Uta Eisenhardt, geboren 1968, studierte Soziologie und arbeitet als Gerichtsreporterin. 2011 erschien »Es juckt so fürchterlich, Herr Richter!« , ein Best-of ihrer stern.de-Gerichtskolumne. 2012 folgte »Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt« .
Uta Eisenhardt
Jenseits von Böse
Kranke Verbrechen – die krassesten Fälle einer Gerichtsreporterin
Mit fachlicher Beratung von Dr. med. Konstantin Karyofilis
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Originalausgabe 03/2014
Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, in der
Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-11109-0
V004
www.heyne.de
Vorwort
Christian hegte große Hoffnungen, sich wieder einmal verlieben zu können. In die junge, hübsche Franziska aus dem Internetforum, die davon träumte, entführt, gewürgt und vergewaltigt zu werden. Er war fast doppelt so alt wie sie, ein promovierter Wissenschaftler. Franziska genoss seine Aufmerksamkeit. Sie lenkte sie ab von ihren Problemen am Arbeitsplatz, einer kürzlich beendeten Beziehung und von den Eltern, die sie nicht zu verstehen schienen. Vier Monate lang chatteten die beiden intensiv, dann verabredeten sie sich. Sie wollten gemeinsam ihre Fantasien ausleben. Franziska ahnte nicht, dass Christian nicht nur ein Anhänger von mehr oder weniger gewöhnlichen Sadomaso-Spielen war. Seit Jahren erwarb er regelmäßig nekrophile Pornos, die zeigten, wie Männer ihre Sexualpartnerinnen auf grausame Art töteten und sich an ihren Leichen vergingen.
Als das Paar sich schließlich traf, bat Franziska ihn, sie zu »überfallen«, Christian sollte sie etwa dreißig Sekunden lang würgen und anschließend »vergewaltigen«. Aus dem inszenierten Spiel wurde tödlicher Ernst. Christian verlor jede Kontrolle über sein Handeln. Das, was er seit Jahren fantasiert hatte, wurde Wirklichkeit. Als er wieder klar denken konnte, war es zu spät. Er konnte nicht begreifen, was er getan hatte. Am liebsten wollte er sterben. Sein Leben erschien ihm sinnlos.
Der psychiatrische Gutachter sagte, der hochintelligente Wissenschaftler sei ein Sadist, und zwar ein krankhafter, weil er nicht in der Lage war, im Einvernehmen mit seiner Sexualpartnerin zu handeln. Er empfahl dem Gericht, den Täter nicht ins Gefängnis, sondern in den »Maßregelvollzug« zu schicken.
So werden die forensisch-psychiatrischen Krankenhäuser bezeichnet, für die ich mich in diesem Zusammenhang zum ersten Mal näher interessiert habe. Maßregelpatienten sind vermindert schuldfähige oder gar schuldunfähige Straftäter: Sie konnten nicht erkennen, dass sie etwas Unrechtes tun. Falls doch, konnten sie sich nicht entsprechend verhalten – weil sie zur Tatzeit entweder schwachsinnig oder psychisch krank waren, an einer schweren Persönlichkeitsstörung litten beziehungsweise unter einer sexuellen Abweichung. Wenn solche Menschen dauerhaft krank sind und weiterhin eine Gefährdung von ihnen zu befürchten ist, werden sie im Maßregelvollzug untergebracht. Der Begriff für dieses Spezialgefängnis im Gewand einer Klinik existiert seit 1933, als in Deutschland die bereits seit der Jahrhundertwende diskutierte sogenannte »Zweispurigkeit des Strafrechts« installiert wurde. Seither wird unterschieden zwischen »Strafen« und »Maßregeln«.
Etwa achttausend Patienten – ungefähr zehn Prozent von ihnen sind Frauen – leben deutschlandweit in rund siebzig solchen Einrichtungen. Sie müssen dort so lange bleiben, bis sie entweder nicht mehr krank oder nicht mehr gefährlich sind. Im Durchschnitt vergehen bis zur Entlassung auf Bewährung sechs bis acht Jahre, bei einem Viertel der Betroffenen sind es mehr als zehn Jahre. Von diesen verlassen etliche die Anstalt nur in Richtung Pflegeheim oder im Sarg.
Die Geschichte von Christian und Franziska habe ich ausführlich in meinem letzten Buch Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt – Die härtesten Fälle einer Gerichtsreporterin geschildert. Auch darüber hinaus beschäftigte mich das Schicksal dieses vielseitig interessierten Mannes, der sein halbes Leben noch vor sich hatte. Wie mochte er seine Zeit hinter den Mauern einer forensischen Klinik verbringen? Wie leben die Insassen dort miteinander, die übrigens nicht immer nach Geschlechtern getrennt sind? Mit welchen psychischen Krankheiten haben es die Ärzte im Maßregelvollzug zu tun? Welche sind heilbar, welche nicht? Wie kommt es zu Irrtümern bei psychiatrischen Gutachten? Wie manipulierbar sind die Ärzte und Therapeuten bei ihrer Entscheidung, wenn es um Vollzugslockerungen geht? Wie leben Richter und forensisch-psychiatrische Gutachter mit der Verantwortung, einen einst gefährlichen Täter in die Freiheit zu entlassen? Oder andersherum, wie mit der Schuld, einen womöglich harmlosen Bürger lebenslang der Freiheit beraubt zu haben?
Auf der Suche nach Antworten trug ich nicht nur die hier vorliegenden bizarren Kriminalfälle zusammen, die sich mit psychisch kranken Tätern beschäftigen. Ich besuchte auch einige Kliniken und sprach mit Menschen, die den Maßregelvollzug kennen, mit Ärzten, Pflegern, Therapeuten, mit Richtern und Rechtsanwälten und natürlich mit Patienten.
Bei meiner Recherche erfuhr ich, dass sich der Maßregelvollzug seit Anfang der Neunzigerjahre stark verändert hat. Die Zahl der Patienten stieg auf das Dreifache. Das hat mehrere Gründe. Zum einen werden immer mehr Straftäter psychiatrisch begutachtet. Heute beginnt kaum ein Schwurgerichtsprozess, ohne dass der Angeklagte vorher von einem auf Forensik spezialisierten Psychiater untersucht wurde. Auf diese Weise kann bei mehr Menschen eine Erkrankung festgestellt werden, die eine Einweisung in die Anstalt rechtfertigt. Zum andern leidet die »zivile« Psychiatrie unter den Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen. Menschen mit chronischen Psychosen werden nicht mehr so lange behandelt, wie es nötig wäre. Dadurch verschlechtert sich ihre Krankheit, es steigt die Chance, dass sie straffällig werden und in den Maßregelvollzug müssen.
