FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 55 · Juli 2019
Asghar Farhadi
Herausgeber: Jörn Glasenapp
Print ISBN 978-3-86916-805-0
E-ISBN 978-3-86916-861-6
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Asghar Farhadi: ALLES ÜBER ELLY (2009)
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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Jörn Glasenapp
Gefesselter Blick, freies Urteil. Asghar Farhadis Realismus – Eine Werksichtung
Sahar Daryab
Tragödie des Alltäglichen. Über Asghar Farhadis Tanz im Staub und DIE SCHÖNE STADT
Felix Lenz
Beobachten und Urteilen. Filmische Form und Politik in Asghar Farhadis NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG
Katharina Stahl
Auf Spurensuche in der Vergangenheit. Asghar Farhadis LE PASSÉ als postmoderne Kriminalerzählung
Corina Erk
Von Ehekrisen und Adaptionsmomenten auf der Bühne und im Film. Asghar Farhadis THE SALESMAN
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Asghar Farhadis Realismus – Eine Werksichtung
Ob es Asghar Farhadi nicht zuletzt Donald Trump zu verdanken hat, dass er Ende Februar 2017 bei der 89. Oscarverleihung für sein Whodunit-Ehedrama THE SALESMAN (FORUSCHANDE, 2016) den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt? Wir wissen es nicht. Und doch wird man getrost annehmen dürfen, dass das grosso modo liberale, eher dem demokratischen Lager nahestehende Hollywood die Prämierung des iranischen Films als opportunes Zeichen betrachtete, um Stellung gegen die von der Trump-Administration einen Monat zuvor verabschiedete Executive Order 13769 zu beziehen, den sogenannten »Muslim ban«, der Bürgerinnen und Bürgern aus dem Iran und sechs weiteren mehrheitlich muslimischen Staaten 90 Tage, Flüchtlingen 120 Tage und Flüchtlingen aus Syrien dauerhaft die Einreise in die USA untersagte. Darüber, ob die US-Grenzbehörden Farhadi eine Einreise-Sondergenehmigung erteilt hätten, lässt sich ebenfalls nur spekulieren. Denn wenig überraschend ließ es sich der Regisseur nicht nehmen, die Verleihung zu boykottieren und sein Fernbleiben zum Signum des Protests gegen Trumps xenophobe und muslimfeindliche Politik zu machen, die er nicht zuletzt im folgenden, die menschen- und völkerverbindende Kraft des Films beschwörenden Statement kritisierte, das er in der Oscarnacht verlesen ließ: »I’m sorry I’m not with you tonight. My absence is out of respect for the people of my country, and those of the other six nations who have been disrespected by the inhumane law that bans entry of immigrants to the U. S. Dividing the world into the ›us‹ and ›our enemies‹ categories creates fear – a deceitful justification for aggression and war. These wars prevent democracy and human rights in countries which have themselves been victims of aggression. Filmmakers can turn their cameras to capture shared human qualities and break stereotypes of various nationalities and religions. They create empathy between us and others, an empathy which we need today more than ever.«1
Dass Farhadi in absentia die begehrte Trophäe erhielt, sorgte für ein starkes, zudem global verbreitetes Bild des Widerstands gegen den US-Präsidenten, das sich auf vielsagende Weise mit jenem korrelieren lässt, welches sich zwei Jahre zuvor, im Februar 2015, auf der Berlinale ergab. Damals gewann den Goldenen Bären, den prestigeträchtigsten Preis des Festivals, Farhadis Landsmann Jafar Panahi, und zwar mit TAXI TEHERAN (TAXI, 2015), und auch in diesem Fall war der Regisseur nicht anwesend, um den Preis entgegenzunehmen2 – das allerdings nicht, weil ihm die Einreise, sondern die Ausreise verweigert wurde. Schließlich stand der noch dazu mit Berufsverbot belegte Panahi in seinem Heimatland unter Hausarrest. Deutlich wird: Dass Trump den Auftritt Farhadis bei der Oscarverleihung verhinderte, rückt ihn in frappante Nähe zu dem von US-amerikanischer Seite und speziell Trump selbst so vehement kritisierten Mullah-Regime des vermeintlichen »Schurkenstaates«, das Panahi die Ausreise nach Berlin untersagte. Doch wer genau wurde prämiert, als Panahis TAXI TEHERAN bzw. Farhadis THE SALESMAN den Preis erhielt? Der Film? Der Regisseur? Oder nicht doch eher die preisvergebende Institution selbst respektive die »Wertewelt«, in die sie eingebunden ist bzw. für die sie steht?3
