Titel
Impressum
Vorwort
Widmung
Prolog
Damals ...
Epilog
Danke
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Martina Woknitz
Martyrium Kindheit
Als mein Bruder sich umbrachte, verging Vater sich an mir
Biografischer Tatsachen-Roman
DeBehr
Copyright by: Martina Woknitz
Herausgeber: Verlag DeBehr
Erstauflage: 2021
ISBN: 9783957539038
Grafik Copyright by Adobe Stock © spyrakot
Alle Namen und Orte wurden aus Daten- und Personenschutzgründen geändert. Eventuelle Namensgleichheiten oder Ähnlichkeiten sind unbeabsichtigt und Zufall.
Vorwort
Die Geschichte von Paul ist erschreckend. Erschreckend und grausam. Ich habe sehr lange überlegt, ob ich sie schreiben und veröffentlichen soll.
In Pauls Leben geht es um ein brutales Elternhaus, geprägt von Gewalt und sexuellem Missbrauch an ihm und seinem zwei Jahre älteren Bruder Jan. Alles, was er mir darüber erzählte, machte mich unendlich betroffen und sehr traurig.
Doch was dann kam, nachdem er von zu Hause ausgezogen ist, machte mich sprachlos. Mir fiel es sehr schwer, mitzuschreiben, was er erzählte, so zitterten meine Finger. Paul wurde selbst sehr gewalttätig.
Aus diesem Grund habe ich lange überlegt, ob ich es wagen sollte, das wirklich alles aufzuschreiben und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zugänglich zu machen. Wie viel böse Rezensionen werde ich für dieses Buch bekommen? Ich bin natürlich für jede konstruktive Kritik dankbar, aber manche Menschen meinen, Kritik ist gleich Beleidigung.
Nach langen Hin- und Herüberlegungen, nach unzählig vielen Gesprächen mit Paul entschloss ich mich dazu, seine Geschichte zu schreiben. Wir möchten in keinster Weise das Verhalten von ihm kleinhalten oder gar entschuldigen. Das liegt dem jungen Mann genauso fern wie mir.
Wir möchten aufzeigen, welche Auswirkungen Gewalt und Missbrauch in der Kindheit auf das spätere Leben haben können. Die Opfer können als Erwachsene unter Depressionen, Angst- und Panikattacken, dem posttraumatischen Belastungs- oder Borderline-Syndrom leiden. Leider gibt es aber auch die Folgen, die Paul beschreibt. Die Spirale der Gewalt setzt er in seinem eigenen Leben fort. Er macht genau das, was er als Kind gelernt hat.
Paul möchte erreichen, dass Erzieher/-innen in Kindergärten, Lehrerinnen und Lehrer besser hinsehen. Das Schicksal der beiden geschlagenen und missbrauchten Kinder war nicht zu übersehen, doch mit den Ausreden, die diese Kinder von zu Hause eingetrichtert bekamen, gab sich jeder zufrieden. Sie sind die Treppe heruntergefallen, haben sich gestritten und geschlagen, mit dem Fahrrad gestürzt und alles, was man kennt von geschlagenen Opfern. Aber täglich? Sah das nicht einmal ein Sportlehrer/-in? Das muss aufhören.
Pauls Geschichte stammt nicht aus den 60er oder 70er Jahren, sondern sie passierte jetzt in unserer aufgeklärten Gesellschaft.
Martina Woknitz
Für meinen Bruder
Prolog
Auf dem Boden liegend wachte ich auf. Einen nassen, kalten Lappen fühlte ich auf meiner Stirn. Was ist passiert? Wie aus der Ferne vernahm ich ein Schluchzen. War ich das selbst? Langsam drehte ich meinen Kopf und sah meinen Bruder Jan neben mir sitzen, er war zwei Jahre älter als ich, weinte aber gerade hemmungslos. Mir tat der ganze Körper weh. Mit Wucht kam die Erinnerung zurück. Unser Vater hat mich wie von Sinnen erst mit seinem Gürtel verprügelt, dann trat er noch auf mich ein. Nach dem zweiten Tritt in die Magengegend wurde mir schwarz vor Augen, weil ich nicht mehr richtig atmen konnte. Jan half mir beim Aufstehen, was wahnsinnig wehtat. Mit seiner Hilfe schleppte ich mich ins Bett. Da lag ich nun, starrte an die Decke. Regen prasselte an die Scheiben unseres Fensters. Wieder eine schlaflose Nacht, wie so viele in meinem kleinen Leben. Mein Rücken schmerzte und brannte unendlich von den Schlägen mit dem Gürtel durch meinen Vater. Was hatte ich falsch gemacht? Ich konnte hin und her überlegen, mir fiel nichts ein. Mein Vater war oft total betrunken und rastete aus. Meistens, wenn er nachts aus seiner Stammkneipe kam. Auch meine Mutter und mein zwei Jahre älterer Bruder wurden regelmäßig verprügelt. Meine Mutter stand dem ganzen Horror hilflos und stumm gegenüber. Sie unternahm nichts, um uns zu schützen oder gar mit uns wegzugehen. Aber wie konnte es nur so weit kommen? Es war doch nicht immer so.
