Die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich spielt in Alexander Kluges Werk eine wichtige Rolle. Dabei bildet die Judenvernichtung ein herausragendes gravitatives Zentrum. Die Schwierigkeit, den Holocaust mit den Mitteln der Kunst zu erfassen, liegt aber darin, daß die klassische literarische Form – wie es Adorno in Kulturkritik und Gesellschaft festgestellt hat – bei Auschwitz nicht greift.

Um so wichtiger, daß man die Erfahrung der eigenen Zeit, der Jetzt-Zeit, immer wieder in diesen geschichtlichen Absturz hineinhält, sie darin »eicht«. Dauerhaft und beharrlich gilt es weiterzuerzählen: vom Versagen der Eliten, von der Rasanz eines behördlich organisierten bösen Willens, von der extremen Seltenheit der Rettung. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter ist ein Buch über bittere Schicksale, bekannte und unbekannte, aber vor allem auch über Organisationsformen, die Menschen vernichten.

 

Alexander Kluge, geboren am 14. Februar 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor und Filmemacher, aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis.

 

Zuletzt erschien von Alexander Kluge im Suhrkamp Verlag: Das fünfte Buch / Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, 2012

 

 

Alexander Kluge

»Wer ein Wort des Trostes spricht,
ist ein Verräter«

48 Geschichten für Fritz Bauer

Suhrkamp

 

 

Mitarbeit
Thomas Combrink

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-518-73079-9

www.suhrkamp.de

»Wer ein Wort des Trostes spricht,
ist ein Verräter«

 

Zu leben ein angenehmer Tag. Es gießt. Nach den heißen Juli-Tagen ein Genuß. Ich könnte also einen meiner schweren Anzüge tragen und damit »angezogen«, also gepanzert, in den Büros erscheinen. Der Anzug paßt aber auch zur Trauerfeier für Dr. Fritz Bauer, zu der ich jetzt fahre.

Der Sarg steht in der kleinen Friedhofskapelle in einem Gebüsch von dickblättrigen Ölpflanzen. Voran große Blumensträuße. Die Musikauswahl für die Feier hat Theodor W. Adorno ohne jede Fremdkontrolle übernommen. Er läßt auf Regierungskosten drei komplette späte Streichquartette von Beethoven durchspielen: Nr. 13 op. 130 B-Dur, Nr. 14 op. 131 cis-Moll, Nr. 15 op. 132a-Moll. Angeblich ist diese Musik tröstend. Das ist sie nicht. Sie ist ABSOLUTE MUSIK.

Adorno, der von den Anwesenden diese Musik vermutlich als einziger dechiffriert, wiegt seinen Kopf zu den Tönen, das Haar wie Pulloverflausch, in der inneren Bewegung der Musik, also nicht so, daß ein Laie dies für musikalisch gehalten hätte, nicht wie ein Metronom, das die Takte skandiert.

Eine Ansprache hat sich der Tote testamentarisch verbeten. Die Gruppe der Trauergäste besteht aus der kleinen Regierungsschicht des Landes, die nach 1945 angetreten ist, einen antifaschistischen Kurs durchzuhalten. Da die Musikdarbietung unmäßig lange dauert, keine Ansprachen stören, tritt eine intensive Beschäftigung mit dem Toten ein. Der Kultusminister hat in ihm seinen besten Freund verloren.[1]

Ich sehe den Toten, wie er im Zuchthaus Butzbach alle Zellen aufschließen läßt, die Gefangenen mit »Kameraden« anspricht. Die Justizverwaltung hielt diese Ausdrucksweise für die eines Narren. Sie hat versucht, den Mann einzugrenzen, indem sie konservative Oberstaatsanwälte um ihn herum gruppierte, die ihm nach und nach Zuständigkeiten entwendeten. Aber der Narren-Anschein war notwendige Tarnung. Bauer hatte immer Akten parat, mit denen er die aus dem alten Regime übernommenen Kriminalisten in Frankfurt und im Bundeskriminalamt in Wiesbaden in Schach hielt. Für jede Fehlleistung dort (Rückfall in die alte Kameraderie) gab er eine der belastenden Akten in den Geschäftsgang.

