Markus Maurer, Emil Wettstein, Helena Neuhaus
Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz
Bestandesaufnahme und Blick nach vorn
ISBN Print: 978-3-0355-0353-1
ISBN E-Book: 978-3-0355-0354-8
Fotos: Reto Schlatter, www.retoschlatter.ch
1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.ch
Vorwort
Dank der Herausgebenden
Abkürzungen
Grundlagen
1 Weshalb dieses Buch?
1.1 Worauf wir unseren Blick richten
1.2 Methodische Grundlagen des Buches
1.3 Zum Aufbau des Buches
2 Begriffe und Konzepte
2.1 Berufsabschluss
2.2 Beruflich geringqualifizierte Erwachsene
2.3 Erwachsenengerechte Didaktik
2.4 Formelle Anerkennung erworbener Kompetenzen
2.5 Modularisierung in der Berufsbildung
3 Historische Entwicklung und aktuelle Bedeutung
3.1 Entwicklung
3.2 Sinn und Zweck der beruflichen Grundbildung für Erwachsene
Aktuelle Situation in der Schweiz
4 Rechtliche Grundlagen
4.1 Vorbemerkung
4.2 Bundesgesetz über die Berufsbildung
4.3 Bundesgesetz über die Weiterbildung
4.4 Arbeitslosenversicherungsgesetz
4.5 Fachgesetze
4.6 Kantonale Gesetzgebung
5 Wege zu einem Berufsabschluss für Erwachsene
5.1 Direkte Zulassung zur Abschlussprüfung
5.2 Validierungsverfahren
5.3 Reguläre berufliche Grundbildung
5.4 Verkürzte berufliche Grundbildung
5.5 Kurzausbildungen
5.6 Stufenweiser Erwerb eines Abschlusses der beruflichen Grundbildung
5.7 Ansätze in der höheren Berufsbildung
5.8 Wiedereinstieg für Frauen
6 Herausforderungen der beruflichen Grundbildung für Erwachsene
6.1 Kosten und ihre Finanzierung
6.2 Haltung der Betriebe zur beruflichen Nachqualifizierung Erwachsener
6.3 Grundkompetenzen
6.4 Information, Motivation und Vermittlung der Zielgruppe
6.5 Anerkennung erworbener Kompetenzen
6.6 Kompetenzerwerb an den Berufsfachschulen
6.7 Beratung und Begleitung während der Ausbildung
6.8 Zusammenarbeit beim Vollzug
6.9 Politischer Wille
7 Bestehende Angebote mit wegweisenden Elementen
7.1 Produktionsmechaniker: Solothurn und Berner Jura
7.2 Uhrenindustrie – berufsbegleitende Ausbildung zum EFZ
7.3 Informatik: Berufslehre für Erwachsene
7.4 Validierungsverfahren EFZ
7.5 Progredir – ein Programm von ECAP und Unia
7.6 Berufsabschluss für Erwachsene als Teil eines umfassenden Weiterbildungsangebots
7.7 FORJAD und FORMAD – Stipendium statt Sozialhilfe
7.8 Finanzierung durch Sozialhilfe und Ausbildungsbeiträge
7.9 Hotel & Gastro formation
7.10 Piccobello – Bereich Hauswirtschaft, ECAP
7.11 Vorlehre 25 Plus
7.12 AMIE – ein Unterstützungsprogramm für junge Mütter
7.13 Das Eingangsportal der Nordwestschweiz als Erstkontakt
7.14 Allgemeinbildender Unterricht
Berufsbildung für Erwachsene in ausgewählten Staaten Europas
8 Modelle für die berufliche Qualifizierung von Erwachsenen
8.1 Deutschland
8.2 Österreich
8.3 Frankreich
8.4 Schweden
Auf dem Weg zu einer erwachsenengerechten Berufsbildung
9 Merkmale eines wirkungsvollen Systems
9.1 Berücksichtigung erworbener Kompetenzen
9.2 Berücksichtigung der Lebenssituation von erwachsenen Lernenden
9.3 Berücksichtigung des Lernverhaltens von Erwachsenen
9.4 Ressourcen berücksichtigen
9.5 Kein Abschluss ohne Anschluss
9.6 Begleitung der Lernenden
9.7 Tragbare Kosten für die Einzelperson
9.8 Ein einfaches und sicheres System
9.9 Ausgleich der Benachteiligung gegenüber jugendlichen Lernenden
