HYBRID VERLAG
Ebookversion
12/2017
© 2017 by Sylvia Kaml
© by Hybrid Verlag, Homburg
Umschlaggestaltung: © Creativ Work Design, Homburg
Autorenfoto: © Andrea Rings
Lektorat: Paul Lung, Linz
Coverbild ›Die Gameshow‹
© 2016 by Creativ Work Design, Homburg
Coverbild ›Das Eden-Projekt‹
© 2016 by Creativ Work Design, Homburg
ISBN 978-3-946-82018-5
www.hybridverlag.de
PREDYL
EINE NEUE WELT
Science-Fiction
Sylvia Kaml
PROLOG
ERSTER TEIL
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
ZWEITER TEIL
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
DRITTER TEIL
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
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10.
11.
12.
13.
14.
15.
VIERTER TEIL
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
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11.
12.
13.
14.
15.
EPILOG
Dieses Buch widme ich meiner im Mai 2016 verstorbenen Großmutter Edith Horn, die ihr Augenmerk stets auf das Positive im Leben legte.
Ein besonderer Dank gilt meinem überaus geduldigen Mann Robert sowie dem Freund und Kollegen Paul Lung, der mich immer wieder gedrängt hat, diese Geschichte zu veröffentlichen.
Ein Mensch hört staunend und empört,
dass er als Unmensch alle stört:
Er nämlich bildet selbst sich ein,
der angenehmste Mensch zu sein.
Ein Beispiel macht euch solches klar:
Der Schnarcher selbst schläft wunderbar.
Eugen Roth
Ein grollender Laut ertönte am wolkenlosen Himmel.
Gevrael hielt erstaunt inne; seine bloßen, doppelten Zehen stoppten federnd auf dem steinigen Boden und wirbelten dabei nur gering Staub auf. Niran schaffte den plötzlichen Halt weit weniger geübt. Beide Jäger sahen sich verwundert an, drehten dann ihre Hälse neugierig, beinahe abwägend in alle Richtungen.
Der fremdartige Ton endete nicht, so wie es ein Donner tat, sondern blieb anhaltend, dröhnend und nahm sowohl in seiner Kraft als auch in Tiefe eher zu als ab. Ein Geräusch, ähnlich dem wütenden Brüllen eines angreifenden Koroks.
Gevrael wies mit der rechten Hand schräg nach oben zum Himmel, an dem bereits der rötliche Planet zu sehen war, den der Himmelskörper umkreiste. Das zuvor dunkle Gesicht seines Begleiters färbte sich leicht grünlich unter der voluminösen, schwarzen Kopfbefiederung.
Ein glänzendes, von der Sonne angestrahltes Gebilde fiel vom Firmament – zu hoch oben und zu schnell, um ein Vogel auf Beutesturz zu sein. Es zog einen weißen, wolkigen Schweif hinter sich her.
Solch eine ungewöhnliche Erscheinung war den Jägern nie zuvor unter die Augen gekommen. Die beiden wechselten stumm Blicke.
Der Ältere, Gevrael, legte den Kopf leicht schief.
Dieser Geste gehorchend, drehte sich Niran um und lief zurück zur Gemeinschaft, um Bericht zu erstatten.
Das Phänomen verschwand am Horizont und der Verbliebene spürte eine Erschütterung unter den bloßen Zehen. Mit ihr verstummte das Getöse.
Den Griff um seinen Speer verstärkend, ging Gevrael in die Richtung, in der das Gebilde den Boden erreicht haben musste.
Eine lang gezogene Wolke aus Staub wies ihm den Weg. Selbst wenn dieser Dunstpfeil sich auflöste, würden die anderen der Spur des Jägers leicht folgen können.
Die Sonne war einmal komplett über den Himmel gewandert und erneut nahe dem Horizont, als der Ältere endlich die Stelle erreichte, an der das seltsame Gebilde aufgeschlagen sein musste. Die Staubwolke hatte sich gelegt, doch der Dunst schwebte noch immer in der Luft. Das Strahlen der Sonne, die tief über dem Horizont direkt neben dem rötlichen Gasriesen hing, tauchte die karge, felsige Umgebung in ein violettes Zwielicht. Gevrael wusste, dass bald wieder ein ›dunkler Tag‹ bevorstand, an dem statt des Feuerballs der rote Planet am Himmel leuchten würde. Ein Krater von mehreren hundert Schritten Durchmesser breitete sich vor ihm aus. Er kannte solche trichterförmigen Böden, es gab nur wenige davon, aber sie sammelten Regenwasser und bildeten blühende Oasen in der steinigen Landschaft, Heimat unzähliger Lebewesen. Hier erbaute man keine Siedlungen, es war einer der zu achtenden Orte, an dem ein Jäger die Natur nicht unnötig belasten durfte.
Umso mehr erzürnte Gevrael die Zerstörung, die er nun zu Gesicht bekam. In der Mitte des Kraters thronte ein monströses Ding wie ein zu Stein erstarrter Wirbelsturm, der zuvor alle Pflanzen um ihn herum niedergerissen und dem Erdboden gleichgemacht hatte. Die Wut, über solch eine sinnlose Vernichtung des Lebensraumes wertvoller Beutetiere, färbte die schwarze Stirn des Jägers rot.
Der Verursacher dieser Destruktion sah aus wie ein Bauwerk mit Wänden, so glatt gemeißelt, dass sie die Strahlen der tief stehenden Sonne reflektierten.
Das Geschoss war gigantisch. Zehn ihrer eigenen Hütten übereinandergestapelt, hätten eine derartige Höhe nicht erreichen können. Solch ein monströses Gebilde musste von jemandem erbaut worden sein. Vielleicht von Jägern, die jenseits der Eiswelten lebten? Konnten sie Dinge erschaffen, die sogar fähig waren, durch die Luft zu fliegen, wie Vögel? Oder war es ein Geschoss aus einer gigantischen Steinschleuder von riesenhaften Wesen gebaut? So wie ihre eigenen Waffen auf die winzigen Sechsfüßer wirken mussten, die in den Löchern der Baumrinden leben? Das schien dem erfahrenen Jäger die plausibelste Erklärung zu sein.
Neugierig schlich er, im Schutz vereinzelter Monolithen, näher an den Krater heran. Um das Geschoss herum herrschte reges Treiben. Mehrere kleinere, kantige Bauten rollten auf Kugeln eine Rampe herunter. Geschöpfe, etwa so groß wie er selbst, schwärmten aus dem Gebilde heraus und stiegen in die rollenden Häuser hinein.
Der Jäger konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Figuren in der Ferne, um Details zu erkennen. Diese Kreaturen ähnelten nichts Bekanntem. Ihn überkam der instinktive Drang, mit dem Speer nach vorne zu eilen und sich bei den Wesen für die Zerstörung der wertvollen Natur zu rächen, diese fremdartigen Eindringlinge von seinem Land zu verjagen. Gleichzeitig aber warnte ihn eine innere Stimme, es sei besser, zu fliehen, denn solche Geschöpfe könnten überlegen und feindlich gesinnt sein. Gevrael zog seine Wangenmuskeln nach hinten. Nein, ein Fortlaufen kam nicht infrage; es wäre unehrenhaft für einen ehrwürdigen Lehrer, wie ihn, der bereits ausgewachsene Koroks im Kampf besiegt hatte. Diese Kreaturen dort unten schienen wiederum keine erfahrenen Jäger zu sein. Sie waren unvorsichtig laut und beachteten ihre Umgebung kaum. Es würde nicht allzu schwer fallen, sich ihnen unbemerkt zu nähern. Nein, Fliehen ging gegen jede Faser seines Seins.
