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Übersetzung aus dem Englischen von Katrin Behringer

ISBN 978-3-8270-7870-4
Mai 2016
Deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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PROLOG

BUCKINGHAMSHIRE, ANFANG 1961

Er kam zu spät, natürlich kam er zu spät. Dominic Blake war geradezu berüchtigt dafür, immer und überall zu spät zu kommen. Egal, ob es sich um eine Party, ein Kartenspiel oder gar eine Hochzeit handelte – man konnte davon ausgehen, dass Dominic stets als Letzter auftauchen, sich verlegen durchs Haar streichen und dabei beschämt grinsen würde, um sich charmant aus der Affäre zu ziehen. Natürlich gehörte all das zu seiner Masche, dennoch war es Dominic wirklich unangenehm, Vee enttäuschen zu müssen. An diesem Abend hatte es sich allerdings nicht vermeiden lassen.

»Verdammt«, fluchte er leise, als sein Wagen gegen den Bordstein stieß, nachdem er die Kurve zu schnell genommen hatte. »Was soll’s«, sagte er zu sich selbst, sprang aus dem AC Ace und eilte die Steinstufen von Batcombe House hinauf.

»Guten Abend, Connors«, begrüßte er den älteren Mann, der ihm die Tür geöffnet hatte, und schob sich an ihm vorbei. »Sind die Herrschaften noch beim Essen?«

»Lady Victoria ist im Speisesaal, Sir«, antwortete der Butler, »allerdings wird meines Wissens gerade der Nachtisch abgeräumt.«

»Bestens«, erwiderte Dominic, richtete seine Fliege und trat dann durch die Flügeltür.

Er wurde mit Pfiffen und ironischem Beifall begrüßt.

»Schon gut, schon gut«, rief er und hob entschuldigend die Hände, »ich weiß, auf mich ist wie immer kein Verlass.«

Er durchquerte den Raum, steuerte auf eine Frau am Kopfende des Tisches zu, beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Tut mir leid, Vee«, sagte er. »Was musst du bloß von mir denken?«

»Du weißt verdammt gut, was ich von dir denke, Dominic Blake«, erwiderte sie, doch ihre Worte wurden durch die Andeutung eines Lächelns auf den roten Lippen gemildert. »Da du ja nun leider meine gesittete Dinnerparty gesprengt hast, erwarte ich als Wiedergutmachung zumindest ein paar skandalträchtige Klatschgeschichten.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Der Kaffee wird im Salon serviert«, verkündete Victoria an ihre Gäste gewandt, während sie aufstand. »Zur Strafe für sein Zuspätkommen wird Mr Blake den Fandango tanzen.«

Dominic verbeugte sich theatralisch und erntete erneut spöttische Pfiffe, während sich die Gruppe vom Tisch erhob. Die Crème de la Crème der Gesellschaft, dachte Dominic, als er den Blick über die Gästeschar schweifen ließ. Die Männer mit ihren vom Bordeauxwein geröteten Gesichtern und maßgeschneiderten Anzügen, gefertigt von Schneidern, die bereits für ihre Väter gearbeitet hatten, die Frauen in Seide und Perlen, mit wachsamen Augen, denen nichts entging. Alles an ihnen verströmte eine Aura von Wohlstand: die Art, wie sie sich bewegten und lachten, der Eindruck, dass nichts sie je wirklich berühren konnte.

»Na, dann lass mal hören!«, flüsterte Victoria, die sich dicht neben Dominic gestellt hatte.

»Was hören?«

»Deine Ausrede natürlich. Ich weiß, dass du eine hast. Was war es denn diesmal? Eine dringende Sitzung der Admiralität? Auf der Flucht vor maltesischen Gangstern? Eine kranke Großmutter?«

Dominic schmunzelte. »Diesmal habe ich tatsächlich keine Ausrede, Vee. Ich habe schlicht und einfach verschlafen.«

»Verschlafen?«, rief sie lachend aus und blickte hinüber zu der aufwendig gearbeiteten goldenen Standuhr auf dem Kaminsims. »Es ist Viertel vor zehn, Dominic. Was bist du, ein Vampir?«

Er beugte sich zu ihr, um ihr zuzuflüstern: »Tja, um ehrlich zu sein, war ich im Claridge’s und habe an der Bar eine junge Dame kennengelernt. Sie hat darauf bestanden, dass ich …«

Victoria legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, ich glaube, ich möchte es lieber doch nicht so genau wissen. Ich werde mich einfach damit zufriedengeben, dass du jetzt hier bist. Im Übrigen hoffe ich, dass es nichts Ernstes ist mit diesem Mädchen aus dem Claridge’s. Ich habe nämlich mehrere außerordentlich bezaubernde Damen zu meiner Abendgesellschaft eingeladen. Attraktiv, aus angesehenen Familien …«, flüsterte sie theatralisch.

