Titel

Eva Demski

Neue Gartengeschichten

Über Buchsbaumzünsler, Akeleien, das Alter

und ein Jahr wie keins zuvor

Mit Bildern von Michael Sowa

Insel Verlag

Kapitulation

Ich sehe seit einer Zeit,

wie alles sich verwandelt.

Etwas steht auf und handelt

und tötet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all

die Gärten nicht dieselben;

von den gilbenden zu der gelben

langsamem Verfall:

wie war der Weg mir weit

Rainer Maria Rilke

Es war der sechzehnte August im heißen Sommer 2020, in dem sich nichts mehr anfühlte wie zuvor. Ich schaute im Garten auf meine Buchsumrandungen und beschloss, sie aufzugeben. Schon vor Jahren hatten imperiale Gärten wie die von Hannover oder Seligenstadt die bittere Prozedur durchgemacht. Da ging es um Tausende von Metern und jede Menge Kulturgeschichte, denen Buchsbaumzünsler und Pilze den Garaus gemacht hatten. Was waren da schon meine gut dreißig Meterchen, die jetzt trotz allen Widerstands braun und krümelig wurden? Lang hatten wir versucht – wir, das heißt der Gärtner Herr D. und ich – Zünsler und Pilz zu bekämpfen. Allerdings wollte ich nicht, dass auch anderes kriechendes und fliegendes Getier zugrunde gehe. Schließlich hörte man viel vom Insektensterben und hatte sich daran gewöhnt, die ganz großen Sünden der Zeit auch auf die eigene Kappe zu nehmen.

s ist Krieg!s ist wieder Krieg! […]

s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Das alte Lied.

Manchmal schien es, als ob der Zünslerkrieg zu gewinnen sei, dann winkten die Buchse mit ein paar grünen Ärmchen und schienen sich für die Hilfe zu bedanken. Wie alle Kriege hat auch dieser viel Kraft vergeudet. Wie in allen Kriegen wurde auch in diesem gut verdient und viel gelogen. Aber im August des Corona-Sommers 2020 sollte Schluss damit sein. Ende. Ohne Bedingungen oder Friedensverhandlungen.

Vorausgegangen war diesen Überlegungen ein Frühjahr, das so trügerisch hübsch begonnen hatte wie die meisten, Zwiebelblümchen und steigende Sonne. Ohne dass sie es zunächst wahrzuhaben schien, ohne irgendein wahnsinnig knirschendes, kreischendes, weltweit ohrenbetäubendes Bremsgeräusch war die Welt zum Stillstand gekommen. Am 3.März mochte ich meinen Gastgeberinnen bei einer Lesung – es sollte für lange Zeit meine letzte sein – nicht die Hand geben.

Sorry, sagte ich verlegen und machte dieses affige Namaste-Ding, als sei ich in einem Tempel.

Hätten wir nicht gedacht, dass Sie so ein ängstlicher Typ sind!, sagten die Gastgeberinnen munter. Dann fing die Zeit gleichzeitig an zu rasen und stillzustehen.

Hast du ein Glück, dass du den Garten hast!, sagten wenig später die gartenlosen Freunde.

Hast du ein Glück.

Das wusste ich, auch ohne diese unheimliche Geschichte. Beängstigende Infektionsnachrichten aus Amerika und Brasilien, Italien und Indien, Nordrhein-Westfalen und von der österreichischen Grenze, Orte wie Heinsberg oder Ischgl wurden zu düsteren Beispielen, die bald jeder kannte. Offenbar hatte das Virus besonders die fröhliche und innige Menschheit im Visier. Die Stunde einer ganz neuen Art von Puritanismus schlug. Er erfasste viele, mich ebenfalls. Manche verfielen in eine Art Gehorsamsrausch. Alarmierende Fallzahlen und Verlaufskurven bestimmten den Alltag, ein diabolischer Börsenkurs für jeden. In seinem Schatten versteckten sich Dutzende von politischen Skandalen und Katastrophen. Und ich dachte über Buchse nach.

