Plädoyer für eine gehirngerechte Politik
Wutbürger, Populismus und Protest: Viele Menschen haben das Gefühl, dass »die da oben« sie nicht ernst nehmen. Doch welche Ursachen liegen diesem weit verbreiteten Empfinden zugrunde? Und was müssen wir konkret tun, um unsere Gesellschaft wieder auf Spur zu bringen?
Diese Fragen beantwortet der bekannte Psychiater und Autor Hans-Otto Thomashoff, indem er die Erkenntnisse der Neurowissenschaften mit der politischen Praxis verknüpft. Er belegt anschaulich, wie kurzfristige Planung ohne langfristige Perspektive zu Wut und Dauerstress im Gehirn führt. Die Politik schafft es nicht konsequent zu handeln: Corona-Chaos, Flüchtlingskrise und Klimakatastrophe sind nur die Spitze des Eisbergs.
Für den erfolgreichen Staat der Zukunft fordert Thomashoff: direkte demokratische Mitbestimmung, Transparenz, regionale Eigenständigkeit, konstruktive Konfliktlösung. Wir haben es in der Hand, unsere Zukunft besser und glücklicher zu gestalten. Wir müssen »gehirngerecht« handeln, um uns verantwortungsvoll der Aufgabe zu stellen, eine Weltgemeinschaft mündiger Bürger zu schaffen.
HANS-OTTO THOMASHOFF
MEHR HIRN
IN
DIE POLITIK
Was die Politik von der
Hirnforschung lernen sollte
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,
so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,
da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich
auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.
© 2021 Ariston Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-25981-5
V001
Unserer Zukunft gewidmet.
für Alexandra
Inhalt
Einleitung
Teil I Politik als Geisel des Aktionismus
Teil II Was die Hirnforschung von der Politik fordert
1. Bindung: Wider die Narzissmusfalle – für eine menschengerechte Gesellschaft
2. Wirkmächtigkeit/Selbstwirksamkeit: Für mehr Entfaltungsfreiheit
3. Stressbegrenzung durch Sicherheit und Gerechtigkeit
4. Stimmigkeit: Wir wollen wissen, woran wir sind
Teil III Wir müssen endlich erwachsen werden!
Die erwachsene Persönlichkeit
Vom eigenen Lebensentwurf zurück in die Gesellschaft
Die erwachsene Gesellschaft
Teil IV Schwachstellen unserer Psyche als Gefahr für unsere Demokratie
Selbstverstärkung
Erst das Gefühl, dann der Verstand
Priming und Manipulation
Die Gefahr der Masse
Spaltung im Labor
Die Nazi-Falle – aus der Geschichte lernen, aber richtig
Vorsicht: Ideologie
Überwindung der Masse
Besondere Anfälligkeit für Spaltung
Die Opfer-Täter-Falle
Radikalisierung heute
Spaltung überwinden
Die Wahrheit ist dem Bürger zumutbar
Die Schwäche der parlamentarischen Demokratie
Corona verschärft die Trends
Teil V Persönlichkeitsanforderungen an Politiker
Teil VI Mehr direkte Demokratie wagen
Wandel, aber wie?
Bildung zum mündigen Bürger
Terror und kein Ende
Die Überwindung von Krieg
Resilienzförderung
Grundlagen des Wandels
Evolution
Wir sind das Volk
Der Staat der Zukunft
Abschaffung der Nation
Ausblick
Literatur und Links
Einleitung
Heute ist Montag, der 2. November 2020. Es ist 20:00 Uhr. Ich bin in Wien. In vier Stunden beginnt hier der zweite Lockdown wegen Corona. Die Polizei zeigt bereits Präsenz. In den Bars, in den Cafés und in den Restaurants gibt es keinen freien Platz mehr. Ab Mitternacht gilt eine Ausgangssperre von 20:00 bis 6:00 Uhr morgens. Vorerst bis zum Ende des Monats. Die Entscheidung wurde von der Regierung verkündet. Das Parlament wurde nicht dazu befragt. Am Ende des ersten Lockdowns wurde den Bürgern suggeriert: Alles ist vorbei. Ihr habt es geschafft. Viele Monate sind seither vergangen. Nichts ist vorbei. Das Versprechen, es werde keinen zweiten Lockdown geben, ist Makulatur. So wie grundlegende Bürgerrechte. So wie das Vertrauen darauf, dass die Politiker wissen, was sie tun. Denn wie kann ich mich bei einem Abendspaziergang an der frischen Luft mit dem Virus anstecken? Oder scheuen sich die Politiker, uns reinen Wein einzuschenken? Wollen sie in Wirklichkeit verhindern, dass die Leute sich betrinken und dann keinen Abstand mehr halten so wie an diesem Abend? Trauen sie sich nicht, den Alkohol zu verbieten, weil die Lobby der Produzenten und das Verlangen der Konsumenten zu mächtig sind, und sperren sie deshalb gleich das ganze Land ein?