Der Oscar für THE SALESMAN war nicht der erste, den Farhadi gewann. Fünf Jahre zuvor war dem Regisseur dieses Kunststück schon einmal gelungen, und zwar mit dem Scheidungsdrama NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG (DSCHODĀI-YE NĀDER AZ SIMIN, 2011), seinem von der Kritik nach wie vor am meisten geschätzten Film, der weltweit nicht weniger als 70 Preise erhielt. Mit ihm schaffte der Iraner den Sprung in die Riege der »Großen« des internationalen Festival- und Arthouse-Kinos, mit ihm vermochte er es aber auch, aus dem Schatten seiner berühmten iranischen Regiekollegen Mohsen Makhmalbaf und Panahi, vor allem aber Abbas Kiarostami herauszutreten. Freilich hatte sich dies bereits mit FEUERZAUBER (TSCHAHARSCHANBE SURI, 2006) und ALLES ÜBER ELLY (DARBĀRE-YE ELLY, 2009) angekündigt, jenen zwei aufeinanderfolgenden Filmen, mit denen Farhadi im westlichen Ausland reüssierte – so gewann er mit ALLES ÜBER ELLY unter anderem den Silbernen Bären für die beste Regie in Berlin – und mit denen er zu dem Thema fand, das seitdem als seine Domäne betrachtet werden darf: die scharfe, mitunter sezierende Beobachtung der urbanen iranischen Mittelklasse (der der 1972 in der Provinz Isfahan geborene Regisseur selbst entstammt) einschließlich ihrer bewussten und unbewussten Distinktionsbemühungen gegenüber dem sozialen Darunter: den Arbeitern, Tagelöhnern, Prekarisierten und Entkoppelten. Ihnen wiederum hatte Farhadis Interesse zu Beginn seiner Regiekarriere gegolten, in dem allenfalls mäßig gelungenen, mit Roadmovie-Anteilen versetzten Coming-of-Age-Film TANZ IM STAUB (RAGHS DAR GHOBAR, 2003) sowie dem etwas anderen, da nicht vor Gericht spielenden Justizdrama DIE SCHÖNE STADT (SCHAHR-E ZIBA, 2004). Beide werden deswegen gern, wenn auch vielleicht etwas zu kurzerhand, dem zugeschlagen, was bisweilen und aus durchaus triftigen Gründen als iranischer Neorealismus tituliert wird.4 Hierauf wird etwas weiter unten zurückzukommen sein.
»This is a realistic movie and it’s a picture of a middle class family in Iranian society. But for me, it was important that this story might happen not only in Iran but could also take place around the world. Even the furthest viewer of the film can find himself in place of the film actors.«5 Was der über seine Arbeiten stets bereitwillig Auskunft gebende Farhadi mit Blick auf ALLES ÜBER ELLY konstatiert, kann ohne Einschränkungen auch für FEUERZAUBER, NADER UND SIMIN sowie THE SALESMAN reklamiert werden. Sie alle weisen ihren Schöpfer als, wenn man so will, Regisseur der gemäßigten Fremdheit aus, der sich nur mit Abstrichen als Porträtist iranischer Verhältnisse versteht, dessen besonderes Interesse vielmehr universell gültigen, Kulturengrenzen transzendierenden Problemlagen bzw. der, wie er es selbst sagt, »tragedy of human condition«6 gilt. Dass dies nicht zuletzt eine gewisse Immunisierung gegenüber der iranischen Filmzensur mit sich bringt, sei an dieser Stelle ausdrücklich gesagt. Wiewohl die genannten Filme durchaus tiefe Einblicke in die iranische Gesellschaft und Lebenswelt gewähren – so erfahren wir manches über die iranische Rechtspraxis, das Interieur iranischer Wohnungen, die Kleiderordnungen sowie den halsbrecherischen, chaotischen Straßenverkehr in Teheran –, provozieren sie beim westlichen Publikum Wiedererkennungseffekte – nach dem Motto: »Uns (und unsere Probleme) gibt es also auch im Iran!«
