Cover

Die Schimpf-Diät

Für Moritz, Jakob, Emma und Ilva

Inhalt

Vorworte

Wozu eine Schimpf-Diät?

»Ich kann dir sagen, wie es ist, ein Kind zu sein!«

Willkommen in der Welt der Gleichwürdigkeit

Schritt 1

Warum tut Schimpfen weh?

Schritt 2

Warum schimpfen wir überhaupt so viel?

Schritt 3

Welche Mutter oder welcher Vater willst du sein?

Schritt 4

Die Ursachen in Körper, Geist und Psyche aufspüren und beheben

Schritt 5

Begegne deiner Ohnmacht

Schritt 6

Was wirkt besser als Schimpfen?

Schritt 7

Setz deine Erkenntnisse im Alltag um

Nachklang

Die Autorinnen

Herzlichen Dank!

Literaturhinweise und Empfehlungen

Anmerkungen

Hinweise zu den Downloads

Vorworte

Wozu eine Schimpf-Diät?

Schon als ich zusammen mit Linda ein Workbook als Vorläufer dieses Buches entwickelt habe, wurde ich öfter gefragt, warum ich ein Buch mit dem Titel Die Schimpf-Diät schreibe. Meine Antwort darauf: »Ich bin Mama.« Das reichte für mich selbst aus, um überhaupt auf die Idee zu kommen, neue Wege zu suchen. Diese Gefühle, diese Liebe, diese Verantwortung kannte ich nicht, bevor ich Kinder bekam. Ich wollte alles anders machen, als ich es erlebt hatte, wollte da sein, greifbar sein, meine Kinder bedingungslos annehmen. Das ging die ersten Monate uneingeschränkt gut, das Baby hat viel geschlafen und ich konnte gut »einfach Mutter sein« – also ganz nach meiner Vorstellung. Je älter und eigenständiger meine Tochter wurde, desto deutlicher wurde aber die Herausforderung spürbar.

Mit dem zweiten Kind hat sich der Anspruch an mich als Mutter dann weiter verändert: Der Alltag wurde noch ein Stück fremdbestimmter, dazu kamen plötzlich und heftig »Phasen« wie die Autonomie-Ansätze meiner Großen und ihr Freiheitsdrang, die gleichsam normal, gut und extrem anstrengend waren.

Gefühlt war dann die Wand hinter meinem Rücken oft sehr nah und eine Flucht ausgeschlossen. Und in einem dieser Momente war es ein Gespräch, das mich klarer blicken und freier denken ließ: Ich hatte Linda kennengelernt und mich lange mit ihr unterhalten. Aus dem einen Gespräch wurden viele, und immer, wenn ich nicht weiterwusste oder vor lauter Alltag nicht mehr erkennen konnte, worum es eigentlich ging, habe ich durch ihre Impulse den verloren geglaubten Faden wiedergefunden.

In den Gesprächen wurde mir klar: Wenn ich eingeengt bin, kann ich weder hören noch sehen, was meine Kinder wirklich brauchen, und ich tendiere dazu, ungeduldiger und lauter zu reagieren, als ich das möchte – also zu schimpfen. »Weil ich meine Kinder hören will!« ist ein weiterer Grund für die Entwicklung einer Schimpf-Diät. Denn das ist es, was mir so schwerfällt, wenn ich zu sehr mit mir, meinen Sorgen, meinem alltäglichem Stress oder zu vielen To-dos beschäftigt bin und der Alltag zu laut ist. Ich möchte besser zuhören und mehr hören, weil ich beobachten will, anstatt zu werten, und weil meine Kinder es verdient haben, aufmerksam, wertfrei und bedingungslos ihren Anliegen Gehör verschaffen zu können. Das Schreiben dieses Buches hat mir geholfen, dabei ein gutes Stück weiterzukommen.

»Ich glaube, du solltest dein Buch nochmal lesen!« – das war die Reaktion meiner Tochter auf meine letzte Schimpftirade. Womit sie natürlich recht hat ...

Dieses Buch beschreibt auch meinen Weg, denn einfach ist es nicht, die erlernten, erlebten und teilweise eingefahrenen Linien, Furchen und Wege zu verlassen, alte Glaubenssätze zu ignorieren und sich selbst neu als Familie zu erfinden. Ich freue mich, wenn auch du dich traust, den Weg mitzugehen!