Die Regierung besteht aus demokratisch legitimierten Parteien. Wir leben in einer Demokratie. Wie kann es da sein, dass eine Regierung über die Köpfe der Bürger hinweg Entscheidungen fällt und dafür nicht einmal das Parlament befragt? Sind die Bürger, sind wir zu dumm, selbst zu entscheiden? Oder sind wir gewohnt, uns für dumm verkaufen zu lassen, weil wir aus Bequemlichkeit entscheidende Teile unseres Lebens an den Staat delegieren, der damit eine Machtfülle bekommt, die einer Demokratie unwürdig ist? In Deutschland, dem Land, aus dem ich stamme und dessen Staatsbürger ich bin, ist die Situation kaum anders.
Unsere deutsche Nachkriegsdemokratie ist inzwischen über siebzig Jahre alt. Sie ist ein Erfolgsmodell, denn nie ging es so vielen Menschen so gut wie heute. Und doch verstärkt Corona einen Trend, der schon lange spürbar ist. Die Unzufriedenheit wächst und mit ihr der politische Rand. Was läuft schief?
Die Antwort auf diese zentrale Frage, die seit Jahren die Talkshows beschäftigt, liefern nicht historische Analysen und ideologische Vereinfachungen. Nein, die Antwort liefert die Hirnforschung. Längst ist bekannt, wie unser Gehirn arbeitet und was es braucht, um uns in einen Zustand von Zufriedenheit zu versetzen. Mit anderen Worten: Wer Politikversagen und Politikverdruss verstehen will, kommt an den Erkenntnissen der Hirnforschung nicht vorbei. Unser Denken und Handeln wird von unserem Gehirn gesteuert – und damit bestimmt von den Regeln, nach denen es arbeitet. Diese grundlegende Erkenntnis gilt auf allen Ebenen: in unserem Privatleben – in Partnerschaft, Familie und Beruf – genauso wie in der Gesellschaft insgesamt und damit eben auch in der Politik. Und doch finden die Erkenntnisse von Neurobiologie und Psychologie bislang keine Berücksichtigung im politischen Alltag. Weder in der Theorie noch in der Praxis.
Eine problematische Folge davon ist, dass politische Entscheidungen beinahe ausschließlich als Reaktion auf äußere Sachzwänge getroffen werden. Statt vorausschauender Planung mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bürger zu sichern und zu verbessern, regiert kurzfristiges Handeln, das dazu dient, möglichst den Status quo beizubehalten. Weil die langfristige Perspektive fehlt, agiert die Politik nicht, sondern sie reagiert nur: Klimakrise, Staatshaushalt, Rentensicherung, Zukunft der Wirtschaft, Bildung. Corona. Die Liste ist lang.
Politiker wirken nicht selten getrieben von gesellschaftlichen Ereignissen, weil sie deren Dynamik nicht wirklich durchschauen. Das erkennen wir aktuell am Aktionismus in der Corona-Pandemie. Doch es zeigt sich seit Jahren auf vielen verschiedenen Gebieten, etwa im Umgang mit Radikalisierungstendenzen, in der Erfolglosigkeit endloser Friedensverhandlungen im Nahen Osten und anderswo oder in den zahllosen Versuchen, das Klima zu retten. In all diesen Fehlentwicklungen sind psychische Mechanismen am Werk, die sich der bewussten Steuerung entziehen, solange sie nicht von uns erkannt und verstanden werden.
Die wesentliche Ursache für dieses politische Scheitern liegt darin – und das ist die Kernaussage dieses Buchs –, dass die Politik ignoriert, wie unser menschliches Gehirn arbeitet. Sie ignoriert, nach welchen Regeln die Psyche ihre Entscheidungsprozesse organisiert, und sie ignoriert, welche ganz natürlichen Grundbedürfnisse unser Handeln leiten, bei deren Missachtung Unzufriedenheit entsteht. Selbstverständlich gelten diese neurobiologischen Grundregeln für Bürger und Politiker gleichermaßen.
Parallel zu diesem Defizit hat die Machtfülle von Politikern in unserem System dazu geführt, dass viele von ihnen getrieben wirken vom Hunger ihrer Egos, nur ihren Machterhalt vor Augen zu haben scheinen und freizügig vor den Wahlen Versprechungen abgeben, die gar nicht zu halten sind.
Vor dem Hintergrund all dieser Tendenzen sind die Abläufe und die Ergebnisse der Politik für die Bürger vielfach nicht mehr nachvollziehbar. Sie fühlen sich in ihren Bedürfnissen ignoriert und von einer abgehobenen Politikerkaste in ihren demokratischen Rechten entmündigt. Die Einsicht, die sich in dieser Resignation breitmacht, lautet: »Die da oben machen ja eh, was sie wollen.« Als Folge davon wächst das Lager der Unzufriedenen.