Für ihre beiden Vorgänger, die Frühwerke TANZ IM STAUB und DIE SCHÖNE STADT, gilt das Gesagte freilich noch nicht oder allenfalls in Ansätzen. Beide Filme streichen mit Blick auf ein westliches Publikum die – reichlich archaisch anmutende – Spezifik und Alterität des Iran mit dickem Strich heraus, sei es dadurch, dass sie uns das Berufsbild des in der Wüste tätigen, stundenlang vor Felsspalten sitzenden Schlangenfängers nahebringen (TANZ IM STAUB), oder sei es dadurch, dass sie in die moralischen Untiefen einer Rechtsprechung einführen, die 16-Jährige zum Tode verurteilt und das Blutgeld, das für eine Frau zu zahlen ist, nur halb so hoch ansetzt wie das für einen Mann, selbst wenn es sich bei ihm um den Mörder der Frau handelt (DIE SCHÖNE STADT). Gewiss, auch in Farhadis späteren, seinen reifen Werken kommt es aus westlicher Sicht mitunter zu Fremdheitserfahrungen, etwa wenn es am Ende von NADER UND SIMIN ebenfalls um die Zahlung von Blutgeld geht. Insofern sollte man die Strenge der Zweiteilung des Farhadi’schen Œuvres denn auch nicht überbetonen, sich vielleicht eher an der folgenden, zugegebenermaßen ziemlich schematischen Distinktionsformel orientieren: Während das Frühwerk des Regisseurs das Bild eines – aus westlicher Perspektive – archaisch-fremden bzw. traditionsbewussten Iran zeichnet, in dem es auch Modernes gibt, vermitteln die Filme ab FEUERZAUBER das Bild eines modernen, sehr westlich anmutenden Iran, in dem es auch Archaisch-Fremdes gibt.
Nach wie vor ist die Filmografie Farhadis recht überschaubar: Seinem Debüt von 2003 folgten bislang sieben weitere Spielfilme. Von ihnen entstanden und spielen zwei, LE PASSÉ – DAS VERGANGENE (LE PASSÉ, 2013) sowie OFFENES GEHEIMNIS (TODOS LO SABEN, 2018), die bislang letzte Arbeit des Regisseurs, im europäischen Ausland – Ersterer in Frankreich, Letzterer, mit Penélope Cruz und Javier Bardem prominent besetzt, in Spanien. Wie THE SALESMAN feierten beide Filme ihre Weltpremiere in Cannes, und zwar im Rahmen des Wettbewerbs um die Goldene Palme7 – ein weiterer Beleg dafür, dass Farhadi im Kontext des Global Art Cinema nunmehr seit Jahren in der ersten Liga spielt. Freilich zeigte sich die Kritik angesichts von OFFENES GEHEIMNIS großenteils enttäuscht; sie schalt den Film, den Farhadi trotz fehlender Spanischkenntnisse auf Spanisch drehte, unter anderem als Zugeständnis an den Mainstream, als seicht und melodramatisch, ja, seifenopernhaft und warf dem bis dato nahezu durchweg gefeierten Regisseur darüber hinaus vor, sich bei der für ihn typischen Analyse komplexer Ehe- bzw. Familienverhältnisse sowie Gefühlslagen einmal zu oft wiederholt zu haben.8
Wie immer man zu dieser Kritik, vor allem dem Wiederholungsvorwurf stehen mag, eines ist gewiss: Farhadi, der in Zukunft wieder im Iran zu drehen gedenkt (»Ich glaube, ich werde in meinem Land noch gebraucht.«9), ist ein Regisseur, der seit vielen Jahren ausgesprochen sujet- und methodentreu zu Werke geht und dessen filmische Handschrift, wie jene beispielsweise Emir Kusturicas, Nuri Bilge Ceylans, Baz Luhrmanns oder des späten Béla Tarr, sich entsprechend unschwer identifizieren lässt. Was genau sie ausmacht, wird die Folge der Beiträge des vorliegenden Heftes – des ersten in der Reihe »Film-Konzepte«, in dem ein iranischer Regisseur gewürdigt wird – in extenso aufzeigen, doch sollen diesbezüglich bereits auf den folgenden Seiten in einem das gesamte Farhadi’sche Œuvre berücksichtigenden Überblick einige Kernaspekte zur Sprache gebracht und einer ersten Reflexion unterzogen werden.