Daniela

»Ich kann dir sagen, wie es ist, ein Kind zu sein!«

Mit diesen Worten hat mein jüngerer Sohn seinen Anspruch auf Mitarbeit angemeldet, als ich ihm davon erzählte, dass ich ein Buch darüber schreibe, wie man Kinder ohne Schimpfen erziehen kann. Er war begeistert und rief: »Ich helfe dir dabei! Ich kann dir nämlich sagen, wie es ist, ein Kind zu sein!« Was für eine großartige Idee!

Ich habe ihm Fragen gestellt, die er mir mit seinen sieben Jahren unerwartet klar beantworten konnte. Unter anderem habe ich ihn gefragt, woran es liegen könnte, dass die Erwachsenen so viel mit ihm schimpfen. Seine Antwort war: »Weil ich so dumm bin.«

Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Mein kerngesunder, intelligenter, lieber Sohn schließt mit messerscharfer Logik aus dem Verhalten der schimpfenden Erwachsenen, dass es wohl an ihm liegen muss. Er folgert, dass er in seinem Sein nicht in Ordnung sein kann, sonst würden diese Erwachsenen doch keinen Grund haben, ihm immer wieder zu sagen: »Tu dies nicht, mach das anders, sei so oder so, und: Beherrsch dich, reiß dich zusammen ...«

Es gibt tatsächlich Studien dazu, dass Kinder sich die überwiegende Zeit, die sie mit Erwachsenen verbringen, geschimpft fühlen. Ist das nicht beschämend? Ja, wir haben einen »Erziehungsauftrag«, doch muss das zwangsläufig bedeuten, dass wir mit unseren Kindern schimpfen, sie abwerten, entwürdigen oder uns als Moralapostel aufspielen, um aus einem bereits bei der Geburt höchst sozialen Wesen einen »anständigen Menschen« zu machen?

Ich halte das für überholt. Ich bin sicher, dass Erziehung auch anders möglich ist. Keiner sagt, dass es einfach ist. Doch es sagt auch niemand, dass es leicht wäre, Kinder im Gehorsamskult zu erziehen. Beides kann sehr anstrengend werden.

Das gemeinsame und aneinander Wachsen ist ein Prozess, der lebenslang andauert – es gibt ja auch wirklich viel zu tun! Und doch, wir können alle immer nur den Schritt gehen, der gerade möglich ist.

Lasst uns ein paar Schritte gemeinsam gehen!

Linda

Willkommen in der Welt der Gleichwürdigkeit

Glücklicherweise haben sich aus den vielen Erziehungsströmungen der letzten Jahrzehnte einige herauskristallisiert, die das Kind als etwas von Geburt an Wertvolles und Schützenswertes betrachten. Wir sehen das genauso. Und wir sehen Erziehung als eine Haltungsfrage. Wie »ziehen« nicht an etwas, um zu verändern oder zu formen, sondern wir erkennen an, dass Menschen verschieden sind, auch schon die ganz kleinen.

Wir sehen Familie und Erziehung als einen lebenslangen und lebendigen Prozess, der Beziehungsarbeit bedeutet. Damit wollen wir uns bewusst auseinandersetzen. »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«, schrieb Johann Wolfgang von Goethe – das soll die Grundhaltung in unseren Familien sein, die für alle gilt. Für uns, für unsere Partner und für unsere Kinder. Wir alle sind Menschen gleicher Würde und wollen als solche behandelt werden. Das meinen wir, wenn wir von »Gleichwürdigkeit« sprechen. Wir folgen damit Jesper Juul, der diesen Begriff etablierte und der nicht müde wird, bei den Müttern und Vätern dieser Welt für ein gleichwürdiges Familienleben zu werben.

Wir, das sind Daniela und Linda. Beide sind wir Mütter zweier Kinder. Danielas Töchter sind 2011 und 2014 geboren, Lindas Söhne 2006 und 2010. Mit unseren Kindern und unseren Männern leben wir nicht weit voneinander entfernt, was sich als Glücksfall erwiesen hat. Begegnet sind wir uns erstmals 2012 bei einem familylab-Workshop. Nach vielen wertvollen Gesprächen hat sich eine Freundschaft entwickelt und 2016 dann sogar eine Arbeitsbeziehung. Viele Schritte sind wir gemeinsam gegangen – und nun freuen wir uns darauf, in diesem Buch einige dieser Schritte mit dir zu teilen.