»Nach dir ist jede Frau eine Enttäuschung, Vee, das weißt du doch«, erwiderte er lachend und umfasste sanft ihre Schultern.

Vee stieß ein ironisches »Ha!« aus, doch Dominic konnte sehen, dass sie sich über das Kompliment freute. Kurioserweise war dies keine leere Schmeichelei. Lady Victoria Harbord besaß nahezu sämtliche Eigenschaften, die er sich von einer Frau erhoffte. Sie war gutaussehend, elegant und hochintelligent; zudem war sie großzügig und besaß eine Vorliebe für das Unkonventionelle, was sowohl die moderne Inneneinrichtung als auch die Tatsache erklärte, dass Dominic Blake – Herausgeber-Schrägstrich-Abenteurer – zu ihren Abendgesellschaften eingeladen wurde.

Wer weiß? Wenn die Dinge anders lägen …, dachte er, als ein kleiner, rundlicher Mann im Smoking zu ihnen trat und den Arm um Victorias Taille legte.

»Du hast es ja doch noch geschafft, Dominic«, rief Tony Harbord mit dröhnender Stimme und starkem amerikanischen Akzent. »Worüber tratschst du denn schon wieder mit meiner Frau?«

»Sie will mich verkuppeln«, antwortete Dominic mit einem Lächeln und zwinkerte Victoria zu. Als sie zurücklächelte, fragte er sich wieder einmal, ob seine Freundin den wohlhabenden New Yorker tatsächlich liebte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine Frau von bester adliger Abstammung des Geldes wegen geheiratet hätte. Doch auch wenn Victoria und der wesentlich ältere Tony oberflächlich betrachtet ein seltsames Paar abgaben, so war Dominic doch häufig gerührt und fast neidisch, wenn er die echte Zuneigung sah, die die beiden offenbar verband.

»Sehr schön«, bemerkte Tony lachend und schnitt mit einem goldenen Zigarrenabschneider die Spitze seiner Zigarre ab. »Je früher du jemanden findest, desto besser, Blake. Du musst allmählich sesshaft werden, und sei es bloß, damit ihr nicht selbst zum Klatschthema werdet, meine Frau und du.«

Dominic musste zugeben, dass die Party ziemlich gut war. Ab und zu kam es vor, dass solche Gesellschaften trotz Victorias erstaunlichem Talent, interessante Leute aufzustöbern, sterbenslangweilig waren, weil alle in ihre typischen Rollen zurückfielen: Die Männer ließen sich über Politik und die bevorstehende Jagd am Wochenende aus, während die Frauen sich auf Anekdoten über ihre Kinder beschränkten, von denen jedes einzelne ein angehender Rachmaninow, Picasso oder Cicero war.

Heute Abend jedoch hatte er sich bereits mit einem Dichter unterhalten, der der Meinung war, Pflanzen könnten miteinander kommunizieren, und mit einem prominenten Politiker der Tory-Partei, der durchblicken ließ, dass er insgeheim ein leidenschaftlicher Anhänger der Freikörperkultur war – »Finden Sie nicht auch, dass diese gestärkten Hemden einen furchtbar einengen?«

Außerdem hatte er Brandy mit Jim French getrunken, einem texanischen Industriellen und Freund von Tony, den er zuvor nur vom Hörensagen gekannt hatte und dem der Ruf vorauseilte, ein skrupelloser Waffenhändler zu sein. French war ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen, doch er musste zugeben, dass er ein faszinierendes Porträt in der Capital abgäbe, der Zeitschrift, die er herausbrachte. Dies hatte er auch Victoria gegenüber erwähnt, in der Hoffnung, sie könne ein weiteres Zusammentreffen arrangieren, doch sie hatte ihn sofort gewarnt, es sei unklug, sich die Reichen zum Feind zu machen.

