Cover

António Lobo Antunes

Einblick in die Hölle

Roman

Aus dem Portugiesischen von
Maralde Meyer-Minnemann

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12

ANTÓNIO LOBO ANTUNES, geboren 1942 in Lissabon, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang als Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Seine Werke sind in über dreißig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem prestigeträchtigen Camões-Preis.

1

Das Meer des Algarve ist aus Pappe gemacht wie die Kulissen im Theater, und die Engländer merken es nicht: Sie breiten gewissenhaft die Handtücher auf dem Sägespänesand aus, schützen sich mit dunklen Brillen gegen die Papiersonne, spazieren begeistert über die Bühne von Albufeira, auf der ihnen als Karnevalshippies verkleidete Beamte, auf dem Boden hockend, heimlich vom Tourismusbüro hergestellte marokkanische Ketten aufdrängen, und gehen schließlich am Spätnachmittag in künstlichen Straßencafés vor Anker, wo ihnen in nicht existenten Gläsern erfundene Getränke serviert werden, die im Mund den faden Geschmack der Whiskys zurücklassen, die Komparsen während der Fernsehdramen erhalten. Hinter dem auf der horizontalen Landschaft wie Butter auf einer verbrannten Scheibe Brot verflüchtigten Alentejo gaben ihm die Schornsteine, die so aussehen, als hätten geschickte Altersheimbewohner sie aus Klebstoff und Streichhölzern gebaut, und die Wellen, die sich in zahmer Häkelspitzengischt lautlos am Strand auflösen, das Gefühl, eine dieser Puppen auf Hochzeitstorten zu sein, ein verstörter Bewohner einer Welt aus Eiergebäck und auf Zahnstocher gespießten Kroketten, die Häuser und Straßen nachahmten. Er war einmal mit Luísa in Armação de Pera gewesen und hatte das Hotel fast nicht verlassen können, so verblüfft war er über diese ungewöhnliche Kulissenmystifikation gewesen, die die Leute ernst zu nehmen schienen, während sie sich unter dem orangefarbenen Scheinwerfer der Sonne, die von einem unsichtbaren Elektriker durch ein Wolkenloch bewegt wurde, mit imaginären Cremes einschmierten: Von einer Absurdität, die ihn erschreckte, auf dem Balkon des Zimmers festgesetzt, begnügte er sich damit, in einen Bademantel gewickelt, der ihn wie einen besiegten Boxer aussehen ließ, bei dem Schnitte mit dem Rasierapparat die Spuren der Faustschläge ersetzten, die Gruppe der Familie dort unten zu beobachten, die um einen Berg aus Sandalen und Pantoffeln wie disziplinierte Pfadfinder um ihr rituelles Feuer versammelt war. Nachts stieß ein rostiger Ventilator den süßen, lauwarmen Atem eines diabetischen Inspizienten in seine Richtung, eine Konstellation von Lichtern hing an Drähten von Blechschiffen, die nur noch die gewichtslose Geometrie von Umrissen hatten. Auf dem Bett liegend, an Luίsa geklammert, sah er, wie sich die Gardinen in der phosphoreszierenden Helligkeit einer Zellophanaurora bewegten, und fragte sich verwirrt, ob die Liebe, die er gerade machte, nur eine frenetische Übung war, die er einem nicht existenten Publikum darbot, für das er seine gestöhnten Texteinsätze mit der pathetischen Überzeugung eines Schauspielers artikulierte. Und jetzt, so viele Jahre später, als ich allein von Balaia nach Lissabon aufbrach, hoffte ich fast ungewollt, dir im Garten inmitten von blonden Ausländerinnen zu begegnen, die tragisch und reglos wie Phädren dastanden, in deren leerem Blick die resignierte Einsamkeit von Statuen und Hunden wohnt. Ich würde mich auf eine Bank zwischen die zärtlichkeitsfernen Krampfadern einer alten Deutschen und die ineinander verschränkten Schenkel von zwei Heranwachsenden setzen, die auf einem Haschischfloß dahintrieben und mit der Fröhlichkeit einer unbekannten Dimension niemand Bestimmten anlächelten, bis ich dich plötzlich auf der anderen Seite des Platzes sähe, einen Weidenkorb auf der Schulter, das Haar in der Mitte von einer Squawfrisur geteilt, kommst du wie das Mädchen von der Repimpa-Matratzen-Reklame auf mich zu, das die Greta-Garbo-Brille recycelt hat.