Es steht übrigens nicht fest, woran er in seiner einsamen Badewanne starb. Ich will dem nachgehen. Nach Musikschluß erheben sich die Trauergäste. Sie wissen nicht recht, was sie jetzt tun sollen. Es ist keine Führungspersönlichkeit da, die eine Haltung vorgibt. Die Gefängnisdirektorin Einsele, die das Herumstehen nicht verträgt, geht rasch davon.[2] Ministerialrat Fricke zu Adorno: »Wir müssen einmal miteinander sprechen.« Oberlandesgerichtspräsident Staff zu mir: »Wir sind, glaube ich, Stallgefährten bei Goverts.« »Ja.«

Die Frau des Philosophen Adorno zieht ihn rasch weg, der noch an den Klängen in der kleinen Kapelle hängt und gern die Veranstaltung wiederholt sähe. Sie will aber jede Verwechslung mit dem Schicksal des Toten vermeiden, drängt fort von diesem Friedhof.

Frau Staff hat im Frankfurter Hof den Salon 15 gemietet, für eine Nachfeier. Hierhin begibt sich die Mehrzahl der Trauergäste. Man versucht, insbesondere für Verwandte des Toten aus Schweden, etwas von dessen lebendiger Erscheinung zu rekonstruieren. Die Verwandten kennen den Toten praktisch gar nicht. Der Kultusminister ahmt mit Handbewegung Gesten des Toten nach. Er beschreibt einen Vorfall in Kassel. Ein Kind wollte dort schon mit fünf Jahren in die Schule gehen. Lief immer wieder hin. Der Rektor erteilte dem Kind Hausverbot. Das Kind ist doch noch nicht eingeschult. Jetzt kommt der heute Beerdigte, hält eine Fragestunde ab, die sich an sich nicht auf das Schulwesen bezieht, für das er ja nicht zuständig ist. Er hört die Mutter des Kindes an. Wendet sich an den Regierungspräsidenten: Na, warum kann man das Kind denn da nicht drin lassen? Regierungspräsident: Es ist gegen den Erlaß. Der heute Beerdigte: Das Kind bleibt, wo es ist, und wenn es in der Schule sitzt, dann muß man es in der Schule sitzen lassen. Die Frau wollte nicht glauben, daß das Problem so einfach zu lösen war. Der Regierungspräsident erwiderte auch sogleich: Ja, der Minister hat aber verfügt, daß nur die aufgerufenen Jahrgänge zur Schule dürfen. Der Beerdigte: Ich wüßte nicht, wer Sie deswegen anklagen sollte, wenn Sie von dem Erlaß abweichen. Die Erlasse sind von Vernünftigen im Interesse von Vernünftigen gemacht. Das Interesse des Landes spricht nicht gegen den ausdrücklichen Willen dieses Kindes. Sagen Sie das dem Rektor. Ungeklärt blieb, warum das Kind so gerne in diese Schule wollte. Vielleicht hatte es Freunde dort.

Zuletzt saßen bis 17 Uhr sieben Mann und zwei Frauen um den kleinen Tisch. Getränke wurden gereicht. Der Minister wurde an verschiedenen Stellen des Landes dringend gesucht. Man wußte im Ministerium nicht, wo der Minister steckte, nämlich im Salon 15. Die Anwesenden wollten sich von dem Toten nicht trennen. Solange sie hier zusammensaßen, war noch etwas von ihm zu fassen. Wenn sie sich trennten, war der gütige Mann endgültig fort. Niemand aus dem Nachwuchs des Landes ersetzte ihn.

Abb.: Hasen auf Grabsteinen. Aus dem Film Abschied von gestern.



[1] Andererseits: Von den hier anwesenden Freunden oder politischen Instanzen wäre niemand erreichbar gewesen, falls Fritz Bauer vor seinem Tod noch versucht haben sollte, jemanden zu erreichen, einen anderen Menschen, mit dem er hätte sprechen können. Keiner aus der überbeschäftigten Führungsschicht dieses Landes besaß die Zeit, die für die Ausübung von Freundschaften oder menschlicher Nähe erforderlich ist. »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.« (Bazon Brock)

[2] Entweder weil sie weinte und dies nicht zeigen wollte oder weil sie die vom Toten gewollte Sprachlosigkeit nicht länger ertrug.

