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THICH NHAT HANH

Der furchtlose Buddha

Was uns durch die Angst trägt

Aus dem Englischen
von Andrea Panster

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel Fear: Essential Wisdom for Getting Through
the Storm
im Verlag Harper Collins, New York, USA.


Deutsche Erstausgabe

© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

Arkana, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© 2012 der Originalausgabe by Unified Buddhist Church.

Published by arrangement with HarperOne,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Lektorat: Michaela Doepke

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Trigger Image/Alamy

ISBN 978-3-641-10674-4
V002


www.arkana-verlag.de

Einleitung:
Furchtlosigkeit

Das Leben der meisten Menschen ist voller wunderbarer und schwieriger Augenblicke. Doch bei vielen von uns ist selbst dann, wenn die Freude am größten ist, unter dem Glücksgefühl Angst verborgen. Wir fürchten, dass dieser Augenblick enden wird, dass wir nicht bekommen werden, was wir brauchen, dass wir verlieren werden, was wir lieben, oder dass es keine Sicherheit gibt. Am meisten fürchten wir jedoch das Wissen, dass unser Körper eines Tages aufhören wird zu funktionieren. Darum ist unsere Freude nicht einmal dann vollkommen, wenn anscheinend alle Voraussetzungen für Glück erfüllt sind.

Wir denken, um glücklicher zu sein, müssten wir die Angst wegschieben oder dürften ihr keine Beachtung schenken. Wir fühlen uns nicht wohl, wenn wir an die Dinge denken, die uns ängstigen, und verdrängen deshalb unsere Angst. »O nein, daran möchte ich nicht denken!« Wir versuchen, unsere Angst zu ignorieren, und dennoch ist sie da.

Wir können unsere Angst nur lindern und wirklich glücklich sein, wenn wir sie zur Kenntnis nehmen und tief in ihren Ursprung hineinschauen. Wir sollten nicht versuchen, ihr zu entfliehen, sondern können sie stattdessen in unser Gewahrsein einladen und klar und tief betrachten.

Wir fürchten das, was außerhalb von uns ist und was wir nicht kontrollieren können. Wir sorgen uns, wir könnten alt und krank werden und verlieren, was wir am meisten schätzen. Wir versuchen festzuhalten, woran uns am meisten liegt – unsere gesellschaftliche Stellung, unseren Besitz, die Menschen, die wir lieben. Aber unsere Angst lindert das Festhalten nicht. Eines Tages werden wir all diese Dinge dennoch loslassen müssen. Wir können sie nicht mitnehmen.

Wir denken vielleicht, unsere Ängste würden verschwinden, wenn wir sie ignorieren. Doch wenn wir Angst und Sorge in unserem Bewusstsein vergraben, werden sie weiter auf uns einwirken und uns noch mehr Kummer bereiten. Wir haben so große Angst davor, ohnmächtig zu sein. Aber wir haben die Macht, tief in unsere Ängste hineinzuschauen, und dann können sie uns nicht kontrollieren. Wir können unsere Angst verwandeln. Indem wir uns darin üben, ganz im gegenwärtigen Augenblick zu leben – was wir Achtsamkeit nennen –, können wir den Mut aufbringen, uns unseren Ängsten zu stellen und uns nicht mehr von ihnen herumschubsen zu lassen. Achtsam sein bedeutet, tief zu schauen, damit wir die wahre Natur unseres »Interseins berühren« und erkennen können, dass nichts je verloren geht. Mit »Intersein« meine ich die wechselseitige Verbundenheit aller Menschen und zwischen Mensch und Natur. Denn nach der buddhistischen Lehre kann nichts getrennt voneinander existieren.

