Wie alle Gefangenen spüre ich die Anwesenheit meines Geiselnehmers wie Tentakel, die mich die Treppe hinunter verfolgen, an deren Fuß ich kauere. Im Haus herrscht angespannnte Stille. Ich mache einen tiefen Atemzug, wie ein Taucher, bevor er sich in die Fluten stürzt, und werfe einen vorsichtigen Blick den Flur entlang: Die Luft ist rein. Raschelnde Blätter vor dem Fenster lassen mich aufschrecken. Meine Nerven kribbeln, während ich auf leisen Sohlen zur Tür schleiche. Ich stoße im Dunkeln gegen einen Gegenstand und schrecke hoch wie von der Tarantel gestochen, aber es ist nur eine Topfpflanze, die ich vergessen habe. Ich warte eine qualvolle Ewigkeit auf Anzeichen, dass man mich entdeckt hat. Ich taste mich weiter vor, und eine bange Vorahnung lähmt jeden zaghaften Schritt. Endlich kann ich die Umrisse der Haustür erkennen, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, wird immer stärker. Gänsehaut krabbelt mir über Nacken und Arme, Adrenalin hämmert in meinen Adern. Ich zwinge mich, gleichmäßig zu atmen, und bewege mich langsam, Zentimeter für Zentimeter, auf Zehenspitzen in Richtung Freiheit. Die Türklinke ist schon zum Greifen nahe, als eine widerspenstige Diele knarrt. Ich höre das Geräusch trappelnder Füße; Angst züngelt mit lauter kleinen Flammen an meinem ganzen Leib. Ertappt wirbele ich herum und schaue in das wütende Gesicht meines Kidnappers. Das Licht im Flur geht gleißend an.
»Was soll das denn werden? In diesem Aufzug gehst du mir nicht aus dem Haus. Los, ab auf dein Zimmer, zieh dir sofort was anderes an!«
Zutiefst gedemütigt blicke ich auf mein mit dem Wonderbra aufgemotztes, von einem ihrer paillettenbesetzen Tanktops spärlich umhülltes Dekolleté und auf die schwindelerregenden Stilettos, die ich aus ihrem Schrank entwendet habe. Das Top ist leider nicht lang genug, um die Tatsache zu kaschieren, dass ich den Reißverschluss von ihrem Jeans-Minirock nicht ganz zugekriegt habe.
»Ich weiß nicht, wie ich dir das am besten verklickern soll«, sagt sie, und in ihrer Stimme liegt stählerner Zorn, »aber deine Chancen, jetzt noch auf dem Catwalk Karriere zu machen, bewegen sich gegen null.« Dann fügt sie das Wort hinzu, das nur so trieft vor Verachtung: »Mutter.«
Ich sacke zusammen. »Erspar mir bitte den ätzenden Sarkasmus, Tally, sei so gut.«
»Ich meine, guck dich an! Du bist zweiundvierzig. Willst du nicht allmählich anfangen, dich deinem Alter entsprechend zu verhalten? Du machst dich wirklich lächerlich«, höhnt meine fünfzehnjährige Tochter und betrachtet mich mit einem bitterbösen, zitronensauren Blick. Ihr sonnengeküsstes, wallendes Haar weht wie bei einer Wikinger-Kriegerin. »Wenn du meinst, du könntest Daddy zurückgewinnen, indem du dich anziehst wie eine … indem du dich so anziehst«, hier macht sie eine angeekelte Schnute, und ihre Lippen kräuseln sich wie ein Katzenhintern, »dann machst du dir noch mehr vor, als ich dachte.«
»Aber ich kann doch immer noch kurze Röcke tragen, oder? Ich meine, meine Beine sind alles, was mir geblieben ist.«
»Es geht hier nicht um Beine. Es geht darum, dass der Rock nicht zu deinem Gesicht passt.«
Ich welke dahin wie Salat nach einem langen Tag in der Sonne. »Oh.«
»Du findest dich komisch, aber das Traurige ist, du bist es gar nicht. Wenn du netter zu Dad gewesen wärst, wäre er nie weggegangen.«
Ich habe etliche Artikel über die psychologischen Auswirkungen zerbrochener Ehen auf Teenager gelesen, und da hatte etwas ganz anderes gestanden. Von Rechts wegen müsste meine Tochter Natalia sich selbst die Schuld geben, nicht ihrer vor Schock wie gelähmten Mutter. Als sich mein Mann zwei Wochen zuvor aus dem Staub machte, hatte ich den Kindern erzählt, ihr Papa sei beruflich unterwegs. Aber mein permanentes Schluchzen – und all die Post-its auf meiner Stirn, die Passanten aufforderten, mir intravenös Alkohol zu verabreichen – hatte sie hellhörig gemacht. Tally war überzeugt, ich hätte ihren Vater mit meinem Genörgel vertrieben, mit meinen ewigen Fragen, wohin er gehe und mit wem er sich treffe. Obwohl feststeht, dass Jasper seine Chance, Dad des Jahres zu werden, so ziemlich verspielt hat, bringe ich zu meiner Verteidigung kaum etwas hervor, da ich ihn nicht schlechtmachen will, und stecke die Kinnhaken meiner Tochter stoisch weg. Na schön, die Doppelkinnhaken.
»Herrje, Tally, ich wünschte, ich wäre jung genug, um alles besser zu wissen.« Aber hinter meiner schnodderigen Art verbirgt sich nur Verletzung und Wut.
»O mein Gott. Ist das etwa mein Top?« Tally starrt mich mit schlitzäugiger Feindseligkeit an. »Wie kannst du es wagen, dir meine Sachen auszuleihen?«, zischt sie, weil sie ihre zehnjährige Schwester Ruby nicht wecken will, die oben im Bett liegt und schläft. »Ich hab dir schon hundertmal verboten, an meine Klamotten zu gehen. Das ist voll erbärmlich.«
Bevor Jasper mich verlassen hat, trug ich vorwiegend jene Sorte sackartiger Kleider, die man über eine kleine Insel stülpen kann. Meine Garderobe, meistens aus Katalogen geordert, bestand aus übergroßen Hemden, die die schwabbeligen Stellen bedeckten (ich beabsichtigte, eines Tages meinen Hintern verkleinern zu lassen), und aus bequemen Jeans, um die Beinstoppeln zu verhüllen. Aber jetzt erwischt mich meine heranwachsende Tochter schon zum dritten Mal in dieser Woche bei dem Versuch, mich in ihre Sachen zu quetschen, um mich dann auf den Weg in die Stadt zu machen, in der Absicht, meinen abspenstigen Gatten zurückzugewinnen.
