gewissenhaftigkeit seiner Leute kaufen, aber es ist nicht lukrativ genug für ihn, sein ganzes Team für mich einzusetzen. Selbst wenn er das täte, ist das Haus Forsberg bestens auf die üblichen Sachen vorbereitet. Die Konsequenz wären langwierige, teure Ermittlungen, und mir würde das Geld ausgehen, bevor wir irgendwelche Ergebnisse in Händen hielten. Laut Augustin sind Sie in der Lage, mit sehr unkonventionellen Ansätzen zu arbeiten. Er betonte außerdem, dass Sie kompetent, professionell und ehrlich seien und über gute Instinkte verfügten, wenn es um Menschen geht.«
Danke, Augustin! »Nein.«
»Meine Gelder reichen für MII nicht aus, aber sie erlauben mir, einem kleineren Unternehmen ein sehr attraktives Angebot zu machen.«
»Die Antwort lautet Nein.«
»Ich habe unser Haus verpfändet.«
Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen.
»Ich kann Ihnen heute eine Million zahlen. Eine weitere Million, wenn Sie mir erklären, warum meine Frau ermordet wurde und wer dafür verantwortlich ist.«
Auf keinen Fall. »Auf Wiedersehen, Mr Harrison!«
»Meine Frau ist tot.« Seine Gefühle drohten ihn zu überwältigen, und seine Stimme zitterte. Tränen standen ihm in den Augen. »Sie war mein Licht. Sie fand mich in der dunkelsten Zeit meines Lebens und sah etwas in mir … Sie glaubte, ich könnte ein besserer Mann sein. Ich habe sie nicht verdient und auch nicht das Glück, das wir teilten. Sie hat mich geliebt, Nevada. Nari liebte mich so sehr, trotz meiner Fehler. Und ich war der glücklichste Mann auf Erden, denn wenn ich morgens meine Augen öffnete, habe ich sie neben mir gesehen. Sie war ein anständiger Mensch. Sie war freundlich und intelligent und gab ihr Bestes, damit diese Welt ein besserer Ort für unser Kind sein würde. Sie hat das nicht verdient. Sie hätte glücklich sein sollen. Sie hätte ein erfülltes und langes Leben führen sollen. Niemand hatte das Recht, ihr das zu nehmen.«
Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und Trauer. Ich versuchte alles, um nicht zu weinen.
»Ich habe ihre Entschlossenheit geliebt. Ihre Tatkraft. Ich bin stolz, Naris Ehemann gewesen zu sein. Und jetzt ist sie tot. Jemand hat diesem wundervollen Menschen einfach das Leben genommen. Ich habe sie im Leichenschauhaus gesehen. Sie war so kalt und so leblos, als ob sie nie existiert hätte. Jetzt gibt es nichts mehr, außer unserer Tochter und meinen Erinnerungen. Ich muss mich bemühen, der Mann zu sein, für den Nari mich hielt. Wenn meine Tochter erwachsen ist, wird sie mich fragen, warum ihre Mutter ermordet wurde, und ich muss ihr antworten können. Ich muss für meine Taten Rechenschaft ablegen. Ich will ihr sagen können, dass ich die Verantwortlichen gefunden und dafür gesorgt habe, dass sie niemanden mehr verletzen konnten.«
Er wischte sich mit einer wütenden Handbewegung Tränen aus den Augen. »Niemand sonst wird sich darum kümmern. Ihre Familie hat nicht die Mittel, meine Familie kümmert es nicht, und ihr Arbeitgeber könnte seine Finger im Spiel haben. Es gibt nur mich. Werden Sie mir helfen? Bitte!«
Er verstummte. Er saß hier und bat mich um Hilfe, und ich konnte ihn nicht aus meinem Büro werfen. Ich konnte einfach nicht. Ich musste daran denken, wie Mom unser Haus verkauft hatte, um Dads Rechnungen zu bezahlen. Wie wir das Geschäft verpfändeten und ihm nichts davon sagten, denn das hätte ihn schneller umgebracht als jede Krankheit. Wenn jemand, den ich liebte, ermordet würde, täte ich dasselbe wie Cornelius. Er konnte sich an niemanden wenden. Wenn ich ihm jetzt noch die Tür vor der Nase zuschlug, würde ich meinem Spiegelbild nie wieder in die Augen sehen können.