10 Berufsbildung für Erwachsene – «Modell 2025»
10.1 Wirkung der beruflichen Grundbildung für Erwachsene nach dem «Modell 2025»
10.2 Grundsätze
10.3 Orientierung am Qualifikationsprofil – Modularisierung
10.4 Struktur des «Modells 2025»
10.5 Planungsphase
10.6 Kompetenzerwerb
10.7 Abschlussphase
10.8 Begleitung – die entscheidende Nebensache
10.9 Öffentlichkeitsarbeit
10.10 Finanzierung – erst wo ein Weg ist, ist auch ein Wille
10.11 Steuerung: Kantonsübergreifende Zusammenarbeit realisiert
11 Handlungsempfehlungen
11.1 Steuerung
11.2 Finanzierung
11.3 Öffentlichkeitsarbeit
11.4 Stufung der Ausbildung
11.5 Modularisierung anhand der Qualifikationsprofile
11.6 Begleitung
11.7 Grundkompetenzen
11.8 Anerkennung erworbener Kompetenzen
11.9 Kompetenzerwerb
11.10 Abschlussphase beim Validierungsverfahren
11.11 Last but not least: Entscheidend ist der politische Wille
Exkurse
1 Einwände
2 Anerkennung und Erwerb der Allgemeinbildung
3 Mehrere Begriffe für die direkte Zulassung
4 Berufsmaturität für Erwachsene
5 Wenn der Lehrlingslohn nicht reicht
6 Regelung der Validierung in der EU und Praxis in Nachbarstaaten der Schweiz
Literatur
Liebe Leserinnen und Leser
In Sachen Arbeitslosigkeit steht die Schweiz im europäischen Vergleich seit Jahren gut da. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Erwachsene ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss sind weniger gut in den Arbeitsmarkt integriert. Die Gefahr von Arbeitslosigkeit ist für sie einiges grösser als bei Personen mit einem entsprechenden Abschluss. Zudem arbeiten Erwachsene ohne Abschluss überdurchschnittlich oft zu tieferen Löhnen. Die Nach- und Höherqualifizierung von Erwachsenen ist daher von grosser Bedeutung. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren voraussichtlich noch weiter zunehmen wird. Gründe dafür sind die neuen Zuwanderungsbestimmungen und die demografische Entwicklung in der Schweiz. Diese Herausforderungen gilt es zu meistern.
Die Schweiz verfügt mit dem Bundesgesetz über die Berufsbildung über ein offenes Rahmengesetz, das flexible Massnahmen zulässt. Dazu zählen unter anderem Berufsabschlüsse und Berufswechsel für Erwachsene oder – mit anderen Worten – für potenzielle Fachkräfte.
Pro Jahr erlangen bereits über 7000 Personen ab 25 Jahren einen Berufsabschluss mit einem eidgenössischem Fähigkeitszeugnis oder einem Berufsattest. Das sind zehn Prozent aller jährlichen Berufsabschlüsse. Diese Zahlen belegen, dass die berufliche Grundbildung für Erwachsene ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss keineswegs ein unbedeutendes Thema ist. Nicht genau beziffern lässt sich jedoch das ungenutzte Potenzial. Unbestritten ist lediglich, dass ein solches besteht. In der Schweiz verfügten im Jahre 2012 über 400 000 Erwachsene im Alter zwischen 25 und 54 Jahren über keinen nachobligatorischen Bildungsabschluss. Zu erwähnen ist aber, dass nicht alle dieser Personen einen solchen Abschluss auch tatsächlich anstreben oder die nötigen Voraussetzungen dafür mitbringen. Für einen Berufsabschluss braucht es als erwachsene Person nebst Rahmenbedingungen und einem Umfeld, das für einen nachträglichen Berufsabschluss geeignet ist (beispielsweise familiäre und finanziell günstige Voraussetzungen), auch einen starken Willen und individuelle Fähigkeiten.
