Mary Griffith
Mary Griffith
Dieses Buch folgt im Wesentlichen den Regeln der neuen Rechtschreibung,
in einigen Fällen allerdings aus Gründen der Lesbarkeit auch denen des gesunden Menschenverstandes.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage
Copyright © tologo verlag, Leipzig 2012
Erstveröffentlichung 2010 (Anahita-Verlag)
Umschlaggestaltung: Julia Dibbern
Umschlagfoto: © Parker Deen, istockphoto
Amerikanischer Originaltitel: Viral Learning, © Mary Griffith 2007
aus dem Amerikanischen von Bianka Blavustyak
Alle Rechte vorbehalten.
www.tologo.de
ISBN 978-3-9813658-7-0 (Print)
ISBN 978-3-940596-57-4 (epub)
Die Einleitung zur 1997 erschienenen Ausgabe meines ersten Buches The Homeschooling Handbook1 begann mit dieser kleinen, erfundenen Unterhaltung:
Aussage: »Wir unterrichten unsere Kinder zu Hause.«
Antwort vor zehn Jahren: »Ihr macht was? Was ist das?«
Antwort heute: »Ach, echt? Ich kenne jemanden, der das macht. Aber ich könnte das nicht – das ist mir zu viel Arbeit!«
Mein Text ging damit weiter, wie sich das Homeschooling von einer ziemlich seltenen und ungewöhnlichen Methode zu einer der am schnellsten wachsenden Bildungsbewegungen im Land entwickelt hat.
Heute, weitere zehn Jahre später, wächst und verändert sich die Homeschooling-Bewegung immer noch, aber mit der Bewegung sind auch wir Homeschooler – die Eltern und Kinder und Großeltern und verschiedenen Bekannten und Freunde, aus denen diese Bewegung besteht – als Einzelne gewachsen und haben uns verändert. Der Prozess des Homeschooling und das Nachdenken darüber, wie Lernen funktioniert und wie wir es in unseren eigenen Familien am besten geschehen lassen, hat unsere Art des Denkens beeinflusst, die Art, wie wir Probleme angehen, die Art, wie wir unser Leben leben.
Darum geht es in diesem Buch. Nachdem sowohl The Unschooling Handbook2 als auch die überarbeitete Auflage von The Homeschooling Handbook erschienen waren, fragte mich mein Herausgeber, was ich sonst noch über Homeschooling schreiben wollen würde. Was sonst noch? Was gab es sonst noch, über das ich schreiben könnte? Ich konnte mir Bücher vorstellen über Homeschooler in den Universitäten oder über Kinder mit besonderem Förderbedarf, aber das waren Themen, in denen ich weder ausreichende Erfahrung besaß noch das Interesse hatte, sie zu schreiben. Vielleicht könnte ich an einer Serie von Büchern über Homeschooling in verschiedenen Altersgruppen arbeiten, schlug mein Verleger vor. Nein, dachte ich, meine ältere Tochter ist gerade mal knapp über zehn Jahre alt, ich habe definitiv nicht genug Erfahrung mit verschiedenen Altersstufen, um irgendetwas Intelligentes darüber sagen zu können, das ich nicht schon in meinen anderen Büchern gesagt hatte. Und ich wollte kein Buch schreiben, in dem nichts Neues stand – das Neu-Kombinieren und Zerlegen des gleichen alten Materials in einer netten neuen Verpackung hätte sich zu sehr wie Betrug angefühlt.
Es ist nicht so, dass ich mir bewusst vorgenommen hätte, eine »berühmte Homeschooling-Autorin« zu werden. Es war tatsächlich eher ein »Unfall«, dass ich überhaupt meine Bücher geschrieben habe. Ungefähr ein Jahr, nachdem wir mit dem Homeschooling begonnen hatten, fing ich an, in einer Homeschooling-Gruppe in meinem Bundesstaat zu arbeiten. (Ich hatte dem Herausgeber ihres Newsletters einen Brief geschickt und meine Hilfe angeboten und die Antwort war im Grunde: »Würdest du die neue Newsletter-Herausgeberin werden?«) Einige von uns im Vorstand der Gruppe phantasierten von Zeit zu Zeit darüber, eines Tages ein Buch über Homeschooling zu schreiben, aber keiner von uns verfolgte diese Idee ernsthaft.
Dann rief mich eines Tages eine Redakteurin von einem Verlag an, der ein Kursprogramm für Homeschooler veröffentlichen wollte. Sie wollte etwas über Homeschooler und ihren Bedarf wissen, also schickte ich ihr ein großes Paket voller Informationen, einschließlich unseres Newsletters, anderer Veröffentlichungen zum Homeschooling und einer Liste anderer Quellen und dachte nicht mehr daran. Aber ein paar Wochen später lud sie mich in die Büros der Herausgeber ein, wo ich einer kleinen Schar rund um einen großen Konferenztisch sitzender Redakteure vorgestellt wurde. Diese Redakteure stellten eine Menge Fragen über Homeschooling. Sie sagten, sie würden gerne ein Test-Paket zusammenstellen und baten mich wiederzukommen, wenn sie etwas Handfesteres hätten.
