Bertrand Russell

 

Macht

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Unpopuläre Betrachtungen ISBN 978-3-905811-14-8

Philosophie des Abendlandes ISBN 978-3-893400-80-5

 

 

 

Die Originalausgabe erschien bei

George Allen & Unwin Ltd., London, unter dem Titel »

POWER«

 

Aus dem Englischen übertragen von

Stephan Hermlin

Alle Rechte in deutscher Sprache vorbehalten

 

© 1947 by Europa Verlag AG Zürich

2. aktualisierte Auflage 2010 by Europa Verlag AG Zürich

Umschlaggestaltung und Satz: Christine Paxmann text • konzept • grafik

Umschlagbild: © Ullstein Bild

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

ISBN 978-3-905811-05-6

Printed in Germany

 

ERSTES KAPITEL
DER TRIEB ZUR MACHT

Zwischen dem Menschen und anderen tierischen Wesen gibt es einige Unterschiede, von denen die einen intellektueller, die anderen emotionaler Natur sind. Eine der wesentlichen gefühlsmäßigen Differenzen besteht darin, dass gewisse menschliche Begierden, ungleich den tierischen, durchaus grenzenlos und niemals gänzlich zu befriedigen sind. Die Boa constrictor schläft nach der Mahlzeit bis zum Wiedererwachen des Hungers; wenn andere Tiere anders handeln, so weil ihre Mahlzeiten weniger umfangreich sind oder weil sie Feinde fürchten. Die Handlungen des Tieres werden, mit wenigen Ausnahmen, von den ursprünglichen Bedürfnissen des Überlebens und der Fortpflanzung bestimmt und überschreiten nicht die Grenzen des durch diese Bedürfnisse Notwendigen.

Anders ist es mit den Menschen. Es trifft sicherlich zu, dass ein großer Teil der Menschheit gezwungen ist, so schwer zu arbeiten, um das Notwendigste zu erhalten, dass nur wenig Energie für andere Ziele übrig bleibt; aber jene, deren Lebensunterhalt gesichert ist, hören deshalb nicht auf, tätig zu sein. Es mangelte Xerxes weder an Nahrung noch an Kleidung noch an Frauen, als er sich einschiffte, um gegen Athen zu ziehen. Newton war eines angemessenen Lebens sicher von dem Augenblick an, da er zu einem Fellow of Trinity wurde, aber es war nach dieser Zeit, dass er die Principia schrieb. Der Heilige Franziskus und Ignatius von Loyola mussten keine Orden gründen, um der Not zu entgehen. Diese alle waren hervorragende

Männer, aber die gleichen Züge finden wir in wechselnder Stärke bei allen, ausgenommen eine kleine, ungewöhnlich träge Minderheit. Mrs. A, die des geschäftlichen Erfolges ihres Mannes durchaus sicher ist und keine Angst vor dem Armenhaus hat, wünscht besser gekleidet zu sein als Mrs. B, obwohl sie die Gefahr einer Lungenentzündung auf viel billigere Weise vermeiden könnte. Sowohl sie als auch Mr. A freuen sich, wenn er zum Ritter geschlagen oder ins Parlament gewählt wird. In Tagträumen ist dem imaginären Triumph keine Grenze gesetzt, und wenn sie als möglich angenommen werden, wird die Anstrengung folgen, sie zu verwirklichen.

Vorstellung ist der Stachel, der menschliche Wesen in pausenlose Bemühungen treibt, sobald ihre nächstliegenden Bedürfnisse befriedigt sind. Die meisten von uns haben nur seltene Momente gehabt, in denen sie sagen durften:

 

Gält' es jetzt zu sterben,

Jetzt wär mir's höchste Wonne; denn ich fürchte, So volles Maß der Freude füllt mein Herz,

Dass nie ein andres Glück mir diesem gleich Im Schoß der Zukunft harrt.

 

Und in unseren wenigen Augenblicken völligen Glückes ist es natürlich, dass wir uns wie Othello den Tod wünschen, denn wir wissen, dass Erfüllung nicht dauern kann. Was wir zu dauerndem Glück brauchen, ist unmöglich für irdische Geschöpfe: Nur Gott kann in vollkommener Seligkeit sein, denn Sein ist »das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit«. Irdische Königtümer sind von anderen begrenzt; irdische Macht wird vom Tode entmachtet; irdische Herrlichkeit vergeht mit dem Schreiten der Jahrhunderte, selbst wenn wir Pyramiden errichten oder »unsterblichem Vers verbunden« sind. Jenen, die nur wenig Macht und Herrlichkeit besitzen, mag es scheinen, dass um ein geringes mehr sie zufrieden stellen würde, aber sie irren; diese Begierden sind unstillbar und unendlich, und nur in der Grenzenlosigkeit Gottes könnten sie Ruhe finden.

Während Tiere mit Dasein und Fortpflanzung sich zufrieden geben, will der Mensch über sein eigenes Maß hinaus wachsen, und seine Begierde wird in dieser Beziehung nur von dem eingeengt, was die Vorstellungskraft als möglich empfindet. Jedermann würde Gott gleichen wollen, wenn das möglich wäre; einige empfinden Hemmungen, die Unmöglichkeit zuzugeben. Dies sind Menschen, die nach dem Vorbild von Miltons Satan gemacht sind und gleich ihm Adel und Unfrömmigkeit in sich vereinen. Unter »Unfrömmigkeit« verstehe ich nichts von theologischem Glauben Abhängendes: Ich meine die Weigerung, die Begrenzung der individuellen Macht anzuerkennen. Die titanenhafte Verbindung von Adel und Unfrömmigkeit tritt uns am deutlichsten bei den großen Eroberern entgegen, aber einige ihrer Elemente finden sich in allen Menschen. Es ist gerade dies, was die gesellschaftliche Zusammenarbeit so schwierig gestaltet, denn jeder von uns würde sie gern nach dem Vorbild des Zusammenwirkens von Gott und den ihn Verehrenden sehen, wobei wir selbst die Stelle Gottes einnehmen. Daher Wettbewerb, die Notwendigkeit von Kompromiss und Regierung, der Trieb zur Rebellion, der mit Unsicherheit und periodischer Gewaltanwendung einhergeht. Und daher die Notwendigkeit des Moralischen zur Eindämmung anarchischer Selbstbehauptung.

Von den unendlichen Begierden des Menschen zielen die wesentlichen nach Macht und Herrlichkeit. Diese sind nicht identisch, wenn auch eng verbunden: der Ministerpräsident hat mehr Macht als Herrlichkeit, der König mehr Herrlichkeit als Macht. Im Allgemeinen führt jedenfalls der Weg zur Herrlichkeit über die Macht. Dies ist besonders der Fall bei Menschen, die im öffentlichen Leben tätig sind. Die Begierde nach Herrlichkeit veranlasst daher im wesentlichen die gleichen Handlungen, wie die Begierde nach Macht sie hervorbringt, und die zwei Motive mögen aus praktischen Gründen als eines betrachtet werden.