In diesem Buch findest du in jedem Kapitel einen Theorieteil von Linda, hin und wieder begleitet von Experten-Inputs, und im Anschluss daran einen Praxiserfahrungsteil von Daniela. Außerdem haben wir Umfragen gemacht, bringen Erfahrungsberichte anderer Eltern ein und bieten praktische Wege, wie du deine Erkenntnisse im Alltag integrieren kannst. Wenn du magst, kannst du deine Gedanken in den mit »Reflexion« überschriebenen Seiten aufschreiben. So kannst du später, wenn du vielleicht nochmal in unser Buch hineinschaust, sehen, was du festhalten willst und wie du dich entwickelt hast.

Gedankenexkursion: Brokkoli und Banane

Um die Gleichwürdigkeit ein bisschen zu veranschaulichen, hier die Geschichte von Brokkoli und Banane. Stell dir vor, Herr Banane lernt Frau Brokkoli kennen und die beiden verlieben sich. Das ist toll, Frau Brokkoli ist begeistert: Er interessiert sich für ähnliche Dinge, sie haben dieselben Träume und Visionen, gemeinsam ist alles viel schöner; manchmal weiß er sogar, was sie denkt, bevor sie es sagt … Er ist wie ich! Ihr Glück ist unfassbar.

Nach ein paar Monaten, wenn der Hormoncocktail wieder nachlässt, kommt der Moment, in dem Frau Brokkoli plötzlich feststellt: Herr Banane ist gelb und lang – ich bin grün und habe Wuschelhaare. Er liebt Schnitzel und Bier – ich stehe auf Sushi und Weißwein. Er tanzt zu Punk, ich bin im Team HappySound. Er ist nicht wie ich!!!

Jetzt könnte es losgehen mit Machtkämpfen darum, wer besser, wichtiger, wertvoller ist, was schöner oder gesünder ist usw. Einer würde sich über den anderen stellen und zum Beispiel verkünden: »Du mit deinem komischen Sushi, das kann man ja nicht essen!«, oder: »Dieses Gejaule ist unerträglich, du hast ja keine Ahnung von guter Musik!«

Die beiden haben definitiv unterschiedliche Meinungen, Geschmäcker, Vorstellungen, Träume ... Doch wenn die beiden es nicht nur aushalten können, sondern einander anerkennend zugestehen können, dass der jeweils andere anders ist, haben sie gute Chancen, langfristig zusammenzubleiben. Liebe ist da eine gute Grundlage. Es gibt ja den Witz: Man nennt es Liebe, wenn wir zusammenbleiben, obwohl wir einander kennen.

Es heißt jetzt für Frau Brokkoli und Herrn Banane, damit leben zu lernen, dass sie verschieden sind und trotzdem liebenswert. Und auch eine Beziehung zu führen, in der sie sich auf Augenhöhe begegnen, ohne Machtgefälle, ohne dass einer sich (bildlich) über den anderen stellt und für wichtiger, besser, stärker oder was auch immer hervortut.

Du bist du und ich bin ich.

Doch die Story geht noch weiter. Nun bekommen Frau Brokkoli und Herr Banane ihr erstes gemeinsames Kind! Das ist aufregend. Wird es ein Brokkoli, wird es eine Banane oder wird es ein Bananenbrokkoli? Oder doch mehr eine Brokkolibanane?

Nein! Was jetzt passiert, ist unglaublich, besonders nach allem, was wir in der Schule über Vererbungslehre gelernt haben: Die beiden bekommen eine Karotte!