Man weiß an Farhadi vieles zu schätzen – unter anderem, dass er die Lebensverhältnisse der iranischen Mittelklasse wirklichkeitsgetreu darstellt; das heißt, man würdigt den Regisseur, pauschal gesagt, als Realisten. Er selbst sieht sich »in der Tradition des poetischen Realismus«.10 Um nun rasch zum Hauptargument für die These zu gelangen, er sei zwar Realist, vielleicht auch ein poetischer Realist, indes kein Neorealist – wie beispielsweise Kiarostami oder Panahi in UND DAS LEBEN GEHT WEITER (ZENDEGI VA DIGAR HICH, 1992) bzw. DER KREIS (DAYEREH, 2000) –,11 bietet es sich an, sich jene 20 Sekunden aus THE SALESMAN näher anzuschauen, in der die soeben von der Protagonistin Rana (Taraneh Alidoosti) nur spaltweit geöffnete Wohnungstür geradezu aufreizend langsam und wie von Geisterhand immer weiter aufgeht, während die Heldin längst außer Bildes bzw. im Badezimmer ist. Der Vorgang wird uns ungeschnitten präsentiert – von einer zwar handgeführten, aber annähernd unbewegten, nur ganz leicht verwackelten Kamera, die auf die Tür weniger blickt, denn starrt und diese dadurch einer offensichtlichen Transformation unterwirft. Unter implizitem Rekurs auf Roland Barthes’ Ausführungen zur Operationsweise des Mythos12 formuliert: Unter dem Starren des Kamerablicks, ihrem, wenn man so will, »gedehnten Blick«,13 verliert die Tür spätestens nach fünf, sechs Sekunden ihr materielles Sosein, ihre »Türhaftigkeit«, das heißt, die Fülle ihres Erscheinens fließt förmlich aus ihr heraus.14 Die Konsequenz hiervon liegt auf der Hand: Anstatt als Objekt eigenen Rechts betrachtet werden zu können, präsentiert sie sich dem Zuschauer am Ende von phänomenologischer Warte aus drastisch verarmt, als ein aus Thrillern und Horrorfilmen sattsam bekanntes Zeichen, das vom Publikum nicht gesehen, sondern gelesen zu werden verlangt – und zwar als Hinweis darauf, dass gleich etwas Schreckliches passiert (was sich dann auch bestätigt). Farhadi liefert uns den Vorgang des Türaufgehens demnach als einen in den Dienst genommenen oder, um es mit Barthes zu sagen, »in beurteilter Form«15 – und das wiederum ist allenfalls realistisch zu nennen, nicht jedoch neorealistisch, zumindest wenn man sich diesbezüglich an André Bazin hält, den unangefochtenen Meistertheoretiker des Neorealismus (zumal italienischer Provenienz).16
Der »gedehnte Blick« auf die Wohnungstür in THE SALESMAN
Um die Differenz von traditionellem Realismus und Neorealismus zu demonstrieren, bemüht Bazin wiederholt das anschauliche Bild von Steinen, die es uns erlauben, trockenen Fußes einen Bach zu überqueren – sei es dadurch, dass sie gemeinsam eine Steinbrücke bilden, oder dadurch, dass sie verstreut im Wasser liegen.17 Wie leicht ersichtlich ist, gerät im ersten Fall die »steinerne Wirklichkeit«18 der Steine ob des Funktionszusammenhangs der Brücke außer Sicht, wohingegen sie im zweiten erhalten bleibt. Mit Blick auf die Differenz der beiden genannten Realismen haben wir das Bild wie folgt zu verstehen: Während der traditionelle Realismus, wie wir anhand der Türszene aus THE SALESMAN gesehen haben, um den Preis der Wirklichkeitsverarmung Eindeutigkeit schafft, indem er Brücken baut, über die der Zuschauer geht, respektiert der Neorealismus die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit und überlässt es dem Publikum, in den Steinen bloß Steine oder aber Steine und eine Möglichkeit, trockenen Fußes das andere Ufer zu erreichen, auszumachen.19 Kurz: Der Konnex der Steine in der Brücke ist vorgegeben und