Die orthodoxen Ökonomen so gut wie Marx, der in dieser Beziehung mit ihnen übereinstimmte, irrten in der Annahme, dass das wirtschaftliche Eigeninteresse das grundsätzliche Motiv in der Gesellschaftswissenschaft sei. Der Wunsch nach Gütern, sofern sie von Macht und Herrlichkeit getrennt sind, ist endlich und kann völlig durch eine maßvolle Wohlhabenheit befriedigt werden. Die wirklich unbegrenzten Begierden sind nicht von der Liebe zu materiellen Dingen diktiert. Güter wie eine durch Korruption dienstbar gemachte Legislatur oder eine Privatgalerie von alten Meistern, die durch Experten ausgesucht wurden, werden um der Macht und der Herrlichkeit willen erstrebt, nicht als fruchtbringende Bequemlichkeiten, auf denen man sitzen kann. Wenn ein mäßiger Stand des Komforts gesichert ist, werden sowohl Individuen als auch Gemeinschaften eher nach Macht als nach Reichtum streben: Sie mögen Reichtum suchen als Mittel zur Macht, oder sie mögen zunächst eine Zunahme an Reichtum vornehmen, um ein Anwachsen der Macht zu sichern, aber im ersteren wie im letzteren Fall ist ihr grundsätzliches Motiv nicht wirtschaftlicher Art.

Dieser Irrtum in der orthodoxen und in der marxistischen Ökonomie ist nicht allein ein theoretischer, er ist vielmehr von der größten praktischen Bedeutung und hat Missverständnisse in Bezug auf einige der grundlegenden Ereignisse der jüngsten Vergangenheit verursacht. Nur durch die Erkenntnis, dass Machtliebe die Ursache der im Gesellschaftlichen zählenden Handlungen ist, kann Geschichte, gleichviel, ob alte oder moderne, richtig interpretiert werden.

In diesem Buch werde ich mich um den Beweis bemühen, dass der Fundamentalbegriff in der Gesellschaftswissenschaft Macht heißt im gleichen Sinne, in dem die Energie den Fundamentalbegriff in der Physik darstellt. Wie die Energie hat die Macht viele Formen, so etwa Reichtum, Rüstung, Staatsautorität, Einfluss auf die Meinung. Nicht eine von diesen Formen kann als einer anderen untergeordnet betrachtet werden, und es gibt keine einzige, von der die anderen sich ableiten ließen. Der Versuch, eine bestimmte Form der Macht, zum Beispiel Reichtum, gesondert zu behandeln, kann nur zu einem Teil erfolgreich sein, ebenso wie das Studium einer bestimmten Energieform in mancher Hinsicht Mängel aufweisen wird, sofern nicht andere Formen in Betracht gezogen werden. Reichtum mag sich von militärischer Macht oder vom Einfluss auf die Meinung ableiten, gerade so wie jeder dieser beiden Faktoren vom Reichtum stammen kann. Die Gesetze gesellschaftlicher Dynamik können nur in Begriffen der Macht an sich, nicht aber in Begriffen dieser oder jener Form von Macht ausgedrückt werden. In früheren Zeiten war die militärische Macht isoliert, so dass Sieg oder Niederlage von den zufälligen Qualitäten der Kommandierenden abzuhängen schien. Heutzutage pflegt man wirtschaftliche Macht als Ursprung zu behandeln, aus dem alle übrigen Formen sich herleiten; das ist ein nicht geringerer Irrtum, behaupte ich, als jener andere, der scheinbar von diesem überholt wurde – ich meine den Fehler, den die reinen Militärhistoriker begingen. Dann gibt es solche, die Propaganda als die fundamentale Form der Macht ansehen. Das ist keineswegs eine neue Meinung; sie drückt sich in solchen hergebrachten Worten aus wie: »magna est veritas et praevalebit« und »das Blut der Märtyrer ist die Saat der Kirche«. Sie hat etwa denselben Gehalt an Wahrheit und Falschheit wie die militärische oder die ökonomische Anschauungsweise. Wenn die Propaganda eine nahezu einstimmige Meinung hervorzubringen vermag, so kann sie eine unwiderstehliche Macht zeugen; dagegen können jene, die die militärische oder wirtschaftliche Kontrolle innehaben, sie, wenn sie wollen, zu Propagandazwecken benutzen. Um zu dem Vergleich mit der Physik zurückzukehren: Macht wie Energie muss als ständig von der einen in die andere Form hinüberwechselnd angesehen werden, und die Gesellschaftswissenschaft sollte es sich angelegen sein lassen, die Gesetze dieser Veränderungen aufzuspüren. Der Versuch, irgendeine Form der Macht, wie gerade in unserer Zeit die wirtschaftliche Form, zu isolieren, war und ist immer noch eine Fehlerquelle von großer praktischer Bedeutung.

In vielen Beziehungen unterscheiden sich verschiedene Gesellschaften in ihrem Verhältnis zur Macht. Sie unterscheiden sich zunächst einmal in der Machtmenge, die Individuen oder Organisationen besitzen; entsprechend dem Zuwachs an Organisation besitzt zum Beispiel der Staat offensichtlich heute mehr Macht als in früheren Zeiten. Sie unterscheiden sich weiterhin im Hinblick auf die Art der Organisation, die den meisten Einfluss ausübt. Militärdespotismus, Theokratie, Plutokratie sind ganz verschiedene Typen. Drittens unterscheiden sie sich durch die mannigfachen Möglichkeiten der Machterwerbung: Erbliches Königtum bringt eine bestimmte Art des bedeutenden Mannes hervor, die bei einem großen Kirchenmann erforderlichen Eigenschaften eine andere Art, Demokratie eine dritte und der Krieg eine vierte Art.