Verstärkt wird die Politikverdrossenheit durch die zunehmende Komplexität in unserer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Das Wissen im Internet ist längst uferlos. Kaum einer hat noch den Überblick, was richtig ist und was falsch, welcher Information noch zu trauen ist und welcher nicht. In den Medien regiert die Quote. Was gelesen, gehört und gesehen wird, bringt Werbeeinnahmen und ist damit bares Geld wert. So gebiert das pausenlose Streben nach Aufmerksamkeit andauernde Dramen, Fake News oder Nachrichten, die keiner braucht – Hauptsache, sie finden Beachtung. Zeitgleich entmachtet die Wirtschaft unseren Staat, nimmt die Klimakatastrophe ihren Lauf, steuern die Sozialsysteme in vielen Ländern auf den Kollaps zu und basteln radikale Spinner an der nächsten Bombe, um nur einige Brennpunkte hervorzuheben. Das Rad der Ereignisse dreht sich immer schneller. Und die Politik? Sie betreibt Selbstinszenierung und läuft der aktuellen Lage hinterher, die im nächsten Moment schon wieder ganz anders sein kann. Auch das hat die Corona-Krise eindrucksvoll gezeigt.
Wo Weitblick und Perspektive fehlen, herrscht letztlich Ratlosigkeit. Das ist gefährlich, denn dadurch werden einfache Antworten auf komplexe Fragen verlockend. Schon das liegt in der Arbeitsweise unseres Gehirns begründet. Unweigerlich strebt es nämlich danach, dass wir uns auskennen. Dieses Streben nach Stimmigkeit, nach Kohärenz, ist eines unserer angeborenen Grundbedürfnisse. Überall stellt unser Gehirn Zusammenhänge her, sucht es permanent nach Erklärungen. Unsicherheit mögen wir nicht. Sie macht uns unzufrieden, ja oft sogar Angst. Deshalb suchen wir, wenn wir einmal nicht weiterwissen, den Rat anderer, vertrauen ihnen dann nicht selten blind. Und schon findet in Krisensituationen das simplifizierende Schwarz-Weiß-Denken selbst ernannter Anführer Zulauf. Die enormen praktischen Auswirkungen unserer Psyche auf die Politik, sie lässt sich bereits an solchen ersten Schlaglichtern erahnen.
Ich selbst bin weder Politiker noch Historiker, sondern Psychiater, Psychoanalytiker und mitdenkender Bürger. Folglich geht es mir in diesem Buch nicht um eine politische Analyse, die aus Entwicklungen der Vergangenheit Empfehlungen für die Zukunft abzuleiten sucht. Zweifellos sind solche historischen Analysen wichtig, weil sie die Wiederholung von Fehlern aus der Vergangenheit vermeiden helfen. Doch laufen sie Gefahr, sich dort in etablierten Denkmustern und damit in einmal eingeschlagenen Wegen zu verrennen, wo eigentlich ein grundlegend anderer Blick auf die wahren Triebkräfte hinter historischen Prozessen gefragt ist. Genau dafür liefert die Hirnforschung den Schlüssel.
Meine Absicht besteht also darin, Ansätze für eine Politik zu entwickeln, die gezielt das von den Neurowissenschaften erarbeitete Wissen zur Funktionsweise unseres Gehirns nutzt. Praktisch angewendet würde eine solche Politik ihrer zentralen Aufgabe besser gerecht werden, das Zusammenleben aller Bürger so zu regeln, dass die meisten zufrieden sind. Ja, mehr noch könnte eine auf der Hirnforschung fußende politische Neuausrichtung wirksam fatalen Fehlentwicklungen vorbeugen, etwa in Deutschland einem drohenden zweiten Weimar.
Gerade die Corona-Krise bietet Anlass, Politik neu zu denken. Das hat mit ihrer Aktualität zu tun und damit, dass vieles von dem, was politisch falsch läuft, in ihr verdichtet zutage tritt. Und doch dient sie nur als Verstärker grundlegender struktureller Probleme unseres politischen Systems, das sich, will es überleben, den Bedürfnissen seiner Bürger unterordnen muss.
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Längst ist es mit ihrer Hilfe gelungen, aus den oft jahrtausendealten Ratschlägen unterschiedlichster Philosophieströmungen diejenigen herauszufiltern, die wirklich als Grundlage für ein gelungenes Leben dienen. Neurobiologen und Psychologen haben erkannt, was wir Menschen brauchen, um uns in unserem Leben wohlzufühlen. Die dafür notwendigen Voraussetzungen sind überraschend einfach und stehen doch dem aktuellen Zeitgeist in vielem diametral entgegen. Hier ist ein Umdenken erforderlich, sowohl in unserer individuellen Lebensgestaltung als auch in unserem gesellschaftlichen Miteinander. Wir Bürger müssen unsere Werte überdenken und sie an die Bedürfnisse unserer Psyche anpassen. Zugleich muss die Politik neue Zielvorgaben definieren und dabei der Funktionsweise unserer menschlichen Psyche Rechnung tragen, ja, vielfach muss sie sich einer gezielten Zukunftsplanung überhaupt erst einmal zuwenden. Andernfalls wird sie über kurz oder lang scheitern, weil sich gegen die Bürger auf Dauer keine Politik machen lässt.