Langsam schlich er an das Gebilde heran.
Je mehr er erkannte, desto fremder sahen die Gestalten aus. Sie waren allesamt etwas kleiner, ihre Beine nicht angewinkelt, sondern gerade wie ein Baumstamm, die Hälse kaum vorhanden. Die Kopfbefiederung wirkte struppig in solch verschiedenen Längen und Farben. Sie hatten nur zwei Augen, dafür eine spitze, löchrige Erhebung mitten im Gesicht.
Seltsame Laute kamen aus den Mündern. In ihrer regen Beschäftigung nahmen sie die Umgebung kaum wahr.
Von der Ignoranz dieser Kreaturen mutig geworden, schlich Gevrael bis hinunter zu dem glänzenden Monstrum. An einem Ende, an dem keine Wesen zu erblicken waren, berührte er es. Die Wand war kalt und glatt. Er strich mit seinen drei Fingern über das fremde Material. Von Faszination erfüllt, betrachtete er staunend die Höhe des Gebildes.
Ein knisternder Laut auf dem verbrannten Gras. Direkt hinter ihm. Erschreckt fuhr Gevrael herum und sah in das Gesicht eines der Wesen, das eine Art kurzen, hohlen Stab auf ihn richtete. Der Jäger handelte instinktiv. Schneller, als sein Gegenüber hätte reagieren können, schleuderte er den Speer genau in Richtung der Brust, so wie er es bei einem angreifenden Korok machen würde. Das Wesen vor ihm schrie auf, zeitgleich ertönte ein lauter Knall.
~
Als Niran mit den erfahrensten Jägern seines Dorfes den Krater erreichte, verlor sich die Fährte Gevraels auf dem harten Felsboden. Auch sie sahen das gigantische Gebilde inmitten der zerstörten Vegetation, doch außer aufgewühlter Erde mit vielen fremdartigen Spuren, war kein einziges Lebewesen zu erkennen. Suchend öffnete Niran sein drittes Auge. Er erkannte ein Strahlen hinter einem Monolithen, ganz dicht bei dem mächtigen Geschoss. Das Leuchten war kraftlos. Der junge Jäger sah besorgt zu den anderen, deren Stirn sich ebenfalls wellte. Fünf von ihnen folgten Niran zu dem schwachen Lichtschein, während der Rest in sicherer Entfernung zurückblieb. Der Trupp umrundete den Monolithen.
Da lag der Gesuchte an den Felsen gelehnt, die Lider geschlossen. Er lebte, war jedoch verwundet.
Ein tiefes Loch hatte sich durch das Leder seines Jagdhemds und in die Haut gefressen. Niran kniete sich zu dem Lehrer. Gevraels Wangen waren aufgebläht, er schien nur schwer Luft zu bekommen. Als der Verwundete die Augen öffnete und seinen Schüler bemerkte, stellte er das Leuchten ab. Der Jüngere sah ihn auffordernd an. Sie brauchten eine Antwort, schnell.
»Es kamen fremdartige Wesen aus diesem Geschoss«, flüsterte Gevrael. Er musste eine kurze Pause machen, um nach Luft zu ringen. Niran half ihm behutsam, seinen Oberkörper etwas aufzurichten. »Sie schwärmten aus dem Gebilde, zu hunderten oder tausenden.« Die Stimme des Älteren war ein Keuchen. »So viele Wesen auf einem Ort habe ich bisher nicht einmal bei Stachelratten gesehen, höchstens bei Sechsfüßern. Doch sie waren so groß, wie wir, bekleidet und schienen miteinander zu sprechen. Riesige Bauten, wie Häuser auf Kugeln, kamen aus dem Bauch des Geschosses. Die Fremden zogen diese jedoch nicht an Seilen heraus, sondern sie rollten wie von selbst.«
»Waren das intelligente Wesen?«, fragte ein hochgewachsener Jäger hinter ihnen. »Haben sie dich so zugerichtet?«
Der Ältere legte bejahend den Kopf zur Seite.
»Eine Invasion? Geschickt von den Eiswesen, um uns zu unterwandern?«
»Die Eiswesen sind ein Mythos«, warf Niran ein.
Der Sprecher wies auf den verwundeten Jäger am Boden.
»Diese Eindringlinge haben die Heimat unserer Beutetiere zerstört und versucht, Gevrael zu töten.«
»Wir bringen ihn auf einer Trage zurück«, erklärte der junge Jäger. »Die Heilerin kann ihm vielleicht helfen.«
»Währenddessen verfolgen wir diese Wesen. Wir werden ihn rächen!«, rief einer der jüngeren Jäger, seinen Speer in die Luft reißend. Die anderen stimmten mit rotgetönter Stirn zu.
Niran erhob sich langsam, fast schwerfällig. Er sah hinüber zu dem riesigen, glänzenden Gebilde und legte die noch schwarze Stirn in Wellen. Der junge Jäger wusste nicht, warum sich ihm beim Anblick dieses Monstrums, das doch so ruhig und friedlich in der untergehenden Sonne lag, ungewollt die Federhaare sträubten. Vielleicht war es der lange, unheimliche Schatten, den es auf den steinigen Boden seiner Heimat warf. Niran musste an das Skelett eines gigantischen Koroks denken, aus dessen Maul ein Dunst von Tod und Verderben über die ehemals heile Welt geatmet wurde. Er ahnte, nein, er wusste, dass dieses Geschehnis eine Wende für sein gesamtes Volk bedeutete.
Es sei der Mensch (in seinem Wahn)
zu allem fähig, nimmt man an.
Doch was viel tiefer an uns frisst:
dass er zu gar nichts fähig ist.
Eugen Roth
»Wie wäre es mit einem Besuch im Tiergehege morgen? Wir haben schon so lange nichts mehr als Familie unternommen.«
Mit gehobenen Augenbrauen schaue ich von dem Reader auf. Ist das tatsächlich mein viel beschäftigter Vater, der gerade diese Worte sagte? Da steht er vor mir im Türrahmen, der schmale Mann mit den dunkelblonden Haaren und blauen Augen und lächelt breit. Beinahe falle ich in sein Lächeln ein. Der Zoo! Den Ort liebe ich noch immer. Früher waren wir häufig dort, bei jedem Gehege studierte ich die Anzeigen so oft, bis ich das Leben und Verhalten sämtlicher Tiere des Mondes auswendig konnte. Genau, wie ich alle verfügbaren Bücher über Lebewesen auf der früheren Erde verschlungen habe.
Dennoch halte ich die Mundwinkel in Zaum. Obgleich mich der Gedanke, diesen Ausflug mit der Familie zusammen zu unternehmen, mehr als reizt, will ich mir mit meinen zwölf Jahren keine Blöße geben.
Stattdessen verziehe ich den Mund.
»In den Zoo? Das ist doch nur was für Kleinkinder!« Den abfälligen Tonfall bereue ich sofort, als sich ein Schatten der Betrübnis über das fein gezeichnete Gesicht meines Vaters legt. Ihm sieht man es sofort an, dass er in einem Labor arbeitet, finde ich.