Da, wo keine soziale Einrichtung, wie Aristokratie oder Erbmonarchie, besteht, um die Zahl von Männern und Frauen, denen die Macht zufallen kann, zu begrenzen, werden im allgemeinen jene sie erwerben, die sie am meisten begehren. Daraus folgt, dass in einem Gesellschaftssystem, in dem Macht für alle erreichbar ist, die Machtpositionen üblicherweise von Leuten eingenommen werden, die sich vom Durchschnitt durch ihre ungewöhnlich heftige Machtliebe unterscheiden. Machtliebe ist, wenngleich eine der stärksten menschlichen Triebkräfte, sehr ungleich verteilt und außerdem durch andere Triebe eingeschränkt, wie etwa durch Bequemlichkeit, Vergnügungssucht und manchmal durch Sucht nach Zustimmung. Unter den Schüchternen tritt sie als Antrieb zur Unterwerfung unter eine Führung auf, was den Umfang der Machtimpulse kühner Menschen vergrößert. Wessen Machtliebe nicht stark ist, der wird kaum einen bedeutenden Einfluss auf den Lauf der Ereignisse haben. Die Menschen, die gesellschaftliche Veränderungen veranlassen, sind im allgemeinen solche, die den heftigen Wunsch danach haben. Machtliebe ist daher eine Eigenschaft von schöpferisch bedeutenden Menschen. Wir würden natürlich einen Fehler begehen, wenn wir sie als die einzige menschliche Triebkraft betrachteten, aber dieser Fehler würde uns nicht so weit in die Irre führen bei unserem Suchen nach den kausalen Gesetzen der Gesellschaftswissenschaft, wie man vermuten könnte, da Machtliebe die entscheidende Ursache der Veränderungen ist, die die Gesellschaftswissenschaft zu untersuchen hat.

Die Gesetze der sozialen Dynamik können allein – so behaupte ich – in Begriffen der Macht in ihren verschiedenen Formen ausgedrückt werden. Um diese Gesetze aufzudecken, ist es notwendig, zunächst einmal die Machtformen zu klassifizieren und dann einige wichtige historische Beispiele vorzunehmen, Beispiele für die Art und Weise, wie Organisationen und Individuen Kontrolle über das Leben von Menschen erlangt haben.

Ich werde überall die zwiefache Absicht verfolgen, das mitzuteilen, was ich für eine vollkommenere Analyse sozialer Veränderungen im allgemeinen halte als die von den Ökonomisten gelehrte, und die Gegenwart und wahrscheinliche nahe Zukunft verständlicher für jene zu machen, deren Vorstellung vom 18. und 19. Jahrhundert beherrscht ist. Die beiden Jahrhunderte waren in vieler Hinsicht ungewöhnlich, und wir scheinen heute in mancher Beziehung zu Lebens- und Denkformen zurückzukehren, die in früheren Zeiten vorherrschten. Um unsere Zeit und ihre Erfordernisse zu verstehen, ist sowohl alte wie mittelalterliche Geschichte unentbehrlich, denn nur so können wir eine Form möglichen Fortschritts erreichen, die nicht unerlaubter-weise von Feststellungen des 19. Jahrhunderts dominiert ist.

 

ZWEITES KAPITEL
FÜHRER UND GEFÜHRTE

Der Trieb zur Macht hat zwei Formen: eine direkte in den Führern, eine davon abgeleitete in den Anhängern. Wenn Menschen einem Führer bereitwillig folgen, so tun sie das im Hinblick auf die Aneignung von Macht durch die Gruppe, die er befehligt, und sie fühlen, dass sein Triumph der ihre ist. Die meisten Menschen fühlen nicht in sich selbst die notwendige Fähigkeit, ihre Gruppe zum Sieg zu führen, und suchen daher nach einem Befehlshaber, der den Mut und die Umsicht zu besitzen scheint, die zur Erreichung der Überlegenheit erforderlich scheinen. Selbst in der Religion tritt dieser Trieb zutage. Nietzsche beschuldigte das Christentum, eine Sklavenmoral zu entwickeln, aber der äußerste Erfolg war immer das Ziel. »Selig sind die Sanften, denn sie sollen die Erde besitzen.« Oder wie die wohlbekannte Hymne ausführlicher sagt:

 

Der Gottsohn zieht aus zum Krieg, Die Krone zu gewinnen.

Sein rotes Banner strömt im Wind. Wer folget ihm von hinnen?

Wer seinen Qualenbecher leert, Wer siegreich Schmerzen trug

Und voll Geduld sein irdisch Kreuz, Der folgt in seinem Zug.

 

Wenn das eine Sklavenmoral ist, dann ist jeder Glücksritter, der die Härten eines Feldzugs erträgt, und jeder politische Funktionär, der mühsame Wahlarbeit leistet, ein Sklave. Tatsächlich ist aber bei jedem echten gemeinsamen Unternehmen der Geführte psychologisch gesehen nicht mehr Sklave als der Führer. Das ist es, was die durch Organisation unvermeidlich gemachten Ungleichheiten in der Macht erträglich gestaltet, Ungleichheiten, die in der zunehmend organischen Gesellschaft eher anwachsen als sich vermindern.

Ungleichheit in der Verteilung der Macht hat seit jeher in menschlichen Gemeinwesen existiert, soweit zurück sich unsere Kenntnis erstreckt. Die meisten gemeinschaftlichen Unternehmungen werden nur möglich, wenn sie von irgendeiner führenden Körperschaft geleitet werden. Wenn ein Haus gebaut werden soll, muss jemand über den Plan entscheiden; wenn Züge laufen sollen, so kann der Fahrplan nicht den Launen der Lokomotivführer überlassen werden, beim Bau einer neuen Straße muss jemand bestimmen, wohin sie zu gehen hat. Selbst eine demokratisch gewählte Regierung ist noch eine Regierung, und daher muss es einige Leute geben, aus Gründen, die nichts mit Psychologie zu tun haben, Leute, die Anweisungen geben, und andere, die ihnen gehorchen, wenn Kollektivunternehmungen Erfolg haben sollen. Aber der Umstand, dass dies möglich ist, und noch mehr die Tatsache, dass die gegenwärtigen Ungleichheiten in der Machtverteilung weit über das aus technischen Gründen erforderliche Maß hinausgehen, sie können nur in Begriffen der Individualpsychologie und -physiologie erklärt werden. Der Charakter mancher Menschen führt sie immer zum Kommando, andere immer zum Gehorsam; zwischen diesen Extremen liegt die Masse der Durchschnittsmenschen, die in gewissen Situationen zu befehlen lieben, aber in anderen vorziehen, sich einem Führer unterzuordnen.

Adler unterscheidet in seinem Buch über das »Verständnis der menschlichen Natur« den sich unterordnenden und den herrschsüchtigen Typ. »Das knechtische Individuum«, sagt er, »lebt nach den Gesetzen und Vorschriften anderer, und dieser Typ sucht beinahe zwangsmäßig eine dienende Stellung. Andererseits«, fährt er fort, »kann der herrschsüchtige Typ, der fragt, >Wie kann ich jedem übergeordnet sein<, überall da gefunden werden, wo ein Leitender gebraucht wird, und erklimmt in Revolutionen die Spitze.« Adler betrachtet beide Typen als nicht wünschenswert, jedenfalls in ihren extremen Formen, und hält sie beide für Produkte der Erziehung. »Der größte Nachteil einer autoritativen Erziehung«, sagt er, »liegt in der Tatsache, dass sie dem Kind ein Ideal der Macht gibt und ihm das Vergnügen zeigt, das mit dem Besitz von Macht verbunden ist.« Autoritative Erziehung, können wir hinzufügen, bringt den sklavischen wie den despotischen Typ hervor, da sie zu dem Gefühl verleitet, dass die einzig mögliche Beziehung zwischen zwei zusammenwirkenden menschlichen Wesen jene ist, in welcher das eine Befehle gibt und das andere ihnen gehorcht.