In unserer westlichen Gesellschaft ist es uns gelungen, mithilfe unseres Wohlstands den meisten Bürgern eine weitgehende Absicherung ihrer wirtschaftlichen und körperlichen Existenz zu garantieren. Was unsere psychischen und damit einhergehend auch unsere sozialen Bedürfnisse angeht, bestehen allerdings weiterhin deutliche Defizite. Mehr noch: Die aktuelle Entwicklung geht bei uns eher in die falsche Richtung, ignoriert die psychische Natur des Menschen. Sie fördert Vereinsamung statt Beziehungsvielfalt, passiven Konsum statt aktivem Gestalten, Leistungsstress statt selbstbestimmter Lebensplanung. Geld ist uns oft wichtiger als Lebensglück. Den Preis dafür zahlen wir mit unserem Gefühlshaushalt, mit unserer Gesundheit und damit letztlich mit eingeschränkter Lebensqualität und Lebensdauer, auch wenn das der medizinische Fortschritt kaschiert. Es ist daher an der Zeit, radikal umzudenken und endlich unsere gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an die Bedürfnisse unserer Psyche anzupassen.
Zweifelsfrei ist ein solcher grundlegender Wandel möglich, wenn wir nur wollen. Wir Menschen besitzen wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, die Umwelt bewusst zu gestalten. Denn wir sind in der Lage, unser Denken und Handeln abstrakt zu hinterfragen und damit bewusst zu steuern. Diese zusätzliche psychische Abstraktionsebene unterscheidet uns Menschen von unseren nahen Verwandten im Tierreich. Die faszinierende Konsequenz daraus: Wir können weitgehend selbst entscheiden, wohin wir uns weiterentwickeln wollen, welche Werte und welches kulturelle Wissen wir bewahren und dadurch an zukünftige Generationen vererben wollen. Denn auch das ist eine Besonderheit des Homo sapiens: Wir geben einen Großteil unseres Wesens über unsere Kultur an unsere Nachkommen weiter. Das bedeutet, wir können Inhalte und Werte unserer eigenen Evolution in weiten Teilen selbst gestalten und damit die Zukunft unserer Menschheit viel freier an unsere wahren Bedürfnisse anpassen, als das von uns bislang erkannt, geschweige denn umgesetzt wird.
Die Hirnforschung belegt eindrucksvoll, dass wir den Fallstricken unserer Existenz keineswegs hilflos ausgeliefert sind. Wir müssen nur endlich begreifen, wie enorm frei wir uns selbst und damit auch die Grundlagen unserer Gesellschaft steuern können. Wir sollten eine Gesellschaft aufbauen, die sich an unseren essenziellen Grundbedürfnissen orientiert. Hier ist eine vorausschauende Gestaltungskraft der Politik gefordert.
Ich bin Realist. Und doch bin ich inzwischen überzeugt davon, dass es uns gelingen kann, eines Tages ein würdiges und friedliches Miteinander aller Menschen auf dieser Erde zu verwirklichen. Aus heutiger Sicht klingt das weltfremd und utopisch. Angesichts des verantwortungslosen Verhaltens vieler während der jüngsten Krise gilt das umso mehr. Doch wenn Sie den Gedanken folgen, die ich in diesem Buch entwickele, dann werden Sie verstehen, dass eine solche Vision keineswegs unrealistisch ist.
Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, unsere Welt zu formen. Es wird Zeit, dass wir uns dieser Verantwortung stellen.
TEIL I
Politik als Geisel des Aktionismus
Beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme: Wo stehen wir? Was sollte Politik leisten? Was kann sie überhaupt leisten?
Aus Sicht des Bürgers sollte Politik effizient sein, sie sollte sich im Dienst der Allgemeinheit bestimmte Ziele setzen und diese konsequent verfolgen. Ihr Hauptziel sollte darin bestehen, mit Weitblick die Weichen zu stellen, die es den Bürgern ermöglicht, ihren eigenen Lebensentwurf zu entfalten – mit den dafür essenziellen Grundfreiheiten und mit einem dafür gegebenenfalls notwendigen Sicherheitsnetz. Etwa sollte sie die Regeln für das Wirtschaftsgeschehen so vorgeben, dass sich einerseits die wirtschaftliche Dynamik eines Marktes entfalten kann, andererseits aber die daraus resultierende Wertschöpfung möglichst allen zugutekommt, zumindest so weit, dass niemand auf der Strecke bleibt.
Um unsere Gesellschaft zielgerichtet weiterzuentwickeln, müssten vorausschauende Planung und langfristige Zielorientierung an die Stelle von Stillstand und kurzfristiger Krisenbewältigung treten. Doch wie lässt sich das praktisch umsetzen? Wie lassen sich im demokratischen Prozess pragmatische Anpassung und Zukunftsvision unter einen Hut bringen? Bei welchen Werten muss der geforderte Wandel in der Politik ansetzen, damit sie voll und ganz den Bedürfnissen der Bürger gerecht werden kann?