Also besuchte ich nach einigen Wochen den Verlag erneut. In einem etwas kleineren Konferenzzimmer zeigten sie mir ihren ersten Entwurf eines Englisch-Lehrplanes für Homeschooler.
Es war ein flacher, weißer Karton aus Wellpappe. (»Natürlich wird der Karton außen noch mit schönen farbigen Grafiken gestaltet werden!«) In dem Karton lagen ein (unbedrucktes) faltbares Spielbrett und eine kleinere Kiste, die geometrische Papp-Formen in verschiedenen Farben enthielt. (»Das wird ein Brettspiel, das für die einzelnen Wortarten verschiedene Formen und Farben nutzt.«) Außerdem gab es ein schönes großes Taschenbuch, das ich in die Hand nahm und durchblätterte, nur um festzustellen, dass die Innenseiten genauso unbedruckt waren wie sein Umschlag. (»Wir werden Texter einstellen, die den eigentlichen Inhalt erarbeiten.«)
»Wir denken«, sagte der Herausgeber, »an einen Preis von 50 Dollar. Denken Sie, das werden die Homeschooler kaufen?«
»Nein«, sagte ich.
Es brachte sie aus der Fassung, dass ich so sicher schien. Ich erklärte noch einmal die sprichwörtliche Preisgünstigkeit von Homeschooling (obwohl es eine komplizierte Sache ist, den meisten Nicht-Homeschoolern das verständlich zu machen: wir lernen außerordentlich preisgünstig, aber wir geben ebenfalls unglaubliche Summen für Dinge aus, die wir als lohnend empfinden). Es gäbe die vage Möglichkeit, fuhr ich fort, dass Homeschooler so viel für ein einziges Fachgebiet ausgeben würden, aber es würde etwas wirklich Spektakuläres sein müssen und die Inhalte müssten vorher sichtbar sein. Erst dann könnte ein Homeschooler entscheiden, dass es spektakulär genug wäre, um die 50 Dollar wert zu sein.
Das wäre erledigt, dachte ich.
Aber wiederum ein paar Wochen später rief mich eine andere Redakteurin des gleichen Verlags an. Sie sagte mir, sie hätten beschlossen, dass es tatsächlich keinen ausreichenden Markt für ein Curriculum gäbe. Aber sie dachten, es gäbe vielleicht einen Markt für den Verkauf eines Buches über Homeschooling. Ob ich Interesse hätte, einen Vorschlag für ein solches Buch einzureichen?
Da ich in den letzten Jahren immer mal wieder über ein solches Projekt nachgedacht hatte, dauerte es nicht lange, einen Entwurf, eine Marktanalyse und dies und das für einen Buchvorschlag zusammenzuschreiben. Etwa eine Woche, nachdem ich ihn abgeschickt hatte, rief mich der Herausgeber an und akzeptierte meinen Vorschlag für The Homeschooling Handbook, mit dem ich versuchen wollte, neue Homeschooler mit all den Informationen zu versorgen, die ich auch gerne gehabt hätte, als ich mit dem Homeschooling begann.
Als The Homeschooling Handbook veröffentlicht wurde, waren meine Töchter gerade 13 und 9. Sie hatten ihr gesamtes Leben lang zu Hause gelernt, aber wir kannten viele Familien, die weitaus länger zu Hause unterrichteten, die ihre Kinder inzwischen durch die Highschoolzeit und an Universitäten begleitet hatten und weiter in ihr Erwachsenenleben. Ich sah mich selber als jemanden, der ein kleines bisschen über Homeschooling gelernt und das Glück gehabt hatte, durch die Arbeit in der Homeschooling-Gruppe eine Ahnung davon bekommen zu haben, welche Dinge andere Homeschooling-Familien beschäftigten. Wir waren einfach eine Homeschooling-Familie, die wie alle anderen versuchte herauszufinden, was wir machen wollten – nur dass Mama plötzlich eine »berühmte Homeschooling-Autorin« war.
Im Jahr 1997 entdeckten die großen Verlage gerade langsam das Potential des Homeschooling-Marktes. Es gab Teach your own3 von John Holt, Warner Books hatte das von Micki und David Colfax zuvor selbstverlegte Homeschooling for Excellence4 herausgebracht und David Gutersons Family Matters5 war gerade als gebundene Ausgabe erschienen, eine absolute Neuheit für ein Homeschooling-Buch. Alle anderen Veröffentlichungen über Homeschooling waren entweder in Eigenverlagen oder von religiösen Verlagshäusern herausgegeben worden.