Machtliebe ist in verschiedenen beschränkten Formen eine fast universale Erscheinung, in ihrer absoluten Form jedoch selten. Eine Frau, die Macht in der Verwaltung ihres Hauses liebt, wird wahrscheinlich vor der Art politischer Macht, deren ein Ministerpräsident sich erfreut, zurückschrecken; im Gegensatz rI27u war Abraham Lincoln, ohne Furcht davor, die Vereinigten Staaten zu regieren, nicht fähig, einen häuslichen Bürgerkrieg zu ertragen. Wenn der »Bellerophon« Schiffbruch erlitten hätte, würde Napoleon vielleicht zahm den Anordnungen britischer Offiziere Folge geleistet haben, das Rettungsboot zu besteigen. Die Menschen lieben die Macht so lange, als sie an ihre eigene Kompetenz in der betreffenden Sache glauben, aber sie ziehen vor, einem Führer zu folgen, wenn sie sich für unzuständig halten.

Der Trieb zur Unterwerfung, der genauso real und gewöhnlich ist wie der Trieb zum Befehlen, hat seine Wurzeln in der Furcht. Die wildeste Kinderschar, die man sich nur vorstellen kann, wird den Anordnungen eines zuständigen Erwachsenen in einer alarmierenden Situation, etwa bei einer Feuersbrunst, zugänglich sein; als der Krieg ausbrach, schlossen die Pankhursts mit Lloyd George Frieden. Wann immer akute Gefahr besteht, fühlen sich die meisten Menschen veranlasst, eine Autorität zu wählen und sich ihr unterzuordnen; in solchen Momenten träumen nur wenige von Revolution. Wenn Krieg ausbricht, haben die Leute gegenüber der Regierung ähnliche Gefühle.

Organisationen können dafür bestimmt sein, Gefahren zu begegnen oder nicht. Wirtschaftliche Organisationen, wie zum Beispiel Kohlenbergwerke, beinhalten in manchen Fällen Gefahren, aber diese sind zufälliger Art, und wenn sie vermieden werden könnten, würden die Organisationen nur besser gedeihen. Im allgemeinen ist die Begegnung der Gefahr kein Teil des wesentlichen Zwecks wirtschaftlicher Organisationen oder regierender Organisationen, denen die inneren Angelegenheiten obliegen. Aber Rettungsboote und Feuerwehren werden wie Heere und Flotten zu dem Zweck gebaut, Gefahren zu begegnen. In einem gewissen weniger unmittelbaren Sinn trifft das auch auf religiöse Körperschaften zu, die teilweise bestehen, um tief in unserer Natur verborgene metaphysische Ängste zu beschwichtigen. Wenn jemand geneigt sein sollte, das in Frage zu stellen, möge er an Hymnen denken, wie:

 

Fels der Zeiten, meine Kluft,

Lass, oh, mich in Dir verbergen;

 

oder:

 

Jesu, Liebster meiner Seele,

Lass, oh, mich in Dir verbergen;

Wenn die hohen Wasser strömen,

Wenn die großen Stürme fliegen.

 

In der Unterwerfung unter den göttlichen Willen liegt ein Sinn äußerster Sicherheit, der viele Monarchen, die keinem lediglich irdischen Wesen hätten untertan sein können, zu religiöser Demut gebracht hat. Alle Bereitschaft zur Unterwerfung ist in Furcht verwurzelt, ob nun der Führer, dem wir uns unterwerfen, menschlicher oder göttlicher Natur ist.

Es ist ein Gemeinplatz geworden, dass auch Angriffslust oft ihren Ursprung in der Furcht habe. Ich neige zu der Annahme, dass diese Theorie zu weit geht. Sie trifft auf eine bestimmte Art von Angriffslust zu, zum Beispiel im Falle von D. H. Lawrence. Aber ich zweifle sehr, ob die Männer, die Piratenhäuptlinge werden, von retrospektiver Angst vor ihren Vorfahren erfüllt sind oder ob Napoleon bei Austerlitz wirklich fühlte, dass er endlich mit Madame Mere gleichzog. Von Attilas Mutter weiß ich nichts, aber ich habe sie im Verdacht, dass sie den kleinen Liebling verzog, der in der Folge die Welt beunruhigend fand, weil sie manchmal seinen Launen widerstand. Die Art von Angriffslust, die aus Schüchternheit resultiert, ist meiner Meinung nach nicht jene, die großen Führern innewohnt; große Führer, möchte ich sagen, besitzen ein außergewöhnliches Selbstvertrauen, das nicht nur auf der Oberfläche liegt, sondern tief ins Unterbewusstsein eindringt.

Das für einen Führer notwendige Selbstvertrauen kann auf verschiedene Weise entstehen. Historisch gesehen ist eine der üblichsten Ursachen eine erbliche Befehlsstellung gewesen. Lesen Sie beispielsweise die Reden der Königin Elisabeth in kritischen Augenblicken: Sie werden sehen, dass die Monarchin die Frau überkommt, sie davon überzeugt, und durch sie hindurch die Nation, dass sie weiß, was zu tun ist, wie kein gewöhnlicher Sterblicher es vermag. In ihrem Falle waren die Interessen der Nation und der Krone in Übereinstimmung; aus diesem Grunde war sie die »gute Königin Beß«. Sie konnte sogar ihren Vater loben, ohne Unwillen zu erregen. Zweifellos erleichtert die Gewohnheit des Kommandierens das Tragen von Verantwortung und das schnelle Fassen von Entscheidungen. Ein Stamm, der seinem erblichen Oberhaupt folgt, fährt dabei wahrscheinlich besser, als wenn er seinen Häuptling durch das Los wählte. Andererseits erzielte eine Körperschaft wie die mittelalterliche Kirche, die ihr Haupt um sichtbarer Verdienste willen wählte, im allgemeinen, nachdem dieses Oberhaupt auf wichtigen Verwaltungsposten erhebliche Erfahrungen gesammelt hatte, im Durchschnitt weitaus bessere Ergebnisse als erbliche Monarchien zur selben Zeit.