Der für die Lebensqualität des Menschen wichtigste Faktor ist sein soziales Umfeld. »All you need is love« ist nicht die ganze Wahrheit, doch es trifft den Kern. Wer in einer glücklichen Partnerschaft lebt, dem geht es in der Regel gut. Die Wissenschaft hat eindeutige Belege dafür gesammelt, wie sehr ein gutes Beziehungsumfeld Lebenszufriedenheit und Lebensdauer steigert. Intuitiv richten die meisten Menschen ihre Lebensgestaltung daran aus, ist ihr Alltag geprägt vom Miteinander mit anderen.
Nun ist das Beziehungsleben Privatsache. Seine vielfältigen Spielarten sind keine politische Angelegenheit, und das ist gut so. Allerdings beeinflusst die Politik die Rahmenbedingungen unseres Privatlebens durch die Alltagsanforderungen, die explizit und implizit an uns gestellt werden. Vor allem die zeitliche Fremdbestimmtheit durch die internationale wirtschaftliche Konkurrenz und der damit verbundene zunehmende Leistungsdruck machen es immer schwerer, genügend Zeit und Energie für die Pflege unserer Beziehungen zur Verfügung zu haben. Erinnere ich mich an den Arbeitstag meines Vaters, so war es für ihn selbstverständlich, mittags zum Essen nach Hause zu kommen und anschließend eine Pause einzulegen, bevor er nachmittags noch einmal ins Büro ging. Von einem Achtstundentag oder gar von Akkord keine Spur. Heute hingegen droht vielen von uns der Arbeitsdruck über den Kopf zu wachsen. Zugleich müssen wir andauernd verfügbar sein. Selbst in den Pausen, in denen wir nicht arbeiten, raubt uns die permanente Informationsflut viel von unserer kostbaren Zeit, weil sie unsere Aufmerksamkeit in Geiselhaft nimmt. Zum vermeintlichen Ausgleich sollen wir in unserer Freizeit möglichst gut gelaunt dem hemmungslosen Konsum frönen, um glücklich zu werden. Jeder von uns spürt schon beim Lesen dieser Zeilen: Das kann nur misslingen.
Denn für ein zufriedenes Grundgefühl im Leben brauchen wir einen ausgeglichenen Stresshaushalt. Das ist eine Alltagsbeobachtung, die jedem vertraut ist, doch lässt sie sich inzwischen auch wissenschaftlich gut fundieren, wie wir noch sehen werden.
Auf der Suche nach dem schnellen Glück durch Konsum entsteht jedenfalls zusätzlicher Stress im Körper. Zwar gibt es hie und da den kurzen beglückenden Kick, doch wird der schon bald mit Rastlosigkeit bezahlt, weil sogleich der nächste Kick gesucht wird, ganz so wie beim Glücksspiel. In einer solchen Stressspirale haben wir uns in unserer Gesellschaft verfangen.
An der University of Virginia in den USA wurde 2014 vom Team des Psychologen Timothy Wilson ein psychologischer Test durchgeführt, bei dem die Teilnehmer für fünfzehn Minuten allein in einem Raum warten sollten, in dem nichts zu tun war. Es gab lediglich eine Vorrichtung, mit der man sich selbst kleine schmerzhafte Elektroschocks zufügen konnte. Jetzt kommt die Pointe: Die Mehrheit der Teilnehmer wählte die Schocks. Sich mit nichts anderem als sich selbst auseinanderzusetzen führte bei ihnen zu Stress. Der gewohnte schnelle Kick beim Einkauf oder bei den sonst üblichen Beschäftigungen fehlte, und so holten sie ihn sich durch die angebotenen Elektroschocks. Wenn sie sich erst einmal daran gewöhnt haben, treibt die Suche nach der kurzen Erregung die Menschen an wie eine Sucht. Allerdings ist der Preis für die permanente Jagd nach dem Kitzel Dauerstress.
Wer sich im Strudel von ständigem Konsum und andauernder Action verfängt, sucht oft nach einem Ausgleich in virtuellen Beziehungen. Doch im Vergleich mit den Reichen und Schönen nimmt der Stress nur zu. Und Likes können ein echtes Lächeln nicht ersetzen. Dasselbe gilt für die Ersatzbeziehungswelten in Videospielen, Internetpornos und Fernsehserien. Die Stressbelastung steigt weiter an. Unzufriedenheit entsteht. Gleichgesinnte werden gesucht, mit denen Gründe für das eigene Unbehagen ausgemacht werden, die oft an den wahren Ursachen vorbeigehen. Wut und Resignation verstärken den Druck. Im Dauerstress werden Entzündungsparameter im Blut hochgefahren und die Bildung von Antikörpern gehemmt. Das Krankheitsrisiko steigt, die Lebenserwartung sinkt.