»Warum überhaupt?«, sage ich schnell.
Er soll nicht aufgeben, nein, er muss mich weiter überreden, bis ich scheinbar genervt nachgeben werde.
»Du bist doch sonst immer so beschäftigt.«
Mein Vater tritt nun ganz in das Wohnzimmer und setzt sich zu mir auf das Sofa.
»Ja«, sagt er mit sanfter Stimme. Das neue Projekt hat mich die letzten Monate stark eingespannt. »Ich hatte keine Zeit mehr für die Menschen, die mir am meisten bedeuten, das tut mir sehr leid. Aber jetzt habe ich eine Woche frei, da dachte ich, wir unternehmen wieder mal etwas zusammen. Morgen ist Samstag, da bist du nicht in der Schule und Lionel hat keine Vorlesung.«
»Du hast Urlaub?« Ich lege den Reader zur Seite und wechsele von der halb liegenden Stellung in eine Sitzposition über, die Beine noch auf der Couch lassend. »Dann könnten wir eine Tour durch den westlichen Dschungel machen. Das wollten wir doch schon immer mal! Raus aus der Stadt.« Upsi, besinne ich mich. Mal wieder habe ich meine Fassade zu früh fallengelassen. Ich schaffe es einfach nicht, cool zu wirken.
Vater schüttelt langsam den Kopf.
»Es wurde ein Reiseverbot für alle Menschen aus Neumond verhängt. Zur Sicherheit. Es gab wohl Überfälle.«
Ich schlucke.
»Die Predyler?« Die Ureinwohner dieses Mondes geben mir noch immer eine Gänsehaut. Sie sind unheimliche, beinahe gruselige Kreaturen, uns Menschen so ganz unähnlich. Außer Biran, denke ich mich im Stillen. Der ist anders, er gehört nicht wirklich zu diesen Wesen. Zumindest ist das in meiner Vorstellung so. Aber ich darf ihn nicht erwähnen, Biran ist ein Geheimnis.
Vater nickt.
»Ja, Luna. Es ist leider zu gefährlich für uns Menschen dort draußen geworden. Wir sollten in der sicheren Stadt bleiben.«
»Hast du deshalb frei? Weil ihr keine Aufträge mehr habt? Stimmt es, was die anderen sagen? Dass es Unruhen in den Bergwerken und auf den Farmen um Neumond herum gibt?«
Er geht nicht darauf ein.
»Ich würde die Zeit einfach gerne nutzen, um mit der ganzen Familie etwas Schönes zu unternehmen«, sagt er stattdessen. »Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit dazu haben. Vielleicht kommt es doch zu einer offenen Auseinandersetzung.«
»Patrik!« Die helle Stimme meiner Mutter durchschneidet die Luft. Sie steht mit Händen in die Hüften gestemmt am Türrahmen. »Hör auf, Luna Angst zu machen. Es wird sich alles einspielen. Ganz gewiss.«
»Wir sollten den Tatsachen in die Augen blicken, Lisa.« Mein Vater spricht wie immer leise, dennoch schwingt eine ungewohnte Besorgnis in seinem Ton mit.
Mutter schüttelt abwehrend den Kopf.
»Ich sehe nur eine brüllende, kriminelle Horde, die gegen unsere Polizei keinerlei Chancen hat.« Ihre Stimme klingt kühl, beinahe sachlich, doch ich weiß, dass sie die aktuellen Probleme nur von mir fernhalten möchte.
In diesem Moment erscheint mein Bruder im Wohnzimmer.
»Und ob die Chancen haben. Wir Menschen sind mal wieder dabei, uns selbst auszurotten«, erklärt er auf dem Weg an Mutter vorbei in die Küche.
Lionel ist sieben Jahre älter als ich. Er hat gerade die Schule beendet und sein Jurastudium begonnen. Ich bemerke, wie ähnlich er Vater geworden ist in den letzten Monaten. Nicht nur optisch, auch die ganze Art und Einstellung.
»Wie wäre es erst einmal mit einem ›Guten Abend‹, junger Mann?«, schimpft Patrik, doch nur halbherzig.
Mein Bruder schlurft mit einem Glas Wasser in der Hand wieder zurück ins Wohnzimmer.
Vaters Gesicht hellt sich schlagartig auf, als er uns alle gemeinsam in einem Raum sieht.
»Was ist nun?« Er reibt feierlich die Handflächen ineinander, als hätte es die Diskussion eben nicht gegeben. »Wollen wir ins Tiergehege morgen?«
Ich nicke heftig. Lisa lächelt ebenfalls und zwinkert Vater dankbar zu. Der Ärger scheint vergessen. Meine Mutter reagiert oft emotional, ist aber niemals nachtragend.
Lionel hingegen trinkt sein Glas leer und stellt es etwas zu laut auf den Tisch.
»Ohne mich. Ihr wisst, was ich davon halte, Tiere zu unserer Belustigung in Käfige zu sperren.«
Mutter lässt einen theatralischen Stoßseufzer von sich.
»Ich bin nicht in Stimmung für eine Diskussion darüber, also keine Sorge«, kommentiert mein Bruder ihren offensichtlichen Gedankengang. »Geht einfach ohne mich und habt einen netten Tag.« Mit diesen Worten verschwindet er die Steintreppe nach oben.
Ich presse die Lippen aufeinander und blicke zu Boden. So gerne hätte ich mal wieder etwas mit meinem Bruder unternommen. Ich hänge unheimlich an ihm, auch wenn ich es niemals offen zugeben würde.
»Wie wäre es mit dem Schwimmbad oder der Einkaufszeile?« Mein Vater fährt sich mit der Hand über die Haare.
»Da geht unser nun erwachsener, ach so vernünftiger Sohn gewiss auch nicht mit, das wäre ja Spaß«, spottet Mutter. »Lass ihn, wir gehen morgen alleine in den Zoo.«
Vater deutet ein Lächeln an, wirkt aber sichtlich enttäuscht. »Ja, machen wir das.«
Mit dem Reader in der Hand sinke ich tiefer in die Couch und versuche, mich in die Geschichte des Romans hineinzuversetzen. Es gelingt mir nicht. Meine Augen wandern über Wörter und Zeilen, aber die Gedanken sind weit weg. Ich blättere sogar unbewusst um, ohne die Seite wirklich gelesen zu haben.
Vaters Verhalten bereitet mir Sorgen. Ist es denn schon so ernst? Sind wir tatsächlich kurz vor einem Krieg mit den Ureinwohnern des Mondes? Diese Überlegung ängstigt mich mehr, als ich zugeben möchte. Aber ist ein militärischer Konflikt überhaupt denkbar bei der Ungleichheit? Wollen die mit Speeren auf unsere mit Maschinengewehren bewaffneten Soldaten stürmen?
Es stimmt, die Neumonder Nachrichten sind in den letzten Wochen bis zum Überquellen gefüllt mit Berichten über diese präkolonialen Mondbewohner. Das ist durchaus etwas Ungewöhnliches, da man sie früher kaum erwähnte. Es wurde stets ein gewisser Abstand eingehalten, eine strikte, kulturelle Trennung. Diese reptilienartigen Wesen blieben uns fremd, werden lediglich als Arbeiter und Dienstboten in der Stadt geduldet, leben jedoch außerhalb in Siedlungen. Um ihre Kultur zu wahren, heißt es. Je mehr die Ureinwohner sich nun aber unserer Obrigkeit widersetzen, desto misstrauischer und auch ängstlicher werden wir Menschen ihnen gegenüber. Es gibt immer wieder die gleiche Berichterstattung in den Medien: Protestierende Gruppen von Autochthonen fordern Rechte und Anerkennung, während unsere Bürger gegen die schleichende, feindliche Übernahme ihrer Kultur durch diese dubiosen, blutrünstigen Ureinwohner aufmarschieren. Mich nervt das Ganze nur noch.