»Ich meine, guck dich bloß an.« Tally hat eine stramme Haltung angenommen und einen Fuß ballerinamäßig abgespreizt. Sie schiebt die Hände genervt an ihren Schenkeln entlang, als wollte sie einen zerknitterten Tutu glatt streichen. »Du bist so was von daneben.«
Ich werfe einen Blick in den Spiegel über dem Tisch in der Eingangshalle. Was ich dort sehe, lässt sogar mein Passfoto schmeichelhaft erscheinen. Mein stumpfes blondes, in der Mitte gescheiteltes Haar umrahmt mein Gesicht von beiden Seiten wie ein Paar Klammern und macht mich zu einer belanglosen Nebensache. Die ehemals hübschen blassblauen Augen sind rosa und rot gerändert wie die eines Versuchskaninchens. Aschgraue Ringe unter den Augen verleihen mir das Aussehen einer neurotischen Beutelratte. Ein zu hastig aufgetragener Lippenstift hat sich in die Sorgenfalten um meinen Mund gegraben und auf meinem Eckzahn einen traurigen Fleck hinterlassen. Der Spiegel lügt nicht – aber man kann ihn wenigstens zerschlagen, sobald die Kinder am nächsten Morgen in der Schule sind. Ich beschließe, genau das zu tun, bevor ich wieder den Blick senke.
Meine Tochter seufzt. »Ich weiß echt nicht, was ich mit dir machen soll.« Ihre Stimme klingt resolut und erwachsen, als sie angewidert auf dem Absatz ihrer Ugg-Boots kehrtmacht.
Zerknirscht tappe ich hinter Tally her in die Küche. Wir wohnen in einem Vorort am Strand von Süd-Sidney, zur Miete in einem Haus zur Surferseite hin. Die Brady-Familie lässt grüßen: Frühstückstresen, fröhliche Kacheln und eine Känguru-Uhr, deren kreisender Stundenzeiger-Schwanz jetzt auf neun steht. Seitdem sich ihr Vater ohne Vorankündigung verkrümelt hat, hat sich meine älteste Tochter angewöhnt, zu jeder Tages- und Nachtzeit zwanghaft Kuchen zu backen. An einem Morgen im Mai, beim Frühstück im grünen Londoner Stadtteil Hampstead, hatte Jasper verkündet, er habe ein Jobangebot des australischen Fußballverbands erhalten, das Trainingsprogramm der dortigen internationalen Mannschaften und das der Jugendteams zu koordinieren. Er würde für ein Jahr ans andere Ende der Welt ziehen, während ich mit den Kindern in England bleiben sollte. Aber ich hatte darauf bestanden, dass wir unser Haus vermieten und ihn begleiten. Für die Mädchen wäre die Erfahrung eine Bereicherung; außerdem würden wir Teil eines Trends sein. Ich sagte ihm, dass fast zweihunderttausend britische Bürger allein im letzten Jahr die Koffer gepackt und sich nach Australien verabschiedet hatten, so viel wie noch nie seit der stark subventionierten Massenauswanderung nach Down Under in den Sechzigerjahren. Jasper hatte versucht, mir das Ganze auszureden. Aber unsere Ehe drohte zu kippen wie alte Milch – und ich wollte verhindern, dass sie ihr Verfallsdatum erreichte.
Also hatten wir im Juli, zum Ende des englischen Schuljahrs, unsere Zelte abgebrochen. Unsere Älteste, Tally, verabscheute ihre vornehme Privatschule in Nordlondon ohnehin und freute sich auf den Wechsel. Die kleine Ruby war eine begeisterte Tierfreundin, darum mietete Jasper ein Haus an einem der Strände von Sidney, in der Nähe eines Nationalparks mitsamt Kakadus, Wallabys und Waranen. (Ich mag Tiere übrigens auch. Auf dem Teller, an Couscous und Karotten.) Das Aufregende für die Kinder war, dass ihre neue Schule von Mädchen und Jungen besucht wurde und Surfkurse Teil des Lehrplans waren. Es klang alles ungemein idyllisch – selbst wenn unsere Ehe es nicht war. Wir flogen von Heathrow mit vierzig Kilo Übergepäck los. Und das war lediglich der seelische Ballast.
Einen Monat, nachdem unser australisches Abenteuer begonnen hatte, verließ Jasper uns so rasant, dass man nur noch den Knall hörte, als er die Schallmauer durchbrach. Er zog in ein Hotel mit Blick auf die Harbour Bridge, um sich »zu finden«, wie er sagte. Dabei waren wir diejenigen, die verloren waren. Gäbe es doch bloß ein psychologisches Navigationssystem: »Sie sind falsch abgebogen. Moralische Sackgasse. Fahren Sie zurück zu Ihrer Frau.«
»Du hättest nicht so kritisch sein dürfen.« Tally holt mich schroff in die Gegenwart zurück. »Und wieso hast du nicht Diät gemacht? Ich meine, du hattest doch Größe 36, als du Dad geheiratet hast, ich hab die Fotos gesehen. Und jetzt bist du, was, Größe 40? Ich weiß nicht, wie viele nützliche Artikel und Anzeigen ich dir ausgeschnitten habe, damit du endlich aufhörst, dich vollzustopfen.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche mich zu ermahnen, dass ein Kind ein Geschenk fürs Leben, nicht nur zu Weihnachten, ist. Das geht am besten, indem man den Kühlschrank öffnet und sich ein ordentliches Glas Wein einschenkt. »Du hast dich gehen lassen, Mutter.«
Ihre Worte treffen ins Schwarze. Ich zucke unter dem Schlag zusammen. Wieso sollte Jasper mir an die Wäsche wollen, wenn nicht mal ich da reinpasse? Ich hatte eine halbe Stunde gebraucht, um mich in den weitesten Rock meiner Tochter zu zwängen – trotzdem klafft der Reißverschluss an meiner moppeligen Mitte noch zur Hälfte auf. Kein Wunder, dass unser Sexleben des letzten halben Jahres dem Versuch gleichkam, eine gekochte Spaghetti in das Öhr einer Nähnadel zu fädeln. Zweifellos fürchtete er, sich beim Besteigen dieses Berges den Hintern an der Deckenlampe zu verbrennen.
»Du hast recht, Tally. Wenn ich meinen Körper der Wissenschaft hinterließe, würde die Wissenschaft versuchen, das Testament anzufechten.« Sogar ich kann hören, wie gezwungen meine Scherze klingen. »Ich bin so auseinandergegangen, dass mich Männer in Lapdance-Klubs wahrscheinlich dafür bezahlen würden, dass ich meine Kleider wieder anziehe.«
Ich warte auf Widerspruch, auf etwas Tröstliches; stattdessen sticht ihr Schweigen wie lauter kleine Messer. Als Jasper mich verließ, schrie ich ihn an: »Du hast mich in ein fremdes Land verfrachtet, um mich dann ohne Freunde und Verwandte hier sitzenzulassen. Wie kannst du nur? Ich weiß nicht mal, wie man von hier aus in die Stadt kommt.«
Seine Antwort rumort mir immer noch im Kopf herum. »Dann hinterlass doch einfach eine Krümelspur, damit du wieder zurückfindest. Kuchenkrümel, würde ich sagen. Ist dir eigentlich aufgefallen, wie stark du zugenommen hast, Lucy?«
»Hey, wenn man deprimiert ist, sollte man auf keinen Fall eine Mahlzeit auslassen … und wenn’s nur drei oder vier Gänge die Stunde sind«, hatte ich betont salopp entgegnet. Aber sein Vorwurf stimmte ja. Seitdem unsere Ehe schal zu werden begann, hatte ich ununterbrochen gegessen. Meine einzige Anforderung an das Abendbrot war, dass es viel davon gab. Ich erwog, Bremsschwellen in der Küche einzubauen, um meinen Sprint zum Kühlschrank etwas zu verlangsamen. Es war nicht meine Schuld. Wie jede Frau weiß, stopft Schwarzwälder Kirschtorte die Lücke, die die Liebe hinterlassen hat.
