Gottfried Keller

Spiegel, das Kätzchen

Ein Märchen

Gottfried Keller

Spiegel, das Kätzchen

Ein Märchen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-81-2

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Inhaltsverzeichnis

Spie­gel, das Kätz­chen – Ein Mär­chen

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Spiegel, das Kätzchen – Ein Märchen

Wenn ein Seld­wy­ler einen schlech­ten Han­del ge­macht hat oder an­ge­führt wor­den ist, so sagt man zu Seld­wy­la: Er hat der Kat­ze den Schmer ab­ge­kauft! Dies Sprich­wort ist zwar auch an­der­wärts ge­bräuch­lich, aber nir­gends hört man es so oft wie dort, was viel­leicht da­her rüh­ren mag, dass es in die­ser Stadt eine alte Sage gibt über den Ur­sprung und die Be­deu­tung die­ses Sprich­wor­tes.

Vor meh­re­ren hun­dert Jah­ren, heißt es, wohn­te zu Seld­wy­la eine ält­li­che Per­son al­lein mit ei­nem schö­nen, grau und schwar­zen Kätz­chen, wel­ches in al­ler Ver­gnügt­heit und Klug­heit mit ihr leb­te und nie­man­dem, der es ru­hig ließ, et­was zu­lei­de tat. Sei­ne ein­zi­ge Lei­den­schaft war die Jagd, wel­che es je­doch mit Ver­nunft und Mä­ßi­gung be­frie­dig­te, ohne sich durch den Um­stand, dass die­se Lei­den­schaft zu­gleich einen nütz­li­chen Zweck hat­te und sei­ner Her­rin wohl­ge­fiel, be­schö­ni­gen zu wol­len und all­zu­sehr zur Grau­sam­keit hin­rei­ßen zu las­sen. Es fing und tö­te­te da­her nur die zu­dring­lichs­ten und frechs­ten Mäu­se, wel­che sich in ei­nem ge­wis­sen Um­krei­se des Hau­ses be­tre­ten lie­ßen, aber die­se dann mit zu­ver­läs­si­ger Ge­schick­lich­keit; nur sel­ten ver­folg­te es eine be­son­ders pfif­fi­ge Maus, wel­che sei­nen Zorn ge­reizt hat­te, über die­sen Um­kreis hin­aus und er­bat sich in die­sem Fal­le mit vie­ler Höf­lich­keit von den Her­ren Nach­ba­ren die Er­laub­nis, in ih­ren Häu­sern ein we­nig mau­sen zu dür­fen, was ihm ger­ne ge­währt wur­de, da es die Milchtöp­fe ste­hen­ließ, nicht an die Schin­ken hin­auf­sprang, wel­che etwa an den Wän­den hin­gen, son­dern sei­nem Ge­schäf­te still und auf­merk­sam ob­lag und, nach­dem es die­ses ver­rich­tet, sich mit dem Mäus­lein im Mau­le an­stän­dig ent­fern­te. Auch war das Kätz­chen gar nicht scheu und un­ar­tig, son­dern zu­trau­lich ge­gen je­der­mann und floh nicht vor ver­nünf­ti­gen Leu­ten; viel­mehr ließ es sich von sol­chen einen gu­ten Spaß ge­fal­len und selbst ein biss­chen an den Ohren zup­fen, ohne zu krat­zen; da­ge­gen ließ es sich von ei­ner Art dum­mer Men­schen, von wel­chen es be­haup­te­te, dass die Dumm­heit aus ei­nem un­rei­fen und nichts­nut­zi­gen Her­zen käme, nicht das min­des­te ge­fal­len und ging ih­nen ent­we­der aus dem Wege oder ver­setz­te ih­nen einen aus­rei­chen­den Hieb über die Hand, wenn sie es mit ei­ner Plump­heit mo­les­tier­ten.