Wir wohnten damals in einer schönen Gegend in Düsseldorf. Meine Eltern gingen beide arbeiten. Mama arbeitete in einem Supermarkt in Teilzeit und mein Papa arbeitete als Maurer. Es war ganz gut zu Hause. Wir hatten immer genug und gut zu essen und wir Kinder hatten immer schicke Klamotten. Natürlich keine Markensachen, aber anständig und schick. Da legte Mama Wert darauf. Wenn meine Eltern oder wir Kinder Geburtstag hatten, gab es einen tollen Kuchen mit Kerzen, ein Geschenk und zwei Kinder durften wir einladen für die perfekte Geburtstagsparty. Auch Weihnachten war ganz schön. Am Nikolaustag konnten wir es kaum abwarten, in unseren Schuhen nachzusehen, was uns der Nikolaus gebracht hatte. Es war nichts Besonderes, meistens waren es Malbücher, Stifte, eine CD, eine DVD oder ein Puzzle. Weihnachten gab es dann etwas Größeres, je nachdem, was wir uns wünschten. Mein Bruder Jan und ich wünschten uns meistens etwas von Lego. Eine Spielekonsole war unser großer Traum, aber daraus wurde leider nie etwas. So viel Geld hatten meine Eltern dann doch nicht.
Meine Einschulung und die meines Bruders waren o. k. Wir waren schön angezogen und hatten eine große Zuckertüte bekommen, einen tollen Schulranzen und alles, was wir brauchten.
Mama und Papa spielten mit uns, wir gingen zusammen spazieren, manchmal tobten sie auch mit uns, was dann in einer Kissenschlacht endete. Fast wie eine normale Familie, jedoch war meine Mama nie richtig ausgelassen. Bei ihr schien es immer, als wäre bildlich gesehen die Handbremse angezogen. Wir wurden nie von ihr in den Arm genommen. Sie war keine Mama, wie es sich ein Kind wünscht. Egal, wie wir nach Aufmerksamkeit lechzten und in den Arm genommen werden wollten, körperliche Nähe gab es für uns Kinder nie. Spielen mit uns war das Höchste der Gefühle. Richtig herzhaft lachen sah ich sie nie. Sie erzählte uns keine Gute-Nacht-Geschichte, das machte aber unser Vater früher. Das fiel mir aber erst alles viel später auf. Als kleines Kind machte ich mir darüber nicht wirklich Gedanken. Unser Leben änderte sich jedoch auf brutale Weise.
Der dunkle Fleck in unserem Familienleben war schon nicht mehr zu übersehen. Nur konnten wir nicht erahnen, welche Ausmaße es noch annehmen würde. Wir Kinder nahmen es nur am Rande wahr, aber mein Vater trank zu dieser Zeit schon gern Alkohol. Wir waren noch klein, aber das bekamen wir schon mit. Papa trank nicht heimlich. Am Anfang war es nur Bier, aber immer mehr kam der Teufel Schnaps dazu. Wenn er betrunken war, wurde er sehr laut und cholerisch. Geschlagen hat er uns jedoch noch nicht.
Mein Vater sprach dem Alkohol immer mehr zu. Es wurde so schlimm, dass sein Atem morgens noch extrem nach Alkohol stank. Das reichte schon, aber er muss auch in der Firma während der Arbeitszeit getrunken haben. Das Unvermeidliche geschah, er verlor seinen Job.