»Und warum machst du nichts dagegen?«, will Tally gnadenlos wissen. Sie schleckt rohe Keksmasse von einem Holzlöffel ab, eine kindliche Geste, die nicht zu ihrer strengen Haltung passt.
Ich verspüre einen dumpfen, pochenden Schmerz an der Schläfe. Meine Tochter bereitet mir Migräne. Kein Wunder, dass auf der Panadol-Flasche steht: »Warnung. Von Kindern fernhalten.« Ich streife Tallys Stöckelschuhe ab und kippe noch mehr Wein herunter.
»Und außerdem trinkst du zu viel.« Tally entwindet mir die Flasche. Zum ersten Mal wird mir klar, dass meine Tochter größer ist als ich, mindestens zwei Zentimeter. Wann ist das denn passiert? Mein geliebtes Schätzchen, so leicht und geschmeidig und doch vor Sorge ganz niedergedrückt. »Jeden Abend, seit Dad fort ist, gibst du dir die Kante. Wie oft hab ich dich schon morgens im Wohnzimmer gefunden, voll im Koma?«
»Hey, lauf mal’ne Meile in meinen Stilettos, dann weißt du, warum ich hin und wieder die Füße hochlegen muss. Na schön, in deinen Stilettos.« Ich bemühe mich um einen heiteren Tonfall, aber in Wirklichkeit komme ich mir vor wie ein Jammerlappen.
»Und ich fass es nicht, dass du wieder mit dem Rauchen angefangen hast. Du bist so was von schwach.«
»Ich rauch doch gar nicht …«
»Ich hab die Schachtel in deiner Tasche gefunden. Für wie blöd hältst du mich? Hast du im Ernst geglaubt, du kommst damit durch?«
»Ich kann beim Rauchen besser denken. Und meistens denke ich, dass ich eine rauchen muss«, witzele ich lahm.
Tally verdreht die Augen und weigert sich, irgendetwas komisch zu finden. Wütend schiebt sie das Backblech mit dem Keksteig in die Röhre.
»Manchmal denke ich allerdings auch, dass ich einen Drink brauche«, füge ich hinzu und schnappe mir die Flasche von der Küchenspüle, wo sie sie abgestellt hat.
»Und ich denke, dass ich offenbar adoptiert wurde. Zumindest bete ich, dass es so war.«
Nostalgische Gefühle überkommen mich plötzlich. Ich denke an die Zeit zurück, als meine Tochter mich noch vergötterte. Die stürmischen Umarmungen, die heißen Küsse, ihr warmes Gesicht an meinen Hals gepresst, die kleinen Finger, die sich fest um die meinen kringelten, während ich ihr in der einbrechenden Dunkelheit Schlaflieder sang. Ich spüre immer noch die Ärmchen, die sich um meinen Hals schlingen, sehe ihre Träume über flackernde Lider huschen, weiß noch, wie ihre Haut nach Sonne und Vanille roch. Die selbstgebastelten Geschenke zum Muttertag, am Samstag die Tasse mit lauwarmem Tee und dem kalten Toast am Bett … Heute hat sie nur noch Verachtung, Geringschätzung und Sarkasmus im Angebot. Aber wie soll sie mich auch respektieren, wenn sie mich ständig bei dem Versuch erwischt, vor meinem entflohenen Mann am Boden zu kriechen, in Klamotten, die mir um vier Nummern zu klein und die für eine Frau gemacht sind, die halb so alt ist wie ich?
»Die Wahrheit ist«, sage ich und rücke etwas näher an sie heran, »dass dein Vater uns ans andere Ende der Welt verfrachtet und dann einfach die Flocke gemacht hat. Ich besitze hier nicht mal ein Bankkonto. Ich muss ihn sprechen, weil wir praktische Dinge zu regeln haben, wie zum Beispiel die Einzelheiten unseres Hungertods. Wenn er mir nicht irgendwann ein bisschen Haushaltsgeld gibt, wird Ruby anfangen müssen, deine abgelegten Klamotten zu tragen – und zwar, während du sie noch anhast.«
Sie weigert sich weiterhin, irgendetwas lustig zu finden. Tally hat sich einen Blick von distanzierter Überheblichkeit zugelegt, der besagt, dass sie für so profane Gefühlsäußerungen wie Humor viel zu cool und abgeklärt ist. Und genau mit diesem Blick schaut sie mich jetzt an.
»Hast du kein eigenes Geld?«, fragt sie vorwurfsvoll. »Ich würde meine Karriere nie für einen Typen aufgeben, echt. Keine vernünftige Frau mit einem bisschen Verstand macht so was.«
Wieder so ein Hieb in die Magengrube. »Süße, ich hatte mal Verstand. Jetzt hab ich nur noch Nachwuchs. Aber was immer dein Vater da gerade durchmacht mit dieser Midlife-Crisis, irgendwann wird er drüber weg sein und wieder zur Besinnung kommen. Aber bis dahin darf er uns nicht verarmen lassen.«
»Kein Mensch sagt heute noch ›arm‹. Man sagt ›sozial benachteiligt‹ oder ›unterprivilegiert‹«, belehrt sie mich irritiert.
»Na toll.« Ich setze wieder das Glas an. »Wir sind zwar immer noch arm, haben aber unseren Wortschatz enorm bereichert. Das ist eine große Hilfe.«
Ich spüre, wie eine Ekelwelle über mich schwappt, und suche Halt auf dem nächsten Stuhl. Es ist die Angst. Jasper und ich haben – hatten – eine sehr traditionelle Arbeitsteilung. Vor zehn Jahren, als Ruby geboren wurde, gab ich meine Stelle als Physiotherapeutin auf; seitdem widme ich mich dem Kochen, Saubermachen und Kindererziehen. Mein Mann war schon immer der Kontoausgleicher und Rauchalarm-Batteriewechsler gewesen. Er war derjenige, der dafür sorgte, dass Gebäudeversicherung und Krankenkassenbeiträge regelmäßig bezahlt und die Heizkörper entlüftet wurden. Er war immer zur Stelle, wenn irgendwas leckte, qualmte oder überkochte. Er wusste, wo der Sicherungskasten war und was er tun musste, wenn er davorstand. Wie sollte ich ohne ihn leben? Wie sollte ich mit Autoinspektionen, Möbelrücken und Inbusschlüsseln klarkommen? Wer würde die Marmeladengläser öffnen? Wer würde die Urlaubsfotos machen und nie darauf zu sehen sein? Wer würde mannhaft mit einer Taschenlampe in gruselige Ecken leuchten oder um drei Uhr früh zur Nachtapotheke fahren?