Weder ich noch meine Familie waren auf die Resonanz vorbereitet, die The Homeschooling Handbook erhielt. Ich hatte vorher schon auf Homeschooling-Treffen gesprochen und bei »Nicht zurück zur Schule«-Informationsabenden, aber da war ich einfach eine normale Homeschooling-Mutter gewesen, wie die Mütter in meinem Publikum, nur mit – vielleicht – ein wenig mehr Erfahrung. Aber jetzt, nachdem mein Buch gedruckt war und die Leute es bei Amazon bestellen oder im örtlichen Buchladen aus dem Regal nehmen konnten, dachten viele Menschen in meinem Publikum offensichtlich, dass das, was ich zu sagen hatte, glaubwürdiger und wichtiger sei als nur einen Monat zuvor, ehe ich eine Autorin mit Veröffentlichung geworden war.
Plötzlich stellten mir Eltern Fragen, von denen ich nicht wusste, wie ich sie beantworten sollte: Wie viele und welche Art Rechenaufgaben ihr Sechsjähriger täglich lösen solle? Um wie viel Uhr ihre Neunjährige ins Bett gehen solle? Wenn sie von ihren Kindern verlangen würden Tagebuch zu führen, welche Inhalte sollten sie ihre Kinder da auf jeden Fall hineinschreiben lassen? Wie könnten sie ihre Kinder davon abhalten, bei Freunden und Verwandten fernzusehen oder zuckerhaltige Produkte zu essen?
Meine Töchter hielten diese Fragen für urkomisch. Kate, damals 13 Jahre alt, war diejenige, die für meine öffentliche Rolle den Begriff »Berühmte Homeschool-Autorin« aufbrachte. Und sie schaffte es, den Titel mit all der ironischen, mitleidigen Verachtung zu versehen, die eine 13jährige für eine äußerst uncoole Mutter aufbringen konnte, der es so offensichtlich an den Fähigkeiten und Erfahrungen mangelte, die man von einem Erwachsenen erwartete. Ganz zu schweigen von jemandem, von dem erwartet wurde zu wissen, wovon er redet. Christie, etwa 4 Jahre jünger, war direkter: »Mama, warum fragen sie dich Dinge, die du nicht weißt?«
Es ist nicht so, dass ich vorgegeben hätte, all die Antworten auf diese Fragen zu wissen. Meine Antwort darauf war für gewöhnlich, Beispiele aus der Erfahrung in meiner eigenen Familie und von anderen befreundeten Homeschooling-Familien aufzuzeigen und zu erklären, dass der gesamte Prozess des Homeschooling eine Sache von Versuch und Irrtum ist, von Herausfinden, was für dich und deine Kinder dieses Jahr am besten funktioniert und davon, sich anpassen zu lernen, wenn deine eigenen und ihre Bedürfnisse sich ändern. Ich hielt dies immer für eine absolut vernünftige Antwort, aber viel öfter als erwartet wurde der Fragende ärgerlich und beschuldigte mich, ein Zaubermittel geheim zu halten, das den gesamten Homeschooling-Vorgang einfach, ja beinahe automatisch machen würde.
Als sich zeigte, dass The Homeschooling Handbook sich gleichbleibend gut verkaufte, stimmten die Herausgeber meinem Vorschlag für The Unschooling Handbook zu, ungeachtet ihrer offensichtlichen Nervosität über den Erfolg dieses neuen Buches. Als sich auch dieses Buch als erfolgreich herausstellte, wurde ich mit der Neubearbeitung von The Homeschooling Handbook beauftragt. Als diese erschien, hatte ich insgesamt für beinahe vier Jahre an Büchern über Homeschooling gearbeitet. Ich hatte genug vom Schreiben und Lesen und Denken über Homeschooling. Die Aussicht, ein neues Manuskript zu erarbeiten und der Gedanke an all das Wieder-Lesen und Optimieren und Wieder-Lesen und Bearbeiten und Wieder-Lesen und Lektorieren, das notwendig wäre, um es in Druck zu bringen, versetzte mich nicht gerade in Entzücken. Alles, was ich wollte, war von diesem hochgestochenen Teil des Homeschooling wegzukommen und zurückzukehren zu unserer ganz normalen, alltäglichen Homeschooling-Arbeit, Zeit mit meinen Mädchen zu verbringen, ein paar der zahllosen interessanten Dinge zu entdecken, die wir in unserer normalen, ruhigen, täglichen Routine finden konnten.
