Ich möchte folgenden Personen für die freundliche und vielfältige Hilfe danken, mit der sie mich während der Ausarbeitung dieses Buches unterstützt haben: Hal und Lucia Horning, Robert und Rita Schmidt, Stan und Nancy Kluender, Mike und Sherry Bryson, Peter Dunn, Cynthia Mitchell, Nick Tosches, Paul Kingsbury und vor allem meiner Mutter, Mary Bryson, die in Des Moines immer noch die Fixeste ist.
Bill Bryson wurde 1951 in Des Moines, Iowa, geboren. 1977 zog er nach Großbritannien und schrieb dort mehrere Jahre u.a. für die Times und den Independent. Mit seinem Englandbuch »Reif für die Insel« gelang Bryson der Durchbruch, und heute ist er in England der erfolgreichste Sachbuchautor der Gegenwart. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt, stürmen stets die internationalen Bestsellerlisten. 1996 kehrte Bill Bryson für einige Jahre mit seiner Familie in die USA zurück, seit 2003 lebt er wieder in England.
Von Bill Bryson außerdem bei Goldmann erschienen:
Ich stamme aus Des Moines. Irgendwer muss ja aus diesem Kaff stammen.
Wer aus Des Moines stammt, akzeptiert diese Tatsache entweder ohne zu murren, richtet sich mit einem einheimischen Mädchen namens Bobbi häuslich ein, besorgt sich einen Job in der Firestone-Fabrik und lebt bis in alle Ewigkeit in Des Moines. Oder er verbringt seine Jugend damit, ausgiebig zu jammern, welch ein elendes Loch Des Moines sei und wie ungeduldig er darauf warte, von dort wegzukommen, um sich schließlich mit einem einheimischen Mädchen namens Bobbi häuslich einzurichten, sich einen Job in der Firestone-Fabrik zu besorgen und bis in alle Ewigkeit in Des Moines zu leben. Kaum jemand verlässt Des Moines, denn Des Moines ist das wirksamste aller Schlafmittel. Vor der Stadt verkündet ein großes Schild: »Willkommen in Des Moines. Diese Stadt ist wie der Tod.« Das Schild steht nicht wirklich da. Ich habe es soeben erfunden. Doch der Ort hat etwas Besitzergreifendes. Menschen, die nie etwas mit Des Moines zu tun hatten, fahren von der Interstate ab, um nach einer Tankstelle zu suchen oder einen Hamburger zu essen, und bleiben für immer. In der Straße, in der meine Eltern wohnen, lebt ein Ehepaar aus New Jersey. Manchmal sieht man die beiden die Straße entlangschlendern, etwas verdutzt, aber seltsam gleichmütig. Jeder in Des Moines ist auf seltsame Weise gleichmütig.
Ich kannte nur einen Menschen in Des Moines, der nicht gleichmütig war – Mr. Piper, unser Nachbar. Ein anzüglich grinsender Schwachkopf mit kirschrotem Gesicht, der sich ständig betrank und mit seinem Auto Telegrafenmasten rammte. Überall stieß man auf schiefe Telegrafenmasten und Straßenschilder, Spuren von Mr. Pipers Fahrgewohnheiten. Er hinterließ diese Spuren auf der ganzen Westseite der Stadt, ungefähr so wie Hunde Bäume markieren. Mr. Piper war das menschliche Pendant zu Fred Flintstone, war allerdings weniger charmant. Er war Freimaurer und Republikaner – Nixon-Republikaner – und schien sich berufen zu fühlen, Beleidigungen auszuteilen. Wenn er sich nicht gerade betrank und sein Auto demolierte, bestand sein Lieblingszeitvertreib darin, sich zu betrinken und seine Nachbarn zu beschimpfen, insbesondere uns, denn wir waren Demokraten. Waren wir nicht in Reichweite, nahm er jedoch auch mit Republikanern vorlieb. Schließlich wurde ich erwachsen und ging nach England. Das ärgerte Mr. Piper maßlos. Es war schlimmer, als Demokrat zu sein. Jedes Mal, wenn ich in der Stadt war, kam Mr. Piper herüber und wies mich zurecht. »Ich weiß nicht, was du da drüben bei den Tommies machst«, provozierte er mich dann. »Das sind keine anständigen Leute.