Außerdem folgte die Politik dem öffentlichen Druck und erhöhte die Hürden für eine Entlassung. Heute reicht es nicht mehr, dass Richter und Psychiater eine solche erproben wollen. Nein, sie dürfen keinen Zweifel mehr daran hegen, dass der Untergebrachte sein Leben künftig straffrei meistern wird. Man ist vorsichtiger geworden. So vergeht inzwischen vom Unterbringungsbeschluss bis zur Entlassung auf Bewährung doppelt so viel Zeit wie vor dieser Entwicklung. Zaghaft und bedingt durch Justizirrtümer zeichnet sich gegenwärtig ein gegenläufiger Trend zur Liberalisierung ab.
Der Maßregelvollzug ist kostspielig, aber erfolgreich. Im Vergleich zu Gefängnisinsassen werden Insassen von forensischen Kliniken nur halb so oft rückfällig, obwohl sie meist mit einer deutlich schlechteren Prognose dorthin gekommen waren.
Selbstverständlich haben nicht alle Maßregelpatienten so ungeheuerliche Taten begangen wie die für dieses Buch ausgewählten. Etliche von ihnen legten Brände, andere begingen Diebstähle oder schlugen scheinbar grundlos ihre Mitmenschen, manche Taten blieben im Versuchsstadium stecken. Da man aber davon ausgehen muss, dass diese Menschen untherapiert mit großer Wahrscheinlichkeit wieder straffällig werden, kann man sie nur über Jahre wegschließen und behandeln, in der Hoffnung, dass sie eines Tages für ihre Mitmenschen nicht mehr gefährlich sind.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie beim Lesen ebenso gut unterhalten wie informiert werden – über eine Welt, die der Öffentlichkeit sonst verborgen bleibt.
Uta Eisenhardt
Auf Erkundungstour im Maßregelvollzug
Eine Journalistin, die hinter die Kulissen forensischer Kliniken schauen will, rennt nicht gerade offene Türen ein. Versperrt werden sie von Sicherheitsbedenken und ärztlicher Schweigepflicht, ein wenig aufgezogen werden sie von der Erkenntnis, dass Transparenz hilft, Ängste, Bedenken und Vorurteile abzubauen. Der Erste, der mir erlaubt, seine Einrichtung von innen anzuschauen, ist der Chef der Klinik für Forensische Psychiatrie am Bezirksklinikum Ansbach. Er gilt als ein rastloser Forscher, der neueste methodische Ansätze verfolgt und wissenschaftliche Projekte an seine kleine Klinik holt. Zudem legt er Wert darauf, dass seine Mitarbeiter sich regelmäßig bei Koryphäen der Kriminologie und Forensik fortbilden.
Ich verabrede mich mit seiner Mitarbeiterin, Oberärztin Dr. Gabriele Grupp.* Sie bietet mir an, mich einen Tag lang herumzuführen, und will versuchen, ob sie mich in eine »Lockerungskonferenz« mitnehmen kann. Ich freue mich, könnte ich doch in solch einer Konferenz hautnah miterleben, wie ein multiprofessionelles Team aus Psychiatern, Psychologen, Ergotherapeuten, Sozialarbeitern und Pflegern über mögliche Lockerungen der therapeutischen Maßnahmen für eine Handvoll Patienten diskutiert, vielleicht sogar über den ersten Alleinausgang für einen Sexualmörder? Doch ich habe mich zu früh gefreut. Eine Lockerungskonferenz sei nicht öffentlich, befindet der Chefarzt. Dann vielleicht eine Fallkonferenz? Zweimal im Jahr wird eine solche für jeden Patienten anberaumt. Das Ergebnis fließt in die Stellungnahme ein, die die Klinik vor der jährlichen gerichtlichen Anhörung an die Strafvollstreckungskammer schickt. Außerdem basieren darauf die Lockerungsentscheidungen, jedenfalls bei härteren Fällen. Eine Fallkonferenz ist also ziemlich wichtig. Sie wird von dem Therapeuten vorbereitet, der mit dem betreffenden Patienten arbeitet. Er muss im Vorfeld die kriminelle Vergangenheit des Patienten sowie dessen Verhalten in der Klinik beurteilen und eine Prognose abgeben über dessen Zukunftsperspektiven. Dies geschieht in Form eines standardisierten Bewertungsbogens mit dem Namen »Historical, Clinical, Risk«, auch bekannt als HCR-20. »Forensische Psychiatrie ist sehr genau«, erklärt Gabriele Grupp. »Da hat sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren viel getan. Früher waren die Bewertungen klinisch-intuitiv, heute gibt es Prognose-Instrumentarien wie eben den HCR-20.« Mit diesem betrachtet man das Rückfallrisiko unter den drei genannten Aspekten: Es gibt zehn »historische« Variablen, darunter »geringes Alter bei der ersten Gewalttat« sowie »instabile Beziehungen und Sexualität«, außerdem fünf »klinische«, wie »fehlender Behandlungserfolg« und »Mangel an Einsicht«, und schließlich noch fünf »Risikomanagement«-Variablen, etwa das »Fehlen realisierbarer Pläne« und »mangelnde Unterstützung«. Jeder der insgesamt zwanzig Variablen wird nach einem Drei-Punkte-System bewertet (0 = nein, 1 = möglich, 2 = ja) – je geringer die Gesamtpunktzahl, desto geringer das Risiko. Natürlich gibt es noch andere Prognose-Instrumente, sie tragen Namen wie VRAG (Leitfaden zur Abschätzung des Gewaltrisikos), ILRV (Integrierte Liste mit Risiko-Variablen), PCL (Psychopathie-Checkliste), SVR (Risikoschema für sexuelle Gewalt) oder SORAG (Risikobeurteilungsleitfaden für Sexualstraftäter). Je gefährlicher ein Patient ist, umso mehr Methoden wendet der Therapeut für die Risikoabschätzung an. Anhand dieser diskutieren die Teilnehmer der Fallkonferenz miteinander. Bei einem komplizierten Fall kann das bis zu drei Stunden dauern, erzählt mir Gabriele Grupp.
*Die mit einem Sternchen versehenen Namen wurden auf Wunsch der Personen geändert.
Doch auch die Fallkonferenz bleibt bloße Theorie für mich. Die beiden Patienten, über die demnächst gesprochen werden soll, sind mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden. Der Chefarzt bietet mir stattdessen die Hospitanz bei einer Visite an, außerdem eine Hausführung sowie Gespräche mit Patienten. Gespannt begebe ich mich auf den Weg nach Mittelfranken.