Spie­gel, so war der Name des Kätz­chens we­gen sei­nes glat­ten und glän­zen­den Pel­zes, leb­te so sei­ne Tage hei­ter, zier­lich und be­schau­lich da­hin, in an­stän­di­ger Wohl­ha­ben­heit und ohne Über­he­bung. Er saß nicht zu oft auf der Schul­ter sei­ner freund­li­chen Ge­bie­te­rin, um ihr die Bis­sen von der Ga­bel weg­zu­fan­gen, son­dern nur, wenn er merk­te, dass ihr die­ser Spaß an­ge­nehm war; auch lag und schlief er den Tag über sel­ten auf sei­nem war­men Kis­sen hin­ter dem Ofen, son­dern hielt sich mun­ter und lieb­te es eher, auf ei­nem schma­len Trep­pen­ge­län­der oder in der Dach­rin­ne zu lie­gen und sich phi­lo­so­phi­schen Be­trach­tun­gen und der Beo­b­ach­tung der Welt zu über­las­sen. Nur je­den Früh­ling und Herbst ein­mal wur­de dies ru­hi­ge Le­ben eine Wo­che lang un­ter­bro­chen, wenn die Veil­chen blüh­ten oder die mil­de Wär­me des Al­te­wei­ber­som­mers die Veil­chen­zeit nach­äff­te. Als­dann ging Spie­gel sei­ne ei­ge­nen Wege, streif­te in ver­lieb­ter Be­geis­te­rung über die ferns­ten Dä­cher und sang die al­ler­schöns­ten Lie­der. Als ein rech­ter Don Juan be­stand er bei Tag und Nacht die be­denk­lichs­ten Aben­teu­er, und wenn er sich zur Sel­ten­heit ein­mal im Hau­se se­hen ließ, so er­schi­en er mit ei­nem so ver­we­ge­nen, bur­schi­ko­sen, ja lie­der­li­chen und zer­zaus­ten Aus­se­hen, dass die stil­le Per­son, sei­ne Ge­bie­te­rin, fast un­wil­lig aus­rief: »Aber Spie­gel! Schämst du dich denn nicht, ein sol­ches Le­ben zu füh­ren?« Wer sich aber nicht schäm­te, war Spie­gel; als ein Mann von Grund­sät­zen, der wohl wuss­te, was er sich zur wohl­tä­ti­gen Ab­wechs­lung er­lau­ben durf­te, be­schäf­tig­te er sich ganz ru­hig da­mit, die Glät­te sei­nes Pel­zes und die un­schul­di­ge Mun­ter­keit sei­nes Aus­se­hens wie­der­her­zu­stel­len, und er fuhr sich so un­be­fan­gen mit dem feuch­ten Pföt­chen über die Nase, als ob gar nichts ge­sche­hen wäre.

Al­lein dies gleich­mä­ßi­ge Le­ben nahm plötz­lich ein trau­ri­ges Ende. Als das Kätz­chen Spie­gel eben in der Blü­te sei­ner Jah­re stand, starb die Her­rin un­ver­se­hens an Al­ters­schwä­che und ließ das schö­ne Kätz­chen her­ren­los und ver­waist zu­rück. Es war das ers­te Un­glück, wel­ches ihm wi­der­fuhr, und mit je­nen Kla­ge­tö­nen, wel­che so schnei­dend den ban­gen Zwei­fel an der wirk­li­chen und recht­mä­ßi­gen Ur­sa­che ei­nes großen Schmer­zes aus­drücken, be­glei­te­te es die Lei­che bis auf die Stra­ße und strich den gan­zen üb­ri­gen Tag rat­los im Hau­se und rings um das­sel­be her. Doch sei­ne gute Na­tur, sei­ne Ver­nunft und Phi­lo­so­phie ge­bo­ten ihm bald, sich zu fas­sen, das Unab­än­der­li­che zu tra­gen und sei­ne dank­ba­re An­häng­lich­keit an das Haus sei­ner to­ten Ge­bie­te­rin da­durch zu be­wei­sen, dass er ih­ren la­chen­den Er­ben sei­ne Diens­te an­bot und sich be­reit mach­te, den­sel­ben mit Rat und Tat bei­zu­ste­hen, die Mäu­se fer­ner im Zau­me zu hal­ten und über­dies ih­nen man­che gute Mit­tei­lung zu ma­chen, wel­che die Tö­rich­ten nicht ver­schmäht hät­ten, wenn sie eben nicht un­ver­nünf­ti­ge Men­schen ge­we­sen wä­ren. Aber die­se Leu­te lie­ßen Spie­gel gar nicht zu Wor­te kom­men, son­dern war­fen ihm die Pan­tof­feln und das ar­ti­ge Fuß­sche­mel­chen der Se­li­gen an den Kopf, so­oft er sich bli­cken ließ, zank­ten sich acht Tage lang un­ter­ein­an­der, be­gan­nen end­lich einen Pro­zess und schlos­sen das Haus bis auf wei­te­res zu, so­dass nun gar nie­mand dar­in wohn­te.