“Die Dreckschweine, schmeißen mich einfach raus! Die werden schon sehen, was sie davon haben. So einen wie mich finden die nie wieder …”, so weiter krakeelte er zu Hause herum.
Nun war er den ganzen Tag zu Hause, trank morgens schon Bier. Fairerweise muss ich aber erwähnen, dass mein Vater versuchte, einen neuen Job zu finden. Es klappte jedoch nicht, was ich dem Alkoholkonsum zuspreche. Auf die Idee, dass es an seinem Alkoholgeruch liegen könnte, kam er erst gar nicht. Schuld waren immer die anderen “Idioten” und “Arschlöcher”, wie er sich ausdrückte.
Der Alltag zu Hause wurde immer schlimmer. Kein Spielen, kein Albern, kein normales Reden, nichts. Er schimpfte und brüllte nur noch und Mama sagte keinen Ton. Abends im Bett fragte ich meinen Bruder: “Wie geht das, dass Mama und Papa keine Arbeit haben, aber wir Essen kaufen können?” Jan wusste es aber auch nicht. Erklärungen bekamen wir keine. Eine undefinierbare Vorahnung zog in mir auf, die ich aber nicht erfassen konnte. Mein Bauch kribbelte ganz unangenehm an jedem einzelnen Tag. Mein Gefühl gab mir recht. Eines Tages, als wir aus der Schule kamen, eröffnete uns Papa, dass wir uns die schöne Wohnung nicht mehr leisten konnten. Das eine Jahr war vorbei, als er ALG I bekam. Er rutschte in den Sog von Hartz IV. Wir mussten umziehen in eine Sozialwohnung. Meine Mutter musste ihren Job aufgeben, weil der Weg viel zu weit bis dorthin war. Für uns Kinder war es sehr schlimm. Müssen wir in eine andere Schule? Sehen wir unsere Freunde nie wieder? Richtig wahrgenommen haben wir es erst, als unsere Eltern Kisten packten und der Umzugswagen vor der Tür stand. Jetzt wussten wir, es geht wirklich los. Alles konnten wir nicht mitnehmen, denn die neue Wohnung war viel kleiner. Der ganze Stolz meiner Mama war ihre Küche. Die mussten wir zurücklassen, in der Sozialwohnung war eine Küche drin. Mein Vater verkaufte sie, aber viel Geld bekam er dafür nicht.
Wir wohnten jetzt am Stadtrand vom Düsseldorf in einer sehr unschönen Wohngegend in einem riesigen Hochhaus. Hier wohnten die Verlorenen, der Abschaum der Gesellschaft, die Verlierer, die Verkommenen, alleinerziehende, betrunkene Mütter, cholerische und versoffene Väter, alle ohne Job und wir mittendrin.
Schon die Flure jeder Etage waren völlig versifft. Überall lagen alte Zeitungen und leere Flaschen herum. Es stank fürchterlich nach Urin und anderen Hinterlassenschaften der Einwohner. Mich schauderte es, als ich unsere neue Behausung zum ersten Mal sah. Die Küche war völlig runtergekommen. Mama musste hier erst mal viel Arbeit investieren, um die Schränke und den Herd zu putzen. Zum Glück machte sie das zu dieser Zeit noch. Hier sollten wir wohnen? Ja, so war es nun, ich konnte sowieso nichts daran ändern, zum Glück hatte ich meinen Bruder. Er war das Wichtigste auf der Welt für mich. Meine Mama weinte sehr viel in dieser Zeit. Unsere Familie war zum Sozialfall geworden, die Wohnung war alles andere als schön. Wir Kinder trauten uns am Anfang kaum, vor die Tür zu gehen. Überall nur Geschrei und Beleidigungen. Oft hörten und sahen wir, wie Männer ihre Frauen verprügelten oder sogar ihre Kinder. Zum Glück blieb uns das erspart, dachte ich.
Wir hatten nur eine kleine Wohnung, sodass ich mir mit meinem Bruder ein Zimmer teilen musste, aber das machte uns nichts aus. Eigentlich waren wir ganz froh, nicht allein zu sein und uns gegenseitig Trost spenden zu können. Das hatten wir bitternötig. Mein Vater verfiel immer mehr dem Alkohol und schrie nur noch herum. Er war der alleinige Herrscher in unserer Familie. Nur er bestimmte, was gekauft wurde und was nicht. Am wichtigsten waren Alkohol und Zigaretten. Das notwendige Essen bekamen wir von der Tafel und Klamotten aus der Kleiderkammer. Mama brauchte somit immer nur wenig dazuzukaufen. So sahen wir auch aus. Wir hätten auch so gern wieder einmal moderne Sachen zum Anziehen gehabt. Dafür war jedoch nie Geld da.