Herr Banane findet, dass das Kind seinen Körperbau hat, Frau Brokkoli findet sich in der wallenden Mähne wieder. Alle sind glücklich …

Es folgen noch weitere erstaunliche Geschwisterkinder: eine Erdbeere, eine Pflaume und ein Rettich. Jeder und jede darf sein, wer sie und er ist. Doch Vorsicht: Wenn jetzt einer anfinge, aus der kleinen Karotte einen Brokkoli oder eine Banane machen zu wollen, würde es ungemütlich. So in etwa: »Du bist eine Brokkolibanane! Und solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, wirst du dich wie eine Brokkolibanane benehmen!« Und richtig dramatisch würde es, wenn Brokkoli und Banane damit sehr konsequent wären und die später erwachsene Karotte fest davon überzeugt wäre, eine Banane oder ein Brokkoli zu sein, eines Tages aber daraufkommt, dass sie es nicht ist – sondern etwas ganz Eigenes!

⠿⠿

Das Fazit der Gedankenexkursion: Kinder sind ganz individuelle Wesen mit eigenem Körper und eigener Psyche. Sie lernen von uns, wachsen mit uns auf. Dein Alltag ist ihre Kindheit. Sie haben deutlich weniger Erfahrung als wir Erwachsenen, vor allem mit gesellschaftlichen und sozialen Normen. Die dürfen sie von uns kennenlernen, aus Vorbildwirkung und geduldigem Dranbleiben.

Naomi Aldort schreibt dazu: »Eine der wichtigsten Botschaften, die ich den Eltern mitgebe, ist die Eigenständigkeit des Kindes zu schützen, sodass es mit sich selber in Verbindung bleibt und sein Leben und seine Entscheidungen aus seinem Inneren heraus gestalten kann. Abhängigkeit von Anerkennung ist der Grund von Unsicherheiten und Störungen in der Entfaltung des Kindes.1

Auch für die Kinder gilt: Du bist du und ich bin ich. Wir begegnen einander auf Augenhöhe, indem wir dem anderen sein Anderssein zugestehen und es anerkennen. Das nennen wir Gleichwürdigkeit. Wir sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Rechte, Pflichten und Verantwortung und sind doch gleicher Würde.

Es empfiehlt sich, eine möglichst neugierige, offene und wertfreie Haltung dazu einzunehmen, wer dein Kind ist, was es fühlt und was es braucht. Finde es heraus, jeden Tag aufs Neue! Denk an die kleine Karotte, die Erdbeere, den Rettich. Wer hätte je geglaubt, dass es so unterschiedliche Kinder von diesen beiden ebenfalls sehr unterschiedlichen Eltern geben könnte? Wer weiß, was da noch alles an Überraschungen lauert?

In einer gleichwürdigen Haltung gehst du von der Kooperationsbereitschaft deines Kindes aus. Die Bereitschaft zur Kooperation wird erst dann sinken, wenn das Kind gekränkt wird oder es überfordert ist, manchmal auch, wenn beides der Fall ist.

Dein Kind braucht deine Zuwendung, es braucht lebendigen Kontakt – also eine echte Beziehung zu dir. In dem Moment, in dem du sein Verhalten bewertest, verlierst du diese Verbindung. Kaum spielst du dich als moralische Instanz auf, geht der Machtkampf los. Dein Kind wird entweder zurückkämpfen oder sich geschlagen geben, also auf Rückzug gehen, weil du ihm zu mächtig erscheinst. »Macht brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe«, schrieb Sir Charles Chaplin. Das sehen wir auch so, und das ist die Welt, in die wir dich mitnehmen wollen. Eine Welt voller Gleichwürdigkeit, bewusster Reflexion, Aufeinander-Einlassen und voller Erkenntnisse, Freude und Dankbarkeit – selbst für die Dinge, die schwierig sind und bei denen es länger dauert, zu erkennen, dass auch sie wichtig sind für den gemeinsamen Weg.

Schritt 1

Warum tut Schimpfen weh?

Es gibt einen Grund, weshalb du zu diesem Buch mit dem Titel Die Schimpf-Diät. In 7 Schritten zu einer gelassenen Eltern-Kind-Beziehung gegriffen hast. Vermutlich wird dir in manchen Situationen klar, dass du gerade gar nicht nett zu deinem Kind warst. Situationen, die du viel lieber anders gestalten möchtest, als sie bisher abliefen. Oder du willst es von vornherein anders machen als deine Eltern, die vielleicht nicht immer den sanften Weg gegangen sind.