Da, wo ich lebte, in den Zonen der älteren Mittelschicht, hatte eine stumme, fast wütende Art der Innenschau begonnen. Wir mussten keine Kinder mehr beschulen und beschäftigen, Besuche bei den noch Älteren waren nicht mehr erlaubt. Also wurden Bücher, Briefe, Fotos, Porzellan, Möbel, Servietten aus Schränken und Kommoden, Kellern und Speichern geklaubt, besichtigt und auf Brauchbarkeit überprüft. Und darauf, ob sich aus dem Zeug schöne Erinnerungen an gesunde Zeiten würden herausschütteln lassen, wenn man es zur Hand nahm.

Die Wertstoffhöfe füllten sich schnell und blieben tageweise wegen Überlastung geschlossen. Sperrmüllberge wurden gesellschaftsfähig und eroberten auch die feineren Viertel. Ein stummes Umwälzen fand statt, ein Umkrempeln, ein Auf-den-Kopf-Stellen, und alles wegen einer unsichtbaren, von den Orakelsprüchen der Virologen begleiteten Bedrohung. Was brauchte man? Was war überflüssig geworden? Entscheidungen wurden nicht selten revidiert. Notwendige Vorräte für das Seelenleben waren schwerer zu erkennen und anzulegen als die für die Körperhygiene.

Hast du ein Glück mit deinem Garten!

Das eingewachsene Stückchen Land mit viel Luft nach oben, von Vergissmeinnicht und frühen kurzbeinigen Iris verschwenderisch geschmückt, schien der einzige Ort zu sein, an dem keine Gefahr drohte. Die dunkellila Iris waren im Corona-Frühling zum ersten Mal bei mir aufgetaucht, wie ein kleiner Trost von wo auch immer. Ich war gerührt, hielt mein unmaskiertes Gesicht in die Sonne und nahm mir vor, dieser verfluchten Pandemie in einer einsamen, efeugeschützten Ecke einfach standzuhalten. Was ich nicht wusste: Was andere in dem, was als Lockdown in die Geschichte einging, in ihren Regalen und Schränken veranstalteten, wohl auch in ihren Ehen, Büros, Studiengängen und Reiseplänen – eine erzwungene Bestandsaufnahme –, das machte ich in den Sommer- und Herbstmonaten mit meinem kleinen Garten.

Zunächst fiel es mir gar nicht auf. Ich sah ihn mit anderen Augen. Ich erinnerte mich an seine Geschichte. Andere förderten papierene Glücksmomente aus längst vergangenen Zeiten zutage, Briefe, Tagebücher oder Fotos. Das tröstete ein wenig über das brutale Ausgebremstsein hinweg. Man konnte den Trost auch digital teilen, manche haben Blogs und Wohnzimmerauftritte ersonnen, die vielleicht sogar ein wenig Geld brachten, aber vor allem eine gleich gesinnte und gleich betroffene Gesellschaft im Netz. Das hätte ich ebenfalls machen können, ich bin aber gar nicht draufgekommen. Im Lockdown waren wir völlig allein, mein Garten und ich. Er hatte meine ganze Aufmerksamkeit, auch weil das Schreiben derzeit nicht recht funktionieren wollte. Es schien so beliebig geworden zu sein.

Teilen? Teilen wollte ich ihn trotz schlechtem Gewissen nicht, weder analog noch digital. So sah ich Woche für Woche, im Grundrauschen der Ansteckungszahlen, ohne dass das jemand von mir gewollt hätte, seine Stärken und Schwächen anders und genauer als vorher. Ebenso wie meine eigenen. Ein allmähliches, fürs Erste von keinem sichtbaren Ergebnis begleitetes Aufräumen. Ich würde sehen, was für ihn und mich überflüssig, abgenutzt, vielleicht sogar schädlich war. Ich hielt still, um ihn zu hören, und schaute viel in ihm spazieren.