Das Berufsbildungsgesetz sieht vier verschiedene Möglichkeiten vor, einen Lehrabschluss zu erwerben: eine reguläre berufliche Grundbildung, eine verkürzte berufliche Grundbildung, eine direkte Zulassung zum Qualifikationsverfahren und die Validierung von Bildungsleistungen. Über 40 Prozent der Erwachsenen, die einen eidgenössisch anerkannten Berufsabschluss erwerben, erreichen ihr Ziel über eine reguläre berufliche Grundbildung, die primär für Jugendliche vorgesehen ist. Die anderen drei Wege sind speziell für erwachsene Personen gedacht, da sie kürzer, flexibler und auch finanziell eher tragbar sind.
Für die Verbundpartner der Berufsbildung – Bund, Kantone und Organisationen der Arbeitswelt – ist das Thema Berufsabschluss und Berufswechsel für Erwachsene ein zentrales Anliegen. Es findet sich auch in den 2015 erneuerten bildungspolitischen Zielsetzungen von Bund und Kantonen. Mit dem Gesetz und der finanziellen Unterstützung vonseiten des Bundes sind die Grundlagen für eine erfolgreiche Zukunft gelegt. Im Rahmen der Verbundpartnerschaft gefragt sind jedoch auch weiterhin massgeschneiderte Angebote von den Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Erwachsenen gerecht werden und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern.
Ich danke den Autoren herzlich, dass sie sich des Themas «Berufsbildung für Erwachsene» angenommen haben. Ein spezieller Dank gebührt dabei Emil Wettstein, welcher sich mit dem Thema schon auseinandergesetzt hat, als sonst noch niemand davon sprach. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich nun eine interessante Lektüre.
Josef Widmer
Stv. Direktor Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Entwicklung (SBFI)
Wir waren in den letzten zwei Jahren mit zahlreichen Personen und Institutionen im Gespräch, die uns wertvolle Informationen gegeben haben. Ihnen allen danken wir an dieser Stelle für die Zeit, die sie uns zur Verfügung gestellt haben. Es sind dies insbesondere Personen aus folgenden Institutionen: AccEnt (Accompagnement en Entreprise); AMIE, Basel-Stadt; Berufsberatungs- und Laufbahnzentren; Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV); Bundesamt für Statistik (BFS); Centre interrégional de Perfectionnement (CIP), Tramelan; Cité des métiers, Genève; ECAP; ENTER, Kanton Basel-Stadt; FORMAD, Kanton Waadt; Hotel- und Gastro formation Schweiz; IDM, Thun; Kantonale Berufsbildungsämter; Schweizerischer Baumeisterverband (SBV); Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI); Travail Suisse; Unia und Zürcher Lehrbetriebsverband ICT (ZLI).
Unser Dank geht auch an Christoph Gassmann, der das Manuskript dieses Buchs sehr sorgfältig lektoriert hat.
Schliesslich sind wir all jenen Personen besonders dankbar, die uns bereitwillig ihre persönliche Geschichte erzählt haben. Wir haben sie – anonymisiert und verkürzt – auf einige prägnante Aussagen im Buch an verschiedenen Stellen eingestreut.
