Autor
James Patterson, geboren 1947, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Auch die Romane seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women's Murder Club« erreichen regelmäßig die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N.Y.
Nichts fängt je dort an, wo wir glauben, es würde beginnen. Deshalb fängt es jetzt auch nicht mit dem brutalen und feigen Mord an einer FBI-Agentin an, die Betsey Cavalierre hieß. Ich glaubte nur, dass dies so wäre. Mein Fehler, und ein wirklich großer und schmerzlicher Fehler.
Ich kam mitten in der Nacht zu Betseys Haus in Woodbridge, Virginia. Ich war noch nie zuvor dort gewesen, aber ich hatte keine Probleme, es zu finden. Das FBI und Notarztteams waren bereits dort. Rote und gelbe Lichter blitzten. Sie schienen den Rasen und die vordere Veranda mit grellen, gefährlichen Streifen zu bemalen.
Ich holte tief Luft und ging hinein. Mein Gleichgewichtssinn war gestört. Mir war schwindlig. Ich grüßte eine große blonde FBI-Agentin. Sie hieß Sandy Hammonds, und ich kannte sie. Sandy hatte offensichtlich geweint. Sie war eine Freundin von Betsey.
Auf dem Tisch in der Diele sah ich Betseys Dienstwaffe. Neben dem Revolver lag eine Notiz, die sie erinnern sollte, wann die nächste Qualifikationsschießübung auf dem Schießstand des FBI stattfand.
Ich zwang mich, den langen Korridor hinunterzugehen, der vom Wohnzimmer in den hinteren Teil des Hauses führte. Das Haus schien hundert Jahre alt zu sein und war voll gestopft mit ländlichem Nippes, den sie geliebt hatte. Das große Schlafzimmer befand sich am Ende des Korridors.
Instinktiv wusste ich, dass der Mord dort geschehen war. FBI-Techniker und die örtliche Polizei schwärmten um die offene Tür wie wütende Wespen neben ihrem bedrohten Nest. Im Haus war es eigenartig gespenstisch still. Das hier war so schlimm, wie es nur sein kann oder je sein wird.
Wieder war einer meiner Partner tot.
Der Zweite, innerhalb von zwei Jahren brutal ermordet.
Und Betsey war viel mehr als nur eine Partnerin gewesen.
Wie konnte das geschehen? Was hatte es zu bedeuten?
Ich sah Betseys kleinen Körper auf dem Parkett liegen. Mir wurde eiskalt. Ich schlug die Hände vors Gesicht, ein Reflex, den ich nicht zu kontrollieren vermochte.
Der Mörder hatte ihr das Nachthemd ausgezogen. Ich sah es nirgendwo im Schlafzimmer. Die untere Körperhälfte war mit Blut beschmiert. Er hatte ein Messer benutzt und hatte Betsey bestraft. Verzweifelt wollte ich sie zudecken, aber ich wusste, dass ich das nicht durfte.
Betseys braune Augen starrten zu mir herauf, aber sie sah nichts mehr. Ich erinnerte mich, wie ich diese Augen und dieses Gesicht geküsst hatte. Ich erinnerte mich an Betseys Lachen, hoch und melodisch. Ich stand eine Zeit lang da und betrauerte Betsey. Sie fehlte mir schrecklich. Ich wollte mich abwenden, aber ich tat es nicht. Ich konnte sie nicht einfach so zurücklassen.
Da stand ich nun im Schlafzimmer und zermarterte mir das Gehirn über einen vergleichbaren Mord wie den an Betsey. Da klingelte das Handy in meiner Jackentasche. Ich holte es heraus, zögerte aber. Ich wollte mit niemandem sprechen.
»Alex Cross«, sagte ich schließlich.
Ich hörte eine künstlich verzerrte Stimme, die mir durch Mark und Bein ging. Unwillkürlich überlief mich ein kalter Schauder.
»Ich weiß, wer das ist, und ich weiß sogar, wo Sie jetzt sind. Bei der armen, lieben, abgeschlachteten Betsey. Kommen Sie sich ein wenig wie eine Marionette an der Schnur vor, Detective? Das sollten Sie«, sagte das Superhirn. »Denn genau das sind Sie. Tatsache ist, dass Sie meine Lieblingsmarionette sind.«
»Warum haben Sie sie getötet?«, fragte ich das Ungeheuer. »Das war doch unnötig.«
Superhirn stieß ein mechanisches Lachen aus. In meinem Nacken stellten sich die Haare auf. »Das herauszufinden, dürfte für Sie nicht allzu schwierig sein, richtig? Sie sind doch der berühmte Detective Alex Cross. An Ihrem Gürtel hängen doch die Trophäen all dieser großen Fälle. Sie haben Gary Soneji zur Strecke gebracht, Casanova. Sie haben Jack und Jill gelöst. Mein Gott, Sie sind beeindruckend.«
»Warum kommen Sie nicht hierher, um mich zu erledigen?«, fragte ich mit leiser Stimme. » Wie wär’s mit heute Abend? Wie Sie sagten, wissen Sie ja, wo ich bin.«
Wieder lachte das Superhirn. Diesmal leiser. »Wie wär’s, wenn ich Ihre Großmutter und Ihre drei Kinder heute Abend umbrächte? Ich weiß nämlich auch, wo die sind. Sie haben Ihren Partner dort zurückgelassen, nicht wahr? Glauben Sie etwa, er könnte mich aufhalten? John Sampson hat gegen mich keine Chance.«
Ich schaltete das Handy ab und lief aus dem Haus in Woodbridge. Sofort rief ich Sampson in Washington an. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Bei euch alles okay?«, fragte ich atemlos.
»Alles bestens, Alex, keine Probleme. Aber du klingst nicht besonders gut. Was ist los? Was ist passiert?«
»Er hat gesagt, er wollte dich, Nana und die Kinder umbringen«, sagte ich. »Superhirn.«
»Das wird nicht passieren, mein Lieber. An mir kommt keiner vorbei. Ich hoffe sogar, dass er es probiert.«
»Sei vorsichtig, John. Ich komme zurück nach Washington, jetzt gleich. Bitte, sei vorsichtig. Er ist wahnsinnig. Er hat Betsey nicht nur ermordet, sondern auch abscheulich geschändet.«
Ich beendete das Telefonat mit Sampson und rannte zu meinem alten Porsche.