Es ist kurz vor neun Uhr morgens, und vor dem Bezirksklinikum Ansbach gibt es bereits keinen freien Parkplatz mehr. Kurz entschlossen stellt Gabriele Grupp ihren Wagen, mit dem sich mich vom Bahnhof abgeholt hat, in eine Halteverbotszone. Wenn der Sicherheitsdienst sie erwischt, darf sie einen Monat lang nicht mehr mit dem Auto auf das Gelände fahren, auf dem sich die Klinik für Forensische Psychiatrie befindet. Hier, wo etwa 180 psychisch kranke Straftäter jahrelang therapiert werden, müssen auch die 223 Angestellten mit Sanktionen rechnen, falls sie gegen die Hausordnung verstoßen. Die Oberärztin weiß um dieses Risiko, das sie nicht betrifft, denn gewöhnlich fährt sie mit dem Fahrrad zu ihrem Arbeitsplatz. Jahrelang war sie in der Psychiatrischen Institutsambulanz des Bezirksklinikums angestellt gewesen, vor zwei Jahren wechselte die damals Achtundvierzigjährige von der Allgemeinen zur Forensischen Psychiatrie. Sie hatte Lust auf etwas Neues und Interesse an der Arbeit mit schwerstkranken Patienten.
Die Klinik für Forensische Psychiatrie befindet sich in einer Parkanlage, die locker mit zwei- und dreistöckigen Gebäuden bebaut ist, der größte Teil davon ist über hundert Jahre alt. Inmitten dieser hübschen, pastellfarbenen Pavillons steht ein etwa sechs Meter hoher Stahlzaun mit Stacheldrahtkrone und Videokameras. Er umschließt einen hell getünchten Neubau mit linearen Konturen und großen Glasflächen. Von dem Zaun abgesehen, könnte es sich um eine moderne Ferienanlage handeln. Hier sind die gefährlichsten Patienten des Maßregelvollzuges untergebracht, die Neuankömmlinge und die Sexualstraftäter.
Die benachbarten Altbauten kommen mit elektronisch versperrten Türen und Fenstergittern aus. Hier leben diejenigen, die sich im Laufe der Jahre so weit gebessert haben, dass man ihnen Lockerungen zugestehen konnte, diejenigen, die vor allem mit Suchtproblemen kämpfen, und die überwiegend psychotischen Patienten, deren Krankheit so unbefriedigend verläuft, dass man sie wohl in Heimen unterbringen muss, in denen sie dann bis an ihr Lebensende bleiben.
Das neueste Projekt der forensischen Klinik ist eine Präventionsambulanz: Psychisch Kranke, die noch nicht straffällig geworden sind, aber ein entsprechendes »Risikoprofil« aufweisen, sollen die Therapie erhalten, die bislang nur für Straftäter vorgesehen war. Von behandelnden Psychiatern oder Bewährungshelfern werden sie hierhergeschickt, wo sie freiwillig trainieren können, wie sie mit ihrem Leben, ihrer Krankheit, mit ihren Gefühlen und den Gefühlen anderer besser klarkommen. »Compliance fördern« ist ein Schlagwort, das ich an diesem Tag mehrfach höre. Es steht für den Wunsch der Forensiker nach Ausbildung von kooperativen Patienten, die ihre Krankheit verstehen, ihre Medikamente nehmen und sich auch sonst an die Ratschläge der Mediziner und Psychologen halten – eine Ausbildung, die in der Allgemeinen Psychiatrie nicht möglich, aber langfristig sinnvoll ist, auch um potenzielle Opfer zu schützen und um den Bedarf an personalintensiven forensischen Kliniken zu senken.
Dies erfahre ich von der Oberärztin auf unserem Gang über das weitläufige Klinikgelände, das sie mit wehender Daunenjacke durchschreitet. An ihrer rechten Jackentasche hat sie eine Art Walkie-Talkie befestigt. Damit kann man telefonieren, und wenn man zweimal auf einen Knopf drückt oder das Gerät für wenige Sekunden auf dem Rücken liegen lässt, auch Alarm auslösen. Zur Arbeitsausrüstung gehört noch ein Chip, ein universeller Türöffner für die gesicherten Gebäude. Wir befinden uns auf dem Weg zum umzäunten Neubau. In der Aufnahmestation wird Gabriele Grupp den im Urlaub befindlichen Stationsarzt bei der Patientenvisite vertreten.
Im Eingangsbereich hängt das Leitbild der Klinik. Es umfasst acht Kernsätze, in denen der Wunsch nach »qualitativ hochwertigen Leistungen unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte« und nach einem »offenen, respektvollen und unterstützenden Umgang der Mitarbeiter, die sich als Teil eines gemeinsamen Unternehmens sehen« formuliert wird. Auf den Fluren könnte man Fußball spielen, an den Wänden sorgen Miró-Grafiken für kräftige Farbtupfer und beschwingte Linien. Der Chefarzt, höre ich, ist ein großer Miró-Bewunderer. Er will später noch zur Visite kommen, um sich dort einen Patienten anzuschauen, der jahrelang in einer benachbarten forensischen Klinik untergebracht war und dann zur Bewährung in eine Einrichtung entlassen wurde, in der es Schwierigkeiten gab. Nun ist er hierhergekommen, zur »Krisenintervention« – so bezeichnet man die auf maximal drei Monate befristete Aufnahme von bereits entlassenen Patienten, deren Zustand sich akut verschlechtert hat. Allerdings glauben die Ansbacher Psychiater nicht daran, dass es lediglich einer Krisenintervention bedarf, um diesen Patienten erneut entlassen zu können. Wohl eher werden die Richter dessen Bewährung widerrufen müssen.
In dem Raum, in dem die Visite stattfindet, kämpft die Oberärztin zunächst damit, den Computer zu starten, um die elektronischen Patientenakten einsehen zu können. Mutig klickt sie auf »Kennwort zurücksetzen« und erschreckt damit die Stationspsychologin. Mit einem beherzten Neustart siegt schließlich die Sozialarbeiterin gegen die Technik. Heute haben sich sieben Patienten angemeldet, die hier in Gegenwart von einem halben Dutzend Leuten ihre Probleme ausbreiten müssen, einem Tribunal aus Pflegern, Therapeuten, Ärzten und Praktikanten. Bevor ein Patient eintritt, wird er der Oberärztin stichpunktartig vorgestellt. Sie erfährt das Delikt und besondere Vorkommnisse, auch Diagnosen werden ihr genannt. Selten sind es sortenreine Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen, oft ist es ein Gemisch aus beidem mit einem Schuss ADHS oder gestörter Impulskontrolle.