Nicht nur das Virus hatte sich über uns hergemacht, sondern auch Hitze und Trockenheit, das abgenutzte Wort Klimawandel füllte sich mit ganz konkreten Erfahrungen.

Warum wollte ich damals, vor Jahrzehnten, als ich den Garten anlegte, unbedingt Buchse haben? Sie waren in meinen Augen die beste Möglichkeit, diesem Briefmärkchen von Garten eine Anmutung von Kloster oder Schloss zu geben. Es ist wahr, sie stehen für gewaltsame Zurichtung, sie lassen sich furchtbar viel gefallen, eigentlich weiß niemand, wie es aussieht, wenn man den Buchs Buchs sein lässt.

Vor wenigen Jahren musste ich ein paar große Buchskugeln aufgeben, über die hatte das neuartige Gezücht gesiegt. Bösartig bunte Raupen wurden zu hübsch gezeichneten Faltern, wie über Nacht waren die artig frisierten Kullern ruppig und braun geworden. Im ganzen Viertel sah man die Verheerungen, und meine eiserne Tierliebe ging in Mordlust über. Eine kleine Stimme in mir hielt dagegen: Die können doch nichts anderes sein, als sie sind. Vielleicht sind sie die Rache der Buchse? So wie Corona die Rache der Tiere sein könnte?

Diese Ideen behielt ich aber für mich, sie waren spooky und nutzten niemandem.

Bei meiner ersten großen Buchskugel, die rausgerissen werden musste, habe ich geheult. Wie bei anderen Gelegenheiten wurde bei mir auch diesmal aus Kummer Wut. Meine schönen Umrandungen wollte ich behalten, basta, Rache hin oder her. Die Spritze des Gärtners D., die er auf dem Rücken trug wie ein Soldat sein MG, kam oft zum Einsatz. Es sei bienen- und schmetterlingsschonend, das Zeug, wurde mir versichert. Ich wollte das glauben und hütete mich, genauer nachzufragen.

Schon lang vor den Extremsommern und dem Virus war mir der Gedanke gekommen, ob dieser Kampf nicht für den Erhalt einer Gartenlüge geführt wurde. Mein pseudoitalienisches, pseudoklösterliches, pseudoaristokratisches Hinterhausidyllchen war offenbar nur mit Gewalt durchzusetzen. Das ging im Grunde gegen meine Überzeugungen, aber ich hörte nicht auf die leisen Mahnungen meiner anarchistischen Seele.

An diesem Augusttag kapitulierte ich. Das hatte mit ihr zu tun, aber auch mit dem Virus, das seit einem halben Jahr seine unheimliche Macht zeigte. Und mit der Erkenntnis, dass dieser nicht der letzte trockene Sommer sein würde nach dreien davon, wenn die Jahreszeiten irgendwann wieder normal abrollen würden und das Wetter unser einziges Problem wäre. Schon jetzt, nach einem lächerlichen halben Jahr der Pandemie, kam mir das unvorstellbar vor. Außerdem war ich alt, damit musste ich samt Garten klarkommen. Wenn einst das Virus verschwinden und der Regen wiederkommen würde – schön und gut. Das Alter bleibt und wächst.

Noch durften wir hier gießen, in manchen Nachbargemeinden war es schon verboten. Nach fünf, sechs geschleppten Kannen schien mir klammheimlich ein Verbot verlockend. Ich musste also herausfinden, wie wir in meinen nächsten Lebensjahren miteinander auskommen könnten, der Garten und ich. Eine Bestandsaufnahme innerer und äußerer Bedingungen schien notwendig, um zu einer klugen Strategie zu finden. Und deswegen telefonierte ich Ende August mit dem treuen R., der meinen Garten gut kennt, seufzte tief am Telefon und sagte:

Die Buchse müssen raus!

Er überhörte den dramatischen Ton, wahrscheinlich ist er schon lang der Meinung, ich hätte sie nicht alle beisammen.