Wieder klingelte das Handy, noch ehe ich den Wagen erreicht hatte.
»Cross«, meldete ich mich und rannte weiter. Ich klemmte das Handy zwischen Kinn und Ohr.
Er war es wieder. Jetzt lachte er manisch wie ein Geisteskranker. »Sie können sich entspannen, Dr. Cross. Ich höre, wie schwer Sie atmen. Heute Abend werde ich ihnen nichts tun. Ich habe Sie nur verarscht und mich auf Ihre Kosten amüsiert.
Sie rennen, nicht wahr? Rennen Sie ruhig weiter, Dr. Cross. Aber Sie sind nicht schnell genug. Sie können mir nicht entrinnen. Ich will Sie. Sie sind der Nächste, Dr. Cross.«
Lieutenant der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika, Martha Wiatt, und ihr Freund, Sergeant Davis O’Hara, liefen ziemlich schnell, als der Abendnebel wie eine Schwefelwolke über den Golden Gate Park von San Francisco zu rollen begann. Das Paar sah im schwindenden Tageslicht wunderschön aus.
Martha hörte das erste tiefe Knurren und glaubte, es käme von einem Hund, der in diesem schönen Teil des Parks frei umherlief, der sich von Haight-Ashbury zum Pazifik erstreckte. Aber die Laute kamen von so weit hinter ihr, dass sie sich keine Sorgen machte.
»Der Riesenwauwau!«, neckte sie Davis, als sie einen steilen Hügel hinaufliefen, von dem aus man einen fantastischen Blick auf die atemberaubende Hängebrücke hatte, die San Francisco mit Marin County verband. »Riesenwauwau« war ein Lieblingsausdruck, den sie für alles benutzten, was besonders groß war: vom Düsenjäger über Sexspielzeug bis zu großen Hunden.
Schon bald würde der dichte Nebel Brücke und Bucht vollständig einhüllen, doch jetzt war die Aussicht hier unvergleichlich schön, eines ihrer Lieblingspanoramen in San Francisco.
»Ich liebe diese Strecke, diese schöne Brücke, den kitschigen Sonnenuntergang – alles«, sagte Martha ruhig. »Aber genug der schlechten Poesie. Es wird Zeit, dass ich dir einen Tritt in deinen athletischen, knackigen Hintern versetze, O’Hara.«
»Das klingt in meinen Ohren wie billiger Feministinnen-Chauvinismus«, meinte er mürrisch, grinste aber und zeigte dabei die weißesten Zähne, die sie je gesehen oder mit der Zunge berührt hatte.
Martha steigerte das Tempo. In der Pepperdine University war sie ein Langlaufstar gewesen, und auch jetzt noch war sie gut in Form. »Und das klingt wie die Entschuldigung eines Verlierers«, meinte sie.
»Das wollen wir doch mal sehen! Der Verlierer zahlt bei Abbey’s.«
»Ich schmecke schon ein Dos Equis. Hm, köstlich.«
Die Fröhlichkeit der Jogger wurde unvermittelt durch ein viel lauteres Knurren unterbrochen. Diesmal war es näher.
Es schien unmöglich zu sein, dass ein Hund eine derartige Strecke in so kurzer Zeit bewältigt hatte. Vielleicht streunten mehrere dieser Riesenwauwaus da draußen umher.
»Im Park gibt’s doch keine Katzen?«, fragte Davis. »Ich meine, so große wie Berglöwen, oder?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Komm zurück in die Realität, Junge. Wir sind in San Francisco, nicht mitten in Montana.« Martha schüttelte den Kopf. Tropfen flogen aus ihrem kurz geschnittenen rötlichbraunen Haar. Dann glaubte sie, Schritte zu hören. Ein Jogger und ein großer Hund?
»Komm, machen wir, dass wir wegkommen aus diesem Wald, okay?«, sagte Davis.
»Verstanden. Kein Einspruch. Wer als Letzter auf dem Parkplatz ist, wird Hundefutter.«
»Nicht komisch, Lieutenant Martha. Schlechter Scherz. Irgendwie wird’s hier unheimlich.«
»Ich weiß nicht, was für Raubtiere hier rumlaufen, aber ich glaube, ich habe gerade so ein niedliches Kätzchen entdeckt.«
Wieder ein lautes Knurren – und diesmal ganz in der Nähe. Den beiden direkt auf den Fersen. Und es kam schnell näher.
»Los, Bewegung. Zisch ab!«, sagte Martha Wiatt. Sie hatte jetzt Angst und rannte, so schnell sie konnte – und das war sehr schnell.
Erneut durchdrang ein unheimliches Knurren den dichter werdenden Nebel.
Lieutenant Martha Wiatt hatte ihr Tempo sehr beschleunigt. Die Entfernung zwischen ihr und Davis wuchs ständig. Sie nahm aus Spaß an Triathlon-Wettkämpfen teil. Er arbeitete am Schreibtisch, obwohl er, bei Gott, für einen Wirtschaftsprüfer verdammt gut aussah.
»Los, los, Davis. Halte mit. Nicht zurückfallen«, rief sie über die Schulter.
Davis, seit einem Jahr ihr Freund, antwortete nicht. Na schön, damit war die Frage, wer von ihnen in besserer Form und ein echter Sportler war, ein für alle Mal erledigt. Selbstverständlich hatte Martha das die ganze Zeit über gewusst.
Das nächste laute Knurren und schwere Schritte waren noch näher. Sie holten sie ein.
Aber was holte sie ein?
»Martha! Mich verfolgt etwas. O Gott! Lauf! Lauf, Martha!«, schrie Davis. »Verdammt, hau ab!«
Adrenalin schoss durch ihren Körper. Sie streckte den Kopf vor, als liefe sie auf ein unsichtbares Zielband zu. Ihre Arme und Beine bewegten sich absolut synchron wie Kolben. Sie verlagerte das Gewicht nach vorn, wie alle guten Langstreckenläufer es zu tun pflegen.
Dann hörte sie Schreie hinter sich. Sie drehte sich um – sie sah Davis nicht mehr. Die Schreie waren so grauenvoll, dass sie beinahe stehen geblieben wäre. Davis war von einer bösartigen Kreatur angegriffen worden. Martha war klar, dass sie Hilfe holen musste. Die Polizei. Irgendjemanden.