Während des Vietnamkriegs saß ich eines Tages auf einem verwaisten Landeplatz im vietnamesischen Hochland. Ich wartete auf ein Flugzeug, um nach Nordvietnam zu fliegen und mich an der Hilfe für die Überschwemmungsopfer zu beteiligen. Wegen der Dringlichkeit der Lage musste ich ein Militärflugzeug nehmen, das normalerweise Dinge wie Decken und Kleidung transportierte. Ich saß allein auf dem Flugplatz und wartete auf den nächsten Flieger, als sich ein amerikanischer Offizier zu mir gesellte. Auch er wartete auf seinen Flug. Es war Krieg und wir waren allein auf dem Landeplatz. Ich schaute ihn an und sah, dass er jung war. Sofort hatte ich großes Mitgefühl mit ihm. Wieso musste er hierherkommen, um zu töten oder getötet zu werden? Deshalb sagte ich zu ihm: »Sie müssen den Vietcong sehr fürchten.« Der Vietcong, das waren kommunistische Guerillakämpfer aus Vietnam. Leider stellte ich mich nicht sonderlich geschickt an und meine Worte wässerten den Samen der Angst in ihm. Sofort legte er die Hand auf seine Waffe und fragte: »Sind Sie ein Vietcong?«

Die Offiziere der US-Armee hatten vor ihrer Ankunft in Vietnam gelernt, dass jeder Mensch hier ein Vietcong sein konnte, und deshalb waren alle amerikanischen Soldaten von Angst erfüllt. Jedes Kind, jeder Mönch konnte ein Untergrundkämpfer sein. Die Soldaten waren auf diese Weise ausgebildet worden und sahen überall Feinde. Ich hatte versucht, dem Mann gegenüber mein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, aber als er das Wort Vietcong gehört hatte, war er sofort von seiner Angst überwältig worden und hatte nach seiner Waffe gegriffen.

Ich wusste, dass ich Ruhe bewahren musste. Ich atmete tief ein und aus und sagte dann: »Nein, ich warte auf mein Flugzeug nach Da Nang, um mich über das Hochwasser zu informieren und zu sehen, wie ich helfen kann.« Im Klang meiner Stimme brachte ich ihm große Sympathie entgegen. Während unseres Gesprächs konnte ich ihm glaubhaft meine Überzeugung vermitteln, dass der Krieg viele Menschen zu Opfern gemacht habe – nicht nur Vietnamesen, sondern auch Amerikaner. Der Soldat beruhigte sich ebenfalls und so konnten wir miteinander sprechen. Ich war in Sicherheit, weil ich klar und ruhig genug gewesen war. Hätte ich aus Angst gehandelt, hätte er mich aus Angst erschossen. Glauben Sie also nicht, dass Gefahr nur von außen kommt. Sie kommt von innen. Wenn wir die eigenen Ängste nicht zur Kenntnis nehmen und tief in sie hineinschauen, können wir Gefahren und Unfälle auf uns ziehen.

Jeder Mensch hat Angst, doch wenn es uns gelingt, tief in sie hineinzuschauen, können wir uns aus ihrem Griff befreien und die Freude berühren. Die Angst sorgt dafür, dass unser Blick auf die Vergangenheit gerichtet bleibt oder wir uns um die Zukunft sorgen. Wenn wir uns unsere Angst eingestehen, können wir auch erkennen, dass in diesem Augenblick alles in Ordnung ist. Jetzt, in diesem Augenblick, sind wir noch am Leben und unser Körper arbeitet wunderbar. Noch können unsere Augen den wunderschönen Himmel sehen. Noch können unsere Ohren die Stimmen unserer Lieben hören.

Wenn wir unsere Angst betrachten, laden wir sie zunächst einfach in unser Gewahrsein ein, ohne zu urteilen. Wir nehmen sie behutsam zur Kenntnis. Bereits dadurch erfahren wir große Erleichterung. Sobald sie sich legt, können wir sie zärtlich umarmen und tief in ihren Ursprung, ihre Wurzeln hineinschauen. Verstehen wir die Ursachen unserer Ängste und Befürchtungen, wird uns dies helfen, sie loszulassen. Fürchten wir etwas, was in diesem Augenblick geschieht, oder handelt es sich um eine alte Angst aus der Zeit, als wir noch klein waren? Wenn wir uns darin üben, alle unsere Ängste in unser Bewusstsein einzuladen, wird uns klar, dass wir noch am Leben sind und es noch vieles gibt, was wir schätzen und genießen. Wenn wir nicht gerade damit beschäftigt sind, unsere Angst zu verdrängen oder zu bewältigen, können wir uns am Sonnenschein, am Nebel, an der Luft und am Wasser erfreuen. Wenn Sie tief in Ihre Angst hineinschauen und sie klar erkennen, können Sie ein wirklich lohnendes Leben führen.