Durch ungewöhnlichen Zufall in Luft
aufgelöst wie ein Gas

Die Räder des gemischten Güter- und Personenzugs von Paris mit der Bestimmung Südpolen rollten. Zwei Lokomotiven zogen die 26 Waggons. Propagandaphrasen wie »Räder rollen für den Sieg« waren den Fachleuten fremd, welche die schienenbezogenen Verkehrswege des Deutschen Reichs organisierten.

In der Gegend von Flörsheim am Main hielt ein Koordinator der Reichsbahn, der über außerordentliche Vollmachten verfügte, den Transport an. Die Begleitmannschaft, bestehend aus französischen Beamten, hätte den Zug noch bis Cottbus begleiten sollen. Dort Übergabe an deutsches Personal. Sie verstanden die deutsche Sprache schlecht. Die Anordnung des Reichsbahnkoordinators besagte, daß der Zug hier vor Ort zu entladen und als Leerzug neu nach Norden in Bewegung zu setzen sei. Wegen einer Krise an der Ostfront waren Nahrungsmitteltransporte (Schinken aus Schleswig-Holstein) vordringlich geworden.

Die Güter (Maschinen und Gerät) und die Insassen (in Paris im September verhaftete Juden französischer Staatsangehörigkeit, Ziel: Auschwitz) wurden gewaltsam ausgeladen, der Protest der französischen Zugbegleiter zur Kenntnis genommen. Die zwei Lokomotiven und die Waggons fuhren davon.

Man brachte mit Hilfe des Ortsgruppenleiters und von Lehrern, die in der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt dienten, die »Flüchtlinge« in einem angrenzenden Frachthof und im Bahnhofsrestaurant unter. Die Ausgeladenen lagen auf Brettern und in Notbetten behelfsmäßig und eng beieinander.

In den folgenden Tagen entkamen viele von ihnen. In kleinen Rotten schlugen sich einige bis zur französischen Grenze durch, die nicht bewacht war. Andere kamen als Hilfsarbeiter auf Weingütern unter, die gerade jetzt zur Ernte Arbeitskräfte gebrauchen konnten und befugt schienen, vorläufige Papiere auszustellen. Dieser Partizipation kam zugute, daß die Franzosen jüdischer Abstammung soviel Deutsch verstanden, wie es für das Verhalten im Arbeitsprozeß erforderlich war.

Inzwischen war dieser Transport von Frankreich nach Südpolen (Auschwitz) nicht »vergessen« worden. Verwaltungsvorgänge können ihrer Erinnerungsfähigkeit nicht abschwören, solange es Akten gibt. Die Nachforschungen führten jedoch stets nur zu den aus dem umdisponierten Zug ausgeladenen Geräten und Maschinen, nicht zu den in einer ganz anderen Hierarchie registrierten aus dem Zug geladenen Personen. So verzögerte sich längere Zeit die Wahrnehmung im Reichssicherheitshauptamt, auf welche Weise die 977 verhafteten Juden nicht nach Auschwitz gelangt waren. Es kam hinzu, daß die zuständigen Verantwortlichen sich in dieser Phase des Vernichtungsprojekts viel auf Reisen befanden. Jede Ermittlung in dieser Sache hatte eine Zuständigkeitsgrenze zu überwinden.

Zu dem Zeitpunkt, an dem der Vorfall auf Bahnhof Flörsheim endgültig ermittelt worden war, konnten nur noch 18 der Ausgeladenen aufgegriffen werden, die noch im Bahnhofsrestaurant an ihr Glück geglaubt hatten. In Auschwitz wurden sie umgebracht. Der Rest, also die überwiegende Anzahl, war »dissipiert« (in den zahllosen im Durchschnitt der Verhältnisse nicht repräsentierten Kanälen, Wegen und Auswegen des Terrorsystems, das sich für wenige Tage konfus zeigte, versickert). Einige kamen bis in die Vorstädte von Lyon. Andere verbargen sich in Nordfrankreich (ohne Papiere, ohne Kontakt zu den französischen Behörden, welche sie aus gutem Grund mieden).