unübersehbar, jener der im Bach liegenden dagegen besteht nicht im eigentlichen Sinne. Er will gesehen sein, und zwar von einem Zuschauer, der – dies ist für Bazin das Entscheidende – beim Sehen frei bzw. so frei wie nur irgend möglich ist. Deswegen auch Bazins Skepsis gegenüber der sinnstiftenden Montage, deswegen sein Eintreten für lange Plansequenzen einerseits (freilich nicht solche, bei denen die Kamera sinnstiftend starrt wie in Farhadis Türszene) und tiefenscharfe Bilder andererseits, das heißt für einen Filmstil, bei dem die zeitliche und räumliche Kontinuität der abgefilmten Realität tunlichst unangetastet bleibt. Dass das, was sich als filmische Realitätsschonung bezeichnen ließe,20 mit der Zuschauerbefreiung unmittelbar einhergeht, hat Bazin wiederholt vermerkt, beispielsweise in seinem berühmten Aufsatz über William Wyler, in dem er unter anderem die spezifische Qualität der Tiefenschärfe verhandelt. Kommt Letztere zum Einsatz, so führt Bazin aus, »(existiert) (d)as Ereignis (…) ständig als Ganzes, es reizt uns dauernd insgesamt; wir entscheiden, diesen oder jenen Aspekt zu wählen, eher das eine als das andere auszusuchen, je nach den Erfordernissen des Handelns, des Gefühls oder der Reflexion, aber ein anderer als wir würde vielleicht anders wählen. In jedem Fall sind wir frei, unsere Inszenierung zu machen: eine andere Schnittgliederung ist immer möglich und kann die subjektive Sicht der Realität radikal verändern.«21
Blicklenkung über Schärfedifferenz in TANZ IM STAUB
Farhadi ist an dem, wenn man so will, freisetzenden Effekt der Tiefenschärfe nicht interessiert; er arbeitet stattdessen prominent mit Aufnahmen, die den Blick des Zuschauers über klar voneinander geschiedene Schärfe- und Unschärfezonen lenken. Beispiele hierfür finden sich im gesamten Schaffen des Regisseurs, angefangen bei TANZ IM STAUB bis hin zu OFFENES GEHEIMNIS. An dieser Stelle nur ein Beispiel aus dem Erstling: Die Aufnahme zeigt scharf im Vordergrund das Glas mit dem in Eis gekühlten Ringfinger, der dem von einer Giftschlange gebissenen Protagonisten (Yousef Khodaparast) zuvor amputiert wurde. Den durch einen Strick hochgehaltenen Arm samt Hand sehen wir unscharf im Hintergrund. Arbeitet Farhadi aber doch mal mit tiefenscharfen Aufnahmen – es kommt selten vor –, dann sorgt er dafür, dass der Blick des Zuschauers durch andere Bildstrategien Führung erhält, vor allen Dingen durch das exzessive Framing, das wie die innerbildliche Schärfedifferenz eine die frühen mit den reifen Werken verbindende Konstante im Schaffen des Regisseurs markiert. Eine Einstellung aus DIE SCHÖNE STADT, die die aus dem Fenster blickende Heldin (Taraneh Alidoosti) im Bildvordergrund, den strikt eingerahmten, ihr zuwinkenden Helden (Babak Ansari) draußen hinter dem Bahngleis im Bildhintergrund zeigt, sollte als Veranschaulichung dieses Vorgehens genügen. Und noch eine weitere Aufnahme – ebenfalls aus DIE SCHÖNE STADT – sei hier kurz vorgestellt, um zu zeigen, dass die Bilder Farhadis nicht nur blicklenkende, sondern bisweilen auch über ihre strikte Komposition offensiv semantische, in diesem Fall (voraus-)deutende Qualitäten entwickeln. Vertikal in zwei gleich große Hälften geteilt, weist sie Held und Heldin jeweils einer Bildhälfte zu – und lässt uns erahnen, was letztlich passieren wird: dass die beiden, wiewohl sie sich lieben, nicht zueinander finden werden. Eine der bekanntesten Einstellungen aus Farhadis Œuvre, die finale aus NADER UND SIMIN, verfährt in ganz ähnlicher Weise.