Unsere größte Angst ist, dass wir von etwas zu nichts werden, wenn wir sterben. Um tatsächlich frei zu sein von Angst, müssen wir tief in die letzte Dimension der Wirklichkeit hineinschauen und unsere wahre Natur von Nicht-Geburt und Nicht-Tod erkennen. Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, wir wären lediglich unser sterblicher Körper. Wenn wir verstehen, dass wir mehr sind als unser physischer Körper, dass wir weder aus dem Nichts kommen noch uns in nichts auflösen werden, sind wir von der Angst befreit.

Der Buddha war ein Mensch und auch er kannte die Angst. Doch da er sich jeden Tag in Achtsamkeit übte und seine Angst genau betrachtete, konnte er sich dem Ungewissen ruhig und friedlich stellen, wenn er damit konfrontiert wurde. Eine Geschichte erzählt, wie er einst beim Spazierengehen auf den berüchtigten Serienmörder Angulimala traf. Angulimala rief dem Buddha zu, er solle stehen bleiben, doch der ging langsam und ruhig weiter. Als Angulimala ihn einholte, verlangte er zu wissen, warum er nicht stehen geblieben sei. Der Buddha erwiderte: »Angulimala, ich bin schon vor langer Zeit stehen geblieben. Du bist es, der nicht stehen geblieben ist.« Dann erklärte er ihm: »Ich habe aufgehört, anderen Lebewesen Leid zuzufügen. Alle Lebewesen wollen leben. Alle fürchten den Tod. Wir müssen das Mitgefühl in unserem Herzen nähren und das Leben aller Wesen schützen.« Angulimala war überrascht und wollte noch mehr darüber erfahren. Am Ende des Gesprächs schwor er der Gewalt ab und beschloss, Mönch zu werden. Wie konnte der Buddha im Angesicht eines Mörders so ruhig und entspannt bleiben? Dies ist ein extremes Beispiel, aber jeder von uns muss tagtäglich seinen Ängsten ins Auge sehen. Dabei kann die tägliche Achtsamkeitspraxis eine große Hilfe sein. Wenn wir bei unserem Atem beginnen, wenn wir bei unserem Gewahrsein beginnen, können wir mit allem fertigwerden, was uns begegnet.

Furchtlosigkeit ist nicht nur möglich, sie ist sogar die höchste Freude. Wenn Sie Nicht-Angst berühren, sind Sie frei. Sollte ich je in einem Flugzeug sitzen und den Piloten sagen hören, dass wir gleich abstürzen werden, werde ich achtsam atmen. Ich hoffe, auch Sie werden dies tun, wenn Sie schlechte Nachrichten erhalten. Aber warten Sie nicht, bis es kritisch wird, ehe Sie anfangen, sich darin zu üben, Ihre Angst zu verwandeln und achtsam zu leben. Furchtlosigkeit kann Ihnen niemand geben. Nicht einmal der Buddha, wenn er unmittelbar neben Ihnen säße. Sie müssen sich selbst darin üben und sie verwirklichen. Wenn Sie sich die Praxis der Achtsamkeit zur Gewohnheit machen, werden Sie wissen, was zu tun ist, wenn Schwierigkeiten auftauchen.

Die Zeit davor

Wir können uns meist nicht daran erinnern, aber vor langer Zeit lebten wir im Leib unserer Mutter. Wir waren winzige menschliche Lebewesen. Zwei Herzen schlugen im Körper Ihrer Mutter: ihr eigenes und das Ihre. In dieser Zeit tat sie alles für Sie: sie atmete, sie aß, sie trank für Sie. Sie waren über die Nabelschnur mit ihr verbunden, wurden darüber mit Sauerstoff und Nahrung versorgt und waren in ihrem Bauch zufrieden und sicher. Es war weder zu warm noch zu kalt. Sie fühlten sich wunderbar wohl. Sie ruhten auf einem weichen Wasserpolster. In China und Vietnam bezeichnen wir den Mutterleib als den »Palast des Kindes«. Sie haben ungefähr neun Monate darin verbracht.

Diese neun Monate im Mutterleib gehörten zu den angenehmsten Zeiten Ihres Lebens. Dann kam der Tag Ihrer Geburt. Alles um Sie herum fühlte sich anders an und Sie wurden in eine neue Umgebung gestoßen. Zum ersten Mal empfanden Sie Kälte und Hunger. Die Geräusche waren zu laut. Das Licht war zu grell. Zum ersten Mal hatten Sie Angst. Dies ist die ursprüngliche Angst.