Papa beleidigte und demütigte meine Mutter, wo und wie er nur konnte. “Schlampe”, “fette Kuh”, “Stinktier, wasch dich mal!”, sind nur einige Beispiele, was er ihr vorwarf. Wir waren “Bastarde”, “Rotzblagen”, “dämliche Bälger”, “Missgeburten” und vieles mehr.
Wir mussten die Schule wechseln und der Unterschied zu unserem vorherigen Leben bis hierhin war krass. Ich weinte tagelang, weil ich unsere tolle Wohnung und meine Freunde vermisste. Mein Bruder tröstete mich, so gut er konnte, obwohl es ihm genauso schwerfiel wie mir. Aber er war der Stärkere von uns beiden, er war mein Held – immer. Freundschaften konnten wir nicht schließen. In der Schule spielten wir in den Pausen mit unseren Klassenkameraden, aber zu ihnen nach Hause oder zu uns nach Hause durften wir nicht. Das verbot mein Papa strikt. Hatte er Angst, dass jeder sah, wie wir leben mussten? Es ging doch fast allen hier so. Wir Kinder mussten uns mit der Situation abfinden und das Beste daraus machen. Genau das wollten wir auch tun.
Ein lautes Poltern weckte mich. Ich lauschte in die Dunkelheit, dann hörte ich es klatschen und schreien. Mein Vater war aus seiner Stammkneipe mitten in der Nacht nach Hause gekommen. Natürlich total besoffen. Vor Angst saß ich kerzengerade in meinem Bett. Auch mein Bruder wurde wach und hatte Angst. Ich war sieben Jahre alt und mein Bruder war neun Jahre alt. Das Poltern und Schreien hörte nicht auf. Vor Angst pullerte ich ins Bett. Ich konnte es einfach nicht steuern. Natürlich würde das wieder einen Riesenärger geben. Obwohl das Wort Riesenärger völlig falsch ist. Schläge wird es geben und das mit Sicherheit. Ich begann zu zittern und flüsterte: “Jan, ich habe wieder ins Bett gemacht.”
Er erwiderte: “Psst, sei leise, Paul, stell dich einfach schlafend. Vielleicht kommt er ja nicht zu uns oder er denkt, wir schlafen und lässt uns in Ruhe. Ich habe die Tür abgeschlossen, er kann nicht rein.”
Er wollte mir Mut machen, aber wir wussten beide, dass er uns nicht in Ruhe lassen würde. Vertraute Schritte näherten sich unserer Tür. Ich zitterte immer mehr. Mein Vater rüttelte an der Klinke und schrie: “Macht sofort die verdammte Tür auf, sonst trete ich sie ein!” Wir rührten uns nicht. Er trommelte wie ein Verrückter an unsere Tür: “Aufmachen, ihr Bastarde! Sofort!” Notgedrungen stand Jan auf und öffnete die Tür. Das Erste, was er sah, war die Faust meines Vaters, die mitten in sein Gesicht fuhr. Sofort ging er zu Boden und schrie. Mein Vater stürzte zu mir, zog mich aus dem Bett und hielt kurz inne. Mit vor Wut verzerrter Miene schrie er mich an: “Du hast nicht wieder ins Bett gepinkelt, oder?” Ich stand zitternd vor meinem Vater und nickte schuldbewusst. Seine Hand griff fest an das Oberteil meines Schlafanzuges und schüttelte mich kräftig durch. “Ausziehen!”
“Bitte … nicht … Papa”, stotterte ich. Tränen suchten sich den Weg über mein kleines Gesicht.