Die eintönige Unpersönlichkeit der Hotels verschaffte ihm ein erhebendes Freiheitsgefühl: Keiner seiner Gegenstände markierte die Möbel wie Hundeurin die Rinde der Bäume. Die langen Flure voller numerierter Türen ließen ihn von teuren Bordellen phantasieren, wie auch die kleinen Krämerläden seiner Kindheit sich in riesigen Raumstationen gleichende Supermärkte verwandelt hatten, und während er über den Teppichläufer von Zimmer zu Zimmer trabte, gefiel es ihm, sich vorzustellen, wie Männer bäuchlings eingetaucht zwischen mit Hölzern des Orients parfümierten Knien keuchten, bevor sie sich in den einander ins Gehege kommenden Wasserstrahlen der Duschkabine mit Ach-Brito-Seife wuschen. Die Angestellten am Empfang meßdienerten zwischen Büchern und Schlüsseln würdig wie Priester. Typen mit Pfeife verdösten, die Plaids der ausländischen Zeitungen auf den mageren Schößen vergessend, die Filets vom Mittagessen. Und er fühlte sich, wenn er durch die Drehtür eintrat, wie eine Roulettekugel, ebenso in der Lage, eine Norwegerin zu gewinnen, wie als Verlierer im Strandcafé zu sitzen und vor der Kohlensäure eines Ginger-ales Verbitterung wiederzukäuen.

Am Ende des Tages leckte ich deine Haut wie die Kühe die Höhlungen der Felsen, dieses weißliche Spinnennetz, das die Sonne in konzentrischen Zeichnungen über den Bauch legt wie Teer im Ebbesand und das sich bis zu den Haaren der Scham mit ihrem unerwarteten Geschmack nach Meeresfrüchten hinzieht. Das Pappmeer veränderte beim Herannahen der Nacht ganz allmählich seine Farbe, wurde von einem lila Filter illuminiert, der dem geschmacklosen Mobiliar die Melancholie von Terzetten am Meeresufer verlieh. Die letzten Leute verließen, unter Körben, Sonnenschirmen und Hockern schwankend, den Strand in einem Exodus von Kriegsflüchtlingen, den Kopf gesenkt, verfolgt von den lila, wie zufriedene Kekse strahlenden Wolken der Abenddämmerung. Die Laternen enthüllten Plastikbüsche, in denen Aufziehgrillen monoton das Weißblech ihrer Flügel zum Zirpen brachten. Und ich hörte langsam auf, dich in der Dunkelheit zu sehen, die in unwiderstehlichen Knoblauchdünsten stoßweise zum Fenster hereinkam und dich auflöste, mich zwang, dich, wie jemand, der nach dem Lichtschalter sucht, zu ertasten, voller Hoffnung, dein Lächeln würde einen hellen Spalt auf der Finsternis des Kopfkissens auftun und deine zittrigen Oktopusgesten sich zärtlich scheu an meine heranschlängeln.