Im »Palast des Kindes« mussten Sie nicht selbstständig atmen, aber im Augenblick Ihrer Geburt wurde die Nabelschnur durchtrennt und damit auch die körperliche Verbindung zu Ihrer Mutter gelöst. Sie konnte nicht mehr für Sie atmen. Zum ersten Mal mussten Sie lernen, eigenständig zu atmen. Wenn Ihnen dies nicht gelingen sollte, würden Sie sterben. Die Geburt war eine sehr gefährliche Zeit. Sie wurden aus dem Palast gestoßen und erfuhren, was Leiden ist. Sie versuchten, Luft zu holen, aber es war schwierig. Sie hatten noch Flüssigkeit in der Lunge, die sie erst loswerden mussten, um einatmen zu können. Wir wurden geboren, und mit der Geburt kamen auch die Angst und das Verlangen zu überleben. Dies ist das ursprüngliche Verlangen.

Als Säuglinge wussten wir: Wenn wir überleben wollen, brauchen wir jemanden, der sich um uns kümmert. Auch nachdem die Nabelschnur durchtrennt war, waren wir vollständig auf die Erwachsenen angewiesen, um zu überleben. Wenn das eigene Überleben von irgendetwas oder irgendjemandem abhängt, bedeutet das, dass noch immer eine Verbindung, eine Art unsichtbare Nabelschnur besteht.

Wir werden erwachsen, aber unsere ursprüngliche Angst und unser ursprüngliches Verlangen sind geblieben. Obwohl wir keine Kleinkinder mehr sind, fürchten wir doch, dass wir nicht überleben können, wenn sich niemand um uns kümmert. All unser Begehren im Leben wurzelt in diesem ursprünglichen, fundamentalen Überlebenswunsch. Als Säuglinge finden wir Mittel und Wege, unser Überleben zu sichern. Möglicherweise empfanden wir ein starkes Gefühl der Ohnmacht. Wir hatten Beine, aber konnten nicht laufen. Wir hatten Arme, aber konnten nichts ergreifen. Wir mussten herausfinden, wie wir jemand anderen dazu bringen konnten, uns zu beschützen, für uns zu sorgen, unser Überleben zu sichern.

Jeder fürchtet sich ab und zu. Wir fürchten uns unter anderem vor der Einsamkeit, verlassen zu werden, zu altern, zu sterben und krank zu werden. Manchmal ängstigen wir uns vielleicht sogar, ohne recht zu wissen, wovor. Wenn wir tief schauen, werden wir erkennen, dass diese Angst die Folge jener ursprünglichen Angst ist, die wir empfanden, als wir neugeboren und hilflos waren und nicht für uns sorgen konnten. Wir wurden erwachsen, aber die ursprüngliche Angst und das ursprüngliche Verlangen sind nach wie vor lebendig. Unser Wunsch nach einem Partner ist zum Teil die Fortführung unseres Wunsches, dass jemand für uns sorgt.

Als Erwachsene fürchten wir oft, uns an diese ursprüngliche Angst und an dieses ursprüngliche Verlangen zu erinnern oder sie zu berühren, da wir das hilflose Kind noch immer in uns tragen. Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wir haben uns noch nicht die Zeit genommen, uns um unser verletztes und hilfloses inneres Kind zu kümmern.

Bei den meisten Menschen besteht die ursprüngliche Angst in irgendeiner Form fort. Hin und wieder fürchten wir uns vielleicht vor dem Alleinsein. Wir haben das Gefühl: »Allein schaffe ich es nicht. Ich brauche unbedingt jemand anderen.« Dies ist eine Fortführung unserer ursprünglichen Angst. Doch wenn wir tief schauen, werden wir feststellen, dass wir die Fähigkeit besitzen, unsere Angst zu lindern und unser Glück zu finden.