Die Anliegen der Patienten sind unterschiedlich. Oft wünschen sie eine Änderung der Medikation, die sich bei den meisten noch im Probierstadium befindet. Es scheint nicht leicht zu sein, die richtigen Präparate zu finden beziehungsweise die ideale Kombinationen und Dosierungen, die Ärzte und Patienten gleichermaßen glücklich machen. Die Ärzte stehen in der Fürsorgepflicht, die Patienten scheuen die Nebenwirkungen oder bestreiten gar, an einer bestimmten Krankheit zu leiden. Beständig argumentiert und verhandelt Gabriele Grupp über Blutentnahmen, über einen Besuch beim Gynäkologen, ja sogar über eine dauerhafte Fixierung, also die Fesselung ans Bett, die sich einer ihrer Patienten anstelle von Medikamenten wünscht.
»Das gibt mir Halt und das Gefühl, dass ich zur Ruhe kommen kann«, sagt der Mann. In diversen Pflegefachbüchern hat er Argumente für sein Anliegen gesammelt. So dürfe ein Patient mit seinem Einverständnis durchaus fixiert werden, außerdem würde ein Gurt mit Klettverschluss nicht als Fixierung gelten. So harmlos sein Wunsch klingt: Die Ärztin darf ihn nicht unbeobachtet in einer Lage belassen, aus der er sich im Notfall nicht selbst befreien kann. Er müsste dauerhaft im monitorüberwachten »Kriseninterventionszimmer« – früher »Gummizelle« genannt – untergebracht werden. Im Hinblick auf seine Entlassung stellt dies eine Sackgasse dar. Aber die Therapeuten können gelassen bleiben. Die größte Ressource des Maßregelvollzuges besteht aus der Zeit, in der man auf die Einsicht der Patienten warten kann. Zeit, in der sie vieles ausprobieren können, um zu lernen, wie man »ins Leben zurückschwimmt«, wie es Gabriele Grupp formuliert.
Jedem hilft etwas anderes, darum ist die Palette der Therapieansätze breit gefächert. Neben der klassischen Psychotherapie können die Patienten Sport treiben oder Musik machen, sich künstlerisch oder handwerklich ausprobieren.
Nach der Visite zeigt mir die Oberärztin die Werkstätten, in denen professionell gearbeitet oder einfach nur gebastelt wird, denn auch im Umgang mit Laubsäge und Klebstoff können die Patienten erfahren, wie viel sie erreichen, wenn sie geduldig ein Projekt vorantreiben, es am besten mit einem Plan beginnen. Auf einen solchen würden seine Schützlinge gern verzichten, berichtet ein Ergotherapeut. »Manchmal lasse ich sie ins offene Messer laufen. Sie merken dann schon, warum es besser ist, zuerst eine Zeichnung anzufertigen.« Spätestens im zweiten Anlauf gelängen dann solche Projekte wie der Bau eines Vogelhäuschens oder einer kleinen Truhe. »Notfall« ist liebevoll auf einer Seite eingebrannt. Wenn sie fertig ist, soll sich darin alles versammeln, was ihren Besitzer in Stresssituationen beruhigt.
In der Beschäftigungstherapie werden auch sogenannte »Token-Pläne« – Bretter mit Stiftreihen – verziert. Wenn diese in den karg möblierten Zimmern aufgehängt worden sind, bekommen die Patienten jeden Tag eine bunte Scheibe, eine Farbe für die Tage, an denen sich der Patient gut geführt hat, eine andere für die, die weniger optimal verliefen. So kann man Verhalten visualisieren und den Patienten motivieren. Wie auch immer die Klinikmitarbeiter es schaffen: Ihre Schützlinge müssen mitarbeiten, müssen sich ändern, nur so können sie es schaffen, irgendwann für ihre Mitmenschen nicht mehr gefährlich zu sein.
Der größte Anreiz sind die bereits erwähnten »Lockerungen«, als da wären: Ausgang mit Bediensteten – unbegleiteter Ausgang – Urlaub tagsüber – Urlaub mit Übernachtung. Es gibt noch weitere Abstufungen, sodass man am Ende auf zwölf Möglichkeiten der Lockerung kommt. Die größte Diskussion verursacht der Übergang vom begleiteten zum unbegleiteten Ausgang – vor allem bei Gewalt- und Sexualstraftätern, erzählt mir Gabriele Grupp. Da kann es schon mal eine Dreiviertelstunde dauern, bis etwa dreißig, vierzig Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter und leitende Mitarbeiter der Pflege sich einigen, ob man einen Patienten bei der Staatsanwaltschaft für eine Lockerung vorschlägt. Andernfalls lautet die Empfehlung, der Patient müsse noch die Suchtgruppe oder die Gruppe für Sexualstraftäter besuchen oder sein Delikt gemeinsam mit seinem Psychotherapeuten noch gründlicher ins Verhältnis zu seiner Biografie setzen. Umgekehrt geht es schneller: Genehmigte Lockerungen können jederzeit gesperrt oder ganz zurückgenommen werden, je nachdem, wie gravierend der Patient gegen seine Auflagen verstoßen hat. Bei den meisten Rückfällen handelt es sich in den Augen von Außenstehenden um Lappalien nach dem Motto: »Hat er halt ein Bier getrunken!« Oder: »War doch nur eine kleine Verspätung!« Fachleute bewerten das strenger. Für sie gilt ein solches Verhalten als Mangel an Zuverlässigkeit, Kooperation und Einsicht in die Notwendigkeit. Mindestens ein halbes Jahr tadelloser Führung muss vergehen, ehe so ein Fehltritt verziehen ist. Dann erhält der Patient eine neue Chance. Er darf wieder eine Sprosse auf der Lockerungsleiter emporsteigen, die ihn irgendwann einmal – vielleicht – in die Freiheit führt.
Das Geburtstagsgeschenk
Dreiundzwanzig wird er in wenigen Wochen. Dreiundzwanzig. Was für eine Zahl! So mystisch, so unheimlich, so verheißungsvoll! Doch was würde schon auf ihn warten? Auf ihn, Niklas N., den Loser der Nation, schmächtig, schüchtern, stotternd? Nichts hatte er bislang hinbekommen, rein gar nichts. Damals in der Schule, als seine Großmutter ihm Briefe schickte, die »An den Gymnasiasten Niklas N.« adressiert waren, da galt er in der Familie noch als die große Hoffnung, der Erste in der Schar seiner Cousins und Cousinen, der das Abitur schaffen, der Erste, der aufsteigen würde. So ein Erwartungsdruck! Natürlich hatte er wieder einmal versagt, er hatte zu wenig gelernt. In der zwölften Klasse brach er die Schule ab. Seine Eltern waren tief enttäuscht. Bei seiner Mutter war ihm das egal, bei seinem Vater weniger. Der wollte nun, dass er Bäcker wurde, und organisierte ihm einen Ausbildungsplatz. Nach anderthalb Jahren warf er auch dort das Handtuch. Seine Eltern schmissen ihn zu Hause raus, er flüchtete zu einem Bekannten. Ein paar Monate später bewarb sich Niklas N. dann um die nächste Ausbildung, in einer Stadt, hundertdreißig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt.