Ich griff in die oberste Schublade meines Schreibtisches und nahm die blaue Mappe heraus, die Neukunden vorbehalten war. Ich legte sie aufgeschlagen vor ihm hin und notierte »$ 50 000« auf der ersten Seite. »Das ist mein Vorschuss. Das Geld verbleibt bei der Agentur, egal, was passiert. Das ist nicht verhandelbar.« Ich benutzte meinen Stift, um die unterste Zahl auf der rechten Seite zu umkreisen. »Das sind unsere Preise. Dieser Job ist wahrscheinlich sehr risikoreich, sodass hier die höchste Preisstufe gilt. Wie Sie sehen, handelt es sich um einen Tages- und nicht um einen Stundensatz. Je nach Situation muss ich ihnen Gefahrenzulagen oder zusätzliche Kosten in Rechnung stellen. Der Vorschuss funktioniert dabei wie eine Selbstbeteiligung. Sobald der Ihnen in Rechnung gestellte Betrag diesen übersteigt, werden Sie zusätzliche Zahlungen in Raten von zehntausend Dollar leisten. Nachdem wir hier fertig sind, ist es gut, wenn Sie direkt zur Bank gehen und mindestens zwanzigtausend Dollar in bar abheben. Wir müssen wahrscheinlich Leute bestechen …«
»Vielen Dank!«
»Das ist wirklich eine schlechte Idee. Bitte überlegen Sie es sich noch mal!«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Ich führte ihn durch die Datenschutzbestimmungen und ließ ihn alle Verzichtserklärungen unterschreiben. »Was passiert, wenn wir den Verantwortlichen gefunden haben?«
»Von diesem Zeitpunkt an kümmere ich mich um alles.«
»Das heißt, Sie bringen den Mörder Ihrer Frau um.«
»So regeln es die Häuser«, sagte Cornelius.
»Nun, ich bin kein Mitglied eines Hauses. Ich bin bloß jemand mit einer Familie, der versucht, die Gesetze dieses Landes zu respektieren und zu befolgen. Ich werde nicht zögern, Sie oder mich selbst zu verteidigen. Aber ich werde keinen Mord dulden.«
»Verstanden«, sagte Cornelius. »Wie fangen wir an?«
»Ich muss mit Matthias Forsberg sprechen können. Ich brauche Zeit von Angesicht zu Angesicht, damit ich ihm ein paar Fragen stellen kann. Ich kann morgen die nötigen Anrufe tätigen, aber er wird sich weigern, mich zu sehen.«
»Sie verfügen nicht über den nötigen Status, und Sie arbeiten für seine Konkurrenz.« Cornelius nickte. »Matthias ist ein aktiver Teilnehmer der Kongregation. Er verpasst nie eine Sitzung. Morgen ist der fünfzehnte Dezember. Die Sitzung beginnt um neun Uhr.«
»Ich habe keinen Zutritt zur Kongregation.« Die Kongregation war die inoffizielle Exekutive, die die magisch Begabten auf staatlicher und nationaler Ebene regierte. Die Kongregation des Staates Texas trat in Houston zusammen. Eine Familie musste im Laufe dreier Generationen mindestens zwei hochbegabte Magier hervorgebracht haben, um als Haus angesehen zu werden, und jedes Haus verfügte nur über einen Sitz. Eigentlich hatte die Kongregation keinen Einfluss auf die US-Regierung, aber wenn die Häuser gemeinsam ihre Positionen vertraten, schenkten ihr sowohl der Kongress als auch das Weiße Haus Beachtung.
»Der Familienname muss ja einmal für etwas gut sein, oder?« Cornelius lächelte, aber es war ein freudloses Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reichte. »Als Begabter und Spross eines Hauses liegt es mir frei, an der Kongregation teilzunehmen und einen Begleiter meiner Wahl mitzubringen. Ich beabsichtige, aktiv an dieser Ermittlung beteiligt zu sein, Ms Baylor.«
»Nennen sie mich Nevada«, sagte ich zu ihm. »Gut. Dann treffen wir uns hier, morgen um sieben.«
Cornelius und Matilda waren gegangen und hatten Höllenhund Bunny mitgenommen. Ich saß noch eine Weile an meinem Schreibtisch, lange genug, um eine kurze E-Mail mit den Namen aller Beteiligten und einer kurzen Beschreibung des Geschehens an Bern zu verfassen, dann atmete ich tief ein und langsam wieder aus. Diesen Fall meiner Familie beizubringen würde ziemlich schwer werden. Vielleicht enterbte mich meine Mutter sogar.
Ich angelte die Dollarzeichenbraut aus dem Müll, strich sie so gut ich konnte glatt und steckte sie und den Bericht des Gerichtsmediziners in eine braune Mappe. Dieser Job würde die ganze Familie betreffen. Sie hatten das Recht zu erfahren, welches Risiko wir eingingen. Außerdem hatte die Erfahrung immer wieder gezeigt, dass Geheimnisse innerhalb meiner Familie nicht lange geheim blieben. Früher oder später kam alles ans Licht, und dann gab es höllischen Zoff und jede Menge verletzte Gefühle.
Ich stopfte mir die Mappe unter den Arm und schnappte mir mein Buch, Hexologie von Stahl. Vor ein paar Wochen war in einem gepolsterten gelben Umschlag ein Bücherpaket abgeliefert worden, insgesamt sechs Bände, die sich mit Zaubersprüchen, arkanen Kreisen und magischer Theorie beschäftigen. Auf einem schlichten rechteckigen Etikett hatte nur ein Wort gestanden – Nevada. Ich verhörte meine gesamte Familie, ohne einen einzigen Anhaltspunkt zu entdecken. Sie wussten nicht, woher die Bücher kamen, sie hatten sie nicht bestellt, und sie hatten auch keine Ahnung, wer es getan haben könnte, überboten sich aber gegenseitig in den wildesten Theorien.