Wir haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Workshop »Die Schimpf-Diät« gefragt, weshalb sie daran teilnehmen. Weshalb wollen wir alle weniger schimpfen? Hier einige ihrer Antworten:

Wie alle Reinschreibseiten in diesem Buch dient die folgende Seite dazu, dir deine eigenen Beweggründe klarzumachen und deine eigenen Wege festzuhalten. Wenn du eine Zucker-Diät machen willst, solltest du erst mal wissen, wo überall Zucker drin ist, damit du ihn vermeiden kannst. Sicherlich ist es auch gut zu wissen, was Zucker mit deinem Körper anstellt, damit deine Motivation steigt, ihn zu reduzieren. Ebenso sollten wir erst mal wissen, was Schimpfen überhaupt ist – wo es drinsteckt und was es bewirkt –, damit wir es gut motiviert vermeiden können!


Was sind deine Beweggründe, weniger schimpfen zu wollen?

Was ist Schimpfen für dich?

Was empfindest du als Geschimpftwerden?

Frag doch mal deine eigenen Kinder, was genau sie als Geschimpftwerden empfinden, also was sie unter Schimpfen verstehen. Gerne kannst du auch fragen, wie es sich für sie anfühlt, geschimpft zu werden!

Was bedeutet Schimpfen für Kinder?

Wir haben Kinder gefragt, was Schimpfen für sie ist. Das haben sie geantwortet:

Hier wird deutlich, dass es verschiedene Arten gibt, das Wort Schimpfen zu verstehen. Zum einen gibt es das Schimpfen im Sinne von Fluchen oder der Verwendung von Kraftausdrücken, um seinen Ärger auszudrücken. Dieses Schimpfen kennt man zum Beispiel vom Autofahren. Gemeint ist ein eher unpersönliches, also gegen niemand Bestimmtes gerichtetes Ausdrücken von Ärgernissen, wenn etwas nicht klappt oder auch, wenn man sich weh tut (»Verflixt!«, »Scheiße!«, »Blöde Ampel!«).

Die andere Art zu schimpfen ist deutlich persönlicher, sie bezieht sich auf eine konkrete Person, die direkt angesprochen wird. Der Unterschied ist sehr deutlich spürbar.

Wie fühlt sich Geschimpftwerden für Kinder an?

Dann haben wir Kinder gefragt, wie es sich anfühlt, geschimpft zu werden. Hier ihre Antworten:

Schmerz, Trauer

Schuldgefühle und Scham

Angst, Distanz

Weiter haben wir Kinder gefragt, was sie am liebsten machen wollen, wenn sie geschimpft werden. Sie meinten:

Wir haben Kinder gefragt, was sie glauben, was der Grund dafür sein könnte, dass sie geschimpft werden.

Die berührende Antwort »Weil ich so dumm bin« zeigt uns den messerscharfen logischen Schluss eines Kindes, das wiederholte Zurechtweisungen, Ermahnungen und anderes erlebt: Es bezieht die Ursache auf seine eigene Unzulänglichkeit, sein Fehlverhalten und seine Inkompetenz. Schimpfen wird selbstverständlich persönlich genommen, auch von Erwachsenen. Sie beziehen es auf sich als Auslöser: »Irgendetwas stimmt mit mir nicht, sonst müssten die anderen nicht so viel schimpfen.« Deshalb sprechen auch viele Kinder davon, sich schuldig zu fühlen.


Du kannst deine Kinder jetzt auch fragen, was sie denken, woran es wohl liegt, dass sie von Erwachsenen geschimpft werden.

Schreib es auf, damit es festgehalten ist. So kannst du später darauf zurückkommen, wenn es mal wieder schwierig wird.

Und schließlich unsere Frage an die Kinder, was Schimpfen verhindern könnte. Ihre Antworten:

Je nach Möglichkeit gehen Kinder in die Kooperation, in die Anpassung oder auch in die Vermeidung Schimpfen auslösender Situationen. Ablenkungsmanöver, um die eigene Integrität zu leben, und die Variante, zu tun, was man für richtig hält, und sich im Anschluss zu entschuldigen, sind weitere Möglichkeiten. Diese setzen aber erst eher ältere Kinder ein, weil diese Art der »Manipulation« erst mit etwas mehr Lebenserfahrung möglich wird.