Also schrieb ich kein weiteres Buch über Homeschooling. Zu dieser Zeit hatten meine Verleger eine ganze Schar anderer Homeschooling-Autoren angestellt und es gab andere Verleger auf dem Markt, so dass es inzwischen viele Bücher über Homeschooling gab. Mit Erleichterung gab ich meine Rolle als »Berühmte Homeschooling-Autorin« auf (abgesehen von gelegentlichen Auftritten alle paar Jahre mal). Schritt für Schritt zog ich mich aus den überregionalen und regionalen Homeschooling-Gruppen zurück und übergab meine Pflichten an die nächste Welle von Homeschooling-Eltern, die sich engagieren wollte.
Ich schrieb kein weiteres Buch über Homeschooling – erstmal.
Unvermeidlicherweise wuchsen meine Mädchen heran und als meine jüngere Tochter damit begann, sich um einen Studienplatz zu kümmern, dachte ich darüber nach, was ich mit meinem Leben nach dem Homeschooling anstellen würde. Würde ich mich um eine Vollzeitstelle bewerben? Eine Teilzeitbeschäftigung anders als die, die ich bereits hatte? Sollte ich wieder schreiben und endlich zu all den Romanen über mörderische Geheimnisse kommen, die ich all die Jahre in meinem Kopf konstruiert hatte?
Allmählich merkte ich, dass ich wieder mehr und mehr über das Homeschooling nachdachte. Jetzt, wo das aktive Homeschooling für meine Familie zu Ende ging, ertappte ich mich dabei, wie ich über dessen Langzeitwirkung nachdachte: Wie unterscheide ich mich von der Person, die ich geworden wäre, wäre ich nicht Homeschooling-Mutter gewesen? Wie haben sich meine Interessen und Werte verändert, dadurch dass unsere Kinder zu Hause lernten? Wie verschieden sind meine Kinder von Gleichaltrigen? Waren wir wirklich so sonderbar wie wir dachten? Waren wir überhaupt sonderbar?
Was ist mit der Homeschooling-Bewegung heute? Sind neue Homeschooler wirklich so viel anders als ich es war, als wir mit dem Homeschooling anfingen? Weniger unabhängig und mehr nach Anleitung suchend? Gibt es jetzt tatsächlich mehr von den »Mach es wie ich oder du bist kein richtiger Homeschooler«-Homeschoolern? Oder werde ich einfach nur schrullig? Und was ist mit den wenigen »promovierten« Homeschool-Eltern (größtenteils Mütter, natürlich), die verloren wirken und nicht gewillt sind, ihren Homeschooling-Bekanntenkreis loszulassen, wenn ihre Kinder das Haus verlassen? Befinden sie sich einfach mitten im selben Veränderungsprozess wie ich oder waren sie tatsächlich so in das Leben ihrer Kinder eingebunden, dass sie wirklich kein eigenes Leben mehr hatten?
Zur selben Zeit schien alles, was ich las – Bücher, Artikel, Blogs – mit dem verbunden zu sein, was ich über das Lernen und die Gesellschaft dachte, sogar wenn es keinen direkten Bezug zu Bildung oder Homeschooling hatte. Selbst wenn ich dachte, ich dächte nicht über Homeschooling nach, dachte ich darüber nach. Plötzlich, nach all diesen Jahren, merkte ich, dass sich in meinem Kopf ein neues Buch über Homeschooling entwickelt hatte.
Dieses Buch ist allerdings anders als die anderen. Ich schickte ebenfalls einen meiner gefürchteten langen Fragebögen herum und sammelte Meinungen und Erfahrungen von Homeschoolern aus dem ganzen Land, so wie auch bei den anderen Büchern. Aber dieses Buch ist weder eine weitere Anleitung, wie man seine Kinder zu Hause unterrichtet, noch ist es dafür gedacht, Homeschooling-Eltern zu helfen, das »Leeres-Nest-Syndrom« zu überleben.
Dieses Buch ist persönlich. Es ist eine Reflexion, wie ich (zusammen mit einigen meiner Freunde) zum Homeschooling kam, wie es uns und unsere Sicht der Welt beeinflusste und wie diese Veränderungen für Veränderungen in unserem Umfeld sorgten.
Natürlich müssen wir, um herauszufinden, wie wir hierher kamen – und wo genau »hier« ist – dieses Buch mit einem Blick zurück auf die Anfänge unseres Homeschooling-Abenteuers beginnen.
1 Mary Griffith: The Homeschooling Handbook : From Preschool To High School, Parent’s Guide,
2 Mary Griffith: The Unschooling Handbook : How to Use the Whole World As Your Child’s Classroom
3 John Holt: Teach Your Own (dt. Titel: Bildung in Freiheit, Genius-Verlag)
4 David Colfax, Micki Colfax: Homeschooling for Excellence
5 David Guterson: Family Matters: Why Homeschooling Makes Sense