“Ausziehen!”, wiederholte er noch ungehaltener. Was blieb mir übrig? Mein Bruder lag weinend mit blutender Nase auf dem Boden und ich zog meine nassen Schlafsachen aus. Dann war es wie immer. Mein Vater nahm die nasse Hose hoch und schlug sie mir um die Ohren. Rechts, links, rechts, links. Klatsch! Klatsch! Klatsch! Klatsch! Es tat so weh. Mein Kopf brummte, mein Genick schmerzte, weil mein Kopf bei jedem Schlag zur anderen Seite flog. Als er endlich von mir abließ, schmiss er alles aus meinem Bett. Kissen, Decke und Matratze flogen durch unser Zimmer. Er tobte wie ein Irrer. Wir Kinder schluchzten und zitterten immer mehr. Wir wussten, was jetzt passieren würde. Ich sollte mir ein Oberteil anziehen, dann zog er seinen Gürtel aus der Hose und drosch auf uns ein. Etwas anziehen sollten wir, dass keine blutigen Striemen entstehen würden. Dass unser Rücken und unser Po blau waren, interessierte ihn nicht. Ihm war völlig egal, wen er traf, Hauptsache er sah unsere Pein, unsere Qual und unsere Angst. Das schien ihm immer wieder Freude zu bereiten. Als er endlich fertig war, schnauzte er uns an: “Wie es hier wieder aussieht! Könnt ihr Rotzbälger nicht einmal euer Zimmer in Ordnung halten? Was seid ihr nur für Dreckschweine!? Ab ins Bad, waschen und dann will ich euer Zimmer in einer Stunde tipptopp sauber sehen!” Mit diesen Worten torkelte er aus unserem Zimmer. Wir schleppten uns ins Bad und wuschen uns das Blut aus dem Gesicht. Wir hatten beide Nasenbluten, Jan hatte noch eine Platzwunde über der Augenbraue. Es hörte nicht auf zu bluten. Ich drückte ihm ein Handtuch darauf und hoffte, die Blutung stoppen zu können. Schon stand mein Vater im Raum. “Was für eine Sauerei veranstaltet ihr denn hier schon wieder?” Das Waschbecken wies noch Blutspuren auf und die Handtücher, die wir benutzten, um das Blut zu stoppen, lagen auf dem Boden. “So eine Sauerei hier!”, brüllte er gleich los. Dass wir verletzt waren, und zwar durch seine Hände und seinen Gürtel, schien er vergessen zu haben. “Alles aufwischen, und zwar ganz schnell, sonst …”, er drehte sich um und verschwand. Im Wohnzimmer schrie er weiter auf meine Mutter ein: “Was hast du bloß für nutzlose Mistkinder in die Welt gesetzt? Die sind zu nichts nutze und machen nur Schweinerei. Mit sieben Jahren noch ins Bett pinkeln, ich glaube es ja wohl nicht. Du Schlampe solltest die Gören mal richtig erziehen.” Er schrie und schrie und schrie.
Wir Jungs brachten das Bad in Ordnung, meine Mutter brachte frische Bettwäsche für mich, da rief mein Vater schon hinter ihr her: “Wehe du beziehst das Bett von der Pissnelke, das soll er selbst machen!” Da sah ich meine Mutter. Auch ihre Nase muss geblutet haben, verkrustetes Blut war über ihrer Oberlippe und sie lief ganz komisch, so als hätte sie Schmerzen im Rücken beim Laufen. Ich konnte es noch nicht deuten mit meinen sieben Jahren. Sie weinte. Wir wollten in ihren Arm und sie trösten, aber sie stieß uns weg. Auch wie immer. Wir kannten keine liebevolle Umarmung von unserer Mutter und von unserem Vater gleich gar nicht. Mein Bruder bezog mein Bett frisch, wir wollten versuchen, wenigstens noch etwas Schlaf zu bekommen. Morgen früh mussten wir in die Schule. Eine Horrornacht wie so viele in unserem Kinderleben.
Wie oft wir völlig übermüdet im Unterricht saßen, kann ich nicht mehr zählen. Auf jeden Fall war es mehrmals in der Woche. Nach den Prügelattacken mit dem Gürtel meines Vaters konnten wir oft nicht einmal richtig sitzen.
Wenn wir aus der Schule heimkamen, saßen meine Eltern vor dem Fernseher. Beide völlig ungepflegt. Sie gingen nicht arbeiten, aber sich zu pflegen, dazu hatten sie scheinbar keine Zeit. Meine Mutter war eine zierliche Frau und mein Vater war groß und kräftig mit dickem Bierbauch. Er lief nur in Jogginghose und speckigem Unterhemd durch die Wohnung. Sein ekelhafter Schweißgeruch durchzog jeden Raum, gepaart mit seiner Alkoholfahne war es einfach nur ekelhaft. Unrasiert, stinkend und versoffen – so würde ich ihn heute beschreiben.