Die Schreie ihres Freundes gellten ihr in den Ohren, sie rannte in Panik weiter, ohne darauf zu achten, wohin sie trat. Sie stolperte über einen spitzen Stein und rollte kopfüber einen steilen Hang hinunter. Sie prallte gegen einen Baum, doch dieser hielt zumindest ihren Fall auf.
Benommen kam sie mühsam wieder auf die Beine. O Gott, sie war sicher, dass sie sich den rechten Arm gebrochen hatte. Mit dem linken hielt sie ihn fest und setzte sich wieder in Bewegung.
Mit gewaltiger Kraftanstrengung erreichte sie eine asphaltierte Straße durch den Park. Davis’ Schreie hatten aufgehört. Was war ihm zugestoßen? Sie musste Hilfe holen.
Martha sah Scheinwerfer, die näher kamen. Sie stellte sich mit gespreizten Beinen über die Mittellinie der Straße. Sie kam sich wie eine total Irre vor. Um Himmels willen, das hier war San Francisco.
»Bitte, anhalten! Stop! Bitte! Hallo! Hallo!« Sie schwenkte den heilen Arm und schrie aus voller Lunge: »Stop! Ich brauche Hilfe!«
Der weiße Van kam direkt auf sie zu. Doch dann hielt er quietschend vor ihr. Zwei Männer sprangen heraus. Sie würden helfen. Auf der Kühlerhaube des Van war ein Rotes Kreuz aufgemalt.
»Bitte, helfen Sie mir«, sagte Martha. »Mein Freund ist verletzt.«
Doch alles wurde noch schlimmer. Der eine Mann versetzte ihr einen Faustschlag. Ehe Martha begriff, was geschah, ging sie zu Boden und schlug mit dem Kinn aufs Pflaster. Der Fausthieb hatte sie beinahe bewusstlos geschlagen.
Sie blickte nach oben und bemühte sich, klar zu sehen, aber das hätte sie lieber nicht tun sollen. Flammende rote Augen schauten auf sie herab. Ein Mund war aufgerissen. Zwei grauenvolle Münder. Noch nie zuvor im Leben hatte sie derartige Zähne gesehen. Sie waren wie scharfe Messer geformt. Die Schneidezähne waren riesig.
Dann spürte sie, wie sich die Zähne in ihre Wangen und danach in ihren Hals gruben. Wie konnte das sein? Martha schrie, bis ihr die Stimme versagte. Die Zähne bissen weiter zu. Sie rollte herum und schlug mit Armen und Beinen wild um sich. Aber es half ihr gegen die Angreifer nicht. Sie waren unglaublich kräftig. Beide knurrten wütend.
»Ekstase«, flüsterte einer Martha ins Ohr. »Ist das nicht großartig? Du hast ja so ein Glück. Du wurdest von all den schönen Menschen in San Francisco auserwählt. Du und Davis.«
Es war ein perfekter schöner Morgen mit blauem Himmel in Washington – na ja, beinahe perfekt. Superhirn rief mich übers Handy an. »Hallo, Alex. Haben Sie mich vermisst? Ich habe Sie sehr vermisst, Partner.«
Das Schwein nervte mich seit einer Woche jeden Morgen mit obszönen Anrufen. Manchmal fluchte er nur etliche Minuten lang. Heute klang er ausgesprochen zivilisiert.
»Wie wollen Sie den Tag heute gestalten? Große Pläne?«, fragte er.
Ja, ich hatte in der Tat große Pläne: Ich wollte ihn fangen. Ich war in einem FBI-Kastenwagen unterwegs. Wir verfolgten seinen Anruf zurück und rechneten damit, schon bald seinen genauen Standort zu haben. Durch das FBI war ein Gerichtsbeschluss erfolgt, und die Telefongesellschaft bemühte sich, den Anruf »zu lokalisieren«. Ich saß mit drei FBI-Agenten hinten in dem dahinrasenden Kastenwagen. Mein Partner John Sampson war ebenfalls dabei.
Wir hatten mein Haus an der Fifth Street sofort verlassen, nachdem ich den Anruf erhalten hatte. Jetzt jagten wir auf der I-395 nach Norden. Meine Aufgabe war es, ihn an der Strippe zu halten, bis wir seinen Anruf zurückverfolgt hatten.
»Erzählen Sie mir etwas über Betsey Cavalierre. Warum haben Sie sie statt mich ausgewählt?«, fragte ich.
»Nun, sie ist viel hübscher«, sagte Superhirn. »Und angenehmer zu ficken.«
Einer der FBI-Techniker sprach im Hintergrund. Ich bemühte mich, beide zu verstehen. »Er macht seinem Namen tatsächlich Ehre«, sagte der FBI-Mann. »Wir haben die Leitung angezapft. Eigentlich müssten wir den Anruf auf Anhieb zurückverfolgen können, aber aus irgendeinem Grund funktioniert es nicht.«
»Und warum, zum Teufel, nicht?«, fragte Sampson und rückte näher zu den FBI-Männern.
»Keine Ahnung. Wir fangen unterschiedliche Standorte auf, aber sie ändern sich ständig. Vielleicht benutzt er ein Handy im Auto. Handys sind schwieriger aufzuspüren.«
Ich sah, dass wir die Ausfahrt D-Street nahmen. Danach fuhren wir in den Tunnel der Third Street. Wo war er?
»Alles in Ordnung, Alex? Sie scheinen ein bisschen abgelenkt zu sein«, sagte Superhirn.
»Alles bestens. Ich bin noch hier, Partner. Genießen Sie unseren kleinen Frühstücksclub?«
»Ich weiß wirklich nicht, warum es so verdammt schwierig ist«, klagte der FBI-Techniker.
Weil er Superhirn ist!, hätte ich am liebsten gebrüllt.
Jetzt sah ich rechts das Washington Convention Center. Wir fuhren wirklich schnell. Sechzig oder siebzig Meilen.
Wir fuhren am Renaissance Hotel vorbei. Von wo rief dieser Scheißkerl an?
»Ich glaube, wir haben etwas. Wir sind ganz nahe dran«, rief ein junger FBI-Mann aufgeregt.
Der Wagen hielt an. Plötzlich herrschte totales Chaos. Sampson und ich zückten unsere Waffen. Wir hatten ihn. Ich konnte es noch nicht fassen, dass wir ihn tatsächlich hatten.