Einige der fähigsten Führer, die die Geschichte kennt, sind aus revolutionären Situationen hervorgegangen. Wir wollen einen Augenblick lang die Qualitäten untersuchen, die Cromwell, Napoleon und Lenin Erfolg brachten. Alle drei haben in schwierigen Zeiten ihre jeweiligen Länder beherrscht und sich der Dienstbereitschaft fähiger Männer versichert, die von Natur aus nicht unterwürfig waren. Alle drei hatten grenzenlosen Mut und Selbstvertrauen vereint mit dem, was ihre Gefährten als gesunde Urteilsfähigkeit in schwierigen Momenten ansahen. Von diesen drei gehörten immerhin Cromwell und Lenin zu einem Typ und Napoleon zu einem anderen. Cromwell und Lenin waren Männer, die von tiefem religiösem Glauben beseelt waren und glaubten, die Beauftragten einer nichtmenschlichen Sache zu sein. Ihr Machttrieb schien ihnen ohne jeden Zweifel gerecht, und sie kümmerten sich wenig um einen Gewinn aus ihrer Macht, wie etwa um Luxus und Wohlleben, der nicht mit ihrer Identifizierung mit einem kosmischen Zweck in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Dies trifft besonders bei Lenin zu, denn Cromwell war sich in seinen letzten Lebensjahren seines Sündenfalles bewusst. Nichtsdestoweniger war es in beiden Fällen die Vereinigung von Glauben mit großer Fähigkeit, was sie ermutigte und sie befähigte, ihre Anhänger mit Zutrauen in ihre Führung zu erfüllen.

Napoleon ist im Gegensatz zu Cromwell und Lenin das beste Beispiel des Glücksritters. Die Revolution sagte ihm zu, denn sie gab ihm Möglichkeiten, aber im Übrigen war sie ihm gleichgültig. Obwohl er den französischen Patriotismus förderte und voll ihm abhing, war Frankreich für ihn wie die Revolution lediglich eine Gelegenheit; er hatte in seiner Jugend sogar mit der Idee gespielt, für Korsika gegen Frankreich zu kämpfen. Seinen Erfolg verdankte er nicht so sehr irgendwelchen besonderen Eigenschaften seines Charakters als vielmehr seinem technischen Können im Kriege: wenn andere Männer geschlagen worden wären, siegte er. In entscheidenden Momenten, wie etwa am 18. Brumaire und bei Marengo, hing sein Erfolg von dem anderer ab; aber er besaß die spektakulären Gaben, die ihn befähigten, die Taten seiner Beigeordneten für sich in Anspruch zu nehmen. Die französische Armee war voll von ehrgeizigen jungen Männern; es war Napoleons Klugheit, nicht seine Psychologie, die ihn Erfolg haben ließ, wo andere versagten. Sein Glauben in seinen Stern, der schließlich den Zusammenbruch herbeiführte, war das Ergebnis seiner Siege, nicht ihre Ursache.

Um zu unserer Gegenwart zu kommen, müssen wir Hitler, psychologisch gesehen, zu Cromwell und Lenin ordnen, Mussolini zu Napoleon.

Der Glücksritter oder Piratenhäuptling ist ein geschichtlicher Typ von größerer Bedeutung, als von »wissenschaftlichen« Historikern angenommen wird. Manchmal gelingt es ihm wie Napoleon, sich zum Führer von Männern aufzuschwingen, die sich teilweise unpersönliche Ziele gesteckt haben: Die französischen revolutionären Armeen betrachteten sich als die Befreier Europas und wurden als solche von Italien wie auch von vielen Menschen in Westdeutschland angesehen, aber Napoleon selbst brachte den anderen niemals mehr Freiheit, als ihm für seine eigene Laufbahn gut schien. Sehr oft werden keine unpersönlichen Ziele zum Vorwand genommen.

Alexander mag seinen Zug unternommen haben, um den Orient zu hellenisieren, aber es ist zweifelhaft, ob seine Mazedonier an diesem Aspekt seiner Feldzüge interessiert waren. Die römischen Generäle waren in den letzten hundert Jahren der Republik vor allem nach Geld aus und sicherten sich die Ergebenheit ihrer Soldaten durch Land- und Geldverteilungen. Cecil Rhodes bekundete einen mystischen Glauben in das britische Imperium, aber der Glaube ergab gute Dividenden, und die Söldner, die er für die Eroberung von Matabeleland anwarb, wurden einfach durch pekuniäre Versprechungen angelockt. Wenig oder gar nicht verkleidete organisierte Habsucht hat in den Kriegen der Welt eine sehr große Rolle gespielt.

Der gewöhnliche ruhige Bürger, sagten wir, wird in beträchtlichem Maße aus Furcht dazu gebracht, sich einem Führer unterzuordnen. Aber das kann schwerlich auf eine Bande von Seeräubern zutreffen, sofern ihnen nämlich kein friedlicherer Beruf mehr offenstand. Wenn die Autorität des Führers einmal hergestellt ist, mag er Rebellen Furcht einflößen; aber bis er Führer ist und als solcher von der Mehrheit anerkannt wird, ist er nicht in der Lage, sich Respekt zu verschaffen. Um die Position eines Führers zu erlangen, muss er sich durch Eigenschaften auszeichnen, die Autorität verleihen: Selbstvertrauen, schnelle Entschlusskraft und die Fähigkeit, die richtigen Maßnahmen zu treffen. Führertum ist eine relative Sache: Cäsar konnte Antonius zum Gehorsam bringen, aber kein anderer vermochte das. Die meisten Leute empfinden, dass Politik eine schwierige Angelegenheit ist und dass man besser einem Führer folgt – sie fühlen das instinktiv und unbewusst, wie Hunde vor ihrem Herrn. Wenn dem nicht so wäre, könnte eine gemeinsame politische Aktion kaum möglich sein.

So ist Machtliebe als Antrieb durch Zaghaftigkeit begrenzt, eine Zaghaftigkeit, die auch den Wunsch nach Selbstbestimmung einschränkt. Da Macht uns befähigt, mehr von unseren Begierden zu verwirklichen, als auf andere Weise möglich sein würde, und da sie uns einen Abstand vor anderen sichert, ist es natürlich, nach Macht zu begehren, insofern Zaghaftigkeit nicht auf den Plan tritt. Diese Art von Zaghaftigkeit wird durch die Gewohnheit der Verantwortung verringert, und entsprechend neigt Verantwortung zur Stärkung der Machtgelüste.

Die Bekanntschaft mit Grausamkeit und Unfreundlichkeit kann nach beiden Seiten wirken: Bei Leuten, die sich leicht fürchten, bringt sie den Wunsch hervor, der Beobachtung zu entgehen, während kühnere Geister angetrieben werden, eine Stellung zu suchen, in der sie eher Grausamkeit üben als dulden müssen.

