Für Moritz, Jakob, Emma und Ilva
Vorworte
Wozu eine Schimpf-Diät?
»Ich kann dir sagen, wie es ist, ein Kind zu sein!«
Willkommen in der Welt der Gleichwürdigkeit
Schritt 1
Warum tut Schimpfen weh?
Schritt 2
Warum schimpfen wir überhaupt so viel?
Schritt 3
Welche Mutter oder welcher Vater willst du sein?
Schritt 4
Die Ursachen in Körper, Geist und Psyche aufspüren und beheben
Schritt 5
Begegne deiner Ohnmacht
Schritt 6
Was wirkt besser als Schimpfen?
Schritt 7
Setz deine Erkenntnisse im Alltag um
Nachklang
Die Autorinnen
Herzlichen Dank!
Literaturhinweise und Empfehlungen
Anmerkungen
Hinweise zu den Downloads
Schon als ich zusammen mit Linda ein Workbook als Vorläufer dieses Buches entwickelt habe, wurde ich öfter gefragt, warum ich ein Buch mit dem Titel Die Schimpf-Diät schreibe. Meine Antwort darauf: »Ich bin Mama.« Das reichte für mich selbst aus, um überhaupt auf die Idee zu kommen, neue Wege zu suchen. Diese Gefühle, diese Liebe, diese Verantwortung kannte ich nicht, bevor ich Kinder bekam. Ich wollte alles anders machen, als ich es erlebt hatte, wollte da sein, greifbar sein, meine Kinder bedingungslos annehmen. Das ging die ersten Monate uneingeschränkt gut, das Baby hat viel geschlafen und ich konnte gut »einfach Mutter sein« – also ganz nach meiner Vorstellung. Je älter und eigenständiger meine Tochter wurde, desto deutlicher wurde aber die Herausforderung spürbar.
Mit dem zweiten Kind hat sich der Anspruch an mich als Mutter dann weiter verändert: Der Alltag wurde noch ein Stück fremdbestimmter, dazu kamen plötzlich und heftig »Phasen« wie die Autonomie-Ansätze meiner Großen und ihr Freiheitsdrang, die gleichsam normal, gut und extrem anstrengend waren.
Gefühlt war dann die Wand hinter meinem Rücken oft sehr nah und eine Flucht ausgeschlossen. Und in einem dieser Momente war es ein Gespräch, das mich klarer blicken und freier denken ließ: Ich hatte Linda kennengelernt und mich lange mit ihr unterhalten. Aus dem einen Gespräch wurden viele, und immer, wenn ich nicht weiterwusste oder vor lauter Alltag nicht mehr erkennen konnte, worum es eigentlich ging, habe ich durch ihre Impulse den verloren geglaubten Faden wiedergefunden.
In den Gesprächen wurde mir klar: Wenn ich eingeengt bin, kann ich weder hören noch sehen, was meine Kinder wirklich brauchen, und ich tendiere dazu, ungeduldiger und lauter zu reagieren, als ich das möchte – also zu schimpfen. »Weil ich meine Kinder hören will!« ist ein weiterer Grund für die Entwicklung einer Schimpf-Diät. Denn das ist es, was mir so schwerfällt, wenn ich zu sehr mit mir, meinen Sorgen, meinem alltäglichem Stress oder zu vielen To-dos beschäftigt bin und der Alltag zu laut ist. Ich möchte besser zuhören und mehr hören, weil ich beobachten will, anstatt zu werten, und weil meine Kinder es verdient haben, aufmerksam, wertfrei und bedingungslos ihren Anliegen Gehör verschaffen zu können. Das Schreiben dieses Buches hat mir geholfen, dabei ein gutes Stück weiterzukommen.
»Ich glaube, du solltest dein Buch nochmal lesen!« – das war die Reaktion meiner Tochter auf meine letzte Schimpftirade. Womit sie natürlich recht hat ...
Dieses Buch beschreibt auch meinen Weg, denn einfach ist es nicht, die erlernten, erlebten und teilweise eingefahrenen Linien, Furchen und Wege zu verlassen, alte Glaubenssätze zu ignorieren und sich selbst neu als Familie zu erfinden. Ich freue mich, wenn auch du dich traust, den Weg mitzugehen!
Daniela
Mit diesen Worten hat mein jüngerer Sohn seinen Anspruch auf Mitarbeit angemeldet, als ich ihm davon erzählte, dass ich ein Buch darüber schreibe, wie man Kinder ohne Schimpfen erziehen kann. Er war begeistert und rief: »Ich helfe dir dabei! Ich kann dir nämlich sagen, wie es ist, ein Kind zu sein!« Was für eine großartige Idee!