Die interessanteste Unterhaltung hatte er mit einem Bibliothekar aus Oxford geführt, der – nach nur minimalem Drängen – froh, um nicht zu sagen erleichtert gewirkt hatte, zuzugeben, dass er während des Krieges in einem Stallgebäude in Wiltshire chemische Waffen entwickelt hatte.

»Wissen Sie was?«, hatte der alte Mann gesagt, »das waren die besten fünf Jahre meines Lebens. Ich weiß, damals sind Menschen gestorben – mein eigener Bruder ist in Arnheim abgeschossen worden –, aber trotzdem hatte man das erhebende Gefühl, etwas zu tun, Teil von etwas Größerem zu sein … Können Sie das nachvollziehen? Ich will ehrlich sein, junger Mann, seither kommt mir alles irgendwie schal vor.«

Irgendwann entschuldigte sich Dominic, weil er an die frische Luft gehen wollte. Er musste lächeln, als er einen Blick auf die Abendgesellschaft warf, verbarg es aber, indem er sein Brandyglas an die Lippen hob. Es war merkwürdig: Er wusste über jeden der hier Anwesenden etwas. Zwar war nicht alles davon skandalträchtig, sondern manches lediglich aufschlussreich, trotzdem fragte er sich, warum die Leute ausgerechnet ihm das alles erzählten. Theoretisch hätten sie ihn meiden müssen wie die Pest. Sie wussten, dass er der Herausgeber der Capital war – eines der humorvolleren, aber dennoch schonungslosen Magazine am Zeitungskiosk. Er galt als stadtbekanntes Klatschmaul und berüchtigter Playboy, ein Image, das er nur allzu gern pflegte. Dennoch hatte er die Erfahrung gemacht, dass die Menschen sich ihm gegenüber bereitwillig öffneten. Vielleicht liegt es ja an meinem ehrlichen Gesicht, dachte er mit einem weiteren Lächeln.

Der wahre Grund war jedoch viel simpler: Er bekam einfach deshalb Antworten, weil er Fragen stellte. Die Engländer waren viel zu höflich, um sich nach den Angelegenheiten anderer Leute zu erkundigen, weshalb sie, falls jemand tatsächlich danach fragte, demjenigen gleich erleichtert ihr Herz ausschütteten.

Dies war Dominic bereits in jungen Jahren aufgefallen, wenn seine Eltern in ihrem bescheidenen Pfarrhaus auf dem Lande Besuch von Freunden bekamen. Die Reichen redeten gern. Nicht das Geld, sondern der Klatsch regierte ihre Welt. Und über nichts redeten reiche Leute lieber als über sich selbst. Was nützte einem ein Riesengeschäft in Südafrika oder eine Affäre mit der Frau seines besten Freundes, wenn man hinterher nicht damit prahlen konnte?

Er befand sich inzwischen in der Bibliothek, von wo aus mehrere Glastüren zu einem herrlich duftenden Garten hinausgingen. Er blieb kurz stehen und fuhr mit dem Finger über Victorias umfangreiche Sammlung ledergebundener Bücher. Als er ein Geräusch hinter sich hörte, drehte er sich rasch um. Im Türrahmen stand, eine Hand auf der Hüfte abgestützt, eine wunderschöne Blondine, ganz die Femme fatale aus einem Film noir.

»Versteckst du dich schon wieder vor mir, Dommy?«, säuselte Isabella Hamilton, die Frau von Gerald Hamilton, einem Mitglied des britischen Kabinetts. »Du bist so spät hier aufgetaucht, dass ich schon dachte, du willst mir aus dem Weg gehen.«

Langsam, fast gemächlich, kam sie auf ihn zu, ihre Absätze klackten leise auf dem Parkett.

»Ich würde mich nie vor dir verstecken, Izzy«, erwiderte er und lächelte verführerisch. »Aber wir wollen doch keine peinliche Situation provozieren. Nicht vor aller Augen.«

»Du kannst mich meinetwegen in jede noch so peinliche Lage bringen, Dominic Blake«, gab sie lächelnd zurück und strich ihm mit dem Finger über die Wange. »Du weißt, ich würde alles tun, was du willst. Du musst mich nur darum bitten.«

»Izzy, wir können doch nicht …«, sagte er und wich einen kleinen Schritt zurück.