« – »Mr. Piper, Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, pflegte ich mit gekünsteltem englischem Akzent zu antworten. »Sie sind ein Kretin.« Man konnte so etwas zu Mr. Piper sagen, denn 1. war er ein Kretin und 2. hörte er niemals zu, wenn man mit ihm sprach. »Bobbi und ich waren vor zwei Jahren drüben in London. Unser Hotelzimmer hatte nicht mal eine Toilette«, ging es weiter. »Wenn man mitten in der Nacht pissen wollte, musste man ungefähr eine Meile durch den Korridor rennen. Das ist doch keine saubere Art zu leben.« – »Mr. Piper, die Engländer sind wahre Muster an Reinlichkeit. Es ist eine wohl bekannte Tatsache, dass sie mehr Seife pro Kopf verbrauchen als sonst jemand in Europa.«
Hierzu schnaubte Mr. Piper gewöhnlich verächtlich. »Das heißt gar nichts, mein Junge, nur weil sie sauberer sind als ein Haufen Krauts und Spaghettifresser. Mein Gott, ein Hund ist sauberer als ein Haufen Krauts und Spaghettifresser. Und ich sag dir noch was: Wenn sein Daddy nicht Illinois für ihn gekauft hätte, wäre John F. Kennedy nie zum Präsidenten gewählt worden.«
Ich hatte lange genug in Mr. Pipers Gesellschaft verbracht, um mich durch diesen abrupten Themawechsel nicht durcheinander bringen zu lassen. Die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen von 1960 war sein altes Klagelied, das er alle zehn oder zwölf Minuten in jede Unterhaltung einbrachte, egal, worüber man gerade sprach. Während der Beerdigung von Kennedy 1963 hatte ihm jemand für diese Bemerkung im Waveland Tap eine Ohrfeige verpasst. Daraufhin wurde Mr. Piper so wütend, dass er geradewegs hinausmarschierte und sein Auto gegen einen Telegrafenmast rammte. Mr. Piper ist inzwischen gestorben – ein Ereignis, auf das man in Des Moines gut vorbereitet wird.
Als ich älter wurde, sagte ich mir, dass es zumindest ein Gutes habe, in Des Moines geboren zu sein, denn es bedeutet, nicht anderswo in Iowa auf die Welt gekommen zu sein. An den Verhältnissen in Iowa gemessen, ist Des Moines ein Mekka des Kosmopolitismus, ein dynamisches Zentrum von Wohlstand und Bildung, wo die Leute dreiteilige Anzüge und dunkle Socken tragen, und das oft gleichzeitig. Wenn die Bauernsprösslinge von außerhalb während des jährlichen Basketballturniers der Highschools von Iowa für eine Woche die Stadt bevölkerten, machten wir uns in Downtown an sie heran. Wir boten uns herablassend an, ihnen zu zeigen, wie man mit einer Rolltreppe fährt oder mit einer Drehtür umgeht. Das war nicht unbedingt übertrieben. Als mein Freund Stan ungefähr sechzehn Jahre alt war, musste er fort, um bei seinem Vetter in einem abgelegenen, staubigen Dorf mit Namen Dog Water oder Dunceville oder einem ähnlich unmöglichen Nest zu wohnen – einer jener Orte, in denen alles neugierig auf die Straße rennt, wenn ein Truck einen Hund überfahren hat. In der zweiten Woche war Stan krank vor lauter Langeweile und bestand darauf, mit seinem Vetter in die fünfzig Meilen entfernte Bezirkshauptstadt Hooterville zu fahren, um sich dort die Zeit zu vertreiben. Sie besuchten eine Bowlingbahn mit verzogenen Bahnen und angeschlagenen Kugeln, tranken danach Sodawasser mit Schokoladengeschmack und sahen sich in einem Drugstore ein Playboy-Heft an. Auf dem Heimweg seufzte der Vetter hochzufrieden und sagte: »Mensch, Stan, danke. Das waren die besten Stunden meines ganzen Lebens.« Das stimmte.