Auf einmal stürzt Lionel zurück ins Wohnzimmer.
»Macht mal die Nachrichten an!«
Mein Vater brüht sich gerade einen Tee und blinzelt irritiert.
»Was? Warum?«
»Dirk hat mir übers Com geschrieben, da geht es ab in der Stadtmitte!«
»Ich möchte das gar nicht sehen, lass den Bildschirm aus!« Niemand hört auf mich.
Meine Eltern setzen sich zu mir auf das Sofa, Lionel nimmt auf dem Sessel daneben Platz. Vater schaltet den großen Monitor an der Wand an und wählt den Nachrichtensender Neumonds.
In der nahen Innenstadt ist es während einer erneuten Demonstration zu Ausschreitungen gekommen. Eine Reporterin berichtet vor der Kamera. Sie muss trotz Mikrofon mit lauter Stimme gegen Rufchöre, Sirenen, Schreie und Befehle aus Megafonen ankämpfen. Im Hintergrund sieht man ein Gerangel von Personen, Polizisten mit Knüppeln und Schilden in Schutzkleidung. Noch weiter entfernt durchdringen Blaulichter und rote Ziellaser verschwommen den Qualm von Tränengas. Es dauert eine Weile, bis wir uns einen Reim aus dem Geschehen machen können. Nun verfolge auch ich gebannt die Vorgänge auf dem Bildschirm.
»Das war nur eine Frage der Zeit.« Vater schüttelt betrübt den Kopf. »Viel zu lange haben wir weggesehen, das Offensichtliche ignoriert. Jetzt zahlen wir für unsere Arroganz und ich kann es diesen Wesen nicht einmal verdenken.«
»Nicht verdenken?« Mutter schnappt regelrecht nach Luft. Es ist ihr deutlich anzusehen, dass sie das Gesehene am liebsten anschreien würde, bis es verpufft wie eine Seifenblase. »Diese undankbaren Kreaturen bekamen alles von uns! Luxus, Geld, Wohnraum, Ländereien! Unsere Vorfahren teilten brüderlich, was sie damals bitter für sich selbst hätten gebrauchen können. Wir haben ihnen Arbeit gegeben, sie kultiviert. Und wie danken sie es uns nun? Mit Demonstrationen und Aufständen!«
Sie schüttelt heftig den Kopf, ihre hellbraunen Locken wirbeln dabei wild durcheinander.
»Die Ureinwohner vertreten die Ansicht, dass all die Ländereien ihr rechtmäßiges Eigentum sind«, versucht mein diplomatischer Vater, das Geschehen zu verteidigen.
Mutter schnaubt.
»Sie lebten noch weit entfernt in ihren Steppenhütten, als wir Menschen den Mond erreichten. Wir haben dieses Fleckchen Land zuerst entdeckt. Ob man nun von einem fremden Kontinent einwandert oder aus dem All, ist gleich. Die Kolonisten hatten damals kaum eine andere Wahl, als hier zu landen, sonst wären sie dem Tod geweiht gewesen. Mir ist natürlich bewusst, dass die menschliche Zivilisation die Einheimischen irritiert, ja geistig überfordert hat, Primitivität ist jedoch keine Entschuldigung für ein undankbares, asoziales Verhalten!« Sie hebt den Zeigefinger. Diese wohlbekannte Geste lässt mich unbewusst den Kopf einziehen. Mutter wird selten wütend, aber wenn, dann richtig. Nun ist sie wirklich in Fahrt, die Stimme wird immer schriller. »Das Amt für Menschenrechte hat wahrscheinlich recht mit der Theorie, dass diese Echsen rein von ihrer Genetik her aggressiver und gewalttätiger sind. Immerhin ist es eine Spezies, die andere Lebewesen zur Nahrungsaufnahme tötet.«
Nun mischt sich Lionel in die Diskussion ein, indem er Partei für unseren Vater ergreift.
»Die Predyler sind als Karnivoren auf fleischhaltige Nahrung angewiesen, dafür können sie nichts.«
Mutter dreht sich ruckartig zu ihrem Sohn auf dem Sessel um.
»Das behaupte ich mitnichten, aber es bedeutet eben auch, dass sie von der Natur aus dazu geschaffen sind, andere zu vernichten und zu verschlingen.« Sie verzieht angewidert das Gesicht. Mit dem roten Lippenstift sieht das beinahe witzig aus, wie eine Comicfigur. Ich muss trotz der ernsten Situation ein Grinsen verkneifen.
Lionel hebt die Brauen.
»Wir Menschen aßen ebenfalls einst Fleisch und töteten Tiere.«
Mein Blick scheint Pingpong zwischen den beiden zu spielen, während mich das Gefühl beschleicht, mein Bruder genießt es, sie zu reizen.
»Wir haben auch Kriege geführt, früher.« Mutter kommt immer mehr in Rage. »Ja, wir waren einst primitiv, jedes Wesen entwickelt sich weiter. Aber das ist mitnichten der Punkt. Ein Mensch kann überleben, ohne Wirbeltiere zu töten, sie nicht. Daher ist es nur richtig, anzunehmen, dass sie von der Natur dazu beschaffen sind, Raubtiere zu sein und andere Leben abzuschlachten. Sie könnten niemals so zivilisiert werden wie wir, da sie immer wieder Tod und Blut benötigen.«
Lionel wirkt völlig gelassen.
»Das ist Unsinn. Außerdem brauchen sie kein Blut, sondern Arachidonsäure und auch Vitamin B12. Theoretisch lässt sich das schon künstlich herstellen, so wie es die Lebensmittelingenieure für uns machen.«
Mutter öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich warte die Argumente nicht ab. Stattdessen stehe ich auf, nehme den Reader und gehe hinauf in mein Zimmer.
Die Gespräche im Wohnzimmer dauern noch lange an. Ich höre weg, will nicht nachdenken, sondern diese Bilder so schnell wie möglich vergessen.
Meine Flucht vor der Realität bleibt erfolglos. Kaum setzt sich Vater am nächsten Morgen zu uns an den Frühstückstisch, macht er auch schon die Nachrichten an.
Ich verdrehe die Augen und stochere lustlos in dem Müsli herum, sage aber nichts. Es wird deutlich, warum es gerade zu diesem Zeitpunkt solch ein Chaos gegeben hat: Die anfangs friedlich abgelaufene Protestaktion ist auf beiden Seiten zu Straßenkämpfen eskaliert. Bis geschah, was wohl früher oder später geschehen musste: Ein bekannter Rädelsführer der Predyler, der auf der gestrigen Demo in eine Schlägerei geriet, erlag seinen Verletzungen. Er verstarb noch auf der Straße, lebensrettende Hilfsmaßnahmen wurden angeblich behindert. Die Sanitäter sagen, sie seien von indigenen Demonstranten attackiert worden, die Ureinwohner wiederum behaupten, unsere Mediziner hätten gar kein Interesse daran gehabt, zum Opfer zu gelangen, sondern ihn kaltherzig sterben lassen.