Ich verließ die Quinta da Balaia auf dem Weg nach Lissabon, Balaia, dieses Touristendorf aus Mandeln und Eiweiß, in dem Plastikmenschen mit der Plastiklangeweile der Reichen Plastikferien unter Bäumen verbrachten, die Seidenpapiergirlanden glichen und von der grünen Pupille des Schwimmbades im Methylenblau des Wassers widergespiegelt wurden. Er war schon ein paarmal in diesen Marzipanhäusern aufgewacht, bei denen die Eye-Liner-Sonne die Lider der Rolläden betonte und den zerwühlten Bettlaken den grauen Farbton von Weihnachtskrippenbergen verlieh, und dann barfuß auf den Terrakottafliesen wie im Inneren eines Lichterkuchens in die Küche gegangen auf der Suche nach Weintrauben, die schwer waren wie die auf den Bildern spanischer Maler und deren weißes Fleisch im Mund den dichten Geschmack nach Blut hinterließ. Am Himmel, der wie ein Fluß aus geöffneten Händen aussah, schaukelten sanft runde Wolken von Nylonfäden herab, an den durchsichtigen Haken der Luft aufgehängt wie Zimmerschlüssel in der Eingangshalle eines Hotels. Auf dem gelackten Rasen las ein Onkel in kurzen Hosen die Zeitung, urplötzlich ohne die Würde des Anzugs, den Pomp der Krawatte, den kompetenten Winterhusten, die mageren Beine wie Besteck auf einem Teller übereinandergelegt, starrte auf die kalligraphischen Vögel, die in das zwei Linien zählende Heft der Zweige gezeichnet waren. Er war schon ein paarmal in der Stille eines reglosen Hauses aufgewacht, zwischen den körperlosen Schatten der Nacht liegend wie ein toter Schmetterling, und hatte, auf dem Bett sitzend, die undeutlichen Umrisse der Schränke angeschaut, die Wäsche, die wahllos über den Stühlen hing wie müdes Spinnengewebe, das Rechteck des Spiegels, der Blumen trank wie die Ufer der Hölle die ängstlichen Profile der Verstorbenen. Er war hinausgegangen, um in der Stille des Sommers wie in einem geheimen Bauch die Insekten rings um die Laternen zu beobachten, im warmen, heimlichen Frauenleib des Sommers, hatte den süßen, fauligen Duft des Ostwinds auf der Haut gespürt, das ungeordnete Rauschen der Akazien gehört und gedacht, Ich bin in einem Sonnenblumenfeld in der Ebene von Cassanje zwischen den Hügeln von Dala Samba und Chiquita, Ich stehe auf der durchscheinenden Ebene von Cassanje, zum fernen Meer von Luanda gewandt, dem dicken Meer von Luanda, das die Farbe vom Öl der Fischkutter und dem freien Lachen der Schwarzen hatte, hatte gedacht, Ich bin auf dem Landgut meines Großvaters, nah bei den Bänken aus bemalten Fliesen und den ruhenden Hühnerställen, wenn ich die Augen schließe, werden weiße Federn, lose, leicht wie Schnee, in meinen Schädel herniedergehen, und er hatte sich ungläubig unter das Vordach unter die Glassterne des Algarve gehockt, die, einer geheimnisvollen Geometrie folgend, an die Decke des Bühnenbilds geklebt worden waren. Und wie immer, wenn er nicht schlafen konnte, hatten die Verrückten aus seiner Kindheit, die zärtlichen, demütigen, aufgebrachten, mit den Armen wedelnden Verrückten seiner Kindheit, begonnen, einer nach dem anderen in einer elenden und zugleich prächtigen Prozession von Clowns aus der Dunkelheit herunterzusteigen, schräg angestrahlt durch den diagonalen Scheinwerfer der Erinnerung, zur alten Musik eines Dachbodengrammophons, das einen rheumatischen Walzer über die vom stumpfen Schmutz des Staubes bedeckten Holzpferde hinweggreinte.

Da war Monsieur Anatole, der französische Kupferstecher, von dem ihm der Vater erzählt hatte, Monsieur Anatole, dem er, ohne zu wissen, wieso, den weißen Haarschopf und die bleifarbene Iris von Marc Chagall verlieh, der Uhren mit Flügeln und blinde Geiger und sich umarmende Liebende aquarellierte, Monsieur Anatole, der an dem Roman Livre Plus Que Social schrieb und, wenn er gefragt wurde, ob er Kinder habe, mit angewiderter Verachtung geantwortet hatte:

Docteur, je ne fabrique pas des cadavres.

Da waren die Verrückten von Benfica, der alte Herr, der plötzlich am Schultor den Regenmantel aufmachte und den Lumpen seines Geschlechts vorzeigte, der betrunkene Florentino, der in grandioser Pose im Regen auf dem Bürgersteig saß und die eiligen Beine der Leute aus komplizierter Rotweinerregung heraus beschimpfte, die sanften Verrückten von Benfica, verblichen wie Fotos im wirren Album der Kindheit, der Glöckner, der mit seinem im Wind wie der Umhang eines Ritters im Galopp wehenden ärmellosen Habit während der Elevation in den Mittagsmessen das Lied Papagaio Loiro spielte, die Frau, die die Hostien zu Hause in der Hoffnung in einem Kästchen verwahrte, eines Tages den ganzen Körper Gottes wiedererstehen lassen zu können, die Verrückten von Benfica, die sich nachts zu einem Rudel zusammentaten wie streunende Hunde und das schreckliche Bellen ihrer Proteste in die stumme Weite der Landgüter hinausschrien.