Einmal musste ich nach Minneapolis und fuhr über eine Nebenstraße, um mir die Landschaft anzusehen. Doch es gab nichts zu sehen. Es war einfach öde und heiß, voller Getreide, Sojabohnen und Schweine. Ab und zu kommt man an einer Farm vorbei oder durch eine tote Kleinstadt, in der die Fliegen noch das Lebendigste sind. Ich erinnere mich an einen langen, schimmernden Highway, den ich meilenweit überblicken konnte. In der Ferne entdeckte ich einen braunen Fleck neben der Straße. Als ich näher kam, sah ich, dass es ein Mann war, der in einer Sechs-Häuser-Gemeinde mit einem Namen wie Spigot oder Urinal in seinem Vorgarten auf einer Kiste saß und mein Nahen mit ungeheurem Interesse verfolgte. Er beobachtete, wie ich vorbeisauste, und im Rückspiegel konnte ich sehen, dass sein Blick mir folgte, bis ich in der flimmernden Hitze verschwand. Das Ganze muss ungefähr fünf Minuten gedauert haben. Es würde mich nicht wundern, wenn er heute noch von Zeit zu Zeit an mich denkt.
Er trug eine Baseballmütze. Ein Mann aus Iowa ist leicht zu erkennen, denn er trägt stets eine Baseballmütze mit Werbung für John Deere oder für eine Futtermittelgesellschaft, und sein Nacken ist von den Jahren, die er unter der sengenden Sonne auf seinem John-Deere-Traktor verbracht hat, ganz faltig. (Das mit der Sonne hat sich auch auf seinen Verstand nicht gerade günstig ausgewirkt.) Ein weiteres Erkennungsmerkmal ist sein lächerliches Aussehen, sobald er sein Hemd auszieht. Sein Hals und seine Arme sind schokoladenbraun, sein Rumpf dagegen ist so weiß wie der Bauch einer Sau. In Iowa nennt man das Bauernbräune, und ich glaube, sie gilt als Auszeichnung.
Die Frauen Iowas sind fast alle enorm übergewichtig. Man sieht sie samstags im Merle Hay Mall in Des Moines. Verschwitzt und fleischig, sehen sie in ihren Shorts und rückenfreien Tops ein bisschen aus wie Elefanten in Kinderkleidung. Sie brüllen ihre Kinder an und rufen Namen wie Dwayne und Shauna. Ausgerechnet Jack Kerouac hielt die Frauen von Iowa für die hübschesten im ganzen Land, aber ich bezweifle, dass er jemals an einem Samstag im Merle Hay Mall war. Die jugendlichen Töchter dieser dicken Frauen jedoch – und das ist mehr als eigenartig – sind durchweg äußerst reizvoll, so zart und herrlich gerundet, von so natürlich frischem Duft wie ein Korb voller Früchte. Ich weiß nicht, was mit ihnen geschieht, aber es muss schrecklich sein, eine dieser gut entwickelten Schönheiten zu heiraten, wohl wissend, dass in ihr eine Zeitbombe tickt, die sie eines Tages, vermutlich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, zu etwas Riesigem und Groteskem anschwellen lässt, wie ein sich automatisch aufblasendes Schlauchboot, wo man den Stöpsel gezogen hat.