Ich habe ihm Fragen gestellt, die er mir mit seinen sieben Jahren unerwartet klar beantworten konnte. Unter anderem habe ich ihn gefragt, woran es liegen könnte, dass die Erwachsenen so viel mit ihm schimpfen. Seine Antwort war: »Weil ich so dumm bin.«
Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Mein kerngesunder, intelligenter, lieber Sohn schließt mit messerscharfer Logik aus dem Verhalten der schimpfenden Erwachsenen, dass es wohl an ihm liegen muss. Er folgert, dass er in seinem Sein nicht in Ordnung sein kann, sonst würden diese Erwachsenen doch keinen Grund haben, ihm immer wieder zu sagen: »Tu dies nicht, mach das anders, sei so oder so, und: Beherrsch dich, reiß dich zusammen ...«
Es gibt tatsächlich Studien dazu, dass Kinder sich die überwiegende Zeit, die sie mit Erwachsenen verbringen, geschimpft fühlen. Ist das nicht beschämend? Ja, wir haben einen »Erziehungsauftrag«, doch muss das zwangsläufig bedeuten, dass wir mit unseren Kindern schimpfen, sie abwerten, entwürdigen oder uns als Moralapostel aufspielen, um aus einem bereits bei der Geburt höchst sozialen Wesen einen »anständigen Menschen« zu machen?
Ich halte das für überholt. Ich bin sicher, dass Erziehung auch anders möglich ist. Keiner sagt, dass es einfach ist. Doch es sagt auch niemand, dass es leicht wäre, Kinder im Gehorsamskult zu erziehen. Beides kann sehr anstrengend werden.
Das gemeinsame und aneinander Wachsen ist ein Prozess, der lebenslang andauert – es gibt ja auch wirklich viel zu tun! Und doch, wir können alle immer nur den Schritt gehen, der gerade möglich ist.
Lasst uns ein paar Schritte gemeinsam gehen!
Linda
Glücklicherweise haben sich aus den vielen Erziehungsströmungen der letzten Jahrzehnte einige herauskristallisiert, die das Kind als etwas von Geburt an Wertvolles und Schützenswertes betrachten. Wir sehen das genauso. Und wir sehen Erziehung als eine Haltungsfrage. Wie »ziehen« nicht an etwas, um zu verändern oder zu formen, sondern wir erkennen an, dass Menschen verschieden sind, auch schon die ganz kleinen.
Wir sehen Familie und Erziehung als einen lebenslangen und lebendigen Prozess, der Beziehungsarbeit bedeutet. Damit wollen wir uns bewusst auseinandersetzen. »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«, schrieb Johann Wolfgang von Goethe – das soll die Grundhaltung in unseren Familien sein, die für alle gilt. Für uns, für unsere Partner und für unsere Kinder. Wir alle sind Menschen gleicher Würde und wollen als solche behandelt werden. Das meinen wir, wenn wir von »Gleichwürdigkeit« sprechen. Wir folgen damit Jesper Juul, der diesen Begriff etablierte und der nicht müde wird, bei den Müttern und Vätern dieser Welt für ein gleichwürdiges Familienleben zu werben.
Wir, das sind Daniela und Linda. Beide sind wir Mütter zweier Kinder. Danielas Töchter sind 2011 und 2014 geboren, Lindas Söhne 2006 und 2010. Mit unseren Kindern und unseren Männern leben wir nicht weit voneinander entfernt, was sich als Glücksfall erwiesen hat. Begegnet sind wir uns erstmals 2012 bei einem familylab-Workshop. Nach vielen wertvollen Gesprächen hat sich eine Freundschaft entwickelt und 2016 dann sogar eine Arbeitsbeziehung. Viele Schritte sind wir gemeinsam gegangen – und nun freuen wir uns darauf, in diesem Buch einige dieser Schritte mit dir zu teilen.
In diesem Buch findest du in jedem Kapitel einen Theorieteil von Linda, hin und wieder begleitet von Experten-Inputs, und im Anschluss daran einen Praxiserfahrungsteil von Daniela. Außerdem haben wir Umfragen gemacht, bringen Erfahrungsberichte anderer Eltern ein und bieten praktische Wege, wie du deine Erkenntnisse im Alltag integrieren kannst. Wenn du magst, kannst du deine Gedanken in den mit »Reflexion« überschriebenen Seiten aufschreiben. So kannst du später, wenn du vielleicht nochmal in unser Buch hineinschaust, sehen, was du festhalten willst und wie du dich entwickelt hast.