Er kam an den Büros von Balaia vorbei, neben dem Tennisplatz und den Beeten mit den gelben Blumen, deren Blütenblätter sich langsam öffneten wie Schenkel vorm Gynäkologen, unterwürfig und reglos zwischen den behandschuhten Fingern der Sonne, und ihm fiel der Mann wieder ein, der im Park von Monsanto, in eine rostige Kinderkarre hingegossen, Zeitschriften über Quantenmechanik las, ein ordentlicher Mann mit Mantel und Brille, der unbeeindruckt von der Überraschung und Verblüffung der Leute Zeitschriften über Quantenmechanik las, und wie er, als er dessen merkwürdige Natürlichkeit beobachtete, inmitten der Verblüffung und des Gelächters und der Beunruhigung der anderen beschlossen hatte, Psychiater zu werden, um die seltsame Art zu leben der Erwachsenen besser zu verstehen (dachte er), deren Unsicherheit er manchmal hinter ihren Zigaretten und ihren in päpstlichem Ernst zur Abendbrotsuppe gebeugten Schnurrbärten erahnte. Und als er mit dem Wagen durch die Straßen der Quinta da Balaia fuhr, im Hintergrund das Meer, wie auf dem Rücken von einer hellen Lampe erleuchtet, erinnerte er sich daran, wie ein grauhaariges Geschöpf, den Regenschirm unter den Arm geklemmt und die Männerschuhe in den fleckigen Falten des Rockes verborgen, urplötzlich aus einem Busch herausgekommen war, aus zahnlosem Mund Worte brummelte, die niemand verstand, und den Kerl mit den Zeitschriften unter grauenhaftem Räderquietschen über den mit Blättern und Kiefernnadeln bedeckten Boden schob, als würde es ein unaufmerksames Kind quer durch die Stadt fahren, bis beide in der Falte eines Hügels verschwanden und nur noch das Quietschen der Räder in der Luft lag wie Parfümduft in einem leeren Bett. Damals (dachte er) hatte er beschlossen, Psychiater zu werden, um zwischen verzerrten Menschen wie jenen zu leben, die uns in den Träumen aufsuchen, und um ihre Mondsprachen und die gerührten oder haßerfüllten Aquarien ihrer Hirne zu verstehen, in denen sterbend die Fische der Angst zugange sind.

Da kamen dann die Verrückten von Benfica, der dünne Junge, der jede Menge Grillenkäfige mit sich herumschleppte und mit der Gleichgültigkeit der Gebäude redete, die geschlossenen Fenster beschimpfte, der als Karnevalsverkehrspolizist verkleidete Kerl, der voll energischer Autorität an einer Ecke den Verkehr regelte, die beiden ledigen Schwestern, hakennasig wie Kakadus, die Töchter des Piloten eines Wasserflugzeugs, dessen Bild mit Ledermütze und Fellkragen vergebens von der Wand aus die Siesta der Katze bedrohte, die Schwestern, die im Sommer nachmittags den Vorplatz der Kirche besetzten, aus der langsam der Leichenzug herauskam, und die mit ihren falschen Gebissen das Flappen der Propeller nachahmten, wie tapsige Vögel um die Leichenwagen herumtrabten, bereit, sich im schwankenden Kreiseln müder Engel über die Bäume zu erheben. Er würde die mit schwarz-goldenen Tüchern bedeckten Särge niemals vergessen, deren Pailletten in der Augustsonne wie Reflexe in einem Eimer glitzerten, einer dieser Eimer eines Strandfotografen, in denen sich unser Gesicht allmählich auf einem Stück Papier abzeichnet, die Verwandten, die die brennende Kippe aus absurder Höflichkeit hinter dem Rücken verbargen, als wenn die Leiche gleich den Deckel aufklappen und sie brüllend zur Ordnung rufen würde, niemals würde er das Schweigen der Tauben während der Beerdigungen vergessen, auch nicht die Töchter des Wasserflugzeugpiloten, die im Zickzack mit ungeschickten Fasanenhüpfern über den Akazien kreisten und in einer bizarren Motorenparodie mit den Plastikschneidezähnen klapperten.

Niemals würde er, dachte er, als das Tor der Quinta da Balaia, zur Straße nach Albufeira geöffnet, auf der Anhöhe erschien und er langsam darauf zufuhr, das Heim in einem Vorort von Lissabon vergessen, das er zu Weihnachten immer mit seinen Eltern besuchte, Flure um Flure, in denen Schritte und Stimmen beunruhigende Höhlendimensionen annahmen, riesige Säle voller regloser Frauen, starr wie in Wartehaltung gefertigte Wachsfiguren, auf Stühlen mit hohen Lehnen, und die Nonnen, die lautlos über die Fliesen auf dem Boden glitten, die übereinanderliegenden Glocken ihrer Röcke sanft wiegten und sie mit einem Neigen der gestärkten Hauben unter Gebetsgemurmel grüßten. Weihnachten war für ihn mißgestaltete Jugendliche, die sich auf Holzschemeln vollsabberten und gräßliche, zahnlose Münder öffneten und schlossen, alte Frauen in Kittelschürzen, die geziert wie Kokotten winkten, der nicht zu lokalisierende Klang eines Klaviers, das bei einem Walzer zögerte, einem Chopin die Federn ausriß wie einem lebenden Huhn. Niemals würde er das Wesen mit den farblosen Haarsträhnen und den langen Fingern vergessen, die so weiß waren wie die der Infantinnen in den Krypten, das aus einem Türrahmen herausgeschossen kam und ihnen mit den fahrigen Gesten einer Marionette die Verse von William Butler Yeats