Zürich, im April 2016
Markus Maurer, Emil Wettstein, Helena Neuhaus
ABU |
allgemeinbildender Unterricht |
---|---|
aLAP |
ausserordentliche Lehrabschlussprüfung (Österreich) |
ALV |
Arbeitslosenversicherung |
AMM |
arbeitsmarktliche Massnahme |
Ams |
Arbeitsmarktservice (Österreich) |
AsylG |
Asylgesetz |
AuG |
Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, Ausländergesetz |
AVIG |
Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung, Arbeitslosenversicherungsgesetz |
AVIV |
Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung, Arbeitslosenversicherungsverordnung |
aQV |
andere Qualifikationsverfahren |
AZ |
Ausbildungszuschüsse der ALV |
BBG |
Gesetz über die berufliche Grundbildung, Berufsbildungsgesetz |
BBT |
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, 2013 im SBFI aufgegangen |
BBV |
Verordnung über die berufliche Grundbildung, Berufsbildungsverordnung |
BFS |
Berufsfachschule |
Biga |
Bundesamt für Industrie und Gewerbe, 1998/99 im Seco aufgegangen |
BiVo |
Bildungsverordnung |
BK |
Berufskundlicher Unterricht |
BM |
Berufsmaturität |
BP |
eidgenössische Berufsprüfung |
BSL |
Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung bzw. -berater/in |
BSV |
Bundesamt für Sozialversicherungen |
EBA |
eidgenössisches Berufsattest |
EDK |
Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Erziehungsdirektorenkonferenz |
EFZ |
eidgenössisches Fähigkeitszeugnis |
EMKV |
Verordnung über die Kontrolle des Verkehrs mit Edelmetallen und Edelmetallwaren, Edelmetallkontrollverordnung |
EQR |
Europäischer Qualifikationsrahmen |
EU |
Europäische Union |
FaBe |
Fachfrau/Fachmann Betreuung EFZ |
FH |
Fachhochschule |
GAV |
Gesamtarbeitsvertrag |
GlG |
Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann, Gleichstellungsgesetz |
HF |
höhere Fachschule |
H&Gf |
Hotel & Gastro formation |
ICT |
information and communication technology, IKT |
IPA |
individuelle praktische Arbeit (Teil des Qualifikationsverfahrens) |
IV |
Invalidenversicherung |
KESB |
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde |
L–GAV |
Landes-Gesamtarbeitsvertrag |
LAM |
Logistikstelle für arbeitsmarktliche Massnahmen |
LAP |
Lehrabschlussprüfung |
MEM |
Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie |
NQR |
Nationaler Qualifikationsrahmen |
NVQs |
national vocational qualifications (ein in Grossbritannien und Australien verbreitetes System v. a. zur beruflichen Qualifizierung) |
OdA |
Organisationen der Arbeitswelt |
PH |
Pädagogische Hochschule |
QV |
Qualifikationsverfahren |
RAV |
Regionales Arbeitsvermittlungszentrum |
SAKE |
Schweizerische Arbeitskräfteerhebung |
SBBK |
Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz |
SBFI |
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation |
SBV |
Schweizerischer Baumeisterverband |
SDBB |
Schweizerisches Dienstleistungszentrum Berufsbildung, Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung |
Seco |
Staatssekretariat für Wirtschaft |
SEM |
Staatssekretariat für Migration |
SKOS |
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe |
SR |
systematische Sammlung des Bundesrechts, systematische Rechtssammlung |
SRK |
Schweizerisches Rotes Kreuz |
Suva |
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt |
SVG |
Strassenverkehrsgesetz |
üK |
überbetriebliche Kurse |
VSH |
Verband Schweizerischer Handelsschulen |
WeBiG |
Bundesgesetz über die Weiterbildung, Weiterbildungsgesetz |
ZAG |
Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen Kanton Zürich, Winterthur |
Berufsbildung für Erwachsene ist in der Schweiz zum wichtigen Thema geworden. Jahrelang hat sich die Bildungspolitik nur wenig dafür interessiert, seit Kurzem steht das Thema aber weit oben auf der Agenda.
Der unmittelbare Anlass für das rege Interesse liegt in volkswirtschaftlichen Entwicklungen: Gewisse Branchen klagen über Fachkräftemangel, und die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 hat das öffentliche Bewusstsein für die Problematik zusätzlich erhöht. Deshalb sollen im Inland mehr Erwachsene für eine qualifizierte Berufstätigkeit gewonnen werden. Ein wichtiger Teil entsprechender Massnahmen zielt auf arbeitstätige Personen, denen aber eine berufliche Ausbildung fehlt. Die Verbesserung des Zugangs von Erwachsenen zur Berufsbildung ist dabei zentral.