Dieser Vorfall entpuppt sich nun als Wendepunkt des Geschehens. Das, was Vater befürchtet hat, trifft ein. Die Einheimischen beschuldigen die Polizisten, ihren Redner regelrecht hingerichtet zu haben. Tatsächlich war er unbewaffnet und hatte sich nicht einmal zur Wehr gesetzt; Amateuraufnahmen können das beweisen. Der Fall geht als Eilmeldung durch alle Medien, wird überall diskutiert, die Meinungen polarisieren wie niemals zuvor auf dem Mond.
Wir gehen nicht zum Zoo. Keiner von uns ist nach diesen Meldungen noch in der Stimmung für einen friedlichen Familienausflug.
Entgegen meiner stillen Sehnsucht, alles Negative zu ignorieren, verfolge ich weiter die Nachrichten. Es ist wie ein Sog, dem man kaum widerstehen kann. Ob aus Angst oder Sensationsgier, vermag ich nicht zu sagen, aber meine Augen hängen wie gebannt an jeder Szene.
Während die Politiker noch überlegen, wie sie die bereits vorhandene Gefahr abwenden könnten, und vor Entscheidungen zurückschrecken, eskaliert die Situation auf den Straßen. Immer mehr aufständische Predyler werden von den mittlerweile überforderten Polizisten niedergeprügelt und verhaftet. Es kommt zu Streiks, auch Anschläge seitens der Einheimischen des Mondes treten gehäuft auf. Sie fordern ihre Rechte, zügig. Die menschliche Armee schreitet schließlich ein, um innere Sicherheit zu gewährleisten, doch es vermag keiner mit der Situation umzugehen. Die verhüllten Gesichter der gepanzerten Spezialeinheiten helfen kaum der Deeskalation. Protestierende Ureinwohner stehen so nicht mehr anderen Lebewesen, sondern ausdruckslosen Schutzmasken und Schilden gegenüber.
Ein Psychologe sagte einen Satz, an den ich mich bei solchen Szenen immer erinnern muss, doch niemand sonst scheint ihn gehört zu haben: Unsicherheit führt zu Furcht, Furcht zu Hass und Hass schließlich zu noch mehr Gewalt. Weitere Demonstranten sterben.
Langsam aber sicher wird das Wegsehen schwerer; der Ruf nach Gleichberechtigung stetig lauter. Die ersten Gerüchte über einen baldigen Krieg kommen auf.
~
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue auf das Pad mit den Mathehausaufgaben. Zahlenreihen sowie Formeln verschwimmen mir vor den Augen, verwandeln sich in schwarze Gestalten mit langen Hälsen und spitzen Zähnen. Die Angst vor den Einheimischen, die als Bedrohung der menschlichen Zivilisation samt ihren Werten angesehen werden, ist uns allen gegenwärtiger als je zuvor.
Doch immer, wenn ich über diese gefährlichen Kreaturen nachdenke, erscheint ein anderes Gesicht, und ich sehe mich außerstande, es zu verdrängen. Dunkle, sanft blickende Augen sowie ein Lächeln mit dezent gelber Verfärbung der Hautpigmente um den Mund herum. Sind diese freundschaftlichen Gefühle nur kindliche Einbildung gewesen? Kann man sich derartig in seinem Eindruck täuschen?
Ich stehe auf, gehe in den Flur und klopfe an die Holztür von Lionels Zimmer. Ohne eine Antwort abzuwarten, trete ich ein.
Mein Bruder sitzt auf dem Bett und hört über die Kopfhörer Musik. Wie sehr wünsche ich mir auch so ein Com. Alle Freunde haben eines, nur ich nicht. Mutter und Vater sind da stur, so etwas gibt es frühestens mit sechzehn.
Ich seufze innerlich.
»Lionel?«
»Was ist?«, fragt mein Bruder sichtlich genervt, er sieht nicht einmal auf.
»Darf ich dich etwas fragen?« Ich hocke mich zu ihm auf den Bettrand.
Endlich hebt er den Kopf und entfernt die Ohrstöpsel. Seine Stirn ist gerunzelt, die hellblauen Augen schauen aber erwartungsvoll.
»Schieß los!«
Mein Mut verfliegt.
»Ich wollte … was denkst du …«, druckse ich herum, den Blick auf die Finger gerichtet. Ich muss mir mal wieder die Nägel feilen. Suna hat immer so toll manikürte Fingernägel, wie macht sie das nur? Aber sie ist auch cool, im Gegensatz zu mir.
»Na los, du Träumer, ich habe nicht ewig Zeit«, reißt mein Bruder mich aus den Gedanken.
Ich atme tief durch, die Finger ineinander reibend.
»Hast du schon einmal einen Predyl aus direkter Nähe gesehen?« So, jetzt ist der Anfang gemacht, nun gibt es kein Zurück mehr. Lionel stutzt.
»Nein. Eigentlich nicht. Wieso? Hast du?«
Ich nicke stumm.
Mein Bruder hebt erstaunt die Brauen.
»Tatsächlich? Wo denn?«
»Es ist schon einige Jahre her. Ich war acht oder so. Kannst du dich an das heiße Sommerjahr erinnern, als vor unserem Wohnhaus der Brunnen gebaut wurde? Das hatte einer von denen gemacht. Ein Junge, nicht viel älter als ich damals.«
Ein Jahr auf diesem Mond zieht sich über vier Zyklen auf der Erde. Die Kolonisten wollten sich jedoch nicht zu sehr umstellen mit ihrer Zeitrechnung, sodass der eigentliche Jahreswechsel über zwei Sommerjahre geht, denen zwei Winterjahre folgen. Stunden, Tage und Monate wurden auf ein Zehnersystem umgestellt, dann an den Rhythmus des Himmelskörpers angepasst.
Lionel setzt sich auf, schaltet das Com aus und steckt es in das Case. Er schaut mich zwinkernd an.
»Erzähl, wie du siehst, ich bin ganz Ohr!«
Also offenbare ich ihm mein bislang so sorgsam gehütetes Geheimnis.
* * *
Es war am Nachmittag eines der Sommerjahre, als ich einen der Einheimischen zum ersten Mal aus der Nähe sah. Wir schrieben das Jahr 315 nach der Landung, einen Monat zuvor war mein achter Geburtstag gewesen. Als ich aus der Schule kam, hockte so ein Wesen vor dem Nachbarhaus und baute an einem Brunnen. Der Vorgarten der Khans geht in unseren über, sodass ich an dem Arbeitsplatz vorbeigehen musste. Angst verspürte ich damals keine, eher Neugierde. Wir waren weniger vorbelastet durch die Nachrichten, es schien außerdem noch klein, von seiner Entwicklung her nicht viel älter als ich. Predyler wachsen schneller als Menschen, sodass dieses Kind an Jahren gerechnet gewiss jünger war, ihre Lebenserwartung beträgt nur etwa zwei Drittel der unseren.