Das wirksamste Mittel gegen Stress sind gute Beziehungen. Sie setzen in unserem Körper das Bindungshormon Oxytocin frei, eines der stärksten Gegenspieler des Stresshormons Cortisol. Ein gesellschaftlicher Rahmen für ein erfülltes Beziehungsleben steigert daher die Zufriedenheit und die Gesundheit der Bevölkerung. In der Politik ist dieses Thema bislang nicht angekommen. Nicht dass sie sich in unsere Beziehungen einmischen sollte, doch sollte sie unsere Lebensbedingungen an unseren sozialen Grundbedürfnissen ausrichten, etwa im Arbeitsleben oder in der Städteplanung. Eine echte Sozialpolitik müsste gezielte Rahmenbedingungen für das soziale Bindungsnetz der Menschen gestalten, anstatt sich auf das Verteilen von Geld reduzieren zu lassen.
Doch entsteht ein solcher Fokus erst gar nicht, weil die Politiker im Sog des kurzlebigen Aktionismus stehen und deshalb keinen Blick für das eigentlich Wesentliche haben. Sie wollen wiedergewählt werden und benötigen dazu Aufmerksamkeit. Das sind die Regeln des aktuellen politischen Systems. Eindrucksvoll haben das in der Corona-Krise der britische Premierminister Boris Johnson und der 2020 noch amtierende US-amerikanische Präsident Donald Trump in ihren abrupten Strategieänderungen vorexerziert. Ihnen ging es dabei augenscheinlich nur um ihre Wirkung in den Medien und nicht um ihre Verantwortung als Vorbild, das konsequent an einer rationalen langfristigen Strategie für die Lösung der Krise arbeitet und entsprechende Maßnahmen glaubhaft vorlebt.
Beziehung ist kein Wert im politischen Aktionismus, der sich in Geld beziffern lässt. Und doch kommt paradoxerweise die Macht der Beziehung in der politischen Werbung permanent zum Einsatz, denn die Wahlkampfmanager haben längst begriffen, wie wahlentscheidend das Thema ist. Kaum ein Wahlkampf wird noch wesentlich um Inhalte geführt. Im Zentrum der Wahlwerbung stehen stattdessen glückliche oder – je nach politischer Ausrichtung – wütende Menschen. Es wird an das Gefühl der Wähler appelliert, weil das Gefühl stärker über Wahlen entscheidet, wenn es angeheizt ist und dadurch den Verstand in den Hintergrund drängt. Und weil es leichter ist, das Gefühl zu bedienen als den Verstand.
Vielfach wird den Bürgern auch der Verstand abgesprochen, wenn allein das Vertrauen in die Politiker beworben wird. Der Wähler wird hierdurch regressiv in die Position eines behüteten Kindes gedrängt, das sich vertrauensvoll von einem Vormund leiten lassen soll. Häufig geht die Strategie auf, wie zahlreiche Wahlergebnisse nahelegen, in denen offenkundig die Persönlichkeit der Kandidaten die Wahl entscheidet. Inwieweit solche Wahlergebnisse der Manipulation durch die Wahlwerbung, der Bequemlichkeit der Bürger oder der systembedingten Unmöglichkeit, gezielte Entscheidungen treffen zu dürfen, geschuldet sind, lässt sich nicht verlässlich sagen.
Aktuell erlaubt das politische System den Wählern nur, alle paar Jahre über Parteien und damit über inhaltliche Gesamtpakete abzustimmen. Als Entscheidungsalternative bleibt ihnen meist nur die Wahl zwischen geringerem Übel und Protest. Eine solche faktische Teilentmündigung steht dem Streben psychisch erwachsener Menschen nach Eigenverantwortung und damit nach Entscheidungsfreiheit in der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen entgegen. Auch das weckt Unmut.
Soziales Umfeld, Stresshaushalt und Mitgestaltung, das sind die drei entscheidenden Eckpfeiler, in denen aus Sicht der Hirnforschung eine Neuausrichtung der Politik zu fordern ist.
TEIL II
Was die Hirnforschung von der Politik fordert
Wir Menschen sind von Natur aus überraschend genügsam. Wie die Hirnforschung belegt, brauchen wir nicht viel, um zufrieden mit unserem Leben zu sein: gute Beziehungen, selbstbestimmtes Handeln, eine funktionierende Stressregulation, das subjektive Gefühl von Stimmigkeit. Diese vier Säulen reichen für ein gesundes Lebensgefühl. Meist richten wir unser Verhalten ganz von selbst an ihnen aus, wobei je nach Kultur die Schwerpunkte unterschiedlich sein können. Übertragen auf die Politik ergeben sich daraus ganz konkrete Forderungen. Zentrale Aufgabe von Politik sollte es sein, ihren Bürgern vier Grundwerte zu garantieren:
Diese Grundwerte leiten sich her aus unserer biologischen Natur. Werden sie auf Dauer in einer Gesellschaft ignoriert, weil die Politik sich einer ideologischen Sackgasse verschrieben hat, führt das über kurz oder lang zum Zusammenbruch des Systems. Denken wir an den Fall des Eisernen Vorhangs.