Ich starre das alphabetisch geordnete Gewürzregal an, von schwarzen Gedanken gepeinigt. Wie soll ich das alles schaffen, mit einem Jasper weniger? Jedes technische Gerät heißt bei mir »Dingsbums«. Die einzige Do-it-yourself-Methode, die ich beherrsche, besteht in der fortgeschrittenen Technik, auf jeden Elektrogegenstand so lange kräftig einzutreten, bis er wieder funktioniert. Gott sei Dank haben Weinflaschen inzwischen Schraubverschlüsse, denn selbst ein Korkenzieher würde mich wahrscheinlich überfordern.
Kalte Panik schnürt mir die Gedärme zusammen. Nicht nur weiß ich nicht, wie ich ohne Jasper leben soll, ich will es auch gar nicht. Ich habe ihn geliebt, seit wir Anfang zwanzig waren, nackt an einem Strand in Griechenland lagen und ich die Konstellation der Sommersprossen auf seinen breiten Schulterblättern nachzog. Ich kannte sie alle auswendig. Kenne sie noch. Selbst während des letzten Jahres, als er herzlos und gleichgültig war und mir nur Aufmerksamkeit schenkte, wenn er mich herunterputzte. Selbst, als ich den Knutschfleck auf seinem Hintern entdeckte, den er als Tennisverletzung abtat und von dem ich hoffte, es sei die Beulenpest. Meine beste Freundin Renée riet mir damals, ihn rauszuschmeißen. »Wieso erlaubst du ihm, derart dein Vertrauen anzufressen?« Sie forderte mich auf, endlich der »Das Glas ist halb voll«-Typ zu werden. Sie ermunterte mich, seinen Verrat als Katalysator für ein neues, selbstbestimmtes Leben zu verstehen. Ich könne meine Persönlichkeit aufpolieren und meine Träume neu tapezieren. Es klang nicht viel schwieriger als einer ihrer Inneneinrichtungsjobs. Ich hatte Renée kennengelernt, als sie mich mitten in einer Albtraum-Renovierung rettete. Unser Bett stand im Flur, der Geschirrspüler im Bad, der Kühlschrank im Garten … und die Handwerker machten Urlaub auf Ibiza. Renée kennt sich mit eingebauten Duschköpfen, Spartasten für Klospülungen und der schwanenhalsigen Vielfalt von Wasserhähnen aus – was für mich alles Sanskrit ist.
Obwohl mich Renée mit weitaus mehr als nur Küchenfliesen, Kacheln und Kontaktkleber unterstützt – mir von einer kinderlosen Frau Ratschläge zum Thema Ehe anzuhören, kam mir ein bisschen vor, als würde ein Ayatollah Stepptanzunterricht geben. Renée drängte mich zwar ständig, einen Scheidungsanwalt aufzusuchen, aber ich hörte einfach nicht auf, meinen Mann zu lieben. »Jasper und ich sind miteinander verwachsen, Renée. Wir sind schon so lange verheiratet, dass unsere Hochzeitsurkunde in Hieroglyphen verfasst wurde«, protestierte ich.
Was ich aber meinte, war, dass Jasper der erste Mann war, den ich wirklich geliebt hatte. Der erste Mann, der meinen G-Punkt ohne Landkarte, Kompass und eine Liste essbarer Beeren gefunden hatte. Ein Leben auf dem Fußballfeld lässt ihn sonnengebräunt und durchtrainiert aussehen; das hübsche, gemeißelte Gesicht, die tief liegenden, leicht mandelförmigen Augen in einem dunklen Honigbraun und das kurze dichte Haar wären in einer Rasierwasserwerbung nicht fehl am Platz. Er war da, als unsere Babys geboren wurden. Er war da, als sie ihre ersten Schritte machten. Wir waren einfach miteinander verwoben: verknüpft in Häuslichkeit, in die täglichen kleinen Aufmerksamkeiten, ausgeleierten Witze und angeheirateten Verwandten … Okay, er ist nicht perfekt. Er bewegt sich nicht wie ein Puma, hält den weiblichen Körper nicht für ein heiliges klassisches Musikinstrument und wäscht auch nicht nackt ab, nachdem er ein ausgefallenes Gourmetdiner gezaubert hat. Aber man kann bei ihm so viele andere romantische Kästchen abhaken – intelligent, fähig, athletisch, gut aussehend. Und vor allem: meiner.
Während ich noch mehr Riesling schlürfe, beschließe ich, dass ich ihn sehen muss, ganz gleich, was Tally sagt. Ich bin die Erwachsene hier, fällt mir plötzlich ein. Warum sollte ich auf einen Teenager hören? Was weiß eine Fünfzehnjährige schon über die Vielschichtigkeit der Liebe? Kindermund tut Cornflakes kund, mehr nicht.
»Tally, falls du je die Absicht hast, dich zu binden, sieh zu, dass du keinen Doppelknoten machst, ja?«
Tally konfisziert ein weiteres Mal die Weinflasche. »Findest du nicht, dass du genug hattest, Mutter?«
»Von der Nüchternheit? Absolut.«
Ich krame in meiner Handtasche nach den Zigaretten, die ich nicht rauchen darf.
»Was suchst du da?«, fragt sie barsch.
Ein Hintertürchen in deiner Geburtsurkunde, möchte ich sagen, als mir klar wird, dass sie die Kippen versteckt hat. Stattdessen antworte ich: »Die Autoschlüssel. Pass bitte auf Ruby auf, ja? Sobald ich deinem Vater erklärt habe, was für ein Chaos er angerichtet hat und wie sehr wir ihn brauchen, wird er zu uns zurückkommen.«
Tally verstellt mir den Weg. »Sag mal, hast du eigentlich überhaupt kein Selbstwertgefühl?«
Selbstwertgefühl?, grüble ich stumm. Ich weiß nicht, ob man meinen Zustand als chronischen Minderwertigkeitskomplex diagnostizieren würde, aber ich habe definitiv eine überhöhte Vorstellung von meiner eigenen Nichtigkeit.
»Ich dachte, das Gute am Erwachsensein ist, dass man bis dahin irgendwie klug genug ist, keine Dummheiten zu machen«, sagt sie vorwurfsvoll und versucht, mir die Autoschlüssel wegzuschnappen.
»Ich dachte, das Gute an Kindern wäre, dass sie ihre Eltern so stark auf Trab halten, dass die keine Zeit haben, sich zu trennen«, pariere ich und versuche, ihr die Schlüssel aus der schwitzigen kleinen Hand zu entwinden.