Ich fand es hübsch. Jeder sagt immer, dass die Ureinwohner dämonisch hässlich seien. In Satiren werden sie entweder als Furcht einflößende oder lächerliche Kreaturen dargestellt. Ich wunderte mich, dass dieses Kind so anders aussah, als ich es mir vorgestellt hatte. Natürlich wurden in der Schule Bilder gezeigt, doch mit den ganzen gruseligen Geschichten im Hinterkopf blieben auch diese verzerrt in meiner Erinnerung. Streng genommen sehen sie uns sogar ähnlich, sind wie wir aufrecht gehende Vierbeiner mit einem Endoskelett. Allerdings scheinen deren Vorfahren keine Primaten gewesen zu sein, wie die unseren, sondern eher eine Art befiederter Echsen. Die Ureinwohner besitzen ebenfalls zwei Beine und Arme. Die lederartige Haut ist mit einem samtartigen Flaum bedeckt. Die Hände haben nur drei Finger mit gegenüberliegendem Daumen. Ihre Oberschenkel wirken gedrungen, fast stämmig, doch die dünneren Unterschenkel sowie der federnde Ballenstand lassen das Laufen grazil elegant aussehen.
Der Hals ist länger als der unsere, oft tragen sie darum einen bunten Schal oder eng anliegende Ketten darum. Ihr Gesicht ähnelt trotz des Flaums einem Reptil. Das dieses Kindes erinnerte mich ein wenig an die Bauchhaut eines Krokodils, auch wenn ich die Tiere der Erde nur noch aus Büchern kenne. Die beiden Hauptaugen sind schwarz und stehen weiter auseinander. Statt einer Nase befindet sich in der Mitte eine Art drittes Auge, das kleiner und immer geschlossen ist. Die schuppenartigen Furchen in der Gesichtshaut mit den vielen Muskeln geben ihnen mehr Möglichkeiten einer Mimik. Anhand spezieller Pigmentteilchen sind sie in der Lage, die Haut im Gesicht ganz dezent in verschiedenen Farben erscheinen zu lassen. Ohren sieht man unter der Kopfbehaarung keine. Der Mund ist breiter, die Zähne gleichmäßig spitz. Zum Reißen anstatt zum Kauen gedacht. Fleischfresser eben. Die ›Haare‹ werden oft lang getragen und ähneln dem Aufbau von Federn. Sie wachsen jedoch nicht in harten Kielen, sondern in elastischen Haupthaaren, von denen fächerartig weitere, dünnere abzweigen. Das lässt sie weich, fast samtig erscheinen.
Ich erinnere mich noch, dass ich fasziniert von diesen daunenartigen Haaren des Wesens war, die in der Sonne glänzten, und ein schier unbändiges Verlangen verspürte, mit der Hand darüber zu streichen. Doch ich hielt mich mit aller Kraft zurück. Die meisten von ihnen haben sehr dunkle Haut, mit samtigem schwarzen Flaum bedeckt, und schwarze Kopfbefiederung. Einige sind auch pigmentlos, dann sind ihre Haare weiß und die großen Augen rot wie bei Albinos.
Bei uns Menschen gibt es zwar alle möglichen Haarfarben, von Blond über Rot und Braun bis hin zu Schwarz, aber nur wenige wirklich Dunkelhäutige. Es hat sie wohl auf der Erde oft gegeben, jedoch waren kaum welche von ihnen auf den Kolonistenschiffen gewesen. Warum, weiß ich nicht. Meine Haare sind hellbraun, die Iris blau wie bei Lionel.
Dieses Predylerkind hatte pechschwarze Kopfbehaarung, in deren Strähnen rote Tonperlen geflochten waren, sowie große, dunkle Augen. Seinen Blick empfand ich als sanft, beinahe melancholisch.
Am meisten jedoch fiel mir der Anhänger auf, den es um den Hals trug. Ein an einem braunen Lederriemen hängender, dreieckiger blauer Stein, der in der Sonne glänzte. Allerdings vermochte ich nicht zu sagen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Ich erinnere mich noch, dass ich dastand und das Kind fasziniert anstarrte. Bis es den Kopf hob und meinen Blick unsicher erwiderte. Es trug einen gestrickten Schal um den Hals, einen Pulli aus Blaugras – einer faserreichen Pflanze, aus der man Stoffe fertigen kann – sowie gegerbte Lederhosen. Blaugraskleidung kannte ich damals schon als robuste Arbeits- oder Winterkleidung. Man sollte es nicht direkt auf der Haut tragen, sie ist oft rau und kratzt fürchterlich. Baumwolle ist jedoch zu teuer für die Einheimischen und man munkelt, dass sie aufgrund ihrer reptilienhaften Hautbeschaffenheit ohnehin weniger fühlen. Ihre Ledersachen wiederum stellen sie selbst her. Ein zivilisierter Mensch würde sich kaum wie ein Wilder in tote Tiere kleiden. Schuhe trug dieses Kind keine, die jeweils zwei Fußzehen waren schwarz mit kurzen Krallen.
Wer von uns zuerst die Mundwinkel zu einem Lächeln hochzog, daran erinnere ich mich nicht, doch es brach das Eis und die Unsicherheit verflog. Ein stilles, vorbehaltloses Einverständnis zwischen zwei Kindern. Wir mochten uns beide auf Anhieb. Dennoch schritt ich eher zaghaft zu ihm, genau wusste ich nicht, ob das Hochziehen der Mundwinkel wirklich eine freundliche Geste war, auch wenn die Augen so sanft blickten. Glücklicherweise verbarg es dabei diese gruseligen, spitzen Zähne, die ich von den Fotos kannte. Ich stand unsicher lächelnd vor ihm, während meine Finger etwas nervös mit den dekorativen Stoffbändern des fein gewebten Baumwollkleides spielten.
»Hallo«, sagte ich.
»Guten Tag«, erwiderte es höflich in unserer Sprache.
Da waren sie, die Zähne!
So unheimlich wie auf den Bildern wirkte die Mimik gar nicht.
Ein wenig bedrückte mich der Gedanke allerdings, dass solch eine Kreatur von der Evolution geschaffen war, andere Lebewesen zu essen.
Das Kind schichtete weiter ruhig die Steine aufeinander, als schätzte es den Menschen vor sich als gefahrlos ein.
Neugierig sah ich ihm zu und malte dabei mit meiner Schuhspitze Kreise in den aufgeschütteten Sand.
»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«
»Ich bin ein Junge.«
»Ich bin ein Mädchen.« Ich wusste zwar nicht, ob diese Information nötig war, immerhin trug ich ein geblümtes Sommerkleid, aber es erschien mir höflicher. »Was machst du da?«
»Ich baue den Brunnen für die Bewohner des grünen Hauses dort.«
Er antwortete, ohne aufzusehen oder mit der Arbeit innezuhalten. Die ganze Art war sehr erwachsen, seine Kindheit schien schon länger beendet.
»Mit so großen Steinen? Meine Mama sagt, Kinder dürfen nicht schwer tragen.«
Der Junge verzog die Mundwinkel.
»Sie meinte sicher nur euch Menschenkinder. Ich bin ein Predyl, ich muss mir das Essen verdienen.«
»Hast du Hunger?«
Bevor er antworten konnte, rannte ich ins Haus.
In dem großen Gebäude aus hellem Sandstein mit vielen Parteien hastete ich die Treppe hinauf in unsere Wohnung, die niemals abgeschlossen war.
Hier wohnten nur Menschen, denen kann man vertrauen. In meinem Zimmer angekommen, schnappte ich mir die Spardose, holte anschießend noch ein großes Stück Kuchen aus der Küche und lief dann wieder hinaus in den Garten.