Auch ohne diesen Beweggrund wäre ich vermutlich nicht in Iowa geblieben. Alles in allem fühlte ich mich dort niemals zu Hause, nicht einmal als kleiner Junge. Etwa 1957 schenkten meine Großeltern mir einen Viewmaster und eine Packung Schaubilder mit dem Titel »Iowa – Unser prachtvoller Staat« zum Geburtstag. Ich erinnere mich, dass ich schon damals dachte, mit der Pracht sei es nicht weit her. Mangels landschaftlicher Besonderheiten, Nationalparks, Schlachtfelder oder berühmter Geburtsstätten war das ganze schöpferische 3-D-Können der Viewmaster-Leute gefordert. Sah man durch den Viewmaster und betätigte den weißen Hebel, erschien, wie ich mich entsinne, eine eindrucksvoll dreidimensionale Aufnahme des Geburtsortes von Herbert Hoover, gefolgt von Iowas zweitem bedeutendem Kulturdenkmal, der Little Brown Church in the Vale (die zu dem Lied inspirierte, dessen Melodie niemand richtig kennt). Weiter ging es mit der Highway-Brücke über den Mississippi River bei Davenport (alle Autos schienen in Richtung Illinois zu eilen), einem wogenden Kornfeld, der Brücke über den Missouri River bei Council Bluffs, bis erneut die Little Brown Church in the Vale zu sehen war, diesmal aus einer anderen Perspektive. Schon damals dachte ich, das Leben müsse mehr zu bieten haben als das.
Dann, an einem grauen Sonntagnachmittag – ich war ungefähr zehn – sah ich im Fernsehen einen Dokumentarfilm über die Filmproduktion in Europa. Ein Ausschnitt zeigte Anthony Perkins, wie er in der Abenddämmerung die abschüssige Straße irgendeiner Stadt entlangging. Ich weiß heute nicht mehr, ob es Rom oder Paris war, jedenfalls war es eine Straße mit Kopfsteinpflaster, die im Regen glänzte, und Perkins vergrub sich tief in einem Trenchcoat, und ich dachte: »Mensch, c’est moi!« Ich begann National Geographics zu lesen, nein, zu verschlingen, mit all den Aufnahmen von freundlichen Lappen, von nebelumwobenen Schlössern und alten Städten mit grenzenlosem Charme. Von diesem Augenblick an wollte ich ein europäischer Junge sein. Ich wollte einem Park gegenüber im Herzen einer Stadt wohnen und von meinem Schlafzimmerfenster aus auf eine Landschaft aus Hügeln und Häuserdächern blicken. Ich wollte Straßenbahn fahren und fremde Sprachen verstehen. Ich wollte Freunde, die Werner und Marco hießen, kurze Hosen trugen, auf der Straße Fußball spielten und Holzspielzeug besaßen. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, warum. Ich wollte, dass meine Mutter mich in einen Laden mit einer hölzernen Brezel über der Tür schickt, um Baguette zu kaufen. Ich wollte aus meiner Haustür treten und irgendwo sein.
Sobald ich alt genug war, ging ich fort. Ich ließ Des Moines und Iowa und die Vereinigten Staaten und den Vietnam-Krieg und Watergate hinter mir und ließ mich am anderen Ende der Welt nieder. Als ich kürzlich nach Hause zurückkehrte, war es, als käme ich in ein fremdes Land, voller Serienmörder, Sportmannschaften in den falschen Städten (die Indianapolis Colts? die Toronto Blue Jays?) und mit einem betagten, adretten Hohlkopf als Präsidenten. Meine Mutter kannte diesen betagten, adretten Hohlkopf aus seiner Zeit als Sportreporter Dutch Reagan bei WHO Radio in Des Moines. »Er war nichts weiter als ein netter, pflegeleichter Blödmann«, sagt sie.