Aber dann brachen alle im Wagen in lautes Stöhnen aus und fluchten. Ich schaute nach draußen und sah den Grund. Ich schüttelte den Kopf.
»Herrgott, kannst du so eine Scheiße glauben!«, schrie Sampson und hämmerte gegen die Wand des Wagens. Wir standen vor 935 Pennsylvania Avenue, dem J. Edgar Hoover Gebäude, in dem sich das Hauptquartier des FBI befand.
»Und was passiert jetzt?«, fragte ich den verantwortlichen FBI-Mann. »Wo, zum Teufel, steckt er?«
»Scheiße, das Signal wandert wieder. Jetzt ist es außerhalb von Washington. Okay, jetzt wieder in der Stadt. Verdammt, das Signal hat das Land verlassen.«
»Leben Sie wohl, Alex. Jedenfalls für den Augenblick. Ich habe Ihnen schon gesagt: Sie sind der Nächste«, sagte Superhirn und legte auf.
Der Rest dieses Tages war lang, hart und deprimierend. Ich brauchte unbedingt eine Pause, ich brauchte Urlaub vom Superhirn.
Ich bin nicht sicher, wann oder woher ich den Mut nahm, aber ich hatte an diesem Abend hier in Washington ein Rendezvous mit einer Anwältin aus dem Büro der Staatsanwaltschaft. Elizabeth Moore hatte einen herrlich hintergründigen Sinn für Humor und war erfrischend respektlos. Sie war groß und lächelte so warmherzig, dass sogar ich lächeln musste. Wir aßen zu Abend bei Marcel’s im Foggy Bottom, das für derartige Zwecke überaus geeignet ist. Das Essen französisch, die Atmosphäre flämisch. Der Abend konnte gar nicht besser laufen. Jedenfalls dachte ich das und hatte den Eindruck, dass auch Elizabeth zustimmte.
Nachdem der Ober mit unserer Bestellung für Kaffee und Nachtisch gegangen war, legte Elizabeth ihre Hand auf meine. Unser Tisch wurde von einer Kerze in einem Halter aus Kristall erhellt.
»Na schön, Alex. Wir haben das Vorspiel hinter uns, und ich habe es sehr genossen«, sagte sie. »Wo ist der Haken? Es muss einen Haken geben. Alle guten Männer sind vergeben. Das weiß ich aus Erfahrung. Warum spielen Sie immer noch das Rendezvousspiel?«
Ich begriff genau, was Elizabeth meinte, aber ich gab vor, völlig verwirrt zu sein.
»Haken?«, wiederholte ich schulterzuckend, lächelte dann aber unwillkürlich.
Sie lachte laut. »Sie sind was – neununddreißig, vierzig?«
»Zweiundvierzig, danke vielmals«, sagte ich.
»Sie haben jeden erdenklichen Test glänzend bestanden …«
»Welchen, zum Beispiel?«
»Zum Beispiel dieses wunderbare Restaurant zum Abendessen. Romantisch, aber nicht zu romantisch. Dann waren Sie absolut pünktlich, als Sie mich abgeholt haben. Sie hören tatsächlich zu, wenn ich über Dinge spreche, die mich interessieren. Zudem sehen Sie gut aus – obwohl mir das völlig egal ist. So, das wär’s fürs Erste.«
»Ich mag Kinder und hätte nichts dagegen, noch mehr zu bekommen«, erklärte ich. »Ich habe sämtliche Romane von Toni Morrison gelesen. Ich bin ein recht ordentlicher Installateur und kann kochen, wenn es sein muss.«
»Der Haken?«, fragte sie noch mal. »Raus damit.«
Der Ober kam mit Kaffee und Dessert zurück. Als er Elizabeth den Kaffee in die Tasse goss, meldete sich der Pieper an meinem Gürtel.
O Gott!
Mist!
Ich schaute sie über den Tisch hinweg an – und zwinkerte. Ja, ich zwinkerte zuerst.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich den Anruf annehme? Ich kenne die Nummer – das FBI in Quantico. Ich beeile mich und komme gleich zurück.«
Ich ging zu den Toiletten und rief mit dem Handy Kyle Craig in Virginia an. Kyle war seit Jahren ein verlässlicher Freund, aber seit ich Verbindungsmann zwischen dem FBI und der Washingtoner Polizei geworden war, sah ich ihn viel zu oft. Er zerrte mich in die widerlichsten Mordfälle des FBI hinein. Langsam hasste ich seine Anrufe. Und was war jetzt wieder geschehen?
Kyle wusste, wer ihn anrief. Er gab sich nicht mal die Mühe, »Hallo« zu sagen. »Alex, erinnerst du dich an den Fall, an dem wir vor vierzehn Monaten gemeinsam gearbeitet haben? Ein Mädchen war von zu Hause weggelaufen und wurde in einem Hotelzimmer aufgefunden. An der Deckenlampe erhängt. Patricia Cameron? In San Francisco hat es zwei Morde gegeben, die dazu passen. Gestern Abend im Golden Gate Park. Ein abscheulicher Anblick. Seit langem habe ich nichts so Grauenvolles gehabt.«
»Kyle, ich esse gerade mit einer attraktiven, sehr netten und interessanten Frau zu Abend. Wir reden morgen. Ich rufe dich an. Heute Abend bin ich nicht im Dienst.«
Kyle lachte. Manchmal amüsierte er sich über mich. »Nana hat mir das schon erzählt. Deine Verabredung ist Anwältin , nicht wahr? Kennst du den schon? Der Teufel trifft den Anwalt und erklärt, er könne den Anwalt zum Geschäftspartner machen, aber dieser muss seine Seele und die Seelen seiner gesamten Familie abgeben. Der Anwalt schaut den Teufel an und fragt: ›Und wo ist der Haken?‹« Nach dem Witz berichtete mir Kyle mehr, als mir lieb war, über die Ähnlichkeiten, welche die grauenvollen Morde in San Francisco mit dem Mord in Washington verknüpften. Ich erinnerte mich an das Opfer, Patricia Cameron. Ich sah ihr Gesicht immer noch vor mir. Dann schüttelte ich das Bild ab.
Als Kyle mit seiner genauen, aber etwas langatmigen Erklärung fertig war, ging ich zurück zu Elizabeth.
Sie lächelte bedauernd und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe soeben den Haken herausgefunden«, sagte sie.