»Hier!« Ich reichte ihm lächelnd die Sachen. Jetzt könnte er nach Hause spielen gehen. Zu einem der vielen von den Menschen angelegten Weiher zum Beispiel, es war ja so heiß heute. Ich hatte keine Ahnung, wie es in den Dörfern um Neumond herum aussah oder wie die Einheimischen lebten. »Nun hast du Essen, wenn ihr so etwas esst, und das ist mein Taschengeld.« Ich wies auf die Spardose. »Du kannst jetzt aufhören zu arbeiten.«
Er lächelte, nun nicht mehr so unterdrückt, wie zuvor. Doch was war das? Einzelne Bereiche um seinen Mund herum veränderten plötzlich die Farbe.
Ich blinzelte, um sicherzugehen. Ja, da war es, eine Gelbfärbung auf der dunklen Haut, an verschiedenen Stellen im Wechsel. Weniger grell, wie ich es mir aus Erzählungen vorgestellt hatte, eher wie kleine, lebensschwache Flämmchen, aber auf dem schwarzen Untergrund deutlich zu erkennen. Fasziniert davon musste ich an den Begriff eines ›strahlenden Lächelns‹ denken. Bedrohlich wirkte es zumindest nicht.
Ich kicherte.
»Du funkelst ja!«
Der Junge sah schnell zu Boden. Die gelben Flecken verschwanden und die Haut war wieder einheitlich schwarz.
Schade.
Er nahm den Kuchen, aber nicht die Spardose.
»Behalte dein Geld. Sonst heißt es noch, ich hätte dich bestohlen.« Während er das sprach, hielt er das Gebäck misstrauisch nahe an sein Gesicht, als wolle er trotz der fehlenden Nase riechen, ob es essbar sei. Dann legte er es auf seine Tasche. Diese Handlung passierte schnell, fast instinktiv.
»Nein, ich möchte, dass du die Spardose nimmst!«, rief ich trotzig. Ich hatte eigentlich immer erreicht, was ich wollte. »Nächsten Monat bekomme ich eh Neues.«
»Wie ist dein Name?«, fragte der Junge, ignorierte aber mein Fordern.
»Luna, und deiner?«
»Ich werde Biran genannt.«
»Hallo Biran, bist du öfter hier? Dann können wir was spielen.«
»Ich weiß nicht, ob deine Eltern es dir erlauben würden, dass du mit einem von uns spielst.«
»Ich kann spielen, mit wem ich will.« Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft.
»He!«, rief plötzlich unser Nachbar aus dem Fenster.
Biran zuckte zusammen. Schnell versteckte er den Kuchen in seiner Tasche und arbeitete weiter.
»Kleine! Belästigt die Echse dich?«
Es war Professor Khan. Ich erinnere mich, wie sehr ich bei dem strengen Tonfall erschrak. Als Nesthäkchen war ich recht verwöhnt und noch nie angebrüllt worden.
Den Nachbarn hatte ich bisher nur als netten, alten Herrn gekannt. Nun kam er mit seinem Spazierstock auf uns zu.
»Du Bengel arbeitest gefälligst weiter, sonst werde ich dir das Quatschen vom Lohn abziehen!«
Er drohte mit dem Stock und der Junge duckte sich.
»Nein!«, rief ich. Biran tat mir leid, ich musste mich sehr anstrengen, nicht zu weinen. »Es war meine Schuld, ich habe ihn ausgefragt. Er kann nichts dafür!«
Professor Khan fuchtelte weiter mit dem Gehstock in der Luft herum: »Diese Tagediebe suchen doch immer eine Gelegenheit zum Faulenzen! Geh ins Haus, Mädchen. Hat dir dein Vater nicht gesagt, dass du mit diesen Gaunern kein Gespräch beginnen sollst?«
Schnell rannte ich in unsere Wohnung. Einerseits aus Angst vor dem Mann, aber auch, weil ich vor dem Jungen nicht weinen wollte. Im Zimmer bemerkte ich dann, dass ich noch immer die Spardose in der Hand hatte. Voller Wucht schmiss ich sie an die Steinwand, warf mich auf das Holzbett, das knarrend protestierte, und vergrub mein tränennasses Gesicht unter den Stofftieren. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb der Professor uns beide so angebrüllt hatte. Warum durfte ich mit keinem Predylerkind reden? Was war so schlimm daran?
Biran baute noch vier Tage an dem Brunnen, doch ich traute mich nicht mehr, ihn anzusprechen. Ich fürchtete, er bekäme sonst Ärger. Stattdessen beobachtete ich ihn von meinem Fenster aus. Manchmal trafen sich unsere Blicke, dann lächelte er mir zu oder winkte heimlich. Ich lächelte und winkte zurück. Es war so aufregend, wie eine verbotene Liebe, wie die alte Geschichte von Romeo und Julia. Schließlich war er verschwunden. Ich weinte den ganzen Tag in der Gewissheit, meinen Romeo nie wiederzusehen.
* * *
»Ich malte sogar ein Bild von Biran mit dem Anhänger, der mir so gefallen hat, in mein Tagebuch«, ende ich die Erzählung. Lionel sitzt neben mir, er hat die ganze Zeit über geschwiegen.
»Eine echte Zeichnung, weißt du? Keine Karikatur. Daher kann ich mich bis heute noch an ihn erinnern.« Ich sehe meinen Bruder mit großen Augen an. »Ich muss oft an ihn denken. Immer, wenn ich diese Geschichten über die angeblich so barbarischen ›Echsen‹ höre.«
Lionel mustert mich nachdenklich, doch in seinem Blick ist auch eine deutliche Skepsis zu erkennen.
»Es sind sicherlich nicht alle so, wie es die Medien darstellen. Es kann aber genauso sein, dass deine Erinnerung an diesen Jungen mit den Jahren etwas beschönigt wurde. Du fandest ihn faszinierend und nett, weißt aber nicht, was er heute als ausgewachsener Jäger für einen Charakter hat!«
Ich presse die Lippen zusammen und schaue zu Boden. Mein Bruder hat mal wieder recht, ich sollte keiner weich gespülten Kindheitserinnerung nachhängen.
Nach der Schule gehe ich für gewöhnlich immer sofort heim. Ich verabrede mich kaum noch mit Freundinnen, habe ohnehin nur zwei wahre. Alle Mädchen in meinem Alter geben Gas in Sachen ›cool sein‹, während ich mich zum unscheinbaren Mauerblümchen entwickle. Statt im Trend zu bleiben, werde ich nur verträumter. Das macht sich leider auch in den Noten bemerkbar, daher muss ich zusätzlich noch länger für die Arbeiten lernen. Heute gab ich dem Druck nach und kaufte mir einige schicke Klamotten in den Geschäften der Einkaufzeile. Vielleicht hilft das, etwas mehr dazuzugehören.
Lustlos gehe ich mit den vollen Einkaufsbeuteln in Richtung Bahnhof über das breite Kopfsteinpflaster. Hier ist fast alles aus Stein gebaut. Steine gibt es genug auf diesem Mond, in allen Größen. Steine und Eis. Zwei Drittel des Trabanten sind mit Gletschern bedeckt. Zumindest haben wir ausreichend Trinkwasser, auch wenn es meist unterirdisch verläuft. Wie so oft stelle ich mir vor, wie es früher auf der Erde ausgesehen hat.