1. Bindung: Wider die Narzissmusfalle – für eine menschengerechte Gesellschaft
Die Corona-Krise hat eindrucksvoll vor Augen geführt, dass kein menschliches Bedürfnis so essenziell ist wie das in unserer Hirnbiologie verankerte Streben nach Bindung, also unser Grundbedürfnis nach dem Miteinander mit anderen Menschen. Die Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, ist weniger seine Letalität, als sein enormes Ansteckungspotenzial, das in kurzer Zeit ein Gesundheitssystem aus dem Gleichgewicht werfen kann. Und doch gelang es nicht, die Menschen in Distanz zueinander zu halten, wollten die besonders gefährdeten Senioren oft sogar lieber sterben, als auf die Besuche ihrer Angehörigen zu verzichten. Warum
das?
Unser Gehirn zeichnet sich durch ein Bindungssystem aus, das immer aktiv wird, wenn wir angenehme Beziehungen erleben. Sein entscheidender Wirkstoff ist das bereits erwähnte Bindungshormon Oxytocin. Es weckt in uns Verbundenheit, Liebe, wohlige Nähe und Vertrauen. Umgekehrt führen Trennungen zu einem regelrechten Oxytocin-Entzug, bei dem Schmerzzentren im Gehirn aktiviert werden. Bindungsverlust fühlt sich deshalb an wie ein heftiger körperlicher Schmerz. Wer je einen geliebten Menschen verloren hat, wird das bestätigen können.
»Ohne dich bin ich nichts.« Dieses schwärmerische Liebesbekenntnis trägt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit in sich. Ja, über emotionale »Ansteckung« beeinflusst ein anderer sogar ganz direkt, wie wir uns fühlen. Steht uns jemand wutentbrannt gegenüber, dauert es oft nur Sekunden, bis uns selbst der Kragen platzt. Der morgendliche Straßenverkehr beweist das hinlänglich.
Verantwortlich dafür sind spezielle Nervenzellen, die sogenannten Spiegelneuronen. Sie bilden im Gehirn ein Resonanzsystem aus, das uns zum mitfühlenden Wesen macht, weil wir mit seiner Hilfe Gefühle und Stimmungen anderer Menschen nachempfinden können. Gähnt unser Gegenüber, fangen auch wir an zu gähnen und fühlen uns plötzlich müde. Unbewusst ahmt unser Gehirn die Handlung nach, die es bei dem anderen erkennt, und versteht sie dadurch. Deshalb reicht allein die Vorstellung vom Gähnen eines anderen aus, um uns selbst zum Gähnen zu bringen.
Genau dieser Mechanismus ist die Ursache für das Ansteckungspotenzial von Gefühlen, die sogenannte Resonanz. Geteilte Gefühle, also Resonanzerlebnisse, sind der entscheidende Kitt für den Aufbau von Bindungen, die ihrerseits Ausgangspunkt für unzählige weitere Resonanzerlebnisse sind. Geteilte Gefühle binden Menschen aneinander. So entsteht Zusammengehörigkeit.
Umgekehrt droht beim Fehlen von Bindungen zunehmende Vereinsamung – das Schicksal vieler isolierter Bewohner in anonymen Hochhaussiedlungen und alleinstehender Menschen im hohen Alter. Hier hat unsere Gesellschaft Entwicklungen den Weg bereitet, die eindeutig unserer Natur entgegenstehen. Depressionen und Anfälligkeit für körperliche Krankheiten sind die Folge, weil Einsamkeit Stress bedeutet, Stress, der aus Langeweile, aus Perspektivlosigkeit und aus Angst entsteht und allein nur schwer abgebaut werden kann, weil der entscheidende Gegenspieler von Stress fehlt, eben das Bindungshormon Oxytocin.
Wie sehr wir Menschen nach Bindungen streben, belegt auch der Erfolg der sozialen Netzwerke. Allerdings können soziale Medien keine echten Bindungen ersetzen, weil wirksame Resonanz nur in realen Beziehungen funktioniert. Die Freunde, mit denen wir Likes austauschen, sind nicht wirklich für uns da, weil im virtuellen Miteinander das lebendig gespiegelte Gefühl fehlt. Unser Gefühlszentrum registriert das und signalisiert uns über kurz oder lang einen emotionalen Mangel. Mehr noch wird im virtuellen Raum der andere wegen der fehlenden Spiegelung weitgehend zur Projektionsfläche für die eigenen Erwartungshaltungen. Eine emotional fassbare Rückmeldung, ob unsere Sichtweise vom anderen auch wirklich stimmt, bleibt aus. Wer sich fast nur noch mit virtuellen Freunden umgibt, wird durch die kritiklose Selbstbestätigung in der permanenten Projektion ohne korrigierende Rückmeldung unweigerlich immer narzisstischer.