When you are grey and old and full of sleep

mit jenem irrealen Timbre vortrug, das jedem Wort die schwindelerregende Tiefe eines Brunnens verlieh. Weihnachten war nicht der in die rote Schleife des Rasierwassers vom Onkel eingewickelte Kuß, auch nicht die ehemaligen Dienstmädchen, die sich in der Küche aufgeregt wie Insekten um die Schüsseln drängten, es war nicht die Cousinen aus Brasilien mit ihrer zittrigen Freundlichkeit von Zypressen, auch nicht die mit eucharistischem Appetit zu den Kuchen gebeugten Priester, es war nicht die Schüchternheit des Hausmeisters, der seine Mütze in den riesigen Händen zusammenknautschte, es war nicht der Regen draußen im Hof, der sich vor den Kletterpflanzen an der Mauer glasklar abhob und die zarte Traurigkeit der Glyzinien entlaubte: Weihnachten war das Heim in der Nähe von Lissabon und seine in tragischen Verrenkungen erstarrten Frauen im staubigen Licht der Kapelle, ähnlich wie die zu Boden gedrückten Umrisse der Korkeichen im Alentejo, zwischen denen hin und wieder die fahlen Augen von Tieren schweben.

Er suchte im Handschuhfach blind nach Paul Simons Kehle, führte sie in den Almosenkastenschlitz des Kassettenrekorders ein, um auf dem Weg nach Lissabon den zögernden und zärtlichen, zerbrechlichen und verletzten Appell einer Stimme zu hören, die jener so sehr glich, die sich in seinen Eingeweiden einrollte, die ihn hin und wieder mit dem merkwürdigen Gefühl überfiel, daß jedes Wort des Sängers Silbe für Silbe aus seinem geheimsten Inneren entrissen wurde, und ihn mit Scham erfüllte, weil dieser Mann ihm öffentlich und schamlos seine eigene innerste Angst zeigte, die er vergebens in die Klarsichtigkeit ohne Bitternis zu verwandeln suchte, welche in seinen besten Augenblicken an die Stelle der Freude trat. Geigenklang streifte ihn leicht wie ein Federwisch, kroch ihm die Beine und bis zur Brust hinauf wie die Gezeiten am Fluß, wenn sie den braunen Schlamm der Mauer mit einer mächtigen Wasserinspiration bekleiden:

I met my old lover
on the street last night
She seemed so glad to see me
I just smiled
And we talked about some old times
And we drank ourselves some beers
Still crazy after all these years
Still crazy after all these years

 

I’m not the kind of man
Who tends do socialize
I seem to lean on
Old familiar ways
And I ain’t no fool for love songs
That whisper in my ears
Still crazy after all these years
Still crazy after all these years

 

Four in the morning
Crapped out
Yawning
Longing my life away
I’ll never worry
Why shouldl?
It’s all gonna fade

 

Now I sit by my window
And I watch the cars

 

I fear I’ll do some damage
One fine day

 

But I would not be convicted
By a jury of my peers
Still crazy
Still crazy
Still crazy after all these years

Ich bin diesem kleinen häßlichen Typ ähnlich (dachte er), und mich wundert, daß ich, wenn ich meinen Bauchnabel kratze, dort nicht fünf Gitarrensaiten vorfinde, mich wundert, daß meine Spucke, mein Urin und mein Sperma nicht nach dem lauwarmen Bierschaum der Bars der Schwarzen in Harlem schmecken, der wie eine Bluesklage die Kehle hinunterrinnt, mich erschreckt diese Pappszenerie für ausgedachte Ferien, dieser übermäßig helle Algarve, der die Verrückten und die Gespenster mit seiner Neonsonne vertreibt und den Halbschatten in eine undeutliche Geometrie aus dunklen, in den Zimmerecken angehäuften Linien verwandelt. Wie in Lissabon, stellte er fest, während er einen entzündeten Pickel am Nacken ausmachte, der einzigen Stadt der Welt, in der die Nacht nicht existiert: Es gibt Morgen, Nachmittage, Abenddämmerungen, Morgenröten, die durchscheinenden, orange-lila angehauchten Wolken des Sonnenuntergangs, die sich wie Leiber im Orgasmus in elastischem, ruhigem Jubel auseinanderziehen und strecken, es gibt den brutalen Wecker im Morgengrauen, der in unseren Gesichtern die Umrisse der Greise auftauchen läßt, die wir einmal sein werden, aber die Nacht existiert nicht: Die Touristen fotografieren verblüfft identische Statuen und Generäle aus Schokolade, verirren sich mit gezücktem Stadtplan in einem wie Eingeweide dampfenden Labyrinth aus Gassen, besetzen die kleinen Vorstadtpastelarias, in denen glatzköpfige Herren vor Dameproblemen in der Zeitung Zitronentee trinken, und kehren am Ende erschöpft in die Hotels zurück, wo sie versuchen, in der blendenden Helligkeit eines ewigen Mittags zu schlafen.