Ich gab mir große Mühe, zu lachen, aber meine Innereien waren bereits verknotet. »Ehrlich, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Es ist viel schlimmer, Elizabeth.
Morgens setzte ich die Kinder auf dem Weg zum Flughafen an der Schule ab. Jannie ist acht, Damon wurde vor kurzem zehn. Sie sind gute Kinder, aber eben Kinder. Gib ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand, manchmal sogar noch mehr. Ich kann mich nicht erinnern, wer einmal gesagt hat: »Amerikanische Kinder leiden unter zu viel Mutter und zu wenig Vater.« Bei meinen Kindern war es das genaue Gegenteil.
»Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte Jannie, als wir vor der Sojourner-Truth-Schule hielten. Von der CD erklang Helen Folasade Adu – Sade. Sehr schön.
»Gewöhnt euch nicht daran. Von unserem Haus zur Schule müsst ihr nur fünf Blocks gehen. Als ich ein kleiner Junge in North Carolina war, musste ich fünf Meilen durch Tabakfelder zur Schule gehen.«
»Jaaa, schon gut«, meinte Damon spöttisch. »Du hast vergessen zu sagen, dass du barfuß gehen musstest.«
»Genau. Danke, dass du mich daran erinnert hast. Ja, ich bin barfuß durch diese scheußlichen Tabakfelder zur Schule gegangen.«
Die Kinder lachten, ich ebenso. Für gewöhnlich macht es großen Spaß, mit ihnen zusammen zu sein. Ich filme sie ständig, weil ich hoffe, dass ich hübsche Aufnahmen habe, wenn sie mal Teenager sind. Außerdem habe ich Angst, Alzheimer zu bekommen und mich an nichts mehr erinnern zu können. Diese Scheißkrankheit breitet sich aus.
»Samstag habe ich ein großes Konzert«, verkündete Damon. Es war sein zweites Jahr im Washingtoner Knabenchor, und er machte sich sehr gut. Vielleicht war er der nächste Luther Vandross oder Al Green – vielleicht aber nur Damon Cross.
»Ich bin am Samstag wieder zu Hause, Damon«, versprach ich. »Ganz bestimmt. Ich möchte dein Konzert nicht verpassen.«
»Du hast schon einige verpasst«, sagte er. Der Stich saß.
»Das war der alte Alex. Jetzt bin ich ein neuer und viel besserer Alex. Übrigens war ich auch bei etlichen deiner Konzerte.«
»Du bist so komisch, Daddy«, sagte Jannie und lachte. Beide Kinder sind intelligent, manchmal zu intelligent.
»Ich werde zu Damons Konzert zurückkommen«, versprach ich. »Helft Großmutter im Haus. Ihr wisst, dass sie fast hundert ist.«
Jannie verdrehte die Augen. »Nana ist achtzig Jahre jung. Jedenfalls behauptet sie das. Sie liebt kochen, abwaschen und hinter uns aufräumen«, sagte sie und imitierte Nanas heimtückisches Kichern. »Ehrlich, das tut sie.«
»Ich kann es gar nicht abwarten, dass Samstag ist«, versicherte ich Damon. Und das war die reine Wahrheit. Der Knabenchor war einer von Washingtons geheimen Schätzen. Ich war begeistert, dass Damon dort singen durfte, aber hauptsächlich weil er das liebte, was er tat.
»Küssen und umarmen«, sagte ich.
Damon und Jannie stöhnten laut, aber sie schmiegten sich an mich. Ich fragte mich, wie lange sie wohl noch bereit sein würden, mich zu umarmen und mir Küsschen auf die Wange zu geben. Deshalb holte ich mir so oft wie möglich eine Extraration. Man muss die guten Zeiten mit den Kindern genießen und bewahren.
»Ich liebe euch«, sagte ich, ehe ich sie zur Schule gehen ließ. »Was sagt ihr?«
»Wir lieben dich auch«, erklärten Damon und Jannie wie aus einem Mund.
»Deshalb lassen wir uns auch vor der Schule und vor unseren Freunden von dir blamieren«, fügte Jannie hinzu und streckte die Zunge raus.
»Das ist das letzte Mal, dass ich euch zur Schule gefahren habe«, erklärte ich. Dann streckte ich schnell die Zunge heraus, ehe sie zu ihren Freunden rannten. Für mich wuchsen sie viel zu schnell heran.
Ich rief Kyle Craig vom Flugplatz an, und er versicherte mir, seine Elite-Mannschaft in Quantico recherchierte in sämtlichen Staaten, von einem Ozean zum anderen, nach ähnlichen Mordfällen und Beißattacken. Er wiederholte seine Überzeugung, dass dieser Fall ebenso wichtig wie grauenvoll sei. Ich fragte mich, was er sonst noch wusste. Üblicherweise wusste er mehr, als er mitteilte.
»Du bist ja schon früh auf den Beinen, Kyle, und sehr beschäftigt. Dieser Fall hat deine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber weshalb?«
»Selbstverständlich. Dieser Fall ist absolut einzigartig. Ich selbst habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Inspector Jamilla Hughes wird dich abholen, wenn sie es rechtzeitig schafft. Es ist ihr Fall, und sie soll recht kompetent sein. Sie ist eine der beiden Frauen beim Morddezernat in San Francisco und muss demnach gut sein.«
Auf dem Flug von Washington an die Westküste studierte ich noch mal die Faxe über die schrecklichen Morde im Golden Gate Park, die ich am Morgen erhalten hatte. Inspector Hughes’ erste Aufzeichnungen vom Tatort waren präzise und detailliert, aber es drehte sich einem beim Lesen der Magen um.
Aufgrund ihrer Niederschrift machte ich mir Notizen in meiner persönlichen Kurzschrift, die ich bei jedem Fall, den ich bearbeitete, verwendete.
Um 3:20 Uhr männliches und weibliches Opfer im Golden Gate Park, San Francisco, aufgefunden. Warum dort? Park in Augenschein nehmen, sofern möglich.
Opfer an den Füßen an einer Eiche aufgehängt. Warum aufgehängt? Um die Leichen auszubluten? Warum ausbluten? Ein Reinigungsritual? Geistige Reinigung?
Leichen nackt und mit Blut bedeckt. Warum nackt? Erotik? Sexualverbrechen? Oder schlichtweg Brutalität? Aus irgendeinem Grund die Leichen für die Welt bloßstellen?