Seit zwei Jahren besucht er dort nun eine Schule für Physiotherapie. Ansonsten ist alles beim Alten geblieben: Er stottert noch immer, ist noch immer der Außenseiter, hat noch immer keine Freundin und in seinem Leben nichts Vorzeigbares zustande gebracht. Nicht nur er sieht das so. Erst neulich, bei einem Besuch zu Hause, hat ihm sein Vater eine Liste überreicht, auf der alle Kosten aufgeführt waren, die er, das einzige Kind, seit seiner Geburt verursacht hat. Wo die Gegenleistung bliebe, erkundigte sich der Vater. Was soll man dazu sagen? Niklas N. war wütend abgereist. Er weiß nur eins: Er muss an seinem Plan festhalten. Ja, er wird ihn umsetzen müssen. Er würde einen Menschen töten, am besten einen Schwulen. Er wird ihn in seine Wohnung locken und dort erstechen. Es muss jemand sterben – um seinetwillen. Nur so kann er aus seinem traurigen Dasein herausfinden. Er wird sich beweisen, dass er ein Verbrechen begehen kann, das sich kaum einer traut. Keine Scheußlichkeit wird er dabei auslassen. Niemand wird davon erfahren, nur er allein wird das Versteck der Leiche kennen. Er wird sich in Acht nehmen, er hat genügend Bücher und Filme gesehen, um zu wissen, wie man es richtig anstellt. Wenn ihm dann noch einmal jemand dumm kommt, wird er an sein finsteres Geheimnis denken und daran, dass sein Gegner nicht weiß, wie gefährlich er ist. Er würde sich mächtig vorkommen, männlich und charismatisch. Ein großartiges Gefühl! So würde er sich in einen neuen Niklas N. verwandeln. Dann hätte sein Leben einen Sinn, es könnte endlich beginnen.
Monate später entdeckt ein Mann, der mit Frau und Kindern Schwäne füttert, einen sonderbaren Gegenstand im Wasser. Vielleicht ein toter Fisch? Als er mit einem Ast danach stochert, erkennt er einen menschlichen Arm. In den nächsten Tagen tauchen weitere Körperteile einer männlichen Leiche auf: der andere Arm, eine obere und eine untere Torsohälfte, die Oberschenkel. Wer ist dieser unbekannte Tote, dessen Kopf und Finger verschwunden sind und an dessen Körper einige seiner abgeschnittenen Haare kleben? Die Kriminalpolizei überprüft sämtliche Vermisstenfälle, auch den Hinweis einer jungen Frau, die einen guten Bekannten vermisst, Florian F., einen Dreiundzwanzigjährigen mit halblangen schwarzen Haaren. Sie wollten zusammen zu einem Treffen der Manga-Szene fahren. »Flo« war dieses Treffen wichtig gewesen, und seine Bekannte wunderte sich, dass er nicht gekommen war, er hatte schon die Teilnahmegebühr bezahlt, obwohl er wenig Geld hatte. Eine Zahnbürste, ein T-Shirt und asiatische Essstäbchen, die die Beamten aus der Wohnung des Vermissten besorgen, bringen Gewissheit: Der zerstückelte Tote ist Florian F.
Die Polizisten durchsuchen die verwahrloste Wohnung. Sie finden einen am Computer geschriebenen, ausgedruckten Brief:
»Ich wollte eigentlich eine Rundmail an alle schicken, aber so habt ihr was in der Hand, und es kriegen nur die mit, die es was angeht. Als ich mich auf den Weg machen wollte, um gemeinsam mit Freunden meine Bewerbungen zu schreiben, kam mir schlagartig etwas in den Sinn. Worum will ich mich da eigentlich bewerben? Um eine zukünftige geregelte Arbeit, mit Steuern und anderen Abzügen? Um einen Acht-Stunden-Tag und wenig Freizeit? Und dafür soll ich eine dreijährige Ausbildung machen? Wozu? Ich kann, was ich kann und fertig. Ich will keine Zeit mit einer Ausbildung verschwenden. Das gefällt mir nicht. Bevor ich so weit bin, stehen mir jede Menge Probleme bevor. Schulden bei der Bank und ein Schufa-Eintrag sind das Letzte, was ein junger Mensch heutzutage braucht. Ich werde nicht daran vorbeikommen, beides zu haben. Dazu kommt noch das Jobcenter, das mir im Nacken sitzt, was mir ein bisschen Angst macht. Man könnte echt depressiv werden. Ich habe keine Lust, Teil dieses Systems zu werden. Deshalb habe ich mich mit einem Freund von außerhalb getroffen, bei dem ich vorläufig unterkomme. Er ist Mitglied in einer Gruppe mit sympathischen Ansichten und hat mit mir ein paar Ideen besprochen. Er kann mir da raushelfen. Seine Freunde können meine Fähigkeiten gebrauchen, anders als die Arbeitgeber, die ich so kennengelernt habe. Dort kann ich jede Menge lernen und mir sogar aussuchen was. Dafür muss ich allerdings sofort mit ihm los. Ich habe ein paar Klamotten mitgenommen, etwas zu essen und alles, was man so braucht. Ich komme wieder, sobald es geht, und hole den Rest ab. Dabei könnte ich wohl eure Hilfe gebrauchen. Aber das klären wir, wenn ich wieder da bin. Bis später.«
Die Beamten überprüfen den Freundeskreis des Opfers. »Ein Riesenumfeld«, wie die Ermittlungsführerin vor Gericht sagt. Auch der Name »Niklas N.« taucht auf. Der junge Mann wird zur Zeugenvernehmung geladen, erscheint aber nicht. Per E-Mail entschuldigt er sich für sein Fernbleiben, er habe einen engen Freund verloren und darum die Stadt verlassen. Er schildert seine Beziehung zu Florian F., der mehrmals in der Woche zu ihm gekommen sei, zum Videospielen, Reden und Kochen. Florian habe keine Feinde gehabt, lediglich Selbstfindungs- und Finanzprobleme. Er wisse nicht, was der Freund getan habe, um an Geld heranzukommen. Vielleicht sei »da etwas schiefgelaufen«. Die Ermittler lassen nicht locker. Er müsse persönlich zur Vernehmung kommen, antworten sie. Niklas N. lässt auch den nächsten Termin verstreichen.
Bis zur Identifizierung seines Opfers hat er noch die Berufsschule besucht, damit ist jetzt Schluss. Nach und nach bricht er alle Kontakte ab, auch zu den Eltern. Er verkriecht sich bei einem Bekannten, den er in einem Chat-Forum kennengelernt und mit dem er von seinem Festnetzanschluss telefoniert hat.