In Afrika, im Gebiet der Luchazi, habe ich erfahren, daß es in Lissabon keine Nacht gibt. Das Gebiet der Luchazi ist eine rote Hochebene eintausendzweihundert Meter über dem Meer, auf der der ziegelfarbene Staub durch die Kleider dringt, um auf unserer Haut festzukleben, sich in unserem Haar zu verfangen, uns ähnlich wie der stechende, trockene Geruch der Toten die Nasenlöcher zu verstopfen. Das nahezu baumlose Land der Luchazi ist ein Land der Leprösen und der Finsternis, ein Land unruhiger Gestalten, lärmender Gespenster, riesiger Schmetterlinge, die in der Dunkelheit aus ihren Verpuppungen hervorkommen und schwankend, in wuterfüllter Beharrlichkeit nach den Lampen suchen. Es ist das Land, in dem die Toten sitzend an den Trommelritualen teilnehmen, von der unsichtbaren Anwesenheit der Götter berauscht, glotzen sie uns aus wie Tintenfässer in der Schule konkaven, von dichten Freudentränen gefüllten Augenhöhlen an. Es ist ein vom Nebel beschlagenes Land des Mangels an Maniok und Wildbret, das die Geister, vom Leben berührt wie die Äpfel, wenn sie im Mai erwachen, auf dem Weg in die Wälder des Nordens verlassen haben. In diesem Land der kleinen Flüsse, die schmal sind wie Runzeln in der Haut, winzig wie Narben oder wie Lachfalten, habe ich Freunde unter den armen Schwarzen der PIDE gefunden, Chinòia Camanga, Machai, Miüdo Malassa, die Chefs der Bürgerwehr, die die PIDE aufgestellt hatte, um die Guerillas zu bekämpfen, und die im Morgengrauen in den Busch zogen, um gegen die MLPA und die UNITA zu kämpfen, stumm und schnell wie Schattentiere. Sie waren mutige, stolze Männer, betrogen von einer perversen Propaganda, von grausamen Garantien, von den lügnerischen Versprechungen des Regimes, und ich unterhielt mich immer mit ihnen, nachmittags bei ihren Adobehütten, wo sie an einen Baustamm gelehnt hockten und auf den weißen Fleck der Kaserne auf der Anhöhe schauten, wo die Scheinwerfer der Jeeps einen nicht dechiffrierbaren Tanz aus Signalen aufführten. Klapperdürre Hunde bellten in den Büschen ein ängstliches Kinderjammern, die Hühner suchten Zuflucht auf den Bastmatten, Machai, der Bruder der Lehrerin, brachte einen Stuhl für mich, sagte:

– Tumama tchituamo, Muata

und blieb neben mir stehen, während er sein Land im Krieg betrachtete, die Brandrodungen in der kühleren Jahreszeit, die Ankunft der Finsternis mit ihrem Gespensterzug, er blieb und betrachtete sein Land mit dem gleichmütigen Gesichtsausdruck der Luchazi, oder aber er brachte mir geduldig, mit einem amüsierten Blitzen in seinen Augen, seine fremdartige Sprache bei. Manchmal gesellte sich António Miüdo Catolo zu uns, der Muata der Muatas, der Häuptling der Häuptlinge, bei der Hütte von Machai auf dem Hügel des Zivilkrankenhauses neben den Hütten von Sandinho oder Bartolomeu, den Krokodiljägern, die mir versicherten, daß man, wenn man ein Krokodil aufschlitzte, in dessen Bauch Diamanten und Sand fand, Diamanten, so groß wie Augen, die im blauen Gallert der Eingeweide ihr blutiges Glitzern aussandten. António Miüdo Catolo sah aus wie Zorbas, der Grieche, mit seinem riesigen hängenden Schnurrbart und seiner stolzen Körperhaltung, in der Verachtung und Zärtlichkeit lagen, mit seinen breiten Schultern, den langen, in ruhiger Kraft angespannten Antilopenmuskeln, mit dem ruhigen Lächeln eines Eukalyptusbaumes, bei dem sich die Zähne mit sanftem Blätterrascheln bewegten. Eines Tages, als wir innerhalb des Stacheldrahtverhaus in der Nähe des Wachpostens der Milizen herumspazierten, die sich wie Schiffbrüchige an uralte, nutzlose Donnerbüchsen klammerten, wandte er sich mir zu und erklärte mir in seinem wiedererfundenen Portugiesisch, das voll überraschender Frische war wie ein fünfsilbiger Vers von Bernardim, daß es in Lissabon keine Nacht gebe, verblüfft darüber, daß ich aus Portugal gekommen war, ohne es zu wissen, in achtundzwanzig Jahren nie gemerkt hatte, daß es in meiner Stadt keine Nacht gab. Vor einiger Zeit hatte die Regierung ihn mit einem Kriegskreuz und einer Reise nach Europa geehrt: Sie brachten Catolo nach Luanda, steckten ihn in ein Flugzeug, setzten ihn in Lissabon ab, kauften ihm einen Anzug und eine Krawatte in einem Ausverkauf in der Rua dos Fanqueiros (ein Held ohne Anzug und Krawatte, das geht doch nicht!), mieteten ihm ein Zimmer in einer miesen Pension an der Praça da Figueira, gaben ihm fünfhundert Escudos und vergaßen ihn. Die Pensionsbesitzerin schloß das Zimmer ab, Damit der bescheuerte Neger nicht anfängt, sich zu besaufen und Unsinn zu machen, Sie wissen ja, wie diese Affen sind, mein Herr, und Catolo blieb eingeschüchtert und steif zwischen Schrank und Bett, auf den Waschtisch aus Emaille gestützt, in einer Haltung wie auf Fotos stehen, das Kriegskreuz am Rockaufschlag und das Geld in der Tasche, Papier, das wie Tabakblätter knisterte, wenn seine Finger es drückten. Er hatte Hunger, er war müde, er wollte urinieren, aber er konnte sich nicht hinlegen, weil die Luchazi sich erst nach der Dämmerung hinlegen, und die Dämmerung kam nicht: Auf den Tag der Sonne folgte der Tag der Straßenlaternen, nach dem Tag der Straßenlaternen kam der Tag der Sonne, und António Miüdo Catolo näherte sich bang dem Fenster, um auf die Nacht zu warten, das Blau der ersten Dunkelheit auf den Firsten der Dächer zu erspähen, die Schatten zu erahnen, die ihm erlaubten, den erschöpften Körper auf den Betttüchern auszustrecken, der von Krämpfen geschüttelt wurde wie ein müdes Kalb. Die Autos auf der Straße hupten immer weiter, vom Platz drangen unaufhörlich Stimmen herauf, Neonreklamen leckten im Herzrhythmus ihrer lila Zungen am Fensterbrett, vertrieben die Stille der Dunkelheit und den für den Schlaf notwendigen Larvenfrieden. Sogar die Tauben rings um die Statuen blieben aufmerksam, starrten ihn anklagend mit ihren Glasmurmelpupillen an, und er fühlte sich von den panischen Seelen seiner Toten überwacht, die in Gestalt von Vögeln aus der Erde gekommen waren, um ihm das Einschlafen zu verbieten. António Miüdo Catolo hat zweiundsiebzig Stunden nichts gegessen, hat vor Angst in die neuen Hosen uriniert, hat mit der Nase am Fenster dagestanden, an die sich ein endloser Mittag heftete, bis die Pensionsbesitzerin die Tür aufschloß, ihn mit dem Finger an der Schulter berührte und er wortlos an ihrem Körper herunter auf den Boden sackte und gekreuzigt auf der Fußmatte liegenblieb wie der Kadaver einer überfahrenen Katze.

Und so kam es, daß Jahre später auf der Hochebene der Mbunda, nachdem er irgendeinem Minister die Hand geschüttelt, für die Fotos in der Zeitung posiert hatte und in sein Land der lärmenden Dunkelheit zurückgekehrt war, in sein Land der lärmenden und bewegten Dunkelheit im Krieg, der Muata der Muatas, vom Alptraum einer Stadt befreit, in der immer Tag ist, mich von der Seite ansah, verblüfft über meine Ignoranz, was Lissabon betraf, über die Dummheit, die mir verwehrte zu begreifen, daß in Europa, diesem alten, traurigen Kontinent der Kathedralen und Gräber, die Nacht nicht existiert und die Menschen ganz allmählich zu blassen, herumirrenden Geistern werden, die auf der Suche nach unmöglichem Schlaf durch die Straßen stolpern. Wir befanden uns in der Nähe des Wachpostens der Milizen, vor dem Weg, der nach Luso führte und an dem riesige Rodungsmaschinen der Cetec, von Mulatten in bunten Hemden befehligt, brüllend und rauchend mit ihren Eisenschultern Bäume fällten. Der Busch von Chalala färbte sich über dem Grün des Abends mit einem anderen Grün ein, die Luft begann undurchsichtig vor Insekten zu werden, und kurz darauf würden die Schatten der ersten Verstorbenen, der ersten verstorbenen Häuptlinge und der ersten toten Kinder, beginnen, sich durchs hohe Gras zu bewegen wie Mäuse, die sich vom faulen Fleisch der Leprösen ernähren.