Tally verdreht voller Verachtung die Augen. Unser Kampf ist drauf und dran zu eskalieren, als Ruby plötzlich in der Tür steht. »Ich hab ins Bett gemacht«, stammelt sie. Verzweifelt schaut meine Zehnjährige zu mir auf. Der Anblick ihres tränenüberströmten Gesichtchens zerreißt mir das Herz. Nach einer Woche heulenden Elends sind ihre großen blauen Augen zu Halbmonden geschrumpft. Einen Augenblick fühle ich mich vor Liebe wie gelähmt, dann nehme ich sie in die Arme.
»Das ist nicht schlimm, mein Schatz. Keine große Sache, Liebling.«
»Ist Daddy wieder nach Hause gekommen?«
Vor einer Frage wie dieser sollte man sich so vorsichtig davonstehlen wie vor einem dösenden Krokodil. Also tat ich es … zumindest in der ersten Woche nach Jaspers Verschwinden. Aber als ich ihr irgendwann zu erklären versuchte, Daddy sei sehr müde und erschöpft und brauche ein bisschen Zeit für sich allein, fing Ruby an zu weinen und hat seitdem nicht mehr aufgehört. »Hat Daddy mich nicht mehr lieb? Weil mir der Hamster weggelaufen ist?« Nicht allein, dass sie sich jeden Abend in den Schlaf weint, sie macht jetzt auch ins Bett. Dass Jasper uns verlassen hat, war eine Katastrophe in der Größenordnung eines emotionalen Tsunamis. Meine Töchter reagierten unterschiedlich. Während Tally dichtmachte, die Augen zu Schlitzen zusammenkniff, den Mund versiegelte wie einen Reißverschluss und ihre Gefühle mit dem Druckverband abschnürte, ging bei Ruby eine regelrechte Kernschmelze los. Aber wie auch immer, die tektonischen Platten ihrer Kinderwelt hatten sich verschoben und einen verdammt riesigen Spalt aus Ungewissheit und Angst aufgerissen. Ich verspüre eine jähe Anwandlung von heftiger Liebe für beide Mädchen, einen atemlosen Schmerz. Wie konnte ich zulassen, dass meiner Familie so etwas zustößt? Tally hat recht. Es ist meine Schuld. Ich japse nach Luft und versuche dabei, den qualvollen Schluchzer zu unterdrücken, der mir im Hals steckt.
»Warum rufst du nicht einfach Großmutter an?«, fordert Tally.
Eine grauenhafte Vorstellung. Die eiskalte Verurteilung meiner Mutter in Twinset und Perlenkette in ihrem denkmalgeschützten Wimbledon-Reihenhaus, gepaart mit den hagelkorngroßen »Habichsdirnichtgleichgesagt«s, die sie mir an den Kopf schleudern würde. Nein danke. Meine Mutter war schon immer der Meinung, Jasper sei ein Schaumschläger. Und mein Dad? Nun, der verfügt über jede Menge faszinierendes und nützliches Wissen, zum Beispiel den richtigen Reifendruck für Überlandfahrten mit dem Lastwagen durch Alaska und wie man einen kaputten Keilriemen durch einen Nylonstrumpf ersetzt, aber nicht, wie man ein gebrochenes Herz repariert. Ich scheue die öffentliche Demütigung wie einen Gemeinschaftsspiegel in einer Bikini-Umkleidekabine. Ich kann nicht einmal Renée anrufen, weil sie gerade Tauchurlaub in einem abgelegenen Teil von Madagaskar macht. »Wir wollen Großmutter nicht unnötig beunruhigen, weil ich die Dinge mit eurem Dad wieder ins Lot bringen werde. Wir müssen hier erst mal nur die Stellung halten«, sage ich und wiege Ruby sanft in den Armen. »Ich will auch nicht, dass alle in England Daddy anrufen und eine Erklärung von ihm verlangen. Er ist offensichtlich in einem zerbrechlichen Zustand. Wir müssen einfach ein Weilchen durchhalten, Leute. Ganz normal weitermachen.«
»Normal!« Tally fährt mich wütend an und schüttelt heftig den Kopf, während sie mich verächtlich von oben bis unten mustert. »Ha, na klar, du und normal.«
»Wieso können wir nicht einfach normal sein, Mama?«, fragt Ruby schläfrig. Sie sehnen sich beide nach der pflichtbewussten Häuslichkeit und ehelichen Langlebigkeit der Generation meiner Mutter, Eigenschaften, die ich mehr und mehr mit nostalgischer Ehrfucht betrachte, so wie den Heldenmut der Spartaner oder den Erfindungsreichtum der alten Griechen.
»Und ich möchte auch nicht, dass ihr Mädchen irgendwem zu Hause darüber eine E-Mail schreibt, klar? Nicht nach all den Abschiedspartys und -geschenken. Das wäre einfach zu peinlich. Außerdem ist es nur eine kleine Phase, die wieder vorübergeht.« Ich versuche zu lächeln, aber mir tut der Mund davon weh.
Tally öffnet die Herdklappe und nimmt das Backblech mit den Keksen heraus. Der Geruch ist heimelig und warm – wie sonst nichts in diesem modernen Ziegelsteinklotz, den wir gemietet haben. Sie knallt das Blech auf die schiefergraue Arbeitsplatte. »Eine normale Mutter wüsste, was zu tun ist. Eine normale Mutter hätte ihren Mann nicht auf den Mond geschossen.«
»Hey, wenn man in Cronulla wohnt, ist der Mond eindeutig eine Verbesserung«, kontere ich. Nachdem Jasper uns nun verlassen hat, bin ich etwas argwöhnisch geworden, warum er ausgerechnet ein Haus mit der größtmöglichen Erntfernung von der Stadt mieten musste. Cronulla ist die Endstation der Bahnlinie. Da ich andererseits inzwischen stark selbstmordgefährdet bin, wird zumindest das Hinübergleiten in den Tod von Cronulla aus ziemlich mühelos vonstatten gehen.
»Da mir deine Schwester Stubenarrest erteilt hat und ich heute nicht in die Stadt fahren darf«, sage ich und reiße mich für Ruby wieder zusammen, »was haltet ihr von warmen Keksen und heißer Schokolade? Willst du mir auch das Taschengeld kürzen, Tally? Ah!« Entzückt entdecke ich hinten in der Speisekammer eine versteckte Zigarettenpackung und zünde mir verzweifelt-genüsslich eine an.
»Ich fass es nicht, dass du das komisch findest. Wie kannst du nur über alles deine Witze machen? Hey, Dad hat uns verlassen. Wie kann man in so einem Moment darüber scherzen?«
»Wie kann man nicht?«, erwidere ich betrübt.
»Es ist alles deine Schuld. Ich hasse dich!«, faucht Tally mich an. »Ich wünschte, du würdest einfach sterben!«
Ich nehme noch einen Schluck Wein, ziehe an einer der Zigaretten, die zu rauchen ich mir vor zehn Jahren abgewöhnt hatte, und antworte: »Ich tu ja schon mein Bestes, Darling.«
2. Vorsicht, Haie
Eine Tochter im Teenageralter im Haus zu haben ist wie ein Leben unter den Taliban. Als Mutter darf man weder tanzen, singen, flirten, laut lachen noch kurze Röcke tragen. Und schon gar nicht Ehemännern auflauern, die sich vor Kurzem verdrückt haben – was erklärt, warum ich nachts um eins aus meinem Schlafzimmerfenster klettern musste.