Die Antworten zeigen, dass Kinder sehr wohl verstehen, was direkte Kooperation bedeutet und welche Wirkung sie hat: Sie verhindert beziehungsweise reduziert nämlich das Schimpfen. Sie betreiben also sozusagen Schimpf-Dumping.

Was bedeutet Schimpfen für Erwachsene?

Wenn man bedenkt, wie schwer es für Kinder im Grundschulalter ist, emotionale Erlebnisse in Worte zu fassen, sind ihre Antworten sehr beeindruckend. Wir haben Erwachsenen die gleichen Fragen gestellt wie den Kindern. Hier ist ein Auszug unserer recht ausführlichen Sammlung von Antworten auf die Frage, was von Erwachsenen als Schimpfen verstanden wird:

Ironie, Sarkasmus, auch Zynismus sind Konzepte von Erwachsenen, die Kinder noch gar nicht verstehen können. Sie nehmen das, was sie hören, für bare Münze und glauben es so, wie sie es gehört haben. Also nicht wundern, wenn dein Kind dem Papa dann eine besondere Freude machen will, wenn du ironisch sagst: »Da wird der Papa sich aber freuen!«

Erwachsene verstehen kognitiv, was gemeint ist, jedoch auf der Seelenebene wird auch bei Erwachsenen eine sehr einfache, kindliche Sprache gesprochen und verstanden. Daher empfehle ich auch allen Erwachsenen, in der Kommunikation mit sich selbst und anderen auf Ironie, Sarkasmus und Zynismus zu verzichten. Womöglich glaubst du dir unbewusst doch das, was du sagst, und schadest dir damit. Das wäre doch zu schade, oder?

Wie fühlt sich Geschimpftwerden für Erwachsene an?

Wenige Erwachsene sind in der Lage, so klar wie Kinder zu beschreiben, wie sie es erleben, geschimpft zu werden.

Erwachsene interpretieren stärker. Auf die Frage, wie es sich körperlich, seelisch, mental anfühlt, geschimpft zu werden, antworteten sie:

Wenn man das liest, bekommt man den Eindruck, dass die Erwachsenen auf einmal zu Kindern werden, wenn sie geschimpft werden. Die Beschreibungen »klein« und »wertlos« kommen bei den Kindern nicht vor, es sind ja auch eigentlich keine Gefühle (es wurde gefragt: Wie fühlst du dich?), sondern Bewertungen beziehungsweise Interpretationen. Und Kinder sind ja auch tatsächlich klein ...

Der Begriff »wertlos« passt zu einem alten Bild von Erziehung, das Kinder nicht als vollwertige Menschen ansieht, sondern als asoziale Wesen, die erst zu anständigen Erwachsenen gemacht werden müssen – und zwar durch Er-ziehung. In diesem Wort steckt »ziehen«, was impliziert, man müsse an den Kindern ziehen, um etwas aus ihnen zu machen, was sie ohne Fremdeinwirkung nicht erreichen könnten.

In gewisser Weise stimmt das auch. Wenn man den Prozess der Zivilisation betrachtet, so hat es Jahrhunderte gedauert, gesellschaftliche Verhaltensregeln zu standardisieren (wie wir uns bei Tisch benehmen, wie soziale Sprache gesprochen wird, wie man Respekt und Höflichkeit signalisiert usw.). Unsere Kinder lernen diese Regeln in sehr verkürzter Zeit, allerdings überwiegend durch Nachahmung. Ja, manchmal ist es notwendig, Vorgänge zu üben und durch millionenfache Wiederholung anzutrainieren, weil sie nicht naturgegeben sind, sondern eben Zivilisationsstandard. Und das bedeutet für uns als Eltern, dass wir manche Verhaltensmuster millionenfach begleiten dürfen, bis unsere Kinder sie als Standard integriert haben.

Wenn wir beim Trainieren, Lernen, Entdecken, sprich beim Entwickeln, durch Schimpfen unterbrochen werden, bewirkt es, dass wir uns nicht so wertvoll fühlen, wie wir es möchten, und das zieht Reaktionen nach sich.