Die Thematik ist jedoch auch sozialpolitisch relevant, und aus dieser Perspektive gilt die Berufsbildung für Erwachsene schon länger als wichtig: Schätzungen gehen davon aus, dass in der Schweiz rund 550 000 Erwachsene zwischen 25 und 64 keinen Abschluss auf der Sekundarstufe II besitzen und dass über 100 000 dieser Personen noch dreissig und mehr Berufsjahre vor sich haben (Wettstein, 2015b, 2015f). Solche Zahlen sind beunruhigend, denn die Statistik zeigt deutlich, dass Personen ohne nachobligatorische Ausbildung im Vergleich zu höher qualifizierten Personen signifikant häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind (Bertschy, Böni & Meyer, 2007; BFS, 2011; Fritschi, Bannwart & Zürcher, 2012).
Auch aus diesen Gründen wird die Bedeutung des Themas in der Schweiz zurzeit kaum mehr in Zweifel gezogen. Davon zeugen Vorstösse im Bundesparlament[1] und umfassende Berichte von Bundes- und Kantonsbehörden. Gleichzeitig haben sich Gewerkschaften mit Vorschlägen gemeldet, und auch einzelne Arbeitgeberverbände (so z. B. der Schweizerische Baumeisterverband) suchen nach Lösungen für ihre Branche.
Trotzdem: Die Zahl der Erwachsenen, die einen Berufsabschluss erwerben, stagniert seit Jahren auf tiefem Niveau. Das liegt unter anderem daran, dass es an Vorstellungen mangelt, wie solche Hürden überwunden werden können.
In diesem Buch stellen wir das vorhandene Wissen zum Thema zusammen; wir zeigen, welche Herausforderungen zu meistern wären, und weisen auf Elemente einer guten Praxis hin. Daraus leiten wir Handlungsempfehlungen ab.
Im Zentrum stehen Ausbildungen und Abschlüsse zur nachhaltigen beruflichen Integration von Erwachsenen ab 25, die noch keinen beruflichen Erstabschluss erworben haben.
Den Schwerpunkt legen wir dabei auf die reguläre berufliche Grundbildung und die Wege, die auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes (BBG) für Erwachsene geschaffen worden sind: die direkte Zulassung zur Abschlussprüfung, das Validierungsverfahren und die verkürzte Grundbildung. Wir gehen aber auch auf nichtformale – also nicht durch das BBG geregelte – berufsqualifizierende Abschlüsse ein. Bei manchen dieser Wege handelt es sich um Alternativen für Personen, die nicht oder nicht in einem einzigen Schritt einen der Abschlüsse nach BBG erreichen wollen oder können (→ Abschnitt 5.6). Solche Angebote sind für eine berufliche Integration Geringqualifizierter ebenfalls wichtig, und wir sind überzeugt, dass sie künftig noch wichtiger werden könnten, nicht zuletzt, wenn mehrere Teilabschlüsse zu einem anerkannten Berufsabschluss führen (→ Abschnitt 7.9). Schliesslich kommen wir auf Abschlüsse der höheren Berufsbildung zu sprechen, soweit sie sich ohne abgeschlossene berufliche Grundbildung erreichen lassen. Etwas im Hintergrund bleiben arbeitsmarktliche Massnahmen für Stellenlose und berufsqualifizierende Massnahmen im Asylwesen, weil diesbezüglich noch wenig Erfahrungen vorliegen und sie quantitativ noch von geringerer Bedeutung sind.
Die berufliche Integration für Menschen mit Behinderungen, insbesondere die erstmalige berufliche Ausbildung gemäss Invalidenversicherungsgesetz (IVG, Art. 16), stellt einen anspruchsvollen Bereich mit eigener Tradition dar, der so umfassend ist, dass seine Darstellung sowohl den Rahmen des vorliegenden Buches als auch das Wissen des Autorenteams sprengen würde.