Nach der Anarchie ist der Despotismus der erste natürliche Schritt, denn er wird durch den instinktmäßigen Mechanismus von Beherrschung und Unterwerfung erleichtert; dies hat sich in der Familie, im Staat und im Geschäftsleben gezeigt. Gleiche Zusammenarbeit ist viel schwieriger als Despotismus und sagt dem Instinkt viel weniger zu. Wenn die Menschen gleiche Zusammenarbeit versuchen, ist es für jeden natürlich, die völlige Herrschaft anzustreben, da der Unterwerfungstrieb nicht ins Spiel eintritt. Es ist beinahe notwendig, dass alle betroffenen Teile eine gemeinsame Verpflichtung zu einem außerhalb von ihnen Stehenden anerkennen. In China sind Familiengeschäfte oft erfolgreich wegen der konfuzianischen Ergebenheit an die Familie; aber unpersönliche Aktiengesellschaften offenbaren sich leicht als nicht arbeitsfähig, weil keiner einen zwingenden Grund zur Ehrlichkeit gegenüber den anderen Aktienbesitzern hat. Wo eine Regierung aus reiflicher Überlegung besteht, muss, wenn man Erfolg haben will, eine allgemeine Achtung vor dem Gesetz oder vor der Nation bestehen oder vor irgendeinem Prinzip, das alle Teile respektieren. Wenn die Quäker eine zweifelhafte Sache zu entscheiden haben, stimmen sie nicht ab, und nicht die Mehrheit setzt sich durch: Sie diskutieren, bis sie den »Sinn der Zusammenkunft« erfasst haben, was früher als das Werk des Heiligen Geistes angesehen wurde. In ihrem Fall haben wir es mit einer besonders homogenen Gemeinschaft zu tun, aber ohne eine gewisse Homogenität ist eine Regierung auf der Grundlage der Diskussion nicht arbeitsfähig.

Ein ausreichendes Solidaritätsgefühl, das eine Regierung auf der Grundlage der Diskussion ermöglicht, kann ohne große Schwierigkeiten in einer Familie von der Art der Fugger oder Rothschild gezüchtet werden, auch in einer kleinen religiösen Sekte, wie die Quäker es sind, in einem barbarischen Stamm oder in einer kriegführenden oder vom Kriege bedrohten Nation. Aber ein äußerer Druck ist nur zu notwendig, die Mitglieder einer Gruppe hängen aus Furcht vor Vereinzelung zusammen. Gemeinsame Gefahr ist bei weitem der leichteste Weg zur Homogenität. Das führt uns allerdings nicht an eine Lösung des Machtproblems in der Welt überhaupt heran. Wir wollen Gefahren, zum Beispiel Krieg, vorbeugen, die gegenwärtig zum Zusammenschluss drängen, aber wir wollen die gesellschaftliche Zusammenarbeit nicht zerstören. Das Problem ist sowohl vom psychologischen wie vom politischen Standpunkt aus ein schwieriges, und wenn uns nach Vergleichen zu urteilen erlaubt ist, wird es, wenn überhaupt, durch den anfänglichen Despotismus irgendeiner Nation gelöst werden. Freie Zusammenarbeit unter Nationen, die in solchem Grade an das liberum veto gewöhnt sind, ist so schwierig wie unter der polnischen Aristokratie vor der Teilung. Auslöschung wird wahrscheinlich in diesem wie in jenem Fall für vorteilhafter als Gemeinsinn gehalten werden. Die Menschheit braucht Regierung, aber in Gegenden, in denen Anarchie überwogen hat, wird sie sich zunächst nur dem Despotismus unterordnen. Wir müssen daher vor allem eine Regierung zu sichern suchen, und sei sie selbst despotisch, und nur wenn sie zur Gewohnheit geworden ist, können

wir begründete Hoffnung haben, sie zu demokratisieren. »Absolute Gewalt ist zum Bau der Organisation von Nutzen. Langsamer, aber ebenfalls erfolgreich ist das Entwickeln sozialen Drucks in der Richtung, dass die Gewalt zum Vorteil aller Betroffenen verwendet werde. Dieser in der kirchlichen und politischen Geschichte beständige Druck tritt bereits auf wirtschaftlichem Gebiet in Erscheinung.« (1)

Ich habe bisher von Befehlenden und Gehorchenden gesprochen, aber es gibt noch einen dritten Typus, diejenigen nämlich, die ausweichen. Es handelt sich um Männer, die den Mut besitzen, den Gehorsam zu verweigern, ohne die Herrschsucht zu haben, die den Wunsch nach dem Kommando weckt. Solche Menschen ordnen sich nicht leicht in die Struktur der Gesellschaft ein, und auf diesem oder jenem Wege suchen sie eine Zufluchtsstätte, auf der sie eine mehr oder weniger einsame Freiheit genießen können. Zeitweise sind Menschen dieser Veranlagung von großer geschichtlicher Bedeutung gewesen; die frühen Christen und die amerikanischen Pioniere stellen zwei Arten dieser Gattung dar. Manchmal ist diese Zuflucht mentaler, manchmal physischer Art. Einmal fordert sie die völlige Abgeschlossenheit der Eremitage, ein andermal die gesellige Abgeschiedenheit eines Klosters. Unter den Flüchtlingen mentaler Art sind jene, die obskuren Sekten angehören, andere, deren Interessen von unschuldigen Lieblingsideen beansprucht sind, weitere, die sich mit abstrusen und unwichtigen Bildungsformen beschäftigen. Zu den Flüchtlingen physischer Art gehören Menschen, die die Grenzen der Zivilisation suchen, und Forscher wie Bates, der »Naturmensch vom Amazonas«, der fünfzehn Jahre hindurch glücklich lebte ohne eine andere Gesellschaft als die der Indianer. Etwas vom Temperament des Eremiten ist ein wesentliches Element in vielen Formen von besonderem Wert, da es Menschen befähigt, dem Zauber der Volkstümlichkeit zu widerstehen, eine wichtige Arbeit trotz allgemeiner Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit fortzusetzen und zu Meinungen zu gelangen, die bestehenden Irrtümern entgegengesetzt sind.

Von diesen Ausweichenden sind manche der Macht gegenüber nicht eigentlich gleichgültig, sondern nur unfähig, sie auf dem üblichen Wege zu erreichen. Solche Menschen können Heilige werden oder Heresiarchen, Gründer von Orden oder neuen künstlerischen und literarischen Schulen. Sie nehmen Menschen zu Jüngern, die Unterwürfigkeit mit einem Trieb zur Auflehnung vereinen; dieser letztere verhindert Orthodoxie, während Unterwürfigkeit zur unkritischen Aneignung neuer Ansichten führt. Tolstoi und seine Schüler illustrieren dieses Beispiel. Der ursprüngliche Einzelgänger ist sehr verschieden davon. Ein vollkommenes Beispiel für diesen Typus ist der melancholische Jakob, der mit dem guten Herzog das Exil teilt, weil es Exil ist, und später lieber mit dem bösen Herzog im Walde bleibt, als an den Hof zurückzukehren. Viele amerikanische Pioniere verkauften nach langen Leiden und Entbehrungen ihre Farmen und zogen weiter nach Westen, sobald die Zivilisation sie erreichte. Menschen dieser Art bietet die Welt immer weniger Gelegenheiten. Einige gleiten ins Verbrechen ab, andere in eine morose und asoziale Philosophie. Eine zu enge Berührung mit den Mitmenschen bringt Menschenfeindlichkeit hervor, die, wenn Einsamkeit unerreichbar ist, natürlicherweise in Gewalttätigkeit umschlägt.