Wir Menschen sind von Natur aus nicht für ein Leben in Einsamkeit gemacht. Ewige Singles sind selten glücklich, erst recht nicht traurig vereinsamende Senioren. Was schon die Alltagsbeobachtung nahelegt, bestätigt sich beim Blick in unsere evolutionäre Vergangenheit. Dort, wo auch heute noch Menschen so leben wie in grauer Vorzeit – im Dschungel Südamerikas, in den Savannen Afrikas oder im Hochland von Papua-Neuguinea –, existieren sie in Horden, also im Zusammenhalt generationenübergreifender Gemeinschaften. Anthropologische Studien zeigen, wie sehr bei diesen Naturvölkern der Einzelne Teil der Gemeinschaft ist und wie seine psychische und soziale Stabilität von der permanenten Abrufbarkeit seiner Gruppe abhängen.
Von solchen unserer Biologie entsprechenden Gegebenheiten haben wir uns in unserer westlichen Gesellschaft meilenweit entfernt. Wir propagieren als Ideal das existenziell auf sich allein gestellte, autonome Individuum. Doch hat diese Idealisierung nichts mit unserer natürlichen psychischen Grundausstattung zu tun. Was als Befreiung des selbstbestimmten Menschen in der Aufklärung ihren – damals in der Enge der gesellschaftlichen und religiösen Bevormundung berechtigten – Anfang nahm, ist längst von Marketingstrategen übersteigert worden. Im Dauervergleich auf Facebook oder Instagram wird eine narzisstische Gier angefacht, die uns zu pausenlosem Konsum motivieren soll. Das Kalkül geht auf, wenn sich der durch die andauernde Beschäftigung mit sich selbst Vereinsamte aus Frust in den Kauf- oder Fressrausch flüchtet.
Fazit: wir haben in unserer Gesellschaft die Bedeutung unseres sozialen Umfelds für unser Wohlbefinden dem Drang nach Ego-Bestätigung und schnellem Kick geopfert, und die Politik trägt das Ihre dazu bei, indem sie sich von der Wirtschaft an die Leine nehmen lässt.
2. Wirkmächtigkeit/Selbstwirksamkeit: Für mehr Entfaltungsfreiheit
»Yes we can.« Dieser Slogan, mit dem Barack Obama 2008 die US-amerikanische Präsidentenwahl gewann, war zugkräftig, weil er das zweite existenzielle Bedürfnis unserer Psyche auf den Punkt bringt: Wir wollen etwas bewirken, aktiv und eigenständig selbst etwas schaffen. Auch dieses Grundbedürfnis verdanken wir der Arbeitsweise unseres Gehirns, und zwar seinem Motivations- und Belohnungssystem. Dieses neurobiologische System setzt spezielle Botenstoffe frei, die uns dazu antreiben, eigenständig ein Ziel zu erreichen. Wohlgemerkt eigenständig, also aus eigener Kraft.
Dazu zündet es in zwei Stufen. Am Anfang steht zur Motivation der Botenstoff Dopamin, der unsere Neugier und Aufmerksamkeit weckt, uns anstachelt, ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Dabei ist es völlig unerheblich, um was für ein Ziel es sich handelt – ein leckeres Stück Kuchen, ein neues Handy, ein Marathonlauf, ein Wahlsieg, Sex, Alkohol, Kokain. Wenig überraschend ist das Dopamin-System auch verantwortlich für die meisten Süchte ist, denn Suchtmittel verschaffen uns künstlich das Gefühl des beflügelnden Kicks auf der Suche nach Erfolg. Erreichen wir ein angestrebtes Ziel, belohnt uns die zweite Stufe, unser Belohnungssystem, mit einem natürlichen Cocktail der besonderen Art. Endorphine und körpereigenes Morphium verschaffen uns ein Hochgefühl und wohlige verdiente Entspannung.
Die Macht des Dopamins, die Motivation, ja der regelrechte Drang, eigenständig etwas zu bewirken, ist in unserem Gehirn früher und stärker angelegt als unser Streben nach Genuss. Das haben Versuche an Säuglingen bewiesen, die schon ganz früh damit beginnen, selbst etwas schaffen zu wollen. Gleich zweifach wurde diese psychische Kraft in der Psychologie entdeckt und deshalb mit zwei verschiedenen Namen versehen, die allerdings beide dasselbe bedeuten. Der Begriff »Wirkmächtigkeit« stammt von dem britischen Psychoanalytiker Donald Winnicott aus den Vierzigerjahren, der Ausdruck »Selbstwirksamkeit« hingegen geht auf den kanadischen Psychologen Albert Bandura in den Siebzigern zurück.
Lebenspraktisch hat Wirkmächtigkeit/Selbstwirksamkeit zur Folge, dass es eben beglückender und berauschender ist, eine Goldmedaille zu gewinnen, als sie einfach geschenkt zu bekommen. Eine Konsequenz für die politische Praxis daraus liegt auf der Hand: Den eigenen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten ist aus Sicht des hirneigenen Belohnungssystems erfüllender als eine staatliche Grundsicherung ohne jede Gegenleistung.