Die Fahrt in die Stadt, am Rand der Botany Bay entlang und vorbei am glitzernden Rollfeld des Internationalen Flughafens, dauerte um diese Zeit nur eine halbe Stunde. Mir Zutritt zu seinem Hotelzimmer zu verschaffen war sogar noch leichter. Schließlich war ich seine Frau. Wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal mit Schlittschuhen auf dem Eis steht, stakste ich auf meinen steilen Stilettos durch die Lobby und erklärte dem Mann an der Rezeption, ich hätte eine Kneipentour mit meinen Freundinnen unternommen und mich sehr, sehr verspätet (hier angesäuseltes Kichern), und es wäre sicherlich sinnvoll, meine bessere Hälfte nicht zu wecken. Der Empfangschef gluckste konspirativ, überprüfte meinen Familiennamen auf einer meiner Kreditkarten und händigte mir einen Zweitschlüssel aus.
Meine zurechtgelegte Rede, wie sehr ich ihn liebte und wie sehr seine Familie ihn brauchte, blieb mir im Hals stecken, als ich das Licht in Zimmer Nr. 156 anknipste und im Bett zwei Gestalten vorfand. Ich hoffte verzweifelt, mich im Zimmer geirrt zu haben. Mir war so elend, dass ich nur krächzen konnte.
»Jasper?«
Sein schlaftrunkener Kopf tauchte unter der Bettdecke auf. Geblendet vom Licht, zuckte er zusammen. Aber es war der zweite Kopf, dem meine Aufmerksamkeit galt. Das Lächeln, das mir die Frau schenkte, war durchschaubarer als Fensterglas. »Oh. Hallo«, sagte sie.
Ich schlang die Arme um mich, als könnte ich so meine tiefe Verletztheit in mir einsperren. Das Zimmer schwankte wie ein Boot in einer Sturmbö. Ich brauchte dringend einen Rettungsanker – als würde das Ganze einen nicht schon genug runterziehen, wie meine beste Freundin Renée gewitzelt hätte. Nur, dass Renée gerade neben meinem Mann im Bett lag.
»Renée?« Ich schüttelte den Kopf wie unter einer Bienenschwarm-Attacke. Alles tat mir weh, als ob meine Nerven freigelegt und schutzlos der Luft ausgesetzt wären. Ich begann erst lautlos zu weinen, dann brach das unterdrückte Schluchzen haltlos aus mir heraus.
Jasper sprang auf und kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Scheiße. Scheiße. Scheiße. Es tut mir leid, Lucy. Wir wussten einfach nicht, wie wir es dir am besten sagen sollten.«
»Ja«, fügte Renée hinzu, »wir sind beide vollkommen am Boden zerstört.« Aber es lag kein Bedauern in ihrem Ton, und ihr Blick war hart wie ein Laserstrahl.
Es war, als hätte jemand im Raum eine Granate entsichert. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. Mein Mann kam mit beschwichtigenden Handbewegungen auf mich zu, aber ich wich ihm aus, weil mich bittere Erinnerungen überfielen: Renée, die mich über meine Ehe aushorchte. Renée, die mich tröstete, eine Ausstiegsstrategie für mich austüftelte. Renée, die mich aufforderte, endlich eine Frau zu werden, für die »das Glas halb voll, nicht halb leer« war – eine Frau, die sich ein neues Leben ohne Jasper aufbaute. Ganz offensichtlich hatte Renée ihr Aufrichtigkeits-Diplom an der Mata-Hari-Uni erhalten.
»Wie … wie lange geht das schon?«, flüsterte ich verzagt.
Jaspers Miene war ungefähr so aufschlussreich wie eine kaputte Uhr. Als wir frisch zusammen waren, hatten die Augen meines Geliebten bei jeder Gefühlsregung geleuchtet, sein geschmeidiger Körper pure athletische Energie verströmt. Für mich war er damals so etwas wie gebündeltes Licht gewesen. Aber der Mann, der jetzt vor mir stand, war vor Reue niedergedrückt. Hastig wickelte er sich ein Handtuch um den Leib. »Ren, ich meine Renée, kam doch irgendwann vorbei, um meine Büroräume einzurichten, weißt du noch? Nachdem sie unser Haus so toll renoviert hatte …«
Ich stand da wie ein begossener Pudel. Die Umbauarbeiten waren über ein Jahr her. Wie in einem Kaleidoskop ordneten sich die geschüttelten Steinchen plötzlich zu einem Gesamtbild: meine beste Freundin und mein Mann, die zufälligerweise ganz oft zur selben Zeit auf Dienstreise waren. Die spätabendlichen Besprechungen in seinem Büro. Und die ganze Zeit war Renée andauernd vorbeigekommen, um mich auszuhorchen – und ich in meiner Arglosigkeit hatte ihr alle Geheimnisse anvertraut. Mit dem psychologischen Rüstzeug, das ich ihr zur Verfügung stellte, hatte sie dann meinen Gatten verführt.
Und wenn Renée eins kann, dann ist es verführen. Ich habe sie etliche Male auf Partys im Einsatz erlebt – ein sanft gedrückter Männerarm, gefolgt von einem großen, feuchten Augenaufschlag und der Frage: »Bist du glücklich?« Männer messen ihre Gefühlstemperatur nicht so oft wie Frauen. Es ist eine Frage, die sie nicht auf dem Radar haben.
»Ähm, na ja, ich denke schon«, sagt dann der Betreffende unweigerlich.
»Wirklich?«, setzt sie nach und macht ein mitleidiges Schmollmündchen. »Wirklich glücklich?«
Dann wird ihr Opfer nachdenklich, und der Blick schweift hinab zu ihren herrlichen Brüsten, Brüsten, an denen nie ein schreiender Säugling gehangen hat, und es kommen ihm erste Zweifel. »Obwohl …« Er zögert noch einen Moment – bevor er dann ihre Hand greift. Oh, und wie zierlich sich ihre Hand in seiner großen starken Pranke anfühlt. Ihre französische Maniküre ist noch nie von einem Kartoffelschäler oder einer Gartenschippe besudelt worden. Selbst gewaschen hat sie sich das Haar zuletzt vor zwanzig Jahren.
Ich habe beobachtet, wie sie in den fünf Jahren, seit ich sie kenne, immer wieder dieselben Verführungsmanöver bei einer endlosen Reihe von Männern anbrachte. Die Frau befolgte sklavisch das Gebot »Liebe deinen Nächsten«. Ich konnte nur nicht fassen, dass sie auch meinem geliebten Mann diese biblische Behandlung hatte angedeihen lassen und er ihr tatsächlich auf den Leim gegangen war.