»Warum denn nicht?«, flüsterte sie. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal.«

Sofort tauchte vor seinem geistigen Auge eine Reihe höchst angenehmer Bilder auf.

»Ich will dich«, hauchte sie ihm ins Ohr.

»Izzy, bitte.« Es fiel ihm zunehmend schwer, sich zu beherrschen.

»Ich will dich jetzt sofort«, flüsterte sie und berührte mit den Lippen sanft seinen Mund.

Er spürte ein jähes Schuldgefühl, ein plötzliches Bedauern, und griff nach ihrer Hand, während er langsam den Kopf schüttelte.

»Wir dürfen nicht«, sagte er mit etwas mehr Nachdruck.

»Warum denn nicht?«, fragte sie noch einmal schmollend und riss sich von ihm los.

»Weil wir nicht dürfen.«

Isabella brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln, sie wusste, dass sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte. Zumindest nicht dieses Mal.

»Bist du dir ganz sicher?«

»Ja, das bin ich«, sagte er und nickte.

»Dann sollte ich wohl besser zurückgehen«, sagte sie und verzog ihren schönen Mund. »Gerald vermisst mich sicher schon. Du weißt ja, wie er an mir hängt.«

»Das wundert mich nicht«, erwiderte Dominic mit echter Zuneigung.

Ihr Gesichtsausdruck hellte sich etwas auf und sie drückte schnell einen Kuss auf ihre Fingerspitzen und legte sie ihm auf die Lippen.

»Mach’s gut, Dominic«, sagte sie. Er schloss die Augen und genoss die warme, vielsagende Berührung, wohl wissend, dass er sie zum letzten Mal spüren würde.

Er sah ihr nach, bis ihre schlanke Silhouette wieder in die laute Abendgesellschaft eingetaucht war, und zündete sich dann eine Zigarette an.

Anschließend schob er den schweren grünen Samtvorhang beiseite und öffnete die Flügeltüren. Ein angenehm kalter Luftzug streifte sein Gesicht, und er blies einen langen, sich kringelnden Rauchring aus.

Hier war er nun, auf einer der schicksten Partys des Jahres, umgeben von den Reichen und Schönen der britischen Gesellschaft, und dennoch fühlte er sich leer und rastlos.

Vielleicht hatte Tony ja recht. Vielleicht sollte er wirklich sesshaft werden. Er hatte es satt, schöne, junge Frauen wie Isabella und all die anderen austauschbaren Blondinen, Rothaarigen und Brünetten zu benutzen. Vielleicht brauchte er tatsächlich eine Veränderung in seinem Leben, auch wenn das leichter gesagt als getan war, dachte er, während er stirnrunzelnd dem aufsteigenden Rauch nachsah.

»Dominic.«

Er konnte die Stimme zunächst nicht zuordnen. Einen beunruhigenden Moment lang glaubte er, Gerald Hamilton wollte ihn zur Rede stellen, doch dann registrierte er den Akzent.

»Eugene.« Er lächelte erleichtert und trat die Zigarette aus.

Er hatte den russischen Marineattaché, der an der Botschaft seines Landes in Kensington tätig war, um Weihnachten herum kennengelernt und mochte ihn sehr. Zunächst hatte es ihn gewundert, dass Eugene zu Gesellschaften und Dinnerpartys wie dieser eingeladen wurde. Den Sowjets wurde sonst großes Misstrauen entgegengebracht, und das zu Recht, schließlich war der Kalte Krieg in vollem Gange. Doch im Grunde war jemand Geheimnisvolles und Verbotenes – wie beispielsweise ein gutaussehender sowjetischer Marineattaché – in den Salons der High Society genauso willkommen wie etwa Dominic.

»Wie geht es dir, mein Freund?«, fragte er und legte dem Russen die Hand auf die Schulter.

Eugene nickte lediglich.

»Können wir reden?«, fragte er.

Dominic war stets bereit zuzuhören. Er zog sein Zigarettenetui aus der Tasche, ließ es aufschnappen und bot seinem Freund eine tabakbraune Sobranie an.