Um die Gleichwürdigkeit ein bisschen zu veranschaulichen, hier die Geschichte von Brokkoli und Banane. Stell dir vor, Herr Banane lernt Frau Brokkoli kennen und die beiden verlieben sich. Das ist toll, Frau Brokkoli ist begeistert: Er interessiert sich für ähnliche Dinge, sie haben dieselben Träume und Visionen, gemeinsam ist alles viel schöner; manchmal weiß er sogar, was sie denkt, bevor sie es sagt … Er ist wie ich! Ihr Glück ist unfassbar.
Nach ein paar Monaten, wenn der Hormoncocktail wieder nachlässt, kommt der Moment, in dem Frau Brokkoli plötzlich feststellt: Herr Banane ist gelb und lang – ich bin grün und habe Wuschelhaare. Er liebt Schnitzel und Bier – ich stehe auf Sushi und Weißwein. Er tanzt zu Punk, ich bin im Team HappySound. Er ist nicht wie ich!!!
Jetzt könnte es losgehen mit Machtkämpfen darum, wer besser, wichtiger, wertvoller ist, was schöner oder gesünder ist usw. Einer würde sich über den anderen stellen und zum Beispiel verkünden: »Du mit deinem komischen Sushi, das kann man ja nicht essen!«, oder: »Dieses Gejaule ist unerträglich, du hast ja keine Ahnung von guter Musik!«
Die beiden haben definitiv unterschiedliche Meinungen, Geschmäcker, Vorstellungen, Träume ... Doch wenn die beiden es nicht nur aushalten können, sondern einander anerkennend zugestehen können, dass der jeweils andere anders ist, haben sie gute Chancen, langfristig zusammenzubleiben. Liebe ist da eine gute Grundlage. Es gibt ja den Witz: Man nennt es Liebe, wenn wir zusammenbleiben, obwohl wir einander kennen.
Es heißt jetzt für Frau Brokkoli und Herrn Banane, damit leben zu lernen, dass sie verschieden sind und trotzdem liebenswert. Und auch eine Beziehung zu führen, in der sie sich auf Augenhöhe begegnen, ohne Machtgefälle, ohne dass einer sich (bildlich) über den anderen stellt und für wichtiger, besser, stärker oder was auch immer hervortut.
Du bist du und ich bin ich.
Doch die Story geht noch weiter. Nun bekommen Frau Brokkoli und Herr Banane ihr erstes gemeinsames Kind! Das ist aufregend. Wird es ein Brokkoli, wird es eine Banane oder wird es ein Bananenbrokkoli? Oder doch mehr eine Brokkolibanane?
Nein! Was jetzt passiert, ist unglaublich, besonders nach allem, was wir in der Schule über Vererbungslehre gelernt haben: Die beiden bekommen eine Karotte!
Herr Banane findet, dass das Kind seinen Körperbau hat, Frau Brokkoli findet sich in der wallenden Mähne wieder. Alle sind glücklich …
Es folgen noch weitere erstaunliche Geschwisterkinder: eine Erdbeere, eine Pflaume und ein Rettich. Jeder und jede darf sein, wer sie und er ist. Doch Vorsicht: Wenn jetzt einer anfinge, aus der kleinen Karotte einen Brokkoli oder eine Banane machen zu wollen, würde es ungemütlich. So in etwa: »Du bist eine Brokkolibanane! Und solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, wirst du dich wie eine Brokkolibanane benehmen!« Und richtig dramatisch würde es, wenn Brokkoli und Banane damit sehr konsequent wären und die später erwachsene Karotte fest davon überzeugt wäre, eine Banane oder ein Brokkoli zu sein, eines Tages aber daraufkommt, dass sie es nicht ist – sondern etwas ganz Eigenes!
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Das Fazit der Gedankenexkursion: Kinder sind ganz individuelle Wesen mit eigenem Körper und eigener Psyche. Sie lernen von uns, wachsen mit uns auf. Dein Alltag ist ihre Kindheit. Sie haben deutlich weniger Erfahrung als wir Erwachsenen, vor allem mit gesellschaftlichen und sozialen Normen. Die dürfen sie von uns kennenlernen, aus Vorbildwirkung und geduldigem Dranbleiben.