Meine Mama lief ebenfalls nur in Jogginghose und dreckigem Schlabbershirt durch die Gegend. Meistens hatte sie ein geschwollenes Gesicht, blaue Flecken oder ein blaues Auge.
Einen Job suchten beide nicht mehr. Gewalt und Gleichgültigkeit zogen bei uns ein.
Den Haushalt erledigte meine Mama sehr schlecht. Meine Eltern waren den ganzen Tag zu Hause, aber geputzt haben sie nicht. Meine Mama wirkte nur noch niedergeschlagen und lustlos. Die Unordnung und der Dreck in unserer kleinen Wohnung schien sie überhaupt nicht zu interessieren. Die Küche stand vor Dreck. Das schmutzige Geschirr stapelte sich in der Spüle. Eine Spülmaschine besaßen wir nicht, aber meine Eltern gingen ja nicht arbeiten. Also hatten sie doch Zeit, die Wohnung in Ordnung zu halten. Leider taten sie das nicht, denn dafür waren wir Kinder da. Wenn es meinem Vater zu schmutzig wurde, schnauzte er uns an: “Ab in die Küche und den Saustall putzen!”. Wir widersprachen nie, davor hatten wir viel zu viel Angst. Wo war die Mama hin, die auf Sauberkeit und ordentliche Kleidung für uns Kinder Wert legte? Ihr war alles egal geworden.
Mein Bruder und ich bestanden nur aus Angst. Jan versuchte immer, mich zu beschützen. Er war mein Ein und Alles. Immer klappte es jedoch nicht. Ein falscher Blick, ein verkehrtes Wort oder falsches Sitzen am Tisch reichten meinem Vater schon, um seinen Gürtel aus der Hose zu ziehen und uns damit zu verprügeln. Die Angst war schon von klein auf ganz tief in mir eingebrannt. Zu seinen Strafen gehörten auch Essensentzug oder uns im Kinderzimmer einzusperren. Wir hatten dann nicht einmal die Gelegenheit, auf die Toilette zu gehen. Es machte ihm eine richtige Freude, wenn wir uns mit voller Blase oder vollem Darm quälen mussten. Mit einem Lächeln im Gesicht stellte er uns einen Eimer ins Zimmer: “Hier, aber nur im Notfall benutzen, ihr Stinktiere!” Was für eine Freude für den Herrn Vater. Wir versuchten natürlich, nicht auf diesen Eimer zu müssen, aber irgendwann hatte man keine andere Wahl mehr. Von Freitagabend bis Sonntagmittag eingesperrt zu sein, ließ uns keine andere Möglichkeit, als auf diesem Eimer unser Geschäft zu verrichten. Der Gestank war bestialisch.
Wir litten auch unglaublich an Hunger und Durst. Manchmal traute sich meine Mutter, uns wenigstens ein Glas Wasser zu bringen, aber das war eher selten. Entweder waren wir ihr völlig egal oder sie traute sich nicht. Ich kann es nicht sagen, aber fassungslos macht mich das heute noch. Eine Mutter lässt es zu, dass ihre Kinder hungern, dursten und nicht auf die Toilette dürfen, wenn es ihrem Mann gerade danach ist, seine Kinder zu quälen und zu demütigen.
Wenn er uns wieder rausließ, setzte es erst mal Schläge für uns beide, weil es so unglaublich gestunken hat in unserem Zimmer. Wir konnten doch aber gar nichts dafür, was hätten wir denn machen sollen? Wir waren zwei kleine Kinder.
Zum Glück ging das mit dem Eimer nicht sehr lange. Meine Mutter setzte es durch, dass wir wenigstens auf die Toilette durften. Mehr aber auch nicht. Wehe es dauerte zu lange, dann stand mein Vater schon in der Tür und schnauzte nur so herum: “Wie lange dauert es denn noch? Das machst du doch mit Absicht so lange.” Wie soll man denn auf Kommando sein Geschäft unter Druck schnell verrichten und auch noch voller Angst? Angst lähmte uns bei allen Gelegenheiten.