»Selbstverständlich«, erwiderte er, als sie hinaus in den Garten traten.

Der schwere, süßliche Duft von Narzissen und feuchtem Gras lag in der Luft und der Vollmond tauchte den Garten in ein träges, milchigweißes Licht.

Sie setzten sich auf eine steinerne Bank. Als Eugene zu erzählen begann, schlug Dominic die Beine übereinander und blies einen weiteren Rauchring in die Luft, ohne zu ahnen, dass diese Unterhaltung sein Leben für immer verändern würde.

KAPITEL 1

LONDON, GEGENWART

Abby Gordon sah auf die sepiafarbene Landkarte hinunter, die ausgebreitet auf dem Eichentisch lag, und seufzte. Interessierte es eigentlich irgendwen, wo Samarkand lag?, dachte sie trotzig. Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, die Landkarte zu einem Ball zusammenzuknüllen und sie in den Verbrennungsofen zu werfen. Sie malte sich aus, wie die Karte Feuer fangen, auflodern und schließlich verbrennen würde. Kopfschüttelnd sah sie sich um und fragte sich, ob irgendjemand bemerkt hatte, dass sie rot wurde. Nein, auf der anderen Seite der Glastür befand sich lediglich der sympathische Mr Bramley, ein älterer Wissenschaftler. Er saß tief über seine Forschungsarbeiten gebeugt.

Mr Bramley zumindest war das Schicksal der Landkarte nicht egal. Mr Bramley würde wahrscheinlich sogar in den Verbrennungsofen springen, um sie zu retten.

Reiß dich zusammen, Abby, schalt sie sich, als sie sich vorstellte, wie Mr Bramley in Flammen stand.

Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ihr die Arbeit als Archivarin am Royal Cartography Institute noch großen Spaß gemacht. Natürlich war es nicht die Tate Modern oder das Courtauld Institute. Sie verbrachte ihre Tage nicht damit, unbezahlbare Gemälde zu katalogisieren wie manche ihrer Freundinnen, mit denen sie Kunstgeschichte studiert hatte. Sie arbeitete auch nicht für eine angesagte Galerie oder ein renommiertes Auktionshaus oder als Assistentin eines berühmten Fotografen. Dennoch war das Institut keineswegs unbekannt: Landkarten-Freaks und Geografieliebhaber aus aller Welt sprachen nur mit höchster Erfurcht vom Archiv des RCI. Abby selbst gehörte zwar nicht zu dieser Spezies, doch sie freute sich jedes Mal wie eine Schneekönigin über die Schätze, die sie inmitten des ganzen Krimskrams zutage förderte. Da waren zunächst die Landkarten, und zwar Tausende davon, die in klimatisierten (beziehungsweise, wenn man keine Strumpfhose trug, eiskalten) begehbaren Schränken aufbewahrt wurden. Dann gab es die Atlanten, manche davon gewöhnlich, andere äußerst selten und wertvoll, darunter auch ein Atlas aus dem Besitz von Marie Antoinette, ein schwerer ledergebundener Band, den niemand – nicht einmal ihr Chef Stephen – anfassen durfte. Und dann gab es noch die Artefakte – ein alter Stiefel, eine Sauerstoffflasche, ein stumpf gewordener Messingkompass –, die größtenteils wahllos in die Pappkartons neben Abbys Schreibtisch gestopft worden waren. Oberflächlich betrachtet handelte es sich dabei lediglich um Überreste längst vergessener Expeditionen. Doch hinter jedem einzelnen dieser Gegenstände verbarg sich eine Geschichte: der Kompass des Polarforschers Captain Scott, der Tropenhelm des Afrikareisenden Henry Morton Stanley, ein Eispickel vom Erstbesteigungsversuch des Mount Everest.

Obwohl die Einrichtung auf Landkarten spezialisiert war, bestand der Großteil der Sammlung überraschenderweise aus Fotografien. Aus Hunderttausenden Negativen und Dias, die seit der Erfindung der Kamera von jeder Expedition gesammelt worden waren. Allerdings hatten die meisten von ihnen noch nie ihre Kisten verlassen, und genau aus diesem Grund war Abby vor achtzehn Monaten eingestellt worden: Sie sollte sie katalogisieren und dann hoffentlich ans Tageslicht holen, eine wahre Mammutaufgabe.