Wenn ich es mir recht überlege, trifft diese Beschreibung auf die meisten Leute in Iowa zu. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will ganz und gar nicht andeuten, die Leute in Iowa seien geistig zurückgeblieben. Es sind zweifellos intelligente und vernünftige Menschen, die trotz ihres angeborenen Konservatismus immer bereit waren, eher einem gewissenhaften, klar denkenden Liberalen ihre Stimme zu geben statt einem schwachsinnigen Konservativen. (Ein Umstand, der Mr. Piper beinahe in den Wahnsinn trieb.) Außerdem verfügt Iowa – ich bin stolz, das sagen zu können – über die niedrigste Analphabetenquote der Nation: 99,5 Prozent der Erwachsenen können lesen. Wenn ich behaupte, die Menschen in Iowa seien irgendwie blöd, so meine ich damit, sie sind gutgläubig, liebenswürdig und aufrichtig. Sie sind unsagbar langsam, sicher. – Wenn man in Iowa jemandem einen Witz erzählt, kann man förmlich sehen, wie sein Gehirn mit seinem Gesichtsausdruck um die Wette läuft. Doch das bedeutet nicht, dass sie zu geistigen Hochleistungen nicht in der Lage sind; diese Fähigkeit wird lediglich kaum genutzt. Der einfältige, unbeirrbare Glaube an Gott, an den Boden und an die Mitmenschen trübt ihren Verstand.
Vor allen Dingen sind die Menschen in Iowa freundlich. Betritt man als Ortsfremder im Süden ein Restaurant, wird alles still, und man merkt, dass die übrigen Gäste einen mustern, als würden sie das Risiko abwägen, das sie auf sich nähmen, wenn sie einen der Brieftasche wegen um die Ecke brächten und die Leiche irgendwo draußen in den Sümpfen verschwinden ließen. In Iowa steht man im Mittelpunkt des Interesses. Man ist das Aufregendste, das der Stadt widerfahren ist, seit vergangenen Mai ein Tornado den alten Frank Sprinkel und seinen Traktor hinweggerafft hat. Wen man auch trifft, jeder tut so, als würde er einem mit Freuden sein letztes Bier abtreten und einen mit seiner Schwester schlafen lassen. Jeder ist glücklich und freundlich und seltsam gleichmütig.
Als ich das letzte Mal zu Hause war, ging ich zu Kresge’s in Downtown und kaufte jede Menge Postkarten, um sie nach England zu schicken. Ich suchte die lächerlichsten Karten aus, die ich finden konnte: einen Sonnenuntergang über einem Haufen Viehfutter; eine Abbildung von Bauern, die unerschrocken vor einer Rolltreppe posierten, daneben die Überschrift »Wir sind in der Merle Hay Mall mit der Rolltreppe gefahren!« – diese Art Postkarten. Sie waren allesamt so absurd, dass ich mich an der Kasse schämte, so, als wollte ich unanständige Magazine kaufen. Ich hoffte, irgendwie den Eindruck zu erwecken, die Karten wären nicht für mich. Doch die Kassiererin betrachtete jede einzelne Postkarte interessiert und bedächtig – was Kassiererinnen, nebenbei bemerkt, auch immer mit unanständigen Magazinen tun.
Als sie zu mir aufsah, hatte sie einen fast verklärten Blick. Sie trug eine schmetterlingsförmige Brille und eine Bienenkorbfrisur. »Die sind wirklich schön«, sagte sie. »Weißt du, Honey, ich bin schon in vielen Staaten gewesen und habe viele Orte kennen gelernt, aber ich kann dir sagen, dieser Staat ist so ziemlich der wundervollste, den ich je gesehen hab.« Sie hat tatsächlich wundervollste gesagt, und sie meinte, was sie sagte. Die arme Frau befand sich in einem Zustand unwiderruflicher Hypnose. Ich warf einen Blick auf die Karten, und zu meiner Überraschung begriff ich plötzlich, was sie meinte. Ich konnte nicht anders, als ihr zustimmen. Die Bilder waren wundervoll. Zusammen bildeten wir eine kleine Gemeinschaft stiller Bewunderung. Für einen kurzen, unvorsichtigen Augenblick war ich selbst so etwas wie gleichmütig. Das war ein eigenartiges Gefühl, das allerdings schnell vorüberging.