Naomi Aldort schreibt dazu: »Eine der wichtigsten Botschaften, die ich den Eltern mitgebe, ist die Eigenständigkeit des Kindes zu schützen, sodass es mit sich selber in Verbindung bleibt und sein Leben und seine Entscheidungen aus seinem Inneren heraus gestalten kann. Abhängigkeit von Anerkennung ist der Grund von Unsicherheiten und Störungen in der Entfaltung des Kindes.1
Auch für die Kinder gilt: Du bist du und ich bin ich. Wir begegnen einander auf Augenhöhe, indem wir dem anderen sein Anderssein zugestehen und es anerkennen. Das nennen wir Gleichwürdigkeit. Wir sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Rechte, Pflichten und Verantwortung und sind doch gleicher Würde.
Es empfiehlt sich, eine möglichst neugierige, offene und wertfreie Haltung dazu einzunehmen, wer dein Kind ist, was es fühlt und was es braucht. Finde es heraus, jeden Tag aufs Neue! Denk an die kleine Karotte, die Erdbeere, den Rettich. Wer hätte je geglaubt, dass es so unterschiedliche Kinder von diesen beiden ebenfalls sehr unterschiedlichen Eltern geben könnte? Wer weiß, was da noch alles an Überraschungen lauert?
In einer gleichwürdigen Haltung gehst du von der Kooperationsbereitschaft deines Kindes aus. Die Bereitschaft zur Kooperation wird erst dann sinken, wenn das Kind gekränkt wird oder es überfordert ist, manchmal auch, wenn beides der Fall ist.
Dein Kind braucht deine Zuwendung, es braucht lebendigen Kontakt – also eine echte Beziehung zu dir. In dem Moment, in dem du sein Verhalten bewertest, verlierst du diese Verbindung. Kaum spielst du dich als moralische Instanz auf, geht der Machtkampf los. Dein Kind wird entweder zurückkämpfen oder sich geschlagen geben, also auf Rückzug gehen, weil du ihm zu mächtig erscheinst. »Macht brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe«, schrieb Sir Charles Chaplin. Das sehen wir auch so, und das ist die Welt, in die wir dich mitnehmen wollen. Eine Welt voller Gleichwürdigkeit, bewusster Reflexion, Aufeinander-Einlassen und voller Erkenntnisse, Freude und Dankbarkeit – selbst für die Dinge, die schwierig sind und bei denen es länger dauert, zu erkennen, dass auch sie wichtig sind für den gemeinsamen Weg.
Es gibt einen Grund, weshalb du zu diesem Buch mit dem Titel Die Schimpf-Diät. In 7 Schritten zu einer gelassenen Eltern-Kind-Beziehung gegriffen hast. Vermutlich wird dir in manchen Situationen klar, dass du gerade gar nicht nett zu deinem Kind warst. Situationen, die du viel lieber anders gestalten möchtest, als sie bisher abliefen. Oder du willst es von vornherein anders machen als deine Eltern, die vielleicht nicht immer den sanften Weg gegangen sind.
Wir haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Workshop »Die Schimpf-Diät« gefragt, weshalb sie daran teilnehmen. Weshalb wollen wir alle weniger schimpfen? Hier einige ihrer Antworten:
Weil es uns allen nicht guttut.
Weil ich es anders als meine Eltern machen will.
Weil ich nach anderen Lösungen für schwierige Situationen suche.
Weil ich dieses ewige Rumgezeter satthabe.
Weil ich diese negativen Emotionen wandeln will.
Weil ich unter Druck ruhig bleiben will.
Weil ich einen wertschätzenden Umgang beim Setzen von Grenzen finden will.
Weil ich die Beziehung zu meinem Kind stärken und nicht schwächen will.
Wie alle Reinschreibseiten in diesem Buch dient die folgende Seite dazu, dir deine eigenen Beweggründe klarzumachen und deine eigenen Wege festzuhalten. Wenn du eine Zucker-Diät machen willst, solltest du erst mal wissen, wo überall Zucker drin ist, damit du ihn vermeiden kannst. Sicherlich ist es auch gut zu wissen, was Zucker mit deinem Körper anstellt, damit deine Motivation steigt, ihn zu reduzieren. Ebenso sollten wir erst mal wissen, was Schimpfen überhaupt ist – wo es drinsteckt und was es bewirkt –, damit wir es gut motiviert vermeiden können!
Was sind deine Beweggründe, weniger schimpfen zu wollen?
…
Was ist Schimpfen für dich?
…
Was empfindest du als Geschimpftwerden?
…
Frag doch mal deine eigenen Kinder, was genau sie als Geschimpftwerden empfinden, also was sie unter Schimpfen verstehen. Gerne kannst du auch fragen, wie es sich für sie anfühlt, geschimpft zu werden!