Die Kriminalisten entdecken die Verbindung zwischen den beiden Männern. Während der Bekannte in seiner Vernehmung bestreitet, den Gesuchten zu beherbergen, versteckt sich Niklas N. in einem nahe gelegenen Wald. Es ist Winter, er hat einen Schlafsack, ein Buch und Weißbrot bei sich, er wartet und friert – und ist weit weg von Macht und Männlichkeit. Nach drei Wochen wagt er sich wieder in seine Zufluchtswohnung. Mittlerweile hat eine Sachverständige den angeblichen Abschiedsbrief von Florian F. untersucht und darauf eine DNA-Spur sowie »einen sehr schönen Daumenabdruck« von Niklas N. gefunden. Die Beamten begeben sich zur Wohnung, in der sie den Verdächtigen vermuten. Sie verpassen ihn. Sechs Wochen lang hören sie das Telefon des Bekannten ab, bis sie endlich die Stimme von Niklas N. vernehmen. Als sie den blassen, eingeschüchterten Mörder verhaften, sagt der: »Es tut mir unendlich leid. Sie wissen schon … was ich getan habe.«
Im Rucksack von Niklas N. finden die Beamten ein Diktiergerät, mit dem er aufgezeichnet hat, was ihn in den letzten Monaten bewegt hat. Es sind wirr anmutende Gedankensplitter. Es wirkt befremdlich, wenn jemand einen Mord plant wie andere ihre Hochzeitsfeier. »Ich werde ihn hier zu mir einladen, wir werden Sex haben. Ich gehe mit ihm ins Bad und werde ihn dort töten. Dann werde ich die Leiche zerteilen … Ich gehe nachts raus, um sie zu beseitigen, nehme aber noch ein bisschen von der Wade mit … ein bisschen Fleisch zum Braten. Ich sollte die Fingerspitzen und den Kopf irgendwie entsorgen … Ich muss ihn zertrümmern und im Wald vergraben …« Selbst eine Art Einkaufsliste stellte Niklas N. zusammen: Chlor, Handschuhe, Kondome, Folien, Müllbeutel wollte er nicht vergessen.
Die Anklage wegen Vergewaltigung, schwerer Körperverletzung, Mord und Störung der Totenruhe stützt sich auch auf diese Tonaufnahmen. Florian F. starb genau am dreiundzwanzigsten Geburtstag des Angeklagten. Die Staatsanwältin geht davon aus, dass er sich den Mord zum Geburtstag schenkte: »Es kam ihm darauf an, einen Menschen sterben zu sehen.« Er habe zunächst einen passiven Homosexuellen in seine Wohnung locken wollen. Da es dem kontaktscheuen Mann nicht gelang, einen Fremden für sich zu interessieren, musste ein Freund dran glauben. Er ließ Florian F. in seine Wohnung und schlug ihn dort nieder, so die Anklägerin. Florian F. lebte noch, als Niklas N. ihm die Geschlechtsteile abschnitt und ihn anschließend mit mindestens zweiundzwanzig Stichen in den Rücken tötete. In der Badewanne trennte er dem Toten mit einer Gartenschere die Fingerkuppen ab, öffnete den Leichnam und zerteilte ihn. Nachts steckte er Leichenteile in seinen Rucksack und lief mehrmals gut zwei Kilometer zu einem Fluss, wo er seine Fracht entsorgte.
Niklas N. sitzt mit hängendem Kopf und gequälter Miene zwischen seinen beiden Anwälten. Zuweilen überwältigt ihn seine Anspannung, dann wippt er unruhig auf seinem Stuhl oder reibt sich intensiv die Stirn. Zu den Vorwürfen äußert er sich per Video, das seine Anwälte in der Haftanstalt aufgenommen haben. Auf diese Weise wollen sie dem Gericht und vor allem dem psychiatrischen Gutachter zeigen, dass die Persönlichkeit ihres Mandanten hochgradig gestört ist. Die Vorführung des Videos findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, auch die Erstattung des psychiatrischen Gutachtens. Lange bleibt für Prozessbeobachter das Motiv des Angeklagten rätselhaft.
Erst als der Vorsitzende Richter in der Begründung seines Urteils den Inhalt der Beweisaufnahme zusammenfasst, lüftet sich das Geheimnis. Florian F. wurde das Opfer eines Menschen, der in scheinbar geordneten Verhältnissen aufwuchs, jedoch emotional so vernachlässigt wurde, dass er immer depressiver wurde und jegliches Selbstvertrauen verlor. Ein unbändiger Hass staute sich in ihm an, den er aber nie zu zeigen wagte. Niemand ahnte daher, wie es in Niklas N. brodelte.
Auf der Physiotherapieschule begegnete er Paul P. »Freundschaft« ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort für das, was Niklas N. für ihn empfand. In der Videoaussage erklärte der Angeklagte, seine Mitmenschen seien in seinem Leben nur Touristen. Paul P. wohnte schräg gegenüber, so verbrachten die beiden viel Zeit miteinander. »Er hat nur wenig von seinen Gefühlen preisgegeben«, sagt der ehemalige Mitschüler, aber Niklas N. habe einiges von seinem Elternhaus erzählt, auch von den wenigen, eher frustrierenden sexuellen Erfahrungen, die er mit ein, zwei Frauen gemacht habe und von seinen Depressionen. »In der Schule wurde er oft gemobbt.« Die Mitschüler schubsten den schüchternen Stotterer herum und riefen: »Du stinkst« und »Du Nichtskönner!«. Ein älterer Mitschüler soll ihn sogar zum Oralverkehr gezwungen haben. Die Lehrer seien nicht eingeschritten, er selbst habe sich nicht gewehrt, sondern sich verängstigt zurückgezogen. Einem Mitschüler berichtete er von einem Tagebuch, in dem er sich ausmalte, wie er Rache an seinen Peinigern nimmt. In solchen Momenten wünschte er sich, wie sein Vater zu sein, ein Machertyp, intelligent und durchsetzungsfähig, das Gegenteil von seiner schwachen Ja-Sager-Mutter, einer einfachen Frau, die in seiner Kindheit so selten zu Hause war, dass er sie als »Tante« angesprochen hatte.
»Sein Vater war kaltherzig«, sagt Paul P. »Der hat ihn niemals in den Arm genommen. Wenn Niklas weinte, hat er ihn ignoriert. Niklas hat es als Erziehungsmethode akzeptiert. Sein Vater war ein Rechthaber, wusste immer alles besser, musste immer gewinnen. Das hat ihm Spaß gemacht. Niklas hielt seinen Vater für einen Psychopathen, für einen, der sein Ding macht, sich auf sich selbst konzentriert und frei von Gefühlen lebt. Das hat Niklas fasziniert. Seine eigenen Emotionen haben ihn belastet, seine Wut und sein Hass, weil sie ihm selbst galten. Sich von allen Gefühlen zu lösen, ein charismatischer, manipulativer Psychopath werden, das war sein Traum.«
Niklas N. habe sich für Gewaltfilme interessiert und für Serienkiller, die er ebenso bewunderte wie seinen Vater. Pauls Freundin gegenüber erzählte er, »dass er auf Ballerspiele stehe«.