Organisation wächst unter den Zaghaften nicht allein durch Unterordnung unter einen Führer, sondern durch die Sicherheit, die in dem Gefühl liegt, einer von vielen zu sein, die alle gleich denken. In der Begeisterung einer öffentlichen Versammlung, mit deren Zielen man sympathisiert, liegt eine Exaltation, die mit Wärme und Sicherheit verbunden ist: Die geteilte Bewegung wächst ständig an, bis sie alle anderen Gefühle überwältigt. Was bleibt, ist ein sieghaftes Bewusstsein von Macht, das von der Vervielfältigung des Ich hervorgebracht wird. Massenerregung ist eine köstliche Trunkenheit, die Vernunft, Menschlichkeit und sogar Selbsterhaltung leicht vergessen lässt und grässliche Massaker und heroisches Märtyrertum ebenso leicht möglich macht. Dieser Art von Vergiftung kann man wie anderen nur schwer widerstehen, sobald man ihre Beglückung einmal erfahren hat, doch führt sie schließlich in Apathie und Ermüdung und erzeugt den Wunsch nach einem immer stärkeren Stimulus, wenn die frühere Gefühlsstärke wieder hervorgebracht werden soll.

Obwohl ein Führer nicht unbedingt notwendig für diese Bewegung ist, die durch Musik oder durch einen von einer Menge beobachteten aufregenden Vorgang hervorgerufen werden kann, sind die Worte eines Redners der leichteste und üblichste Weg zu ihr. Das Vergnügen an einer Massenerregung ist daher ein wichtiges Element der Macht von Führern. Der Führer braucht die von ihm geweckten Gefühle nicht zu teilen; er mag wie Shakespeares Antonius zu sich selber sagen:

 

Nun wirk' es fort. Unheil, du bist im Zuge:

Nimm, welchen Lauf du willst! –

 

Aber der Führer wird schwerlich Erfolg haben, wenn er nicht Macht über die ihm Folgenden besitzt. Er wird daher zu einer Vorliebe für jene Situationen und jene Art von Menge gebracht werden, die seinen Erfolg erleichtern. Die beste Situation ist die, in der eine genügend ernste Gefahr vorhanden ist, welche die ihr Widerstand leistenden Menschen sich tapfer fühlen lässt, ohne so bedeutend zu sein, dass Furcht zum beherrschenden Faktor wird – eine Situation wie zum Beispiel der Ausbruch eines Krieges gegen einen Feind, der für mächtig, aber nicht für unüberwindlich gilt. Ein geschickter Redner bringt in seiner Hörerschaft, wenn er kriegerisches Gefühl wecken will, zwei Formen des Glaubens hervor: eine Oberschicht, in der die feindliche Macht verherrlicht wird, um großen Mut notwendig erscheinen zu lassen, und eine tiefer liegende Schicht fester Siegeszuversicht. Beide finden ihren Ausdruck in einem Schlagwort wie »Recht wird über Macht triumphieren«.

Die Art der Menge, die der Redner sich wünschen wird, ist eine solche, die eher der Erregung als dem Nachdenken zugänglich ist, mit Furcht und folgerichtigem Hass erfüllt, langsamen und bedächtigen Methoden abgeneigt, außer sich und hoffnungsvoll zugleich. Wenn der Redner nicht ein völliger Zyniker ist, wird er sich eine Anzahl Glaubenssätze aneignen, die seine Handlungen rechtfertigen. Er wird glauben, dass Gefühl ein besserer Führer ist als Verstand, dass unsere Meinungen eher aus dem Blut als mit dem Hirn gebildet werden sollten, dass die besten Elemente im menschlichen Leben eher kollektiver als individueller Art seien. Wenn er die Erziehung kontrolliert, wird er sie aus einem Wechsel von Drill und massenweiser Verführung bestehen lassen, während Wissen und Urteil den kühlen Anhängern der unmenschlichen Wissenschaft überlassen bleiben wird.

Machtliebende Persönlichkeiten sind jedoch nicht alle vom Typus des Redners. Es gibt Menschen ganz anderer Art, deren Machtliebe durch Beherrschung von Mechanismen genährt wird. Nehmen wir Bruno Mussolinis Bericht über seine fliegerischen Taten während des abessinischen Krieges als Beispiel:

»Wir hatten bewaldete Hügel, Felder und kleine Dörfer in Brand zu werfen ... Es war höchst unterhaltsam ... Die Bomben hatten kaum den Boden berührt, als weißer Rauch und eine riesige Flamme aus ihnen hervorbrachen und das trockene Gras zu brennen begann. Ich dachte an die Tiere: Gott, wie sie liefen. Als die Bomben ausgeklinkt waren, begann ich Bomben mit der Hand zu werfen ... Es war äußerst lustig: eine große Zariba, von hohen Bäumen umgeben, war nicht leicht zu treffen. Ich musste sorgfältig auf das Strohdach zielen und hatte erst beim dritten Wurf Erfolg. Die Kerls, die darin saßen, sprangen beim Anblick ihres brennenden Daches heraus und rannten wie verrückt davon. Von einem Feuerkreis umgeben, kamen ungefähr fünftausend Abessinier jämmerlich um. Es war einfach toll.«

Während der Redner viel intuitive Psychologie zum Erfolg benötigt, kommt der Flieger von der Art Bruno Mussolinis mit nicht mehr Psychologie zu seinem Vergnügen, als in dem Wissen enthalten ist, dass es unerfreulich ist, den Feuertod zu erleiden. Der Redner ist ein antiker Typus; der Mann, dessen Macht auf dem Mechanismus beruht, ein moderner. Nicht völlig: Lesen Sie zum Beispiel, wie am Ende des ersten punischen Krieges karthagische Elefanten gebraucht wurden, um meuternde Söldner zu Tode zu trampeln. Dort finden wir die gleiche Psychologie, wenn auch nicht die gleiche Wissenschaft wie bei Bruno Mussolini.(2) Aber vergleichsweise gesprochen ist mechanische Macht für unser Zeitalter mehr charakteristisch als für irgendeine frühere Zeit.