…
Wir haben Kinder gefragt, was Schimpfen für sie ist. Das haben sie geantwortet:
Kraftausdrücke wie »du Arschloch«, böse Worte sagen, fluchen.
Einen Anschiss bekommen, weil man etwas gemacht hat, was man nicht soll.
Sätze wie: »Hör auf!«, »Macht das nicht!«, »Tu, was ich dir sage – jetzt!«
Wenn jemand anderes böse/wütend auf mich ist.
Laut werden.
Schreien.
Böse sein, böse schauen, böse reden.
Wenn man einen anschreit oder wenn man jemandem etwas klar und deutlich ins Gesicht sagt, sodass man es im Körper nachhallen spürt und zittert.
Dass ich schlimm war und Schimpfen ist jetzt die Strafe.
Wenn du mich anschreist.
Wenn du mich ermahnst und bis drei zählst.
Wenn jemand meine Gefühle verletzt.
Hier wird deutlich, dass es verschiedene Arten gibt, das Wort Schimpfen zu verstehen. Zum einen gibt es das Schimpfen im Sinne von Fluchen oder der Verwendung von Kraftausdrücken, um seinen Ärger auszudrücken. Dieses Schimpfen kennt man zum Beispiel vom Autofahren. Gemeint ist ein eher unpersönliches, also gegen niemand Bestimmtes gerichtetes Ausdrücken von Ärgernissen, wenn etwas nicht klappt oder auch, wenn man sich weh tut (»Verflixt!«, »Scheiße!«, »Blöde Ampel!«).
Die andere Art zu schimpfen ist deutlich persönlicher, sie bezieht sich auf eine konkrete Person, die direkt angesprochen wird. Der Unterschied ist sehr deutlich spürbar.
Dann haben wir Kinder gefragt, wie es sich anfühlt, geschimpft zu werden. Hier ihre Antworten:
Schmerz, Trauer
Es ist wie ein Stich in die Mitte vom Körper.
Ich fühle mich getroffen. So innerlich. Das fühlt sich kalt an.
Es tut einfach weh.
Ich muss dann meistens weinen.
Ich bin böse oder beleidigt.
Es ist ein blödes Gefühl im Inneren. Es nervt mich. Im Herz tut’s weh.
Nicht gut, traurig.
Schnuller (Kleinkind).
Schuldgefühle und Scham
Fühlt sich nicht angenehm an, ich denke mir dann immer, warum hab ich das gemacht. Irgendwie fühl ich mich dann so klein.
Ich glaube dann, dass ich etwas falsch gemacht hab.
Da fühle ich mich schlecht.
Das ist peinlich, ich schäme mich.
Ich fühle, dass ich mich selbst klein machen muss, fühle mich schuldig.
Ich denke: »O Mann, warum hat die mich jetzt schon wieder ertappt«, und ich denke: »Hoffentlich vergisst derjenige, der mich geschimpft hat, das bald wieder«.
Angst, Distanz
Ich glaube dann, jetzt will sie mich nicht mehr.
Ich habe Angst, dass das nie wieder aufhört.
Wenn du so schreist, trau ich mich nicht mehr in deine Nähe.
Am liebsten will ich dann weglaufen.
Weiter haben wir Kinder gefragt, was sie am liebsten machen wollen, wenn sie geschimpft werden. Sie meinten:
Ich werde wütend!
Am liebsten will ich dann hauen und richtig grob sein.
Ich will in der Zeit zurück- oder vorspringen.
Am liebsten ins Bett legen und weinen.
Auf ein Kissen hauen (aber ich vergess es immer).
Rausgehen, weggehen, nicht dorthin gehen.
Kurz nachher würd ich dich am liebsten vor Wut zerquetschen, damit du kleiner bist als ich. Etwas später möchte ich mich schnell versöhnen und gekuschelt werden.
Hört auf. Ich hab eine Idee: Wir backen einen Kuchen. Also etwas Schönes machen.
Sagen, dass es nicht o. k. ist.
Wir haben Kinder gefragt, was sie glauben, was der Grund dafür sein könnte, dass sie geschimpft werden.
Weil ich so dumm bin.
Weil ich vielleicht etwas gemacht habe, das ich nicht tun darf.
Wenn ich meinem Bruder was weggenommen hab.
Weil ich nicht folge.
Weil ich schlimm war.
Weil ich was falsch mache.
Weil ich etwas nicht kann.
Weil die Erwachsenen wütend sind.
Weil sich die Erwachsenen nicht unter Kontrolle haben (!)
Weil ich keine Hausaufgaben machen mag.
Keine Ahnung!