Abb. 3: Blicklenkung über Framing in DIE SCHÖNE STADT
Proleptische Bildkomposition in DIE SCHÖNE STADT
Doch kommen wir noch einmal kurz zurück zum Bazin’schen Bild der im Bach liegenden Steine. Dieses darf auch insofern als treffend gewählt werden, als es implizit die für den Neorealismus so typische Lückenhaftigkeit und Inkonsistenz des Handlungsgangs herausstreicht. Hinsichtlich seiner Bedeutung stark beschnitten, knüpft dieser die einzelnen Ereignisse nicht wie die Glieder einer Kette aneinander, sondern als »Blöcke mit betont schwachen Verbindungen«22 in einer zufällig und anekdotisch anmutenden Chronologie hintereinander und hebt nicht zuletzt dadurch ihren enormen Stellenwert und hohen Autonomiegrad ihm gegenüber hervor. »[E]s gibt keinen Vektor mehr, keine universelle Linie, die die Ereignisse […] ineinander übergehen läßt und verbindet«,23 schreibt Gilles Deleuze im argumentativen Fahrwasser Bazins und mit besonderem Blick auf Vittorio De Sicas LADRI DI BICICLETTE (FAHRRADDIEBE, 1948), einem Film, der mustergültig zeigt, was es bedeutet, wenn sich die sensomotorischen Zusammenhänge zwischen Situation und Aktion, Aktion und Reaktion oder Reiz und Antwort lockern, wenn also an die Stelle eines kausalen Aufeinander-bezogen-Seins der Ereignisse zunehmend dessen bloß temporale consecutio tritt, die noch dazu über die Wertigkeit der Ereignisse bzw. deren Hierarchie keinerlei Aufschluss gibt.24
Ziellos mäandernd, zudem im Sinne Siegfried Kracauers ganz auf episodische »Durchlässigkeit«25 setzend, ist neorealistisches Erzählen ein in horizontaler Hinsicht kohärenzgeschwächtes Erzählen. Farhadis so vollumfänglich auf Dramatik abgestelltes Erzählen, das sich seit ALLES ÜBER ELLY immer stärker an den Gepflogenheiten eines Ermittlungsverfahrens orientiert zeigt, ist dies dezidiert nicht. Es operiert stattdessen mittels nahtloser Verfugung der einzelnen Szenen, die sich zu Abfolgen mit ausgeprägten Spannungskurven und dezidierten Höhepunkten verbinden. Oder wie es bei Gerhard Midding heißt: »Seine (Farhadis, J. G.) Filme sind genau strukturiert. Sie misstrauen dem Chaos, verraten eine Furcht vor Unwägbarkeiten, der mit einer dramaturgischen Ordnung beizukommen ist.«26 Entsprechend ist das »entdeckende Moment«, das Norbert Grob vielen Filmen des frühen Wim Wenders (etwa ALICE IN DEN STÄDTEN [1974] und IM LAUF DER ZEIT [1976]) attestiert,27 das aber natürlich bereits im italienischen Neorealismus dominant zum Tragen kommt,28 bei Farhadi nur sehr schwach ausgeprägt.
Analog zu den rostbefallenen Zahnrädern der alten Kirchturmuhr, die uns der Einstieg von OFFENES GEHEIMNIS vorführt, greift bei Farhadi alles ineinander – so wie man es etwa auch von den berühmten Gesellschaftsdramen, zum Beispiel Gespenster (1881) oder Die Wildente (1884), des Norwegers Henrik Ibsen kennt, den Farhadi wiederholt als wichtigen Impulsgeber für die eigene Arbeit erwähnt. »Ibsen had a great influence on me with the type of plays that he wrote that were both social and psychological«,29 so der Regisseur, dessen stets die Figurenpsychologie ins Zentrum rückenden Filme mit ihren, wie es bei Kracauer heißt, »theatralischen Stories«30 sein Herkommen vom Theater – Farhadi studierte vor seiner Filmkarriere Theaterwissenschaft und -regie in Teheran – unschwer zu erkennen geben. Auch vor diesem Hintergrund passt die Tatsache, dass in THE SALESMAN Arthur Millers Erfolgsstück und American-Dream-Abrechnung Death of a Salesman (1949) geprobt und aufgeführt wird, natürlich bestens ins Bild. Angesprochen auf die sogleich ins Auge fallende Theateraffinität seiner Filmarbeit, gibt Farhadi Folgendes zu Protokoll: »Because of my background in theater, I try not to make my films like theater, but I do use a lot of the lessons I have learned directing plays. Firstly, I like the dramatic complexity of theater and, when I make a film, I assume my audience is intelligent enough to follow this complexity as a playwright does. Theater is very intellectual and I don’t think there is anything wrong with that. Secondly, I take from theater the importance of dramatic conflict. My films are based upon the dynamism of characters in conflict.«31