Wir müssen unsere Beziehungen eingehend betrachten, um zu erkennen, ob sie in erster Linie auf gemeinsamer Bedürftigkeit oder gemeinsamem Glück beruhen. Wir denken gern, es läge in der Macht unseres Partners, dafür zu sorgen, dass wir uns gut fühlen, und es ginge uns nur gut, wenn der andere da ist. Wir denken: »Wenn dieser Mensch nicht für mich sorgt, werde ich nicht überleben.«

Wenn Ihre Beziehung nicht auf gegenseitigem Verständnis und Glück beruht, sondern auf Angst, hat sie kein festes Fundament. Möglicherweise haben Sie das Gefühl, den anderen zu Ihrem Glück zu brauchen, und stellen doch irgendwann fest, dass seine Gegenwart Ihnen lästig ist und Sie ihn loswerden möchten. Dann wissen Sie sicher, dass Ihre Gefühle von Frieden und Sicherheit nicht von dieser Person stammen.

Auch wenn Sie viel Zeit in einem bestimmten Café verbringen, liegt das möglicherweise nicht daran, dass es dort so interessant ist. Es könnte vielmehr sein, dass Sie das Alleinsein fürchten; dass Sie das Gefühl haben, immer jemanden um sich haben zu müssen. Wenn Sie den Fernseher anschalten, dann vielleicht nicht, weil eine faszinierende Sendung kommt, die Sie sehen möchten, sondern weil Sie nicht mit sich alleine sein möchten.

Die Angst, was andere von Ihnen denken könnten, hat den gleichen Ursprung. Sie fürchten, wenn man schlecht von Ihnen denkt, wird man Sie nicht akzeptieren oder Sie werden allein zurückbleiben und in Gefahr sein. Falls es Ihnen also ein Bedürfnis ist, dass andere stets gut von Ihnen denken, so ist das nur eine Fortsetzung derselben ursprünglichen Angst. Wenn Sie sich regelmäßig neu einkleiden, liegt auch das an diesem Wunsch. Sie wollen von anderen akzeptiert werden. Sie fürchten Zurückweisung. Sie haben Angst, allein und verlassen und ohne einen Menschen zurückzubleiben, der sich um Sie kümmert.

Wir müssen tief schauen, um die Urangst und das Urverlangen zu erkennen, die hinter so vielen unserer Verhaltensweisen stecken. Jede Angst, jedes Verlangen, das Sie heute empfinden, ist eine Fortführung der ursprünglichen Angst und des ursprünglichen Verlangens.

Eines Tages fühlte ich mich wie durch eine Nabelschnur mit der Sonne am Himmel verbunden. Ich erkannte deutlich: Wenn es die Sonne nicht gäbe, würde ich sofort sterben. Dann sah ich eine Nabelschnur, die mich mit dem Fluss verband. Ich wusste, wenn der Fluss nicht wäre, würde ich ebenfalls sterben, da ich kein Wasser zum Trinken hätte. Und ich sah eine Nabelschnur, die mich mit dem Wald verband. Seine Bäume erzeugten den Sauerstoff, den ich atmete. Ohne den Wald würde ich sterben. Und ich sah eine Nabelschnur, die mich mit dem Bauern verband, der das Gemüse, den Weizen und den Reis anbaute, den ich koche und esse.

Wenn Sie Meditation praktizieren, werden Sie allmählich Dinge sehen, die anderen Menschen entgehen. All diese Nabelschnüre sind da, auch wenn Sie sie nicht erkennen, und verbinden Sie mit Ihrer Mutter, Ihrem Vater, dem Bauern, der Sonne, dem Fluss, dem Wald und so weiter. Zur Meditation kann auch die Visualisierung gehören. Würden Sie ein Bild von sich mit all diesen Nabelschnüren malen, dann würden Sie merken, dass es nicht nur fünf oder zehn davon gibt, sondern dass Sie möglicherweise mit Hunderten oder Tausenden davon verbunden sind.

In Plum Village im Südwesten Frankreichs, wo ich lebe, rezitieren wir gern laut oder im Stillen kurze Übungsgedichte, sogenannte Gathas. Sie sollen uns helfen alles, was wir im Alltag tun, tief zu erfahren. Wir haben ein Gatha für das Erwachen am Morgen, ein Gatha fürs Zähneputzen und sogar das Autofahren oder die Arbeit am Computer. Das Gatha, das wir sprechen, während wir das Essen auftragen, lautet:

In dieser Nahrung

sehe ich deutlich

das ganze Universum,

das mein Dasein trägt.