Die Psychologie des Oligarchen, der von mechanischer Macht abhängig ist, ist bisher nirgendwo völlig entwickelt. Sie ist immerhin eine unmittelbare Möglichkeit und quantitativ, wenn auch nicht qualitativ, neu. Es wäre für eine technisch ausgebildete Oligarchie heute durch Beherrschung von Flugzeugen, Flotten, Kraftwerken, Transportmitteln usw. möglich, eine Diktatur zu errichten, die beinahe keine Zustimmung der Beherrschten benötigt. Das Laputareich wurde aufrechterhalten durch die Macht, sich zwischen die Sonne und eine rebellische Provinz stellen zu können. Eine ähnlich drastische Wirkung könnte eine Vereinigung wissenschaftlicher Technologen haben. Sie könnten eine widerspenstige Gegend aushungern, sie des Lichtes, der Wärme, der Elektrizität berauben, nachdem sie vorher die Abhängigkeit von diesen Quellen des Komforts ermutigt hätten; sie könnten dieses Gebiet mit Giftgas oder Bakterien überschwemmen. Widerstand wäre gänzlich hoffnungslos. Und die Männer an der Führung, geschult in der Handhabung von Mechanismen, würden Menschenmaterial so ansehen, wie sie gelernt hätten, ihre eigenen Maschinen zu betrachten, als etwas Fühlloses, das von Gesetzen gelenkt wird, die der Schaltende zu seinem Vorteil gebrauchen kann. Ein derartiges Regime wäre durch eine kalte Unmenschlichkeit gekennzeichnet, die alles überträfe, was man bisher von früherer Tyrannei kennt.

Macht über Menschen, nicht über die Materie, ist das Thema meines Buches. Aber es ist möglich, eine technische Gewalt über Menschen aufzurichten, die sich auf Macht über die Materie gründet. Männer mit der Gewohnheit, machtvolle Mechanismen zu beherrschen, die durch diese Kontrolle Macht über menschliche Wesen erlangt haben, werden wahrscheinlich eine Vorstellung von ihren Untertanen besitzen, die völlig verschieden ist von der solcher Männer, welche von Überzeugung, selbst von unehrlicher Überzeugung, abhängig sind. Die meisten von uns haben einmal absichtlich einen Ameisenhaufen gestört und mit leisem Vergnügen die wilde Verwirrung beobachtet, die entstanden war. Wenn man vom Dach eines Wolkenkratzers auf den Verkehr von New York hinabblickt, hören die Wesen unter einem auf, menschlich zu erscheinen, und bekommen etwas Absurdes. Wäre man gleich Jupiter mit dem Donnerkeil bewaffnet, so wäre man versucht, ihn in die Menge zu schleudern, und zwar aus dem gleichen Grund wie im Falle des Ameisenhaufens. So fühlte offenbar Bruno Mussolini, als er von seinem Flugzeug aus auf die Abessinier hinuntersah. Man stelle sich eine wissenschaftliche Regierung vor, die aus Furcht vor Ermordung immer in Flugzeugen lebt, mit Ausnahme gelegentlicher Landungen auf Landungsplätzen, die auf hohen Türmen oder auf dem Meer gelegen sind. Ist es wahrscheinlich, dass eine solche Regierung ein tiefes Interesse für das Glück ihrer Untertanen hat?

Ist es nicht im Gegenteil gewiss, dass sie sie, wenn alles gut geht, so unpersönlich sehen wird, wie sie ihre Maschinen betrachtet, aber dass sie, wenn etwas geschehen sollte, das den nichtmaschinellen Charakter der Menschen bewiese, kalte Wut empfinden wird – die kalte Wut von Männern, deren Grundsätze von Untermenschen in Frage gestellt werden – und die nun jeden Widerstand, der nur die geringste Schwierigkeit mit sich führt, brechen wird?

Alles das, könnte der Leser denken, ist einfach überflüssiges Hirngespinst. Ich wünsche, ich könnte ihm recht geben. Ich bin überzeugt, dass mechanische Macht dahin zielt, eine neue Mentalität zu schaffen, die es wichtiger als je zuvor macht, neue Wege der Regierungskontrolle zu finden. Demokratie scheint infolge der technischen Entwicklung schwieriger geworden zu sein, aber sie ist auch wichtiger geworden. Der Mann, der über mächtige mechanische Gewalt verfügt, kann sich leicht als Gott fühlen, wenn er niemandem Rechenschaft abzulegen genötigt ist – nicht als ein christlicher Gott der Liebe, sondern als ein heidnischer Thor oder Vulkan.

Leopardi beschreibt die Wirkung vulkanischer Tätigkeit an den Abhängen des Vesuv:

 

Dies Land, das nun bestreut

 

Mit trockner Asche, und gehöckert

Von steingefrorener Lava,

Hall unterm Fuß verlassner Pilger;

Dort, wo im Glast geborgen Schlangen ruhn,

Und wo in mancher Kluft

Im hohlen Fels der Hase heimwärts springt –

Glückliche Höfe war'n hier einst

Und Acker, gelbe Ernten und Getön

Brüllender Herden; hier auch Gärten und Paläste;

Der Ruh geweihte Zufluchtsstätten

Mächtiger Herren; hier berühmte Städte,

Vom unerbittlichen Gebirg, das donnernd ausstößt

Geschmolz'ne Ströme aus dem Feuermaul, zerstört

Mit allen Bürgern. Alles liegt ringsum

Zerschmettert unter einer riesigen Ruine.(3)

 

Diese Ergebnisse können heute von Menschen erreicht werden. Sie wurden in Guernica erreicht; vielleicht werden sie in nicht zu ferner Zeit dort erreicht sein, wo noch London steht. Was kann von einer Oligarchie Gutes erwartet werden, die durch solche Zerstörung zur Herrschaft gelangt ist. Und seien es Berlin und Rom statt London und Paris, die von den Donnerkeilen der neuen Götter zerstört würden – könnte Menschlichkeit in den Zerstörern nach solcher Tat weiterleben? Würden nicht jene, die menschliche Gefühle ihr eigen nennen, von unterdrücktem Mitleid zum Wahnsinn getrieben und noch schlimmer werden als die anderen, die ihr Mitempfinden nicht zurückzuhalten brauchen?

In früheren Zeiten verkauften Menschen dem Teufel ihre Seele, um magische Kräfte zu erwerben. Heutzutage erlangen sie diese Fähigkeiten durch Wissenschaft und sehen sich gezwungen, Teufel zu werden. Es gibt für die Welt keine Hoffnung, solange Macht nicht gezähmt und dienstbar gemacht werden kann, nicht dieser oder jener Gruppe fanatischer Tyrannen, sondern der ganzen Menschheit dienstbar gemacht werden kann. Weißen und Gelben und Schwarzen, Kommunisten und Demokraten; denn durch Wissenschaft ist es unvermeidlich geworden, dass alle leben oder alle sterben müssen.