»Und dann, na ja«, sagte Jasper jetzt. Seine Stimme drang aus weiter Ferne zu mir vor. »… dann kamen wir uns sehr viel näher, als sie mir zeigte, wie ich meinen Computer auf den neusten Stand bringe.«
»Ja, ich bin sicher, sie ist sehr benutzerfreundlich«, erwiderte ich, nachdem ich die Kontrolle über meine zittrigen Stimmbänder wiedergewonnen hatte. Mein Männe hatte so viele Notlügen erzählt, dass ihn jede Erste-Hilfe-Station mit Kusshand einstellen würde. Aber es war der Gedanke an den atemberaubenden Verrat meiner besten Freundin, der mich nach dem Arzt rufen ließ. Sie war der Jago zu meinem Othello, der Brutus zu meinem Cäsar. Mir schoss das Blut in den Kopf bei dem Gedanken, wie viele pikante Details aus meinem Sexleben ich ihr erzählt hatte.
»Hör mal, Lucy, du und ich, wir waren doch sowieso nur noch wie Bruder und Schwester«, stammelte Jasper kläglich.
»Wo? In Tasmanien? Bruder und Schwester, die Sex haben und zwei Babys machen?«, fragte ich ungläubig. »Ich glaube, das ist illegal.«
»Wenn eine Ehe scheitert, ist Ehebruch nicht die Ursache«, mischte sich Renée jetzt in ihrem belehrenden Oberschichten-Tonfall ein. »Es ist nur ein Symptom.«
Verwirrt kramte ich in meiner Erinnerung. Seit wann hatte Jasper sich mehr und mehr zurückgezogen? Seit genau einem Jahr … also seit dem Zeitpunkt, als Renée anfing, für ihn zu arbeiten. Da wurde er reizbar und aufbrausend und zunehmend distanziert. Zunächst hatte ich Stress in der Arbeit vermutet, aber es gab immer wieder diese merkwürdigen Zeitlücken, Abwesenheiten, die er mir nicht plausibel erklären konnte. Ich hätte die Alarmsignale erkennen müssen, als er mir zum Valentinstag einen Brotbackautomaten und nicht die Dessous von Agent Provocateur schenkte, die ich mir eigentlich gewünscht hatte. Um die Zeit fing er auch an, mir im Bett was vorzuspielen, genauer gesagt, Schlaf vorzutäuschen und sich meinen nächtlichen Annäherungsversuchen zu entziehen. Das Einzige, womit er mich im Bett noch in Fahrt brachte, war sein lautes Schnarchen. O doch, hin und wieder schliefen wir sogar noch miteinander, aber früher hatte er mir tief in die Augen gesehen und mir gesagt, wie sehr er mich liebte, während er jetzt dabei die Augen schloss oder ins Kissen starrte.
Und es war nicht nur der Sex, dem die Intimität abhandengekommen war. Postkoitales Kuscheln gehörte der Vergangenheit an. Früher hatten wir eng umschlungen auf der Couch gelegen, und manchmal hatte er mich einfach aus heiterem Himmel geküsst. Nun stellte ich fest, dass ich unter akutem Aufmerksamkeitsdefizit litt. Auch hatte er sich abgewöhnt, mit mir gemeinsam das Kreuzworträtsel zu lösen, was bedeutete, dass ich nie die Sportfragen herausbekam. Als er aufhörte, mir sonntagmorgens den Tee ans Bett zu bringen, beschlichen mich zwar böse Vorahnungen, aber ich redete mir ein, es sei nur eine normale, vorübergehende Phase, solange die beiden Kinder unsere Leben so stark in Anspruch nahmen. Mit der ganzen Intelligenz einer Amöbe hatte ich ihm geglaubt, als er mir erzählte, er bräuchte sein zweites Prepaid-Handy als Ersatzgerät für die Arbeit, nicht, weil er verhindern wollte, dass ich die Rechnungen las. Meine Grundhaltung hätte jedem Straußenvogel zur Ehre gereicht. In der Savanne der Serengeti wäre ich nicht weiter aufgefallen. Wie konnte ich nur so blöd sein? Es war wie Bungeejumping ohne Seil. Aber damit war jetzt Schluss. Ich wappnete mich für den Kampf. Wir hatten auch früher schon schwere Zeiten durchgestanden. Verdammt noch mal, wir waren durch das tiefe Tal von Babys mit Dreimonatskolik gegangen, da würden wir wohl das hier auch noch bewältigen können.
Für einen Moment vergaß ich, dass ich angezogen war wie eine alternde Prostituierte kurz vor einem Nervenzusammenbruch, wobei meine wackeligen Stöckelabsätze noch das Stabilste an mir waren. »Du!«, schrie ich Renée an und zeigte mit dem Finger auf sie. »Dich will ich nie, nie, nie mehr wiedersehen. Jasper, du bist ein Idiot gewesen. Du hast zugelassen, dass diese … diese …«, ich suchte nach einer passenden Bezeichnung, »… dieses Monster dich verführt und uns weggenommen hat. Aber ich verzeihe dir. Du hast eine Midlife-Crisis. Sonst nichts. Die Kinder …« Der Gedanke an Ruby und Tally trieb mir die Tränen in die Augen, aber ich unterdrückte sie, aus Angst, mein Mann könnte versucht sein, sie mir mit einer Scheidungsurkunde abzuwischen. »Wir lieben dich, ich und die Kinder. Es tut mir so leid, wenn ich dich enttäuscht haben sollte.« Ich betrachtete Renées schlanke Arme, die sie auf dem blassen Leinenkissen hinter ihrem Kopf verschränkte. »Ich werde wieder abnehmen.« Renées eiserne Beharrlichkeit, schlank bleiben zu wollen, ging so weit, dass sie nicht einmal dicke Bücher las. Obgleich sie die besten Internate Englands besucht hatte, las sie nur gekürzte Ausgaben, und ihre CD-Sammlung bestand aus Samplern.
»Jasper, wir haben eine gemeinsame Geschichte. Uns verbindet so wahnsinnig viel. Und nicht nur unsere Kinder. Ich kann dich wieder glücklich machen …«, blökte ich. »Versprochen. Pack einfach deine Klamotten und komm zu uns zurück.«
»Lucinda.« Ihre Stimme war so straff wie die Laken, die zu besudeln mein Mann 500 Dollar pro Nacht zahlte. »Jasper und ich ziehen zusammen. Er versucht dir das schon seit Ewigkeiten zu sagen …«
Das Jobangebot beim australischen Fußballverband war, wie ich jetzt schmerzlich begriff, seine Ausstiegsstrategie gewesen. Er hatte diese neue Stelle angenommen, um seine Familie leichter verlassen zu können. Auf diese Weise wären ihm die Szenen und die Vorwürfe erspart geblieben. Er hätte uns vorgeblich wegen der Arbeit verlassen, bis die Trennung irgendwann ein Dauerzustand geworden wäre. Als ich dann verkündete, dass ich mit der ganzen Baggage mitkommen wollte, hatte ich ihm offensichtlich einen Strich durch seinen miesen Plan gemacht.