Da saß nun der arme Spie­gel trau­rig und ver­las­sen auf der stei­ner­nen Stu­fe vor der Hau­stü­re und hat­te nie­mand, der ihn hin­ein­ließ. Des Nachts be­gab er sich wohl auf Um­we­gen un­ter das Dach des Hau­ses, und im An­fang hielt er sich einen großen Teil des Ta­ges dort ver­bor­gen und such­te sei­nen Kum­mer zu ver­schla­fen; doch der Hun­ger trieb ihn bald an das Licht und nö­tig­te ihn, an der war­men Son­ne und un­ter den Leu­ten zu er­schei­nen, um bei der Hand zu sein und zu ge­wär­ti­gen, wo sich etwa ein Maul­voll ge­rin­ger Nah­rung zei­gen möch­te. Je sel­te­ner dies ge­sch­ah, de­sto auf­merk­sa­mer wur­de der gute Spie­gel, und alle sei­ne mo­ra­li­schen Ei­gen­schaf­ten gin­gen in die­ser Auf­merk­sam­keit auf, so­dass er sehr bald sich sel­ber nicht mehr gleichsah. Er mach­te zahl­rei­che Aus­flü­ge von sei­ner Hau­stü­re aus und stahl sich scheu und flüch­tig über die Stra­ße, um manch­mal mit ei­nem schlech­ten un­ap­pe­tit­li­chen Bis­sen, der­glei­chen er frü­her nie an­ge­se­hen, manch­mal mit gar nichts zu­rück­zu­keh­ren. Er wur­de von Tag zu Tag ma­ge­rer und zer­zaus­ter, da­bei gie­rig, krie­chend und feig; all sein Mut, sei­ne zier­li­che Kat­zen­wür­de, sei­ne Ver­nunft und Phi­lo­so­phie wa­ren da­hin. Wenn die Bu­ben aus der Schu­le ka­men, so kroch er in einen ver­bor­ge­nen Win­kel, so­bald er sie kom­men hör­te, und guck­te nur her­vor, um auf­zu­pas­sen, wel­cher von ih­nen etwa eine Bro­trin­de weg­wür­fe, und merk­te sich den Ort, wo sie hin­fiel. Wenn der schlech­tes­te Kö­ter von wei­tem an­kam, so sprang er has­tig fort, wäh­rend er frü­her ge­las­sen der Ge­fahr ins Auge ge­schaut und böse Hun­de oft tap­fer ge­züch­tigt hat­te. Nur wenn ein gro­ber und ein­fäl­ti­ger Mensch da­her­kam, der­glei­chen er sonst klüg­lich ge­mie­den, blieb er sit­zen, ob­gleich das arme Kätz­chen mit dem Res­te sei­ner Men­schen­kennt­nis den Lüm­mel recht gut er­kann­te; al­lein die Not zwang Spie­gel­chen, sich zu täu­schen und zu hof­fen, dass der Schlim­me aus­nahms­wei­se ein­mal es freund­lich strei­cheln und ihm einen Bis­sen dar­rei­chen wer­de. Und selbst wenn er statt des­sen nun doch ge­schla­gen oder in den Schwanz ge­k­neift wur­de, so kratz­te er nicht, son­dern duck­te sich laut­los zur Sei­te und sah dann noch ver­lan­gend nach der Hand, die es ge­schla­gen und ge­k­neift und wel­che nach Wurst oder He­ring roch.

Als der edle und klu­ge Spie­gel so her­un­ter­ge­kom­men war, saß er ei­nes Ta­ges ganz ma­ger und trau­rig auf sei­nem Stei­ne und blin­zel­te in der Son­ne. Da kam der Stadt­he­xen­meis­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­