Mein Vater mochte Iowa. Er hat sein ganzes Leben in diesem Staat verbracht und müht sich heute dort mit der Ewigkeit ab, auf dem Glendale-Friedhof in Des Moines. Jedes Jahr packte ihn jedoch still und heimlich ein irrsinniges Verlangen, Iowa zu verlassen und in Urlaub zu fahren. Jeden Sommer belud er ohne große Vorankündigung das Auto bis zum Gehtnichtmehr, scheuchte uns hinein und brach auf zu fernen Zielen, kehrte nochmal um, als wir schon fast an der Staatsgrenze waren, weil er seine Brieftasche vergessen hatte, und fuhr wieder los. Jedes Jahr war es dasselbe. Jedes Jahr war es schrecklich.
Die Langeweile war tödlich. Iowa liegt mitten in der weitesten Ebene diesseits des Jupiter. Steigt man irgendwo in diesem Staat auf ein Dach, wird man fast überall nichts als wogende Kornfelder sehen, so weit das Auge reicht. Iowa liegt in jeder Himmelsrichtung 1000 Meilen vom Meer entfernt, 400 Meilen vom nächsten Berg, 300 Meilen von Wolkenkratzern, Straßenräubern und Sehenswürdigkeiten, 200 Meilen von Menschen, die nicht ständig mit dem Finger im Ohr herumstochern, bevor sie die Frage eines Fremden beantworten. Will man von Des Moines mit dem Auto irgendeinen Ort von zumindest flüchtigem Interesse erreichen, so bedeutet das eine Reise, die man in anderen Ländern als abenteuerlich bezeichnen würde. Es bedeutet Tage unablässiger Langeweile in einer brütend heißen Stahlkapsel auf einem endlosen Highway.
Soweit ich mich erinnere, sind wir immer in einem großen, blauen Rambler-Kombi in die Ferien gefahren. Es war ein träges, derbes Auto – mein Dad fuhr immer träge, derbe Autos, bis er in die Wechseljahre kam und nur noch flotte, rote Cabriolets kaufte –, hatte aber den Vorteil der Geräumigkeit. Zwischen meinem Bruder, meiner Schwester und mir auf dem Rücksitz und meinen Eltern vorne im Wagen lagen Meilen. Sie befanden sich praktisch in einem anderen Raum. Wir verübten heimliche Anschläge auf den Picknickkorb und machten bald eine Entdeckung: Wenn man ein paar Ohio-Blue-Tip-Streichhölzer in einen Apfel oder ein hart gekochtes Ei steckte und das stachelschweinartige Gebilde lässig aus dem Heckfenster warf, erzielte man die Wirkung einer Bombe. Sie explodierte mit einem kleinen Knall und einer überraschend großen, blauen Stichflamme, was die Autos hinter uns zu amüsanten Ausweichmanövern zwang.
Mein Dad auf dem meilenweit entfernten Vordersitz des Wagens wusste nie, was los war, und wunderte sich, weshalb die Fahrer der Autos, die uns überholten, den ganzen Tag wütend gestikulierten, bevor sie davonbrausten. »Was haben die bloß?«, wollte er dann jedes Mal gekränkt von meiner Mutter wissen.
»Das weiß ich nicht, mein Schatz«, pflegte meine Mutter sanft zu antworten. Meine Mutter sagte immer nur zwei Dinge. Sie sagte: »Das weiß ich nicht, mein Schatz.« Und sie sagte: »Möchtest du ein Sandwich, Honey?« Wenn wir unterwegs waren, gab sie manchmal auch andere Kostproben ihrer Intelligenz, wie: »Wieso leuchtet die Lampe da auf dem Armaturenbrett, Schatz?« oder »Ich glaube, du hast den Hund/Mann/Blinden dahinten angefahren, Honey.« Doch meistens hielt sie klugerweise den Mund. Im Urlaub war mein Vater nämlich wie besessen. Hauptsächlich bestand seine Besessenheit darin, dass er an allen Ecken und Enden zu sparen versuchte. Er schleppte uns immer in die miesesten Hotels und Motels und in jene Art Gasthäuser, in denen nur einmal die Woche das Geschirr gespült wird. Mit etwas Gespür für das Unvermeidliche war klar, dass man beim Essen irgendwo auf dem Teller oder zwischen den Zinken der Gabel lauerndes, hart gewordenes Eigelb eines früheren Gastes entdecken würde. Das bedeutete natürlich Läuse und einen langen, qualvollen Tod.