Natürlich bevor die Menschheit ihren einstigen Ursprungsplaneten in eine lebensfeindliche Öde und Müllhalde verwandelte.
Was ist mit den Personen geschehen, die nicht hatten fliehen können? Sind sie noch am Leben? Haben sie es vielleicht geschafft, die Erde wieder auf Vordermann zu bekommen? Eher nicht. Laut den Überlieferungen war damals die berechnete Wahrscheinlichkeit, dass eines der gestarteten Kolonistenschiffe einen bewohnbaren Planeten finden würde, angeblich höher, als daheim zu überleben. Nun, zumindest unsere Vorfahren hatten es offensichtlich geschafft.
Kurz vor dem Bahnhof bleibe ich abrupt stehen. Ich höre Rufe und sehe, wie Polizisten eine große Gruppe protestierender Einheimischer auseinandertreiben. Einige dieser Demonstranten werden mit Schlagstöcken verprügelt und in die Dienstwagen gezerrt, doch die meisten fliehen in alle Himmelsrichtungen.
Ich bin einen Moment lang wie erstarrt, denn bisher kenne ich solche Bilder nur aus den Nachrichten. Dann überwinde ich den ersten Schrecken und renne Deckung suchend in eine schmale Sackgasse zwischen den Häusern. Von dort lässt sich die Szene aus sicherer Entfernung beobachten.
Mein Herz rast. Einer der Einheimischen flieht in genau dieselbe Gasse! Rasch springe ich in den Schatten zweier Müllcontainer. Es stinkt so widerlich nach Essensresten, dass mir übel wird, ich traue mich jedoch nicht, weiter durch den Mund zu atmen, aus Angst, gehört zu werden. Ich presse den Rücken fest an die kalte Hauswand und wünsche mir, in ihr verschwinden zu können. Wenn ich doch nur weniger auffällige Kleidung anhätte!
Schritte nähern sich. Die Fußfolge klingt ungewöhnlich. – Das ist kein Mensch! – Ihr Hall verrät, dass der Verursacher in diese Gasse rennt.
Mein Atem stockt.
Bald kommt er an dem Versteck vorbei. Was, wenn er mich entdeckt? Als Geisel nimmt oder tötet?
Die Ureinwohner sind angeblich so stark, dass sie einem Menschen mit einem Hieb den Kopf abreißen können! Heißt es zumindest. Spielen sie womöglich mit ihrer Beute, wie einige Raubtiere es tun? Wird mein Tod kurz und schmerzhaft sein oder qualvoll lang? Der Angstschweiß verdrängt das Frösteln.
Die Laute werden langsamer, wirken unstet, kommen näher. Wer immer es ist, er scheint ebenfalls ein Versteck zu suchen. Ich halte für einen Moment den Atem an, in der Hoffnung, die Person wird an mir vorbeilaufen.
Der verzerrte, langbeinige Schatten eines Predyls geistert an der gegenüberliegenden Wand, erzeugt vom Tageslicht, das von der Straße aus die Gasse beleuchtet. Ich starre mit weit aufgerissenen Augen auf das Schattenspiel vor mir. Der Ballengang, die wilden Haare und der lange Hals lassen die Silhouette wie eine Figur aus einem Gruselroman wirken. Es fehlen nur spitze Klauen.
Ich wage kaum, zu atmen, stehe wie erstarrt gegen die kalte Steinwand gelehnt, noch immer die Stoffbeutel umklammert. Nun erscheint eine dunkle Gestalt. Sie dreht den Kopf und sieht mich erschreckt an. Die dichte Mähne scheint sich in diesem Moment anzuheben, was alles noch bedrohlicher wirken lässt. Ich reiße wie zu einem stummen Schrei, den Mund auf, doch dann schließe ich ihn wieder. Schlucke. Biran!
Ich weiß sofort, dass er es ist, selbst wenn es mir schwerfällt, die Kreaturen auseinanderzuhalten. Er trägt den Anhänger mit dem blauen Stein um den Hals, auch denselben gestrickten Schal. Er muss es sein.
So verzerrt und unheimlich zuvor der Schatten an der Wand auf mich wirkte, so geschmeidig ist die lebende Gestalt nun vor mir. Alleine der Gedanke an meine romantisierte Kindheitsträumerei nimmt ihr allen Schrecken.
Er blickt stumm mit ausdruckslosen Augen. Ob er mich erkennt? Ich gehe behutsam einen Schritt nach vorne.
»Du bist Biran, oder? Du hast damals den Brunnen neben unserem Haus gebaut«, sage ich hastig, in der Hoffnung, dass er mir nichts tun wird, wenn ich kein namenloser Mensch unter vielen für ihn bin. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Er ist ein Einheimischer, er hasst meine Spezies. Es dauert einige Sekunden, dann entspannt sich seine Muskulatur.
»Du erinnerst dich daran?« Er klingt tiefer, irgendwie sanft, so wie der Blick dieser dunklen Augen.
Nur die Stirn erscheint gewellt, aber ich kann die Mimik nicht einschätzen. Biran ist groß, doch sehr mager. Seine Gesichtsknochen schauen deutlich hervor und die Kleidung wird kaum von dem schmalen Körper ausgefüllt. Ich schäme mich bei dem Anblick, da ich in letzter Zeit ziemlich zugenommen habe. Wie das eben so ist in der Pubertät. Ich bin nicht die ehrgeizige Sportskanone, sondern lese lieber zuhause gemütlich, zeichne oder träume einfach nur vor mich hin. Dazu halte ich noch zwei große Einkaufsbeutel mit teuren Klamotten in der Hand. Mein verzweifelter, wenn auch wenig erfolgversprechender Versuch, trotz überschüssiger Pfunde und stetiger Verklemmtheit in der Schule unter die ›Coolen‹ zu kommen.
Ich verspüre den Drang, etwas zu sagen, mich beliebt zu machen. Mein Leben zu retten!
»Natürlich tue ich das. Ich habe nur so geschwärmt für dich damals.« Ein zu unsicheres Lachen. »Es war so schwer in dem Alter, niemandem davon zu erzählen.«
Biran zieht ebenfalls die Mundwinkel hoch, eine Mimik, die an ein Lächeln erinnert. Es wirkt dennoch gezwungen, ich vermisse die Gelbfärbung um den Mund herum. Ist das vielleicht nur Einbildung gewesen? Ich überlege, ob es aufgrund der Situation so gekünstelt aussieht oder ob sie sich diese Geste nur von den Menschen abgeschaut haben und selbst gar nicht lächeln.
Während meines Grübelns verhärtet sein Blick erneut. Weitere Falten tauchen auf.
Ich staune insgeheim, wie ausdrucksvoll die Gesichter dieser Wesen sind. Er denkt gewiss darüber nach, was er mit mir tun soll. Ich schlucke, mein gesamter Körper bebt.
»Wir steuern auf eine harte Zeit zu, was?«, frage ich nach einer Weile betretener Stille.
Ich will unbedingt weiter mit ihm reden, diesem Wesen keine Gelegenheit lassen, ohne Überlegung zuzuschlagen.
Biran geht auf das Gespräch ein.
»Es sieht so aus.«
»Hasst du mich?«
Ein dicker, drückender Kloß bildet sich in meiner Kehle, der mir fast den Atem raubt.
»Nein.«
»Aber ihr hasst alle Menschen?«
»Nein, nicht alle.«