Arme, Brust und Beine der männlichen Leiche stark verletzt – allem Anschein nach wurde das Opfer wiederholt gebissen. Die Bisswunden führten zum Tod des Mannes!!!
Bisswunden auch bei der weiblichen Leiche, aber nicht so viele. Bei ihr Schnittwunden, von einem scharfen Gegenstand herrührend. Starb aufgrund massiven Blutverlusts, Klasse IV. Die Frau verlor 40 % ihres Bluts.
Kleine rote Punkte an den Knöcheln, wo die Opfer aufgehängt wurden. Pathologie bezeichnet diese als Petechiae.
Zahnspuren beim Mann scheinen von einem großen Tier zu stammen. Ist das auch nur entfernt möglich? Welches Tier greift einen Jogger in einem großen Park in der Stadt an? Scheint zu weit hergeholt.
Weiße Substanz auf Beinen und Bauch des männlichen Opfers. Könnte Sperma sein. Was für ein Spiel trieb der Mörder? Sado-erotisch?
Ich erinnerte mich an einen ähnlichen Fall in Washington. Wie könnte ich ihn vergessen?
Ein sechzehnjähriges Mädchen, das von zu Hause in Orlando, Florida, weggelaufen war, wurde in einem Hotelzimmer im Stadtzentrum tot und stark verstümmelt aufgefunden. Sie hieß Patricia Cameron. Die Ähnlichkeiten mit den Morden in Kalifornien waren zu groß, um sie zu ignorieren. Das Mädchen hatte ebenfalls grauenvolle Bisswunden am gesamten Körper erlitten und war an den Füßen an der Deckenlampe aufgehängt worden.
Entdeckt wurde die Leiche, als die Lampenbefestigung nachgab und alles mit lautem Knall herunterfiel. Patricia Cameron war durch Blutverlust gestorben, ebenfalls Klasse IV. Sie hatte nahezu siebzig Prozent Blut verloren.
Die erste Frage war offensichtlich:
Warum wollte jemand so viel Blut sehen?
Ich dachte immer noch über die seltsamen schrecklichen Bisse und das viele Blut nach, als ich aus dem Flugzeug stieg und den belebten internationalen Flughafen von San Francisco betrat. Suchend schaute ich mich nach Inspector Jamilla Hughes um. Angeblich war sie eine attraktive Afroamerikanerin.
Ich sah einen Geschäftsmann in der Nähe des Gates den Examiner lesen. Ich las die dicke Schlagzeile auf der Titelseite: ZWEI MORDE – HORROR IM GOLDEN GATE PARK.
Niemand schien auf mich zu warten, ich suchte nach Hinweisschildern, wie ich zu den öffentlichen Verkehrsmitteln gelangen könnte. Ich hatte nur eine kleine Reisetasche mitgenommen. Schließlich hatte ich fest versprochen, am Samstag zu Damons Konzert zurück zu sein. Ich hatte mir fest vorgenommen, ab jetzt alle meine Versprechen zu halten. Großes Ehrenwort!
Gerade wollte ich vom Gate losmarschieren, als eine Frau zu mir kam. »Entschuldigung, sind Sie Detective Cross?«
Sie war mir bereits aufgefallen, ehe sie mich angesprochen hatte. Sie trug Jeans, eine lange schwarze Lederjacke über einem hellblauen T-Shirt. Jetzt entdeckte ich auch die verräterische Wölbung des Holsters unter der Jacke. Sie schien Mitte dreißig zu sein, sah für eine Kollegin der Mordkomission fast zu gut und normal aus, denn diese sind meist etwas ruppig.
»Inspector Hughes?«, fragte ich.
»Jamilla.« Sie streckte mir die Hand entgegen und lächelte, als ich diese ergriff. Nettes Lächeln. »Ich freue mich, dass Sie da sind, Detective. Normalerweise wehre ich mich gegen jede Idee, die vom FBI stammt, aber Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Außerdem war der Mord in Washington offenbar sehr ähnlich, richtig? Also – willkommen in San Francisco.«
»Ich freue mich auch, hier zu sein.« Ich erwiderte ihr Lächeln und schüttelte ihr die Hand. Ihr Händedruck war fest, aber nicht zu fest. »Ich habe gerade an den Mord in Washington gedacht«, gestand ich ihr. »Ihre Aufzeichnungen vom Tatort haben die Erinnerung zurückgebracht. Wir sind bei der Aufklärung des Mordes an Patricia Cameron kläglich gescheitert. Das können Sie zu der Akte über meinen so genannten guten Ruf hinzufügen, der mir angeblich vorauseilt.«
Wieder lächelte Jamilla Hughes. Aufrichtig, nicht übertrieben. Nichts an ihr war übertrieben. Sie sah nicht wie ein Detective der Mordkommission aus, und das war gut so. Eigentlich wirkte sie zu normal, um Polizistin zu sein.
»Wir sollten uns beeilen. Ich habe einen Spezialisten für Tiergebisse hinzugebeten. Er erwartet uns im Leichenschauhaus. Er ist ein guter Freund des Gerichtsmediziners. Was halten Sie von dieser Touristenattraktion von San Francisco?«
Ich schüttelte den Kopf und grinste. »Genau deshalb bin ich hierher geflogen. Ich glaube, ich habe schon im Reiseführer darüber gelesen. Wenn Sie in San Francisco sind, dürfen Sie unter keinen Umständen die Besichtigung des Leichenschauhauses auslassen.«
»Noch steht es nicht im Reiseführer, aber es sollte«, meinte Jamilla. »Es ist entschieden interessanter als eine Fahrt mit der Straßenbahn.«
Keine fünfzig Minuten später waren Jamilla Hughes und ich in der Pathologie in der Hall of Justice, dem berühmten Polizeipräsidium von San Francisco. Dort trafen wir den Leiter der Pathologie, Walter Lee, und den Zahnexperten, Dr. Pang.
Dr. Allen Pang ließ sich Zeit bei der Untersuchung der beiden Leichen, ehe er etwas sagte. Er hatte bereits die Fotos der Körperteile mit den Bisswunden studiert, die am Tatort gemacht worden waren. Er war ein kleiner Mann mit Vollglatze und einer Brille mit dickem, schwarzem Rahmen. Während der Untersuchung sah ich, wie Inspector Hughes dem Pathologen zuzwinkerte. Ich glaube, beide fanden Dr. Pang etwas eigenartig. Ich auch, aber er war sehr gründlich und nahm die Aufgabe, die er übernommen hatte, offenbar sehr ernst.