Die alte Kirchturmuhr in OFFENES GEHEIMNIS
Die Geschichten, die die Filme des italienischen Neorealismus erzählen, bestechen durchweg durch große, mitunter nachgerade provozierende Einfachheit. Entsprechend sind sie letztlich alle mit einem eher kürzeren, denn längeren Satz wiederzugeben: Vater und Sohn suchen in Rom vergeblich nach einem gestohlenen Fahrrad (LADRI DI BICICLETTE); eine Fischerfamilie versucht erfolglos, sich von den kapitalistischen Zwischenhändlern zu emanzipieren (LA TERRA TREMA [DIE ERDE BEBT, Luchino Visconti, 1948]); ein britisches Paar mittleren Alters erlebt während eines Italienaufenthalts eine schwere Ehekrise, die sich erst am Ende durch ein »Wunder« auflöst (VIAGGIO IN ITALIA [LIEBE IST STÄRKER, Roberto Rossellini, 1954]). Schaut man sich vor dieser Folie jene Filme aus dem Iran an, die in den späten 1980er und den 1990er Jahren im westlichen Ausland besondere Erfolge verzeichnen konnten (und maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass jene Zeit mittlerweile als »›golden age‹ of Iranian cinema«32 tituliert wird) – neben Kiarostamis UND DAS LEBEN GEHT WEITER und PANAHIS DER KREIS beispielsweise Kiarostamis WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? (KHANE-YE DOUST KODJAST, 1987) und DER GESCHMACK DER KIRSCHE (TA’M E GUILASS, 1997), Makhmalbafs DER FAHRRADFAHRER (BICYCLERAN, 1989), Majid Majidis KINDER DES HIMMELS (BACHEHA-YE ASEMAN, 1997) und DIE FARBEN DES PARADIESES (RANG-E KHODA, 1999) oder Samira Makhmalbafs DER APFEL (SIB, 1998) –, so erkennt man unschwer: Wie ihre italienischen Vorgänger, mit denen sie auch deswegen zu Recht regelmäßig verglichen werden,33 verfahren sie bei der Erfüllung ihres Erzählauftrags im Modus drastischer Reduktion, setzen auch sie auf die Kraft der Schlichtheit, und zwar in narrativer ebenso wie in figurenpsychologischer Hinsicht – und unterscheiden sich damit flagrant von den Filmen des hier zur Diskussion stehenden Regisseurs. Offenbar fest davon überzeugt, dass im Leben nie etwas einfach und erst recht nicht einfach zu lösen ist, stellt Farhadi, zumindest ab FEUERZAUBER, in seinen intrikaten, an Verwicklungen und Wendungen reichen bis überreichen Drehbüchern nämlich ganz auf – zumal psychologische – Komplexität und Vielschichtigkeit ab, darauf, dass die wie auch immer gearteten Probleme seiner Figuren sich weder lösen noch einhegen lassen, dass sie stattdessen immer weitere Kreise ziehen, immer neue Probleme und Fragen aufwerfen, von denen viele bis zum Schluss unbeantwortet bleiben. Felix Lenz spricht in diesem Zusammenhang außerordentlich treffend von einer »Hydra-Dramaturgie mit ständig nachwachsenden Zielkonflikten, in der sich Teillösungen als Trugschlüsse erweisen, die einen neuen Handlungsbogen erzwingen.«34 Noch einmal: Das eine führt zum anderen bei Farhadi und ist am Ende nicht mehr zu kontrollieren, paradigmatisch zu beobachten in dem – wie so viele andere seiner Arbeiten ins Thrillerhafte umschlagenden – Ensemblefilm ALLES ÜBER ELLY, in dem die gewiss gutgemeinten Lügen der selbstbewussten, jugendlich-lebhaften Sepideh (Golshifteh Farahani), einer nicht allzu entfernten Verwandten von Jane Austens Emma, die sich wie diese erfolglos als Kupplerin versucht,35 immer weitere Lügen notwendig machen – auch die letzte und entscheidende, durch die Sepideh die »Ehre« der zu diesem Zeitpunkt bereits ertrunkenen Elly (Taraneh Alidoosti) verrät.
Ibsens einstiges Skandalstück Gespenster gilt als Musterbeispiel eines modernen analytischen Dramas, in dem die für die Handlung zentrale Ereignisfolge vor dem Einsetzen des Bühnengeschehens liegt, sich die Fabel demnach als Entschlüsselung einer die Gegenwart bestimmenden Vergangenheit entfaltet.36 Letztere lastet auf den Figuren, degradiert diese geradezu zu prisoners of the pastDeath of a Salesman37LE PASSÉNADER UND SIMIN38TANZ IM STAUB39