Sie holte tief Luft, rollte die Landkarte auf und schob sie vorsichtig in die dazugehörige Rolle, froh, dass sie zumindest einen Punkt auf ihrer heutigen To-do-Liste abhaken konnte.

Russische Steppen, gedruckt und handkoloriert, circa 1789, Morgan Johnson. Abby wusste, dass die Karte Tausende Pfund wert war, falls sie jemals versteigert werden würde. Nicht dass sie das tatsächlich würde. Stattdessen versauerte sie hier im staubigen Keller des Royal Cartography Institute, achtlos in ein Regal geschoben, geduldig darauf wartend, dass jemand sich für sie interessieren würde.

Tja, wie sich das anfühlte, wusste sie nur zu gut.

Da klingelte das Telefon.

»Hallo, hier ist das Archiv«, meldete sich Abby mit ihrer schönsten Telefonstimme. »Hallo?«

Zunächst waren nur ein tiefer Atemzug, gedämpftes Stimmengewirr und Lachen im Hintergrund zu hören. Instinktiv wusste sie, dass es ihr Chef war, der sich von einer ausgedehnten Mittagspause zurückmeldete.

»Abigail, ich bin’s, Stephen. Kannst du mich hören?«

Abby musste gegen ihren Willen lächeln. Stephen Carter, der Leiter des RCI-Archivs, war stets heillos überfordert, wenn es ums Telefonieren ging. Er stellte sich an wie ein viktorianischer Gentleman, der zum ersten Mal in seinem Leben einen dieser fürchterlichen neumodischen Apparate benutzen musste.

»Wie läuft es bei dir? Alles klar so weit?«

Abby sah an dem Kistenstapel empor, der sich vor ihr auftürmte und bedrohlich schwankte.

»Nichts, was ich nicht bewältigen könnte.«

»Sehr gut, sehr gut«, rief er übertrieben enthusiastisch aus. »Äh, eigentlich wollte ich dir nur kurz Bescheid geben, dass ich nicht weiß, ob ich es heute Nachmittag noch mal ins Büro schaffe; du weißt ja, wie solche Meetings laufen.«

Das wusste sie in der Tat. Stephen lallte bereits leicht.

»Aber dafür habe ich gute Nachrichten«, fuhr er fort. »Christine hat hochinteressante Informationen über die Ausstellung. Ich kann es kaum erwarten, dir davon zu erzählen.«

Heute war Stephens monatliches Mittagessen mit Christine Vey, der Leiterin der Sammlungen, eine aufgeblasene Wichtigtuerin, der rein gar nichts am RCI, dafür aber umso mehr an ihrer Karriere lag. Christines Pläne erfüllten Abby stets mit Unbehagen; für die Leute am Institut verhießen sie selten etwas Gutes.

»Irgendetwas, was ich wissen sollte?«, erkundigte sie sich.

»Wir reden morgen darüber«, sagte Stephen. »Das Beste wäre wohl, wir würden eine Lagebesprechung zum aktuellen Stand der Dinge abhalten. Christine will einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die neuesten Entwicklungen. Sie hat mit der Ausstellung ein ziemliches Risiko auf sich genommen, wir dürfen sie also auf keinen Fall enttäuschen. Haben wir uns verstanden?«

»Natürlich«, murmelte Abby und tippte nebenher schnell eine E-Mail an ihre drei besten Freundinnen Anna, Ginny und Suze, um zu fragen, ob es bei ihrer Verabredung heute Abend bleiben würde.

»Als Allererstes werden wir morgen die endgültige Bildauswahl durchgehen, danach kannst du die Dias und Negative rüber ins Labor bringen«, erläuterte Stephen weiter. Er sprach sehr hastig, offenbar wollte er das Gespräch rasch beenden.

»Ich muss jetzt Schluss machen. Ach, und könntest du die Morgan-Landkarte von 1789 für Mr Bramley rauslegen? Du weißt ja, wie penibel er ist.«

»Schon passiert«, erwiderte sie und sah im selben Moment, dass Suze bereits zurückgemailt hatte.

Ja, klar, wir sehen uns gleich in der Bar. Schön, dass Du Dich besser fühlst.

»Ausgezeichnet