Doch das war noch das geringste Übel. Gewöhnlich wurden wir genötigt, irgendwo in der Nähe der Straße zu picknicken. Mein Vater hatte einen sicheren Instinkt für schlechte Picknickplätze – den Parkplatz eines belebten Truckstops oder einen kleinen Park im Herzen eines bedenklich vernachlässigten Gettos, in dem sich Scharen von Kindern schweigend um unseren Tisch versammelten und zusahen, wie wir Kuchen und Kartoffelchips verdrückten. Außerdem wurde es jedes Mal unglaublich windig, sobald wir aus dem Auto stiegen, so dass meine Mutter die ganze Mittagspause damit verbrachte, auf einem Gelände von der Größe eines Fußballfeldes Papptellern hinterherzujagen.
1957 investierte mein Vater 19,98 Dollar in einen tragbaren Gasofen, der vor jedem Gebrauch erst eine Stunde lang zusammengebaut werden musste. Der Ofen war dermaßen tückisch, dass wir Kinder nicht in die Nähe gelassen wurden, wenn er angezündet werden sollte. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch jedes Mal als unnötig, denn der Ofen flackerte nur für ein paar Sekunden und ging dann wieder aus. Auf der Suche nach einer windstillen Ecke schob mein Vater den Kocher stundenlang hin und her. Gleichzeitig redete er leise und aufgeregt auf ihn ein, in einer Weise, die man normalerweise eher bei Verrückten erwarten würde. Mein Bruder, meine Schwester und ich flehten ihn die ganze Zeit inständig an, mit uns in ein Restaurant mit Klimaanlage, Tischdecken und Wassergläsern voller klimpernder Eiswürfel zu gehen. »Dad«, bettelten wir, »du bist ein erfolgreicher Mann. Du verdienst viel Geld. Lass uns zu Howard Johnson’s gehen.« Aber er wollte nicht. Er war ein Kind der Weltwirtschaftskrise, und wenn es um Kapitalaufwand ging, zog er das Gesicht eines gehetzten Flüchtlings, der soeben in der Ferne Bluthunde gehört hat.
Endlich, kurz vor Sonnenuntergang, drückte er uns kalte, rohe und nach Butangas riechende Hamburger in die Hand. Wir bissen einmal hinein und weigerten uns, mehr davon zu essen. An dieser Stelle verlor mein Vater gewöhnlich die Beherrschung, warf den ganzen Krempel ins Auto und beförderte uns in rasantem Tempo in irgendein Restaurant am Straßenrand, in dem ein verschwitzter Mann mit Schlapphut Haschisch rauchte, während auf seinem Grill das Fett verbrannte. Anschließend würden wir schweigend, voller Bitterkeit und unbefriedigter Grundbedürfnisse die falsche Ausfahrt vom Highway nehmen, uns verfahren und in einem gottverfluchten Nest namens Draino, Indiana, oder Tapwater, Missouri, landen. Wir würden im einzigen Hotel am Platz absteigen – in einem jener heruntergekommenen Hotels, in denen man nur in der Lobby fernsehen kann, auf einem morschen Kunstledersofa, das man sich mit einem alten Mann mit gewaltigen Schweißflecken unter den Achseln teilen muss. Der alte Mann würde sehr wahrscheinlich einbeinig sein und vermutlich eine weitere bizarre Missbildung aufweisen, entweder besaß er keine Nase oder eine eingedrückte Stirn. Trotz der ernsthaften Absicht, Laramie oder Our Miss Brooks zu sehen, würde man seinen Blick nicht vom erstaunlich verunstalteten Körper seines Nachbarn abwenden können. Unmöglich. Hin und wieder stellte sich heraus, dass der Mann keine Zunge hatte. In diesem Fall würde er sicherlich versuchen, einen in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln. All das war äußerst unbefriedigend.