Das Buch beruht auf einer intensiven, teilweise über fünfzehnjährigen Auseinandersetzung der Autoren und der Autorin mit dem Thema. Wir haben viele Gespräche geführt: mit Anbietern, erwachsenen Lernenden, mit Behördenvertretern und vielen weiteren Personen – solchen, die Berufsbildungsangebote für Erwachsene gestalten, und solchen, die Angebote erfolgreich genutzt haben oder dabei gescheitert sind. Wichtig bei der Vorbereitung des Buches waren auch Präsentationen und Vorträge, die im Rahmen einer Veranstaltungsreihe an der PH Zürich in den Jahren 2014 und 2015 gehalten wurden.[2] Auch die einschlägigen behördlichen Strategiepapiere, Berichte und Evaluationen zu Angeboten im In- und Ausland und die relevante wissenschaftliche Literatur wurden ausgewertet (vgl. dazu das Literaturverzeichnis).
Eine Schwierigkeit, mit der wir ständig konfrontiert waren, war der Mangel an Daten. Grundlegende Aussagen – ob es sich im Einzelfall zum Beispiel um einen Erst- oder Zweitabschluss handelt – sind erst möglich, wenn Auswertungen der erst vor Kurzem eingeführten Individualerhebung vorliegen werden. Es gibt auch keine empirischen Erhebungen, die zeigen, weshalb zwei Drittel der Erwachsenen, die einen beruflichen Abschluss anpeilen, eine reguläre berufliche Grundbildung mit Lehrvertrag absolvieren und nicht einen der Wege wählen, die eigens für Erwachsene geschaffen wurden. Statistisch gesicherte Aussagen, weshalb die meisten Interessierten dann doch auf die Ausbildung verzichten (und wie hoch diese Quote ist), fehlen ebenfalls, um nur drei Beispiele für Datenlücken zu nennen.
Insgesamt ist das Fehlen von Daten ein wichtiger Grund dafür, dass wir im Buch zum Teil auf Berichte von einzelnen Betroffenen zurückgreifen mussten.
Ziel dieses Buches ist – wir haben es erwähnt –, einen Überblick über das (beschränkte) Wissen zur Thematik der Berufsbildung für Erwachsene zu gewinnen, weiter eine Darstellung und Analyse der heutigen Situation und, darauf aufbauend, der Entwurf einer Vision als Basis für die Weiterentwicklung der Berufsbildung für geringqualifizierte Erwachsene in der Schweiz.
In Kapitel 2 klären wir die zentralen Begrifflichkeiten und Konzepte und führen in Kapitel 3 aus, wie sich die Berufsbildung für Erwachsene entwickelt hat und weshalb sie aus Sicht zentraler Akteure der Berufsbildung so wichtig ist. In unseren Ausführungen zu den Lösungsmöglichkeiten konzentrieren wir uns auf die Wege, die auf der bestehenden rechtlichen Grundlage des Bundes möglich sind. In Kapitel 4 werden diese Wege im Detail vorgestellt. Dabei dürfte deutlich werden, dass das Berufsbildungsgesetz einigen Gestaltungsraum offenlässt, der unseres Erachtens noch besser genutzt werden sollte – und dass es auch andere Wege gibt, einen vom Arbeitsmarkt anerkannten Weg zu gehen.
Schliesslich stellen wir bestehende Möglichkeiten zum Erwerb einer Berufsbildung für Erwachsene dar (Kapitel 5) und analysieren die bestehenden Herausforderungen (Kapitel 6). In den Kapiteln 7 und 8 stellen wir konkrete Programme und Angebote im In- und Ausland vor, die aus unserer Sicht über herkömmliche Ansätze hinausgehen und deshalb für die Entwicklung einer Zukunftsvision wichtig sind.
Unter dem Titel «Modell 2025» (Kapitel 10) skizzieren wir schliesslich ein System, das es aus unserer Sicht ermöglichen würde, signifikant mehr beruflich geringqualifizierte Erwachsene zu einem Berufsabschluss zu führen. Dem geht ein kurzer Überblick über die wichtigsten Grundsätze voraus (Kapitel 9), an denen sich ein solches System orientieren sollte. Das Buch schliesst mit einer Reihe von Handlungsempfehlungen (Kapitel 11), die sich an diesem Modell orientieren, die aber auch bei einer bescheideneren Zielsetzung und bei anderen Vorgehensweisen wegleitend sein dürften.