»Okay, okay, ich bin bereit, jetzt über die Art der Bisse etwas zu sagen«, verkündete er und drehte sich zu uns um. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie von den Bisswunden Abdrücke genommen haben, Walter?«
»Ja, wir haben dazu das Pulver für Fingerabdrücke verwendet. Die Formen dürften in ein oder zwei Tagen fertig sein. Selbstverständlich haben wir auch Speichelproben entnommen.«
»Gut, sehr gut. Das ist das richtige Vorgehen, glaube ich. Und nun zu meinen begründeten Vermutungen.«
»Ausgezeichnet, Allen«, sagte Lee mit leiser, sehr würdiger Stimme. Er trug einen weißen Kittel mit dem Spitznamen »Drache« auf einer Tasche aufgestickt. Er war ein großer Mann, an die ein Meter fünfundachtzig, und wog fast zweieinhalb Zentner. »Ich habe meinen Freund Dr. Pang bereits früher mehrfach hinzugezogen«, erklärte mir Lee. »Er ist ein Experte für Tiergebisse vom Animal Medical Center in Berkeley. Allen ist einer der besten Spezialisten der Welt, und wir haben Glück, ihn bei diesem Fall zu bekommen.«
»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, Dr. Pang«, sagte Inspector Hughes. »Einfach großartig, dass Sie uns helfen.«
»Ja, vielen Dank«, schloss ich mich dem Halleluja-Chor der Dankbarkeit an.
»Schon gut«, meinte er. »Ich bin nicht sicher, wo ich anfangen soll. Also, diese beiden Morde sind für mich äußerst interessant. Der Mann wurde durch die Bisse schwer verletzt, und ich bin relativ sicher, dass der Angreifer ein Tiger war. Die Bisse bei der Frau stammen von zwei Menschen. Es sieht so aus, als würden die beiden Menschen mit der Großkatze gemeinsame Sache machen. So, als wären sie ein Rudel. Außergewöhnlich und gelinde gesagt bizarr.«
»Ein Tiger?« Jamilla drückte den Unglauben aus, den wir alle empfanden. »Sind Sie sicher? Das klingt unmöglich, Dr. Pang.«
»Allen, erklären Sie uns das bitte«, sagte Walter Lee.
»Nun, wie Sie wissen, sind Menschen heterodont, das heißt, sie haben Zähne, die verschieden groß und unterschiedlich geformt sind, weil sie unterschiedliche Funktionen ausüben. Am wichtigsten sind unsere Eckzähne, die sich zwischen dem lateralen Schneidezahn und dem ersten Vorbackenzahn auf jeder Seite eines jeden Kiefers befinden. Mit den Eckzähnen zerreißen wir die Nahrung.«
Walter Lee nickte, und Dr. Pang fuhr fort, und zu diesem Zeitpunkt sprach er einzig und allein zu dem Pathologen. Ich fing Jamillas Blick auf. Sie zwinkerte mir zu. Mir gefiel, dass sie Sinn für Humor hatte.
Dr. Pang schien ganz in seiner Welt versunken zu sein. »Im Gegensatz zum Menschen sind manche Tiere homodent. Ihre Zähne haben alle die gleiche Größe und Form und führen im Grund dieselbe Funktion aus. Das trifft allerdings nicht auf Großkatzen zu, insbesondere nicht auf Tiger. Die Zähne der Tiger haben sich ihren Fressgewohnheiten angepasst. Jeder Kiefer enthält sechs spitze Schneidezähne, wovon zwei sehr scharf sind, sowie gebogene Eckzähne und Backenzähne, die sich zu Schneidezähnen entwickelt haben.«
»Ist das für diese Morde wichtig?«, fragte Jamilla Hughes Dr. Pang. Ich hatte im Prinzip dieselbe Frage stellen wollen.
Dr. Pang nickte enthusiastisch. »Aber selbstverständlich. Gewiss. Der Kiefer eines Tigers ist extrem kräftig und kann beim Zubeißen einen Knochen zermalmen. Aber der Kiefer kann sich nur nach oben oder nach unten bewegen, nicht von einer Seite auf die andere. Das bedeutet, der Tiger kann die Beute nur zerreißen und zermalmen, nicht kauen oder benagen.« Er demonstrierte es mit seinen eigenen Zähnen und dem Unterkiefer.
Ich schluckte und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ein Tiger war in diese Morde verwickelt? Wie war das möglich?
Dr. Pang hörte auf zu sprechen. Er kratzte sich kräftig die Glatze. Dann sagte er: »Mich verblüfft total, dass jemand im Stande war, dem Tiger zu befehlen, die Beute loszulassen, nachdem er zugeschlagen hatte – und dass dieser gehorchte und die Beute nicht völlig aufgefressen hat.«
»Absolut erstaunlich«, stimmte ihm der Pathologe zu und klopfte Dr. Pang anerkennend auf den Rücken. Dann schaute er Jamilla und mich an. »Wie heißt es so schön? ›Fang den Tiger, wenn du kannst.‹ In San Francisco dürfte es nicht übermäßig schwierig sein, einen Tiger zu finden.«
Das große weiße Tigermännchen stieß eine Art gedämpften Pfeifton aus, der aus der Tiefe seines Rachens kam. Der Klang war nahezu überirdisch. Vögel flogen von der Zypresse neben ihm auf. Kleine Tiere huschten so schnell sie konnten davon.
Der Tiger war zwei Meter vierzig lang, muskulös und wog zweihundertsechzig Kilo. Unter normalen Umständen wären seine Beute Schweine, Rehe, Antilopen oder Wasserbüffel gewesen. Aber in Kalifornien gab es keine normalen Umstände. Aber es gab stattdessen jede Menge Menschen.
Die Raubkatze bewegte sich geschmeidig. Der kraftvolle Körper setzte mühelos zum Sprung an. Der junge blonde Mann machte nicht einmal den Versuch, sich zu wehren.
Der Tiger riss den Rachen auf und umschloss den Kopf des Mannes. Die Kiefer waren kräftig genug, um den Schädel mühelos zu pulverisieren.