»Schießt man da auf Kreise?«, erkundigt sich der Vorsitzende Richter.
»Nein, auf Menschen. Das machte ihm Spaß. Wir haben mal zusammen einen Film über einen Amoklauf geguckt. Der war einfach krank, Niklas fand die Darstellung cool.«
Im Krankenhaus, in dem Niklas N. ein Praktikum absolvieren musste, entsetzte er eine Ausbilderin mit seiner Faszination für sterbende Menschen. Sehnlichst wünschte er sich, bei einer Herzoperation hospitieren zu dürfen, sie lehnte das wegen der zweifelhaften Motive ab. Auf seinem Zeugnis notierte sie »mangelnde Empathiefähigkeit«, das habe sie noch keinem Praktikanten bescheinigt.
»Niklas beschäftigte sich vor allem mit sich selbst, nicht mit der Gefühlswelt anderer«, bestätigt Paul P. Der Freund habe über die Veränderung seines Äußeren, über Krafttraining und Proteinshakes sinniert. »Er wollte so breite Schultern haben, dass er nicht mehr durch die Tür passt.« Dennoch hätten sie »sehr tiefgründige, intellektuelle Gespräche« geführt, auch zu dritt mit Florian F., einem Einzelgänger wie sie. »Niklas und Florian hatten die Angewohnheit, gerne zu reden und alles breitzutreten.« Dennoch seien beide völlig unterschiedlich gewesen: Florian F. war der stets grinsende, hilfsbereite, euphorische Optimist und Niklas N. der schüchterne, egozentrische Pessimist.
Auf der Suche nach dem Sinn in seinem Leben habe der Angeklagte von einer politischen Bewegung geträumt. Mit einem Bekannten wollte er eine geheime Bruderschaft gründen, sie wollten Wissen darüber sammeln, was in dieser Gesellschaft falsch laufe, und ihre Erkenntnis mit aufrüttelnden »Briefen ans Volk« propagieren. Sich und ihrer Organisation gaben sie lateinische Namen, das Erkennungszeichen sollte ein Pentagramm ein, das sich Niklas N. sogar mit einem Teppichmesser in den Unterarm ritzen ließ.
Paul P. lacht auf, als er zu diesen politischen Aktivitäten gefragt wird. »Man wollte halt irgendwas machen, irgendwann, irgendwie. Ich habe gesagt: Na, dann legt mal los!« Niklas N. habe auf die Zeit nach der Ausbildung verwiesen und von einem Fantasyroman erzählt, den er bis dahin schreiben wollte, um die »Bruderschaft« zu finanzieren. Überhaupt habe sich der Angeklagte gern in Parallelwelten geflüchtet, in die Weiten des Internets, in dem er Final Fantasy gespielt und gechattet habe – in der Rolle eines Menschen, den er für mutig, selbstbewusst und charismatisch hielt.
Florian F. habe ebenfalls viel vor dem Computer gehangen, den er virtuos beherrschte. Bereitwillig half er vielen Bekannten bei Computerproblemen, auch Paul P. Der beschreibt den Verstorbenen als »schusselige, freundliche Begeisterungsmaschine«, der aber »keine Ahnung vom Zwischenmenschlichen hatte«, der beispielsweise nicht wusste, dass man einen Arbeitgeber nur sehr vorsichtig kritisieren darf. Offen und naiv sei der Freund gewesen, auf jeden sei er gleich zugekommen, auch auf Pauls Freundin, die ihm in einer depressiven Phase von ihrer »schlechten Kindheit« erzählte. Er habe ihr geraten: »Schreib einfach ein Buch! Fang einfach an. Das hilft, und dir ist nie langweilig!«
Paul P. hielt den Verstorbenen für hochintelligent: »Er hat sich für alles interessiert und alles konsumiert, was er in seinen Kopf stopfen konnte. Seine Welt war bestimmt doppelt so bunt wie unsere, er wirkte, als ob er auf Droge wäre.« Ordnung und Struktur seien weniger sein Ding gewesen. »Er hat gemacht, wozu er Lust hatte.« Seine alleinerziehende Mutter war mit dem hochbegabten Autisten nicht zurechtgekommen, seine Pflegemutter hatte ihn auf ein Internat geschickt, wo er das Abitur gemacht hatte. Danach kämpfte er mit den Anforderungen des täglichen Lebens. Wenn er einen Job hatte, schaffte er es nicht, die Arbeitszeiten einzuhalten. Er kam auch nicht den Auflagen des Jobcenters nach. Die Körperpflege überforderte ihn. Seine Wohnung glich einem Müllhaufen, Zeitschriften dienten ihm als Teppich, sein Bett bestand aus zwei Regalen, über die er eine Matratze gelegt hatte. Oft übernachtete er bei einem seiner vielen Bekannten, wo er duschte und seine Wäsche wusch. Die Wohngemeinschaft, in der Niklas N. gemeinsam mit einer Mitschülerin lebte, gehörte zu seinen Anlaufstellen. Auch an seinem Todestag begab er sich dorthin. Er wollte dem Geburtstagskind ein Essen kochen.
Es war ein Mittwoch. Bis Sonntag würde die Mitbewohnerin von Niklas N. noch bei ihren Eltern sein, diesen Umstand hatte der Mörder bereits bei der Entwicklung seines Plans bedacht. Nun war Florian F. bei ihm eingetroffen. Spätestens jetzt musste er beschlossen haben, seine monatelang gehegten Fantasien an diesem Opfer zu verwirklichen.
Mit einem Streitgespräch versetzte er sich nach eigenen Angaben in die nötige aggressive Stimmung, dann schlug er zu. Sein Opfer war noch nicht tot, als er es ins Bad schleppte. Mit einem Dolch versetzte er Florian F. dann die Stiche in den Hals und in den Rücken. Der Angeklagte habe seinen Plan ziemlich genau abgearbeitet, so der Richter, allerdings habe er den Sterbenden weder gefesselt noch vergewaltigt, wie es die Staatsanwältin aufgrund des diktierten Tatplans vermutet hatte. »Er war beim Anblick der leblosen Gestalt, die durch Blut und andere Flüssigkeiten alles andere als gut ausgesehen haben muss, nicht dazu in der Lage gewesen«, meint der Richter. Das Gegenteil lässt sich nicht beweisen, selbst wenn der Rechtsmediziner im After des Verstorbenen ein prostataspezifisches Antigen fand, also einen unspezifischen Beweis für Sperma. Dieses könne auch vom Opfer stammen. Der Rechtsmediziner bemerkte noch den auffallend sauberen Darm: »Doch man kann aus dem Fehlen von Kot kein Sexualdelikt ableiten.« Dies könne andere Ursachen haben, zumal sich der Torso des Toten mit dem zu beiden Seiten offenen Darm fast vier Wochen lang im Wasser befunden hatte.