Es dauerte ungefähr eine Woche, bis diese Marter ein Ende hatte und wir an einem blauen, funkelnden See umgeben von kieferbestandenen Bergen, anlangten, an einem Ort voller Leben und Vergnüglichkeiten, mit dem ausgelassenen Kreischen von Kindern, die im Wasser plantschen. Ein Ort, der für das Gewesene beinahe entschädigte. Dad wurde lustig und großzügig und nahm uns manchmal sogar in eines dieser Restaurants mit, in denen man nicht zusehen muss, wie das Essen zubereitet wird, und wo man Wassergläser serviert bekommt, die nicht mit Lippenstift signiert sind. Das war Leben. Das war berauschende Üppigkeit.
Trotz dieser beunruhigenden und wechselhaften Vorgeschichte erfasste mich das eigentümliche Verlangen, in das Land meiner Jugend zurückzukehren und das zu unternehmen, was die Verfasser von Klappentexten gern eine Entdeckungreise nennen. Auf einem 4000 Meilen entfernten Kontinent packte mich das Heimweh, das einen überkommt, wenn man die Mitte seines Lebens erreicht und vor kurzem seinen Vater verloren hat, und wenn einem klar wird, dass er etwas von einem selbst mit sich nahm, als er starb. Ich wollte die verzauberten Orte meiner Jugend wiedersehen – Mackinac Island, die Rocky Mountains, Gettysburg – und feststellen, ob sie der guten Erinnerung entsprachen, in der ich sie behalten hatte. Ich wollte in einer stillen Nacht das lang gezogene, tiefe Tuten einer Rock-Island-Lokomotive hören und ihrem Geklapper lauschen, bis es in der Ferne verklingt. Ich wollte Leuchtkäfer sehen und das Zirpen der Zikaden hören und mich kopfüber in das heiße Augustwetter stürzen, das einen verrückt macht und die Unterwäsche wie Latex am Körper kleben lässt, das besonnene Männer dazu bringt, in einer Bar eine Waffe zu ziehen und die Nacht mit Gewehrfeuer zu erhellen. Ich wollte nach Ne-Hi-Pop- und Burma-Shave-Schildern suchen, zu einem Baseballspiel gehen, in einem Café mit Marmorwänden sitzen und durch jene Kleinstädte fahren, die man aus den Filmen mit Deanna Durbin und Mickey Rooney kennt. Ich wollte reisen. Ich wollte Amerika sehen. Ich wollte heimkehren.
So flog ich also nach Des Moines und besorgte mir einen Stapel Straßenkarten, die ich auf dem Fußboden im Wohnzimmer studierte. Ich stellte eine gewaltige Rundreise zusammen, die mich durch dieses eigenartige, riesige und halbwegs fremde Land führen würde. In der Zwischenzeit strich meine Mutter mir Sandwiches und sagte »Oh, das weiß ich nicht, mein Schatz«, wenn ich ihr Fragen über die Ferien meiner Kindheit stellte. Und im Morgengrauen eines Septembertages in meinem sechsunddreißigsten Lebensjahr schlich ich aus dem Haus meiner Kindheit, rutschte hinter das Lenkrad eines bejahrten Chevrolet Chevette, den mir meine gütige und vertrauensvolle Mutter geliehen hatte, und steuerte ihn durch die schlafenden, ebenen Straßen. Ich fuhr über den leeren Freeway – der einzige Mensch mit einer Mission in dieser Stadt von 250 000 schlafenden Seelen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und versprach einen glühend heißen Tag. Vor mir lagen ungefähr eine Million Quadratmeilen leise rauschenden Korns. Am Stadtrand bog ich auf den Iowa Highway 163 und fuhr leichten Herzens in Richtung Missouri. Es passiert nicht oft, dass man jemanden so etwas sagen hört.