Erst forschen, dann töten

Die Feldforscherin Dr. Elfriede Fliethmann von der Sektion Rasse- und Volkstumskunde des Krakauer Instituts für Deutsche Ostarbeit (glanzvolle Aufbauphase in den zwei Jahren seit Polens Besetzung) zeigte sich im Herbst 1941 beunruhigt. Sie teilte die Befürchtung ihrer Kollegin Dr. Dora Maria Kahlich vom Institut für Anthropologie der Universität Wien, daß ihnen (auch wenn sie noch so schnell mit ihren Messungen und Befragungen waren) durch Umsiedlungen und Vernichtungsschläge der Einsatzkommandos das »Material« ihrer Forschungen entzogen werden würde. Das betraf die Untersuchungsarbeit in und im Umkreis von Tarnów.

Forschungsgegenstand waren kinderreiche orthodoxe Familien. Dies hier, so die Forscherinnen, waren ursprüngliche Formationen des galizischen Judentums mit Alleinstellungsmerkmal in der Welt. Die Forscherinnen verglichen in ihren Tabellen das vorgefundene »rassisch-anthropologische Wunder« mit dem Werdegang galizisch-jüdischer Auswanderer. Die Abteilung VII (Gegnerforschung) des Reichssicherheitshauptamts hatte die Unterlagen bereits angefordert.

Die Forscherinnen legten Einspruch bei der vorgesetzten Stelle in Lemberg gegen die Weiterführung der Umsiedlungs- und Vernichtungsmaßnahmen ein, wie sie »direkt neben und unter Beeinträchtigung ihrer Forschungsarbeit stattfanden«. Sie begründeten die Beschwerde folgendermaßen: Es sei bisher nicht erforscht, welche Auswirkung Umsiedlung in unwirtliche Gebiete und Dezimierung einer Bevölkerung haben würden. Ertüchtigung unter Extrembedingungen, also Selektion (das zeige ja die Tabelle Nr. 15 »Erfolg nach Auswanderung in die USA«), könne Eigenschaften hervorbringen, die einen leicht unterwerfbaren Feind zu einem nur schwer überwindlichen machten. Hierzu hatten sie die Weltgeschichte exzerpiert und auf einer Tabelle dargestellt (Nr. 23). Das von ihnen entdeckte »anthropologische Wunder« sei überdies durch zwei ganz unterschiedliche Charaktere gekennzeichnet: erstens durch eine offensichtliche Homogenität der Abstammung, die bis Mesopotamien zurückreiche (Blutvergleich); zweitens durch sprachliche Mischungsverhältnisse. Dieses deute darauf hin, daß Angehörige der untersuchten Gruppe in den vergangenen tausend Jahren im nahen Kontakt mit sehr unterschiedlichen gesellschaftlich-anthropologischen Strukturen gelebt hätten und so quasi kulturell vielsprachige Lebewesen seien, was (wenn eine solche Gruppe als Feind aufzufassen sei) sich als Vorteil für diesen Gegner und als ein Nachteil für das Reich erweisen würde. Insofern müsse man, wie es auch Auffassung des Leiters der Abteilung VII, Brigadeführers Prof. Dr. Franz Alfred Six, sei, erst forschen und dann töten. Auch ergebe erst die Erforschung dessen, was man tötet, Einblicke in die rechte Art und Weise der Eliminierung.

Die Ereignisse überstürzten sich. Dem Einspruch der Forscherinnen wurde nicht stattgegeben. Die Mordkommandos waren nach Erfüllung ihrer Aufgabe weitergezogen. Bald überlagerte das Partisanenproblem die Aufmerksamkeit der Besatzungsmacht, die ohnehin in ihren oberen Rängen nur oberflächliches Interesse für die Einzelgebiete des Herrschaftsbereiches aufbrachte.

Ein Stück Lebendigkeit, das Proust überraschte

GROSSEN BALLSAAL