Während Florian F. noch bewusstlos im Bad gelegen hatte, schnitt ihm sein Mörder Penis und Hodensack ab, dann die Finger. Danach zerlegte er den übrigen Körper. Dabei sei es ihm »nicht nur um die Erleichterung des Transports« gegangen, so der Richter, »sondern in erster Linie um den Bruch von Tabus«. Deshalb habe er dem Toten die Haare abgeschnitten, deshalb seinem noch warmen Körper die Organe entnommen.
Die Leichenteile verstaute er in Müllsäcken und legte sie in den Kühlschrank. Dort sammelte sich das Blut seines Opfers zunächst in einer Auffangschale, die dann überlief und ihren verräterischen Inhalt auf den Boden ergoss.
Am späten Nachmittag kam ein Bekannter, Richard R., zu Besuch, den hatte Niklas N. vor einigen Monaten beim Wave-Gothic-Treffen kennengelernt. Sie saßen in der Küche, spielten Computer und aßen Pizza. Der Hausherr sei ständig »rumgewuselt«, erinnert sich Richard R. Er habe »hastig« Tee gekocht, dann seien sie gemeinsam »schnell zu Paul rübergegangen«. In dessen geräumiger Wohnung wollte Niklas N. seinen Geburtstag feiern, wenn man das so bezeichnen möchte. Niklas N. war zu diesem Termin eigentlich nie nach Geselligkeit zumute gewesen. Aber er wollte bei Paul P. Blutspuren und Haare seines Opfers hinterlegen. Falls etwas schiefginge, könnte er ihm den Mord in die Schuhe schieben. Zu dritt spielten sie ein Videospiel und tranken den von Richard mitgebrachten Glühwein, Pauls Freundin saß gelangweilt daneben.
»Möglicherweise«, so der Vorsitzende Richter, »erschien der Angeklagte auch auf der Geburtstagsfeier, um sich zu beweisen, dass niemand merkt, was er gerade getan hat.« Mit Erfolg.
»Er sah aus wie immer, ein bisschen geistesabwesend wirkte er«, erinnert sich Richard R. »Aber er hatte immer diese neutrale Fassade, man konnte nie wissen, was er fühlt und denkt.«
Paul P. fand es merkwürdig, dass Florian F. nicht erschien: »Doch wir kannten das schon von ihm.« Der Gastgeber schrieb eine SMS, wie schön es wäre, wenn Florian noch kommen würde. Keiner sorgte sich ernsthaft.
Vier Stunden später kehrte Niklas N. dann in seine Wohnung zurück. Die Putzaktion, die er jetzt startete, hätte er sich sparen können. Zwar gelang es ihm mit Hilfe eines Chlorreinigers, die Blutspuren in seinem Zimmer und im Bad erstaunlich gründlich zu beseitigen, aber die Blutlache unter dem Kühlschrank bemerkte er nicht – im Gegensatz zu den Kriminalbeamten, für die nach einer Hausdurchsuchung kaum noch ein Zweifel daran bestand, wer der Mörder von Florian F. war.
Am Ende der Beweisaufnahme bestätigt der psychiatrische Sachverständige die Auffassung der Verteidiger, der Angeklagte sei psychisch krank. Der Gutachter spricht von einer Persönlichkeitsstörung, also von Persönlichkeitszügen, die sich in ihrem Ausprägungsgrad so weit von der Norm abheben, dass der Betreffende durch sie in vielen Bereichen seines Lebens fortwährend scheitert. Bei Niklas N. handelt es sich um die selten auftretende Form der schizoiden Persönlichkeitsstörung, die sich durch eine tiefgreifende Bindungsstörung sowie Schwierigkeiten mit dem Wahrnehmen und Ausdrücken von Gefühlen auszeichnet. Die Betroffenen sind introvertierte Einzelgänger, die nur an wenigen Tätigkeiten Freude empfinden und kein Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Sie wurden von klein auf emotional vernachlässigt und mussten lernen, auf Gefühle zu verzichten. Darum können sie solche bei anderen nur schwer wahrnehmen und selbst ausdrücken. Sie wirken kühl und distanziert. Gerne flüchten sie sich in Fantasiewelten. Beim Angeklagten sei die Persönlichkeitsstörung zudem von einem massiven neurotischen Vaterkonflikt überlagert worden.
Diese Einschätzung reicht für eine verminderte Schuldfähigkeit. Mindestens vierzehn Jahre soll dem Mörder von Florian F. die Freiheit entzogen werden, er wird in einer forensischen Klinik untergebracht. »Es wird sich zeigen, ob Sie mit dieser Persönlichkeitsstörung umzugehen lernen«, sagt der Vorsitzende Richter in Richtung des Angeklagten. »Das wird sicherlich ein langer Weg werden. Ob Sie ihn meistern, ist alles andere als sicher, angesichts der Abgründe, die Sie uns hier gezeigt haben.«
Die Verteidiger sind zufrieden, im Maßregelvollzug sei ihr Mandant besser aufgehoben als im Gefängnis, wo er erneut in die Opferrolle gleiten würde und ohne intensive Therapie wohl kaum von seinen Gewaltfantasien loskommen würde. Zudem sei es für Niklas N. von Vorteil, nicht in die Kategorie »Sexualmörder« zu fallen, so habe er eine größere Chance, irgendwann einmal wieder in die Freiheit entlassen zu werden.
Mit der Verurteilung des ehemaligen Freundes endet auch für Paul P. ein bewegendes Kapitel seines Lebens. Was hatte er für Ängste ausgestanden, als zunächst Florian nicht mehr aufgetaucht war und dann auch noch Niklas spurlos verschwand. Ihm schwante, dass ihnen etwas zugestoßen sein musste. Er befürchtete schon, das nächste Opfer zu sein!
So falsch lag er mit dieser Vermutung nicht. »Der Angeklagte hat keineswegs Abstand von seinen Tötungsfantasien genommen«, erklärt der Richter in seiner Urteilsbegründung. »Auch nach der Tat beschäftigte er sich mit solchen Gedanken.«
Es gab sogar eine Todesliste mit weiteren möglichen Kandidaten. Paul P. stand ebenfalls darauf.