Das war sowieso ein Kampf gegen Windmühlen, sagte er sachlich, und wir vermieden beide, über seinen ehemaligen Meister, den Krieger mit dem Spritzen-MG, zu reden. Es passt gut, dass der liebe R. einen spanischen Nachnamen hat. Sancho Pansa war von dem Duo sowieso der Gescheitere.

Machen Sie die Reise mit mir zusammen?, fragte ich kläglich.

Ich bin dabei, sagte er.

Bevor sie rausgerissen wurden, war jetzt erst einmal Zeit, sie sich wegzudenken und sich einzugestehen, was diese bröseligen Umrandungen einfassten und schützten: Chaos. Wildwuchs. Vernachlässigung, aber auch winzige schöne Überraschungen. Indessen war es September geworden, mit einer sanften Spätsommersonne nach der wütenden Hitze. Es war immer noch viel zu trocken, aber an die alte Klage hatte man sich schon gewöhnt. Die Corona-Börsenkurse zeigten eine trügerische Ruhe, bei uns, nicht in der weiten Welt.

Wartet nur, bis der Herbst kommt, bis alle wieder drin sind, bis sich alle selbstmörderisch in den Armen liegen und einander die Aerosole in die Gesichter blasen!

In tausend Varianten war das zu lesen und zu hören. Täglich wurden Karnevals- und Faschingsveranstaltungen abgesagt, vom Oktoberfest hatte man sich schon lang verabschiedet. Schausteller standen vor dem Ruin, aber nicht nur sie.

Ich hatte nichts anderes zu tun, als herauszufinden, wohin es mit mir und meinem Garten gehen sollte. Nicht nur, was ich wollte und mir wünschte, war wichtig, sondern viel mehr noch, was wir miteinander zustande brächten, ohne Zwang, ohne zu viel Arbeit und ohne ihn der Hässlichkeit preiszugeben. Die will man ja auch für den eigenen Leib nicht, diese traurige Gleichgültigkeit, wenn Wildwuchs und Stacheligkeit siegen.

Hinter der trügerischen Ordentlichkeit der Buchse war es in meinem Garten damit schon ziemlich weit gekommen, der Herbst zeigte es ganz ohne die Verhüllungen, die mir vom Frühling und vom Sommer geschenkt worden waren. Schneeglöckchen, Vergissmeinnicht und Rosen ließen über vieles hinwegsehen. In diesem Herbst, beim Blick hinter die todgeweihte kleine Hecke, war kein Platz mehr für Illusionen.

Ach, ist es hier schön!, hatten die wenigen Besucher, die während der Stillstandsmonate hier waren, gesagt. Sie würden das sicher auch jetzt noch sagen, in der silbernen Herbstsonne, die auf ausgebleichte Hortensien und knallfarbige Buntnesseln schien. Sie würden es nicht nur mir zu Gefallen sagen, denn sie ist ja wirklich schön, diese kleine Spiegelwohnung mit ihren lebendigen Mauern.

Ich wollte unter keinen Umständen, dass mir mein Garten zu schwierig, zu anspruchsvoll würde. Das sah ich bei vielen Freundinnen und Freunden, das hatte ich bei meiner Mutter gesehen und betrauert. Man kann nicht helfen, wenn jemandem eine jahrzehntelange große Liebe allmählich oder buchstäblich mit einem Schlag zur Last wird. Meistens will man es sich nicht einmal eingestehen. Ich denke an Frau E., die aus dem Rollstuhl heraus ihren Mann wüst beschimpft. Er macht im Garten alles verkehrt. Sie beherrscht ihren Garten nicht mehr, deshalb versucht sie jetzt, ihren Mann zu beherrschen, damit der ihren geliebten Garten im Zaum hält. Sie lässt beide dabei nicht aus den Augen und verzweifelt.

Wir wollten endlich anfangen, es einander leicht zu machen, mein Garten und ich.

Wie er wohl aussehen würde, frei, ohne sein Korsett aus Buchsen?

Ich hatte eine kleine Angst. Befreiungen machen immer Angst, ich war alt genug, das zu wissen.