Ich pullerte immer noch jede Nacht ins Bett. Mein Vater schlug mir jeden Morgen meine nasse Schlafanzughose um die Ohren. Ich wollte doch gar nicht ins Bett pullern, es passierte einfach. Wenn ich aus Albträumen hochschreckte, war mein Bett schon nass. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Ich wollte ja nachts auf die Toilette gehen, aber die Angst vor meinem Vater war sehr groß. Doch manchmal gelang es mir, es war aber sehr selten. Wenn er mich nachts hörte, schrie er gleich los, ich soll mich ins Bett scheren. Ich wollte aber doch nur zur Toilette, um nicht in mein Bett zu pullern. Egal, wie ich es drehte und wendete, er brüllte sowieso wie ein Irrer herum. Hatte ich morgens ein nasses Laken unter mir, war mir schlecht vor Angst. Jan hatte es ein paar Mal geschafft, es geheim zu halten, indem er mir schnell einen frischen Schlafanzug gab und die nassen Sachen versteckte. So zog er ein paar Mal meinen Kopf aus der Schlinge, aber oft nicht.
“Du Dreckschwein pinkelst immer noch ins Bett? Dir werde ich helfen!”, schrie mich mein Vater wütend an. Speicheltröpfchen flogen in mein Gesicht, so nah war er mir und so laut brüllte er. Dann ging es von vorn los – Klatsch! Klatsch! Klatsch! Klatsch! So ging das, bis ich acht Jahre alt war. Trotz schlechter Träume wurde ich wach, wenn ich auf die Toilette musste. Ich hatte eine Riesenangst, in der Nacht ins Bad zu gehen, weil man nie wusste, wie mein Vater reagierte. Schläft er schon oder noch? Puh, dann Glück gehabt. Ansonsten wurde ich angeschrien oder bekam eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Alles nur, weil ein achtjähriges Kind auf die Toilette musste. Pullerte ich ins Bett, bekam ich Schläge. Ging ich in der Nacht auf die Toilette, wurde ich angebrüllt und geohrfeigt. Ich konnte es gar nicht richtig machen. Mein Bruder tröstete mich: “Paul, du pullerst nicht mehr ins Bett, egal was Papa macht. Sei stolz darauf!”
Hätte mich meine Mutter nicht auch trösten können? So sehr habe ich mir das gewünscht. Sie tat es nie. Mit ihren Söhnen kuscheln oder uns sagen, dass sie uns lieb hat, so etwas kannten wir nicht. Es war und blieb für immer ein Wunschtraum.
Mein Vater schlug nicht nur uns Kinder. Unsere Mutter bekam auch reichlich Schläge. Ohne Rücksicht auf uns schlug er sie vor unseren Augen windelweich. “Warum hast du nicht genug Bier geholt, du Schlampe?”, war zum Beispiel ein Grund, um ihn ausrasten zu lassen. Sie musste dann noch mal in den Supermarkt gehen, egal ob sie an der Lippe oder Nase blutete oder vor Schmerzen kaum laufen konnte. In der Zwischenzeit, bis sie wieder da war, tobte er sich an uns Kindern aus. Wir waren so klein und hilflos. Meistens kam dann meine Mutter mit dem Bier, er ging dann aber in die Kneipe. Die war nur ein paar Schritte von uns entfernt. Dort versoff er unser Geld, was wir für wichtige Sachen ausgeben sollten. Wir waren Kinder, wurden größer, brauchten neue Klamotten, Schulsachen usw. Meinem Vater reichte jedoch die Kleiderkammer. Wie sehr wir uns schämten, war ihm egal.
Jan und ich waren gute Schüler. Wir hatten uns ganz fest vorgenommen, immer fleißig zu lernen, egal, wie schwierig es zu Hause war. Niemals wollten wir als Erwachsene vom Jobcenter abhängig sein und der Alkohol sollte auch nie unser bester Freund werden. Wir wollten es später viel besser machen als unsere Eltern. Auch wenn wir mal Kinder haben sollten, dann würden wir diese niemals anbrüllen oder schlagen. Ganz fest haben wir uns das immer wieder gesagt, wenn unsere Not schlimm war. Wir trösteten uns manchmal damit, dass es irgendwann vorbei sein würde und wir ausziehen könnten aus dieser Hölle. Was anderes war unser Zuhause für uns nicht.
Jeder Tag und jede Nacht war von Angst geprägt.