Oder hatte Jasper sich ja vielleicht doch noch überlegt, ob er das Leben seiner Kinder wirklich zerstören wollte? Nur dass mir Rambo-Renée einen Tauchurlaub in Madagaskar vorgegaukelt hatte und ihm gefolgt war. Die Brutalität ihres Vorgehens verschlug mir den Atem. Mein Abbild im Hotelzimmerspiegel über dem Bett zeigte mir, wie sehr ich einem Opfer in einem Horrorfilm ähnelte, das zum ersten Mal das Ding aus dem Sumpf gesehen hat. Aber statt zu schreien, kochte ich jetzt über vor Wut, einer zischenden und spotzenden Wut auf einem unsichtbaren Herd. Ich begann, Kissen, Bücher, Schuhe und alles durch die Gegend zu schleudern, was mir zwischen die Finger kam, bis mir mein Mann in den Arm fiel.
Renée zeigte keine Regung. Die Haut ihrer zarten Wange zuckte einmal kurz, dann fuhr sie sich mit manikürten Fingern durch ihren Louise-Brooks-Bubikopf. »Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt«, sagte sie knapp.
Plötzlich wurde mir die Absurdität der Situation bewusst, und ich musste laut lachen. Ich wurde von einem so großen Lachkrampf geschüttelt, dass er mich fast so sehr erschreckte, wie er mich überraschte.
Als ich mich wieder gefasst hatte, völlig ausgepumpt vom Wechselbad meiner Gefühle, zog Jasper sich an, begleitete mich zum Wagen und versprach mir, am nächsten Tag zum Mittagessen vorbeizukommen, es wiedergutzumachen, alles zu besprechen. Immer noch unter Schock, ließ ich den Motor an, schaltete mental auf Autopilot und fuhr los. Auf der langen Fahrt Richtung Süden hatte ich nur das Bild von Renée vor Augen, die in ihrer Selbstgefälligkeit dreinschaute wie eine Schlange, die gerade das Kaninchen verschlungen hat.
Mein Glas war weder halb voll noch halb leer. Es war einfach grundsätzlich nicht das, was ich bestellt hatte.
3. Vorsicht, Steilufer
Hausarbeit ist Frauenarbeit. Wenn mein Mann mal mit anpackt, dann nur bei nacktem Fleisch, wie vermutlich in diesem Moment in jenem Hotelzimmer. Ansonsten erklärt Jasper seinen Teil für getan, wenn er eine Pfanne zum Einweichen in den Abwasch stellt. Aber das alles konnte mich nicht ärgern. Ich wirbelte durchs Haus wie eine durchgeknallte Doris Day und verbrachte schwitzend Stunden über Kochbuch und Herd. Ich war so glücklich, dass ich es nicht einmal übers Herz brachte, die Eier für die Crème brûlée zu schlagen. Ich ermahnte sie nur streng und freundlich, an ihre Leistungsgrenze zu gehen. Ruby bastelte Karten und Spruchbänder, auf denen »Wir lieben dich, Daddy!« stand. Tally pflückte Wildblumen. Ich bezwang meine widerspenstigen Locken mit Conditioner, zupfte vorlaute Kinnhärchen aus, trug mehrere Schichten Lidschatten auf – und rubbelte dann, in dem kläglichen Versuch »zu mischen«, das meiste wieder mit dem Finger ab. Ich legte Moisturizer auf, bis ich öliger war als ein Gebrauchtwagenhändler. Die Kinder deckten aufgeregt den Tisch. Und dann warteten wir auf unseren abtrünnigen Patriarchen.
Um zwei wurde ich langsam etwas nervös. Um vier wurde mir schlecht. Um sieben fing Tally wieder zu backen, Ruby zu weinen und ich zu trinken an. Als Jasper auch meinen hundertsten Anruf auf seinem Handy nicht entgegennahm, trank ich noch mehr und wandelte um das unberührte Festmahl herum wie Miss Havisham in Große Erwartungen. Als ich es schließlich im Hotel versuchte und erfuhr, dass Jasper ausgecheckt hatte, leerte ich den Rest der Flasche. Erst am Montag bestätigte mir die FFA, dass er sich die Woche freigenommen hatte und jetzt irgendwo in der Nähe von »Top End« Urlaub machte – wo immer das war. Ich hingegen fand meinen Wohnort am anderen Ende der Zivilisation überhaupt nicht »top«. Abgeschnitten von der Außenwelt in einem fremden Land, stand ich ohne Verwandte, Job und Freunde da. Um genau zu sein, war mein Mann mit meiner besten Freundin abgehauen – und sie fehlte mir ganz wahnsinnig. Auf einen einzigen, tödlichen Schlag hatte ich die beiden Menschen verloren, denen ich am meisten vertraute, und es hatte mich emotional völlig aus der Bahn geworfen. Ich wusste nicht, wen ich auf diesen Formularen eintragen sollte, wo es heißt: »Bitte benachrichtigen Sie im Notfall ___«. Plötzlich war keiner mehr da.
Immer hatte ich die tiefbraunen Augen Renées bewundert, in denen so viel machiavellihafte Verschlagenheit lag. Aber wie sie mich jetzt verspotteten! Wenn ich daran dachte, wie sie meine intimsten Geheimnisse aus mir herausgekitzelt hatte, war ich so entsetzt über meine Leichtgläubigkeit, dass ich die ganze Nacht mit den Zähnen knirschte, ins Kissen biss und wie ein Zombie die Zimmerdecke anstarrte. Jedes Mal, wenn es so aussah, dass ich endlich einschlummern würde, tauchte Renée vor meinem geistigen Auge auf: das heuchlerisch-mitleidige Gesicht mir zugewandt, während sie mich gebannt aushorchte, die Zähne klein und scharf, das doppelzüngige, vorgeblich fürsorgliche Lächeln mit grellroter Lippenstift-Bemalung. Aber einzuschlafen lohnte sich ohnehin nicht, da die Kinder ihre Albträume unbedingt zu unterschiedlichen Nachtstunden durchziehen mussten. Würden sie wenigstens zur selben Zeit »Mir fehlt mein Daddy!« heulen, hätte ich vielleicht sogar die eine oder andere Mütze Schlaf erwischt. Das schlimmste Ohnmachtsgefühl überhaupt ist ja, wenn die eigenen Kinder leiden und man hilflos dabei zusehen muss. Das Prinzip Pusten beziehungsweise »heile, heile, Segen«, das Mütter auf der ganzen Welt automatisch praktizieren, funktionierte hier einfach nicht, genauso wenig wie Pflaster oder Bonbons. Ein Schlaflied schläferte sie nicht ein. Schlaf? Ha! Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu, bis ich schließlich kurz vor sieben in ein tiefes Koma sank, aus dem mich der Wecker ein paar Minuten später wieder herausriss, damit ich mich aus dem Bett quälte und die Mädchen für die Schule fertig machte.