– Die Nacht in Lissabon ist eine eingebildete Nacht, sagte ich, eine Nacht, die so tut, als ob. In Portugal ist im übrigen fast alles so als ob, die Leute, die Boulevards, die Häuser, die Restaurants, die Läden, die Freundschaft, das Desinteresse, die Wut. Nur die Angst und das Elend, die sind echt, die Angst und das Elend der Menschen und der Hunde.

Die Eukalyptusbäume der verlassenen Missionsstation waren hinter dem würfelförmigen Verwaltungsgebäude und dem Garten der PIDE kaum noch zu erkennen, in dem die halbnackten Gefangenen mit der Hacke arbeiteten. Die Laternen der Kaserne glichen der Girlande eines traurigen Jahrmarkts, eines verlassenen Provinzjahrmarkts, und in der Offiziersmesse würde sich der Kommandeur gerade mit dem üblichen Seufzer aus einem Reifenschlauch entweichender Luft an seinen Platz setzen, sein Körper in der schlaffen Übertreibung der Uniform umhertreiben. Ein totes Kind kam dicht an uns vorbei, ohne uns zu sehen, mit den gleichen prüfenden, phosphoreszierenden Augen wie Gazellen oder verwundete Käuzchen.

– Ich fürchte mich vor den toten Kindern, sagte ich leise, während ich den Arm des Muatas packte. Ich fürchte mich vor den toten Kindern, ich habe Angst vor der perversen Bosheit der toten Kinder.

Antönio Miüdo Catolo strich sich mit dem Daumen über den riesigen Schnurrbart:

– Die Weißen sind verrückt, erklärte er, die Weißen sind noch verrückter als Kinder.

Und erst 1973, als ich im Hospital Miguel Bombarda ankam, um die lange Reise durch die Hölle zu beginnen, stellte ich fest, daß die Nacht tatsächlich aus der Stadt, von den Plätzen, den Straßen, aus den Parks und den Friedhöfen der Stadt verschwindet, um sich in den Ecken der Krankenstationen, bei den kugelförmigen Deckenlampen der Krankenstationen und in den alten, abgestoßenen Medikamentenschränken, in den Elektroschockgeräten, in den Eimern mit den Verbänden, den Kästen mit den Spritzen wie eine Fledermaus zu verkriechen, bis die Insassen schweigend aus dem Speisesaal zurückkehren und die Eisenbetten wieder belegen, die gestrichen werden müßten, der Bedienstete am Lichtschalter dreht und sie den widerlichen Filz ihrer Flügel ausbreitet, den widerlichen, klebrigen Filz der Flügel über den Menschen ausbreitet, die zwischen den Bettüchern daliegen und sie mit einem nicht zu unterdrückenden Übelkeitsgefühl anstarren. Die Nacht, die aus der Stadt verschwindet, lag auf dem zur Schulter geneigten Kopf des Kranken, der sich hinter den Garagen erhängt hatte und dessen löchrige Turnschuhe auf der Höhe meines Kinns leicht hin und her schwangen, sie war bei den Todesfällen, die ich während meiner Dienststunden feststellte, wenn ich mit der riesigen Membran des Stethoskops über Brustkörbe fuhr, die reglos waren wie endlich vor Anker gegangene Schiffe, sie lag auf den verstörten Gesichtern der Lebenden, die zwischen den Mauern und Zäunen der Anstalt, im Staub der Höfe im Sommer, zwischen den Fassaden der umliegenden Häuser eingeschlossen waren. 1973 war ich aus dem Krieg zurückgekehrt und wußte, was das war, Verletzte, das Schreien und Jammern auf dem Pfad durch den Busch, die Explosionen, die Schüsse, die Minen, die von Explosionen in den Hinterhalten zerfetzten Leiber, ich wußte, was das war, Gefangene und ermordete Kinder, ich wußte, was das war, das vergossene Blut und Sehnsucht und Heimweh, aber vom Einblick in die Hölle war ich verschont geblieben.