»Es ist nicht leicht, Kind zu sein, nein!
Es bedeutet, dass man ins Bett gehen,
aufstehen, sich anziehen, essen, Zähne
und Nase putzen muss, wenn es
den Erwachsenen passt — und nicht
einem selbst. Es bedeutet, dass man sich
von jedem Erwachsenen klaglos
die persönlichsten Kommentare
über sein Aussehen, den Gesundheits-
zustand, die Kleidung und die Zukunfts-
aussichten anhören muss. Ich habe mich
oft gefragt, was passieren würde,
wem man anfinge, die Erwachsenen
auf gleiche Weise zu behandeln.«

ASTRID LINDGREN

Erwachsene, die geschimpft werden, reagieren ähnlich wie Kinder. Sie nannten als Reaktionsweisen:

Angriff

Flucht/Rückzug

Suche nach Nähe/Verständnis/Empathie

Alle drei Wege sind ganz natürliche Reaktionen auf Abwertung. Einerseits sind sie Formen der Abgrenzung, andererseits verzweifelte Versuche, Verbindung zu suchen. Menschen wollen sich wertvoll fühlen als die, die sie sind, also für sich selbst und auch für die Gemeinschaft, der sie angehören wollen. Wir alle wollen geachtet werden in unserem So-Sein und dazugehören dürfen. Das sind zwei ganz basale Bedürfnisse: Sein dürfen, wer wir sind, und dazugehören. Existenz und Verbindung.

Wenn wir jedoch in unserem Sein nicht geachtet werden, sogar kritisiert und womöglich noch bedroht, deshalb ausgeschlossen zu werden, bringt uns das ganz schön in Not. Entsprechend reagieren wir mit Notfallmustern: Angriff, also Aggression, oder Flucht: der Impuls wegzulaufen oder uns zurückzuziehen. Der dritte Reaktionsimpuls auf Geschimpftwerden, der Wunsch nach Verständnis, ist naheliegend: Genau darum geht es ja beim Geachtetwerden.

Ich bin da und ich gehöre dazu.

Wie Schimpfen wirkt

Aus den Beschreibungen der Kinder, wie es sich anfühlt, geschimpft zu werden, lässt sich einiges zusammenfassen: Sie spüren Schmerz, Scham, Schuldgefühle, Angst, Trauer, Distanz, Frust ... Das sind allesamt Gefühle, die weniger angenehm wahrgenommen werden, als etwa Freude oder Liebe.

Geschimpft zu werden tut weh, weil es einerseits eine Grenzüberschreitung darstellt: Die Integrität des Kindes wird verletzt, in Gedanken, Worten und Gefühlen. Andererseits nennt man das, was bei Zurechtweisung, Ablehnungen oder Abwertung wehtut, in den Neurowissenschaften »soziale Schmerzen«. Unser Schmerzzentrum im Gehirn macht keinen Unterschied, ob wir uns ein Bein gebrochen haben oder von einem Menschen geschimpft werden.

Wenn man einem Kind sagt, dass es so, wie es ist, nicht in Ordnung ist, stellt das einen Übergriff dar. Da gibt es jemanden, eine bewertende Instanz, die darüber entscheidet, ob es in seinem Sein gut oder schlecht ist. Das ist ohne Machtgefälle gar nicht möglich; es bedeutet, da steht jemand über dem anderen und spricht zu ihm herunter. Dieser Jemand hat die Macht, zu bewerten und zu urteilen, und das Kind ist zwangsläufig unterlegen.

Niemand lässt sich gerne abwerten, erniedrigen und unter Druck setzen. Machtgefälle sind generell, und in Liebesbeziehungen ganz besonders, ungesund.

Geschimpft zu werden tut andererseits auch deshalb weh, weil wir unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit bedroht sehen. Wenn ich nicht o. k. bin, darf ich schlimmstenfalls nicht mehr mitmachen, werde ausgegrenzt oder ausgeschlossen.

Bei den eigenen Eltern, von denen ich als Kind nicht nur abhängig bin, sondern zu denen ich auch in einem Liebesverhältnis stehe, kommt auch noch die Angst vor Liebesentzug dazu. Und das ist sehr bedrohlich! Wenn sich ein Kind der Liebe der eigenen Eltern nicht sicher sein kann, hat das üblicherweise lebenslange Nachwirkungen für seine Beziehungsfähigkeit und den Selbstwert.