Wenn wir tief in das Gemüse hineinschauen, erkennen wir darin den Sonnenschein, eine Wolke, die Erde. Auch in der Mahlzeit vor uns steckt viel harte, mit Liebe ausgeführte Arbeit. Wenn wir auf diese Weise schauen, wissen wir auch dann, wenn sich niemand mit uns an den Tisch setzt, um diese Mahlzeit mit uns zu teilen, dass unsere Gemeinschaft, unsere Vorfahren, Mutter Natur und der ganze Kosmos jeden Augenblick genau hier mit uns und in uns sind. Wir müssen uns niemals alleine fühlen.

Einer der ersten Schritte, die wir unternehmen können, um unsere Angst zu lindern, ist, mit ihr zu sprechen. Sie können sich mit dem ängstlichen inneren Kind hinsetzen und ganz behutsam mit ihm sein. Sie können zum Beispiel sagen: »Mein liebes kleines Kind, ich bin dein erwachsenes Selbst. Ich möchte dir sagen, dass wir kein Säugling mehr sind, hilflos und verletzlich. Wir haben kräftige Hände und kräftige Füße. Wir können uns hervorragend wehren. Es gibt also keinen Grund, weshalb wir weiterhin Angst haben sollten.«

Ich glaube, es kann sehr hilfreich sein, so mit dem inneren Kind zu sprechen, da es möglicherweise tief verletzt ist und darauf wartet, dass wir zu ihm zurückkehren. All seine Kindheitswunden sind noch da, und wir waren zu beschäftigt, um zu ihm zurückzukehren und es bei seiner Heilung zu unterstützen. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, in die Kindheit zurückzukehren, damit wir die Gegenwart des verwundeten Kindes in uns erkennen, damit wir mit ihm sprechen und versuchen, ihm bei seiner Heilung zu helfen. Wir können es wiederholt daran erinnern, dass wir kein hilfloses Kind mehr sind, dass wir nun erwachsen sind und sehr gut auf uns selbst aufpassen können.

Übung: Gespräch mit dem inneren Kind

Legen Sie zwei Kissen bereit. Setzen Sie sich zunächst auf das eine Kissen und tun Sie so, als wären Sie das hilflose und verletzliche Kind. Bringen Sie Ihre Gefühle zum Ausdruck: »Mein Liebling, ich bin sehr hilflos. Ich kann nichts tun. Es ist so gefährlich. Ich werde sterben. Niemand sorgt für mich.« Sie müssen die Sprache des Kleinkindes sprechen. Falls dabei Gefühle von Angst, Hoffnung, Stress und Hilflosigkeit aufkommen, sollten Sie diese erkennen und zulassen. Geben Sie dem hilflosen Kind ausreichend Zeit, alles loszuwerden, was es sagen möchte. Das ist sehr wichtig.

Wenn es fertig ist, setzen Sie sich auf das zweite Kissen, um in die Rolle des erwachsenen Selbst zu schlüpfen. Schauen Sie auf das andere Kissen, visualisieren Sie das hilflose Kind, das dort sitzt, und sagen Sie zu ihm: »Bitte hör mir zu, ich bin dein erwachsenes Selbst. Du bist kein hilfloses Kind mehr. Wir sind inzwischen erwachsen. Wir sind intelligent genug, uns selbst zu beschützen und selbstständig überleben zu können. Es ist nicht mehr nötig, dass jemand für uns sorgt.«

Wenn Sie diese Übung ausprobieren, werden Sie erkennen, dass das ersehnte Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit nicht unbedingt daher rühren muss, dass Sie sich an einen anderen Menschen klammern oder sich ständig ablenken. Der erste Schritt, um die innere Angst loszulassen, besteht darin, sie anzunehmen und loszulassen.

Die Erkenntnis, dass wir jetzt in Sicherheit sind, ist für diejenigen von uns unerlässlich, die früher Missbrauch, Angst oder Schmerz erlitten haben. Manchmal brauchen wir vielleicht die Hilfe eines Freundes, eines Bruders, einer Schwester, eines Lehrers, um nicht in die Vergangenheit zurückzufallen. Wir sind erwachsen. Wir können uns jetzt nicht nur verteidigen, sondern auch ganz im gegenwärtigen Augenblick leben und für andere da sein.