»Stopp! Stopp! Stopp!«, schrie der Mann.
Erstaunlicherweise ließ der Tiger sofort von ihm ab.
Einfach so. Auf einen mündlichen Befehl hin.
»Du gewinnst.« Der blonde Mann lachte und tätschelte den Tiger liebevoll am Kopf.
Dann drehte der junge Mann sich scharf nach links. Seine Bewegungen waren nahezu genauso schnell und geschmeidig wie die der Raubkatze. Jetzt griff der Mann den Tiger an und attackierte ihn an der empfindlichen weißen Unterseite. Er biss ihn ins Fell. »Ich hab dich, großes Baby! Du verlierst. Du bleibst mein Liebessklave.«
William Alexander stand in einiger Entfernung und schaute seinem jüngeren Bruder mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht zu. Michael war ein wunderschöner Kindmann, unglaublich anmutig und athletisch. Er trug ein schwarzes T-Shirt und hellblaue Shorts. Er war einsachtundachtzig groß und wog dreiundachtzig Kilo. Er war makellos. Eigentlich traf das auf beide zu.
William ging weiter und schaute hinaus auf die grünen Berge in der Ferne. Er war sehr gern hier draußen. Er liebte die Schönheit und Einsamkeit und die Freiheit, alles tun zu können, was er wollte.
Er war tief im Innern ganz still – immer noch beherrschte er diese Kunst.
Als er und Michael kleine Jungen waren, war die ganze Gegend hier eine Kommune. Ihre Eltern waren Hippies gewesen, Experimentierer. Sie liebten die Freiheit und konsumierten sehr viele Drogen. Sie hatten die Jungs gelehrt, dass die Welt da draußen nicht nur gefährlich sei, sondern dass auch alles völlig falsch sei. Ihre Mutter hatte William und Michael beigebracht, dass es eine gute Sache war, mit jedem, selbst mit ihr, Sex zu haben, solange es in beiderseitigem Einverständnis geschah. Die Jungs hatten mit Mutter und Vater und vielen anderen in der Kommune geschlafen. Ihr Code persönlicher Freiheit hatte ihnen schließlich zwei Jahre in einem Jugendgefängnis Ebene IV eingebracht. Sie waren wegen Drogenbesitzes verhaftet worden, aber hinter Gitter kamen die Brüder wegen schwerer Körperverletzung. Vermutlich waren sie in weitaus schwerere Verbrechen verwickelt, doch konnte man ihnen nichts beweisen.
Während William vom Fuß des Hügels über das Land schaute, dachte er über die Vorstellung des ungezügelten Verstandes nach. Tag für Tag ließ er mehr von dem schäbigen Gepäck seines vergangenen Lebens hinter sich. Bald würde er keine falsche Moral oder Ethik haben, auch keine dieser blödsinnigen Hemmungen, die in der zivilisierten Welt gelehrt wurden.
Er kam der Wahrheit ständig näher. Ebenso Michael.
William war zwanzig.
Michael erst siebzehn.
Seit fünf Jahren mordeten sie gemeinsam, und sie wurden darin immer besser.
Sie waren unbesiegbar.
Ohne jegliche Moral.
»Runter! Auf den Boden! Weg von den Fenstern!«, schrie ich Jamilla an.
Ich hatte Angst, ein Gewehrschuss könnte sie treffen. Kyle könnte da draußen sein, und dass er schießen konnte, wusste ich inzwischen. Jamilla warf sich auf den Boden, mit dem Gesicht zu mir. Auch der Mann lag da, den ich überwältigt hatte, und schaute mich total verwirrt an. »Wer, zum Teufel, war der Kerl? Was war gerade geschehen? Wo war Kyle?
Jamilla zielte mit ihrer Dienstwaffe direkt auf seine Brust. Ihre Hand war verblüffend ruhig. Er blutete stark aus der Nase, wo meine Faust ihn getroffen hatte. Er war gut gebaut, Anfang dreißig, kurzes Haar, ein hellhäutiger Schwarzer.
In meinem Kopf herrschte totales Chaos.
»Wer, zum Teufel, sind Sie? Wer bist du?«, brüllte ich den verwirrt dreinschauenden Mann auf dem Boden an.
»FBI«, keuchte er. »Ich bin Agent. Stecken Sie die Waffe weg, bitte.«
»Und ich bin bei der Polizei von San Francisco«, brüllte Jamilla zurück. »Und ich werde bestimmt nicht die Waffe wegstecken, Mister. Was haben Sie in meiner Wohnung zu suchen?« Ich konnte beinahe lesen, was sie dachte, und das waren eindeutig keine freundlichen Gedanken. »Reden Sie, los!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Antwort auf Ihre Fragen. Meine Dienstmarke und mein Ausweis sind in der linken Gesäßtasche. Ich bin beim FBI, verdammt noch mal!«
»Bleiben Sie liegen!«, befahl ich. »Draußen könnte jemand mit einem Gewehr sein. Hat Kyle Craig Sie hergeschickt?«
Die Miene des Agenten beantwortete meine Frage, aber er weigerte sich, sie zu bestreiten oder zu bestätigen. »Ich muss keine Fragen beantworten.«
»O doch, verdammt noch mal, das müssen Sie!«, erklärte Jamilla.
Ich tat das Einzige, was ich unter diesen Umständen tun konnte – ich rief das FBI an.
Vier Agenten vom Büro in San Francisco erschienen kurz nach fünf in der Wohnung. Wir waren wegen der Fenster immer noch vorsichtig, obwohl ich bezweifelte, dass Kyle noch da war. Superhirn war uns einen Schritt voraus. Das hätte ich wissen müssen, und in gewisser Weise hatte ich gewusst, dass er nicht das tat, was man von ihm erwartete.
Während der nächsten Stunden bemühten sich FBI-Agenten verzweifelt, Kyle Craig zu erreichen. Sie konnten ihn nicht finden, und das erschütterte sie. Langsam begannen sie meiner Geschichte, dass Kyle vielleicht hinter den Morden der letzten zwölf Jahre steckte, Glauben zu schenken. Kyle hatte den Agenten zu Jamillas Wohnung geschickt und ihm befohlen, einzubrechen. Er hatte dem Mann erzählt, jemand habe da drinnen Alex Cross und Inspector Hughes ermordet.
Dann wurde die Sache richtig heiß.
Und ich schürte das Feuer.