Schimpfen ist wie Strafen: Wenn wir etwas nicht können, müssen wir dafür Kniebeugen machen (!)
Die berührende Antwort »Weil ich so dumm bin« zeigt uns den messerscharfen logischen Schluss eines Kindes, das wiederholte Zurechtweisungen, Ermahnungen und anderes erlebt: Es bezieht die Ursache auf seine eigene Unzulänglichkeit, sein Fehlverhalten und seine Inkompetenz. Schimpfen wird selbstverständlich persönlich genommen, auch von Erwachsenen. Sie beziehen es auf sich als Auslöser: »Irgendetwas stimmt mit mir nicht, sonst müssten die anderen nicht so viel schimpfen.« Deshalb sprechen auch viele Kinder davon, sich schuldig zu fühlen.
Du kannst deine Kinder jetzt auch fragen, was sie denken, woran es wohl liegt, dass
sie von Erwachsenen geschimpft werden.
Schreib es auf, damit es festgehalten ist. So kannst du später darauf zurückkommen, wenn es mal wieder schwierig wird.
…
Und schließlich unsere Frage an die Kinder, was Schimpfen verhindern könnte. Ihre Antworten:
Brav sein und folgen.
Wenn ich schneller folge, dann muss Mama nicht bis drei zählen und nicht schimpfen.
Indem man nichts Verbotenes tut.
Dass man fragt, ob man diese oder jene Sache tun darf, das hasse ich!
Indem ein anderes Kind die Lehrerin mit einer lustigen Sache ablenkt.
Zu Mami und Papi gehen.
Entschuldigung sagen.
Je nach Möglichkeit gehen Kinder in die Kooperation, in die Anpassung oder auch in die Vermeidung Schimpfen auslösender Situationen. Ablenkungsmanöver, um die eigene Integrität zu leben, und die Variante, zu tun, was man für richtig hält, und sich im Anschluss zu entschuldigen, sind weitere Möglichkeiten. Diese setzen aber erst eher ältere Kinder ein, weil diese Art der »Manipulation« erst mit etwas mehr Lebenserfahrung möglich wird.
Die Antworten zeigen, dass Kinder sehr wohl verstehen, was direkte Kooperation bedeutet und welche Wirkung sie hat: Sie verhindert beziehungsweise reduziert nämlich das Schimpfen. Sie betreiben also sozusagen Schimpf-Dumping.
Wenn man bedenkt, wie schwer es für Kinder im Grundschulalter ist, emotionale Erlebnisse in Worte zu fassen, sind ihre Antworten sehr beeindruckend. Wir haben Erwachsenen die gleichen Fragen gestellt wie den Kindern. Hier ist ein Auszug unserer recht ausführlichen Sammlung von Antworten auf die Frage, was von Erwachsenen als Schimpfen verstanden wird:
Laut werden, Anschreien, Anbrüllen, aggressiver Tonfall, Explodieren, Impulskontrollstörung.
Meckern, Lästern.
Unter Druck setzen (»Ich zähle jetzt bis drei!«).
Sätze mit Füllwörtern wie »schon wieder«, »immer«, die also Generalisierungen darstellen und sehr gerne für Vorwürfe aller Art genutzt werden (»Du räumst nie dein Zeug weg!«).
Maßregeln (»Das ist/du bist nicht in Ordnung«).
Moralisieren (»Das tut man nicht!«; »Das kannst du doch nicht machen!«).
Belehrungen (»Das ist so nicht richtig, das musst du so machen!« Vorhalten, was als Nächstes zu tun ist).
Zurechtweisung (»Jetzt hab ich dir schon sooo oft gesagt, dass du das lassen sollst!«).
Schuldzuweisungen (»Wegen dir ist das jetzt so!«).
Erniedrigung (»Wie dumm kann man eigentlich sein?«).
Abwertung (»Aus dir wird nie was«; »Du kannst das ja eh nicht«).
Sarkasmus (»Überarbeite dich bloß nicht!«), Zynismus (»Kein Wunder, dass die heutige Jugend nichts mehr zustande bringt, wenn alle nur vor dem Computer hocken«). Ironie (»Da wird sich der Papa aber freuen!«).
Drohungen (»Wenn du nicht …, dann …!«).
Negative Kommentare (»Wie es hier wieder aussieht!«).
Negieren von Gefühlen (»Stell dich nicht so an!«).
Rollenzuschreibungen (»Du Streber!«).
Herablassende Worte, Klein machen, ein ungutes Gefühl erzeugen.
Ironie, Sarkasmus, auch Zynismus sind Konzepte von Erwachsenen, die Kinder noch gar nicht verstehen können. Sie nehmen das, was sie hören, für bare Münze und glauben es so, wie sie es gehört haben. Also nicht wundern, wenn dein Kind dem Papa dann eine besondere Freude machen will, wenn du ironisch sagst: »Da wird der Papa sich aber freuen!«
Erwachsene verstehen kognitiv, was gemeint ist, jedoch auf der Seelenebene wird auch bei Erwachsenen eine sehr einfache, kindliche Sprache gesprochen und verstanden. Daher empfehle ich auch allen Erwachsenen, in der Kommunikation mit sich selbst und anderen auf Ironie, Sarkasmus und Zynismus zu verzichten. Womöglich glaubst du dir unbewusst doch das, was du sagst, und schadest dir damit. Das wäre doch zu schade, oder?
Wenige Erwachsene sind in der Lage, so klar wie Kinder zu beschreiben, wie sie es erleben, geschimpft zu werden.
Erwachsene interpretieren stärker. Auf die Frage, wie es sich körperlich, seelisch, mental anfühlt, geschimpft zu werden, antworteten sie:
Ich fühle mich unfähig, hilflos, rundherum falsch.
Erniedrigt und klein.
Ich fühle mich klein, wertlos, ohne Bedeutung. Es macht ein schlechtes Gefühl, oft steigen die Tränen hoch.
Herabgesetzt, gedemütigt, klein, schlecht.
Schrecklich.
Enttäuscht, verloren, kein Selbstbewusstsein, Frustration.
Nicht schön. Man fühlt sich angegriffen, verletzt, je nach Situation unverstanden, Unverständnis der Reaktion gegenüber, Überreaktionsempfinden, traurig, verletzt.
Wenn das Schimpfen zu Recht kommt, dann weiß man sofort, was falsch war.
Man verkrampft innerlich und äußerlich – man ist irgendwie in einer Schockstarre und fühlt sich unbewusst schlecht.
Sich angegriffen fühlen, unverstanden, sich rechtfertigen wollen, traurig, aber zugleich wütend, Gefühlschaos, übertriebene Reaktion, verletztes Ich.
Wenn man das liest, bekommt man den Eindruck, dass die Erwachsenen auf einmal zu Kindern werden, wenn sie geschimpft werden. Die Beschreibungen »klein« und »wertlos« kommen bei den Kindern nicht vor, es sind ja auch eigentlich keine Gefühle (es wurde gefragt: Wie fühlst du dich?), sondern Bewertungen beziehungsweise Interpretationen. Und Kinder sind ja auch tatsächlich klein ...
Der Begriff »wertlos« passt zu einem alten Bild von Erziehung, das Kinder nicht als vollwertige Menschen ansieht, sondern als asoziale Wesen, die erst zu anständigen Erwachsenen gemacht werden müssen – und zwar durch Er-ziehung. In diesem Wort steckt »ziehen«, was impliziert, man müsse an den Kindern ziehen, um etwas aus ihnen zu machen, was sie ohne Fremdeinwirkung nicht erreichen könnten.
In gewisser Weise stimmt das auch. Wenn man den Prozess der Zivilisation betrachtet, so hat es Jahrhunderte gedauert, gesellschaftliche Verhaltensregeln zu standardisieren (wie wir uns bei Tisch benehmen, wie soziale Sprache gesprochen wird, wie man Respekt und Höflichkeit signalisiert usw.). Unsere Kinder lernen diese Regeln in sehr verkürzter Zeit, allerdings überwiegend durch Nachahmung. Ja, manchmal ist es notwendig, Vorgänge zu üben und durch millionenfache Wiederholung anzutrainieren, weil sie nicht naturgegeben sind, sondern eben Zivilisationsstandard. Und das bedeutet für uns als Eltern, dass wir manche Verhaltensmuster millionenfach begleiten dürfen, bis unsere Kinder sie als Standard integriert haben.
Wenn wir beim Trainieren, Lernen, Entdecken, sprich beim Entwickeln, durch Schimpfen unterbrochen werden, bewirkt es, dass wir uns nicht so wertvoll fühlen, wie wir es möchten, und das zieht Reaktionen nach sich.
»Es ist nicht leicht, Kind zu sein, nein!
Es bedeutet, dass man ins Bett gehen,
aufstehen, sich anziehen, essen, Zähne
und Nase putzen muss, wenn es
den Erwachsenen passt — und nicht
einem selbst. Es bedeutet, dass man sich
von jedem Erwachsenen klaglos
die persönlichsten Kommentare
über sein Aussehen, den Gesundheits-
zustand, die Kleidung und die Zukunfts-
aussichten anhören muss. Ich habe mich
oft gefragt, was passieren würde,
wem man anfinge, die Erwachsenen
auf gleiche Weise zu behandeln.«ASTRID LINDGREN
Erwachsene, die geschimpft werden, reagieren ähnlich wie Kinder. Sie nannten als Reaktionsweisen:
Angriff
Aggression, Ärger, Wut.
Ich will am liebsten etwas kaputthauen.
Habe das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen.
Flucht/Rückzug
Davonlaufen.
Sich verkriechen, weggehen oder auf Angriff gehen.
Nichts wie weg wäre das Beste!
Man würde sich am liebsten in Luft auflösen oder verkriechen ... in ein schalldichtes Schneckenhaus.
Man will in Ruhe gelassen werden.
Schultern hängen lassen, trauriger Blick, kraftlos.
Suche nach Nähe/Verständnis/Empathie
Ich wünsche mir eine Umarmung, getröstet zu werden.
Weinen.
Alle drei Wege sind ganz natürliche Reaktionen auf Abwertung. Einerseits sind sie Formen der Abgrenzung, andererseits verzweifelte Versuche, Verbindung zu suchen. Menschen wollen sich wertvoll fühlen als die, die sie sind, also für sich selbst und auch für die Gemeinschaft, der sie angehören wollen. Wir alle wollen geachtet werden in unserem So-Sein und dazugehören dürfen. Das sind zwei ganz basale Bedürfnisse: Sein dürfen, wer wir sind, und dazugehören. Existenz und Verbindung.
Wenn wir jedoch in unserem Sein nicht geachtet werden, sogar kritisiert und womöglich noch bedroht, deshalb ausgeschlossen zu werden, bringt uns das ganz schön in Not. Entsprechend reagieren wir mit Notfallmustern: Angriff, also Aggression, oder Flucht: der Impuls wegzulaufen oder uns zurückzuziehen. Der dritte Reaktionsimpuls auf Geschimpftwerden, der Wunsch nach Verständnis, ist naheliegend: Genau darum geht es ja beim Geachtetwerden.
Ich bin da und ich gehöre dazu.
Aus den Beschreibungen der Kinder, wie es sich anfühlt, geschimpft zu werden, lässt sich einiges zusammenfassen: Sie spüren Schmerz, Scham, Schuldgefühle, Angst, Trauer, Distanz, Frust ... Das sind allesamt Gefühle, die weniger angenehm wahrgenommen werden, als etwa Freude oder Liebe.
Geschimpft zu werden tut weh, weil es einerseits eine Grenzüberschreitung darstellt: Die Integrität des Kindes wird verletzt, in Gedanken, Worten und Gefühlen. Andererseits nennt man das, was bei Zurechtweisung, Ablehnungen oder Abwertung wehtut, in den Neurowissenschaften »soziale Schmerzen«. Unser Schmerzzentrum im Gehirn macht keinen Unterschied, ob wir uns ein Bein gebrochen haben oder von einem Menschen geschimpft werden.
Wenn man einem Kind sagt, dass es so, wie es ist, nicht in Ordnung ist, stellt das einen Übergriff dar. Da gibt es jemanden, eine bewertende Instanz, die darüber entscheidet, ob es in seinem Sein gut oder schlecht ist. Das ist ohne Machtgefälle gar nicht möglich; es bedeutet, da steht jemand über dem anderen und spricht zu ihm herunter. Dieser Jemand hat die Macht, zu bewerten und zu urteilen, und das Kind ist zwangsläufig unterlegen.
Niemand lässt sich gerne abwerten, erniedrigen und unter Druck setzen. Machtgefälle sind generell, und in Liebesbeziehungen ganz besonders, ungesund.
Geschimpft zu werden tut andererseits auch deshalb weh, weil wir unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit bedroht sehen. Wenn ich nicht o. k. bin, darf ich schlimmstenfalls nicht mehr mitmachen, werde ausgegrenzt oder ausgeschlossen.
Bei den eigenen Eltern, von denen ich als Kind nicht nur abhängig bin, sondern zu denen ich auch in einem Liebesverhältnis stehe, kommt auch noch die Angst vor Liebesentzug dazu. Und das ist sehr bedrohlich! Wenn sich ein Kind der Liebe der eigenen Eltern nicht sicher sein kann, hat das üblicherweise lebenslange Nachwirkungen für seine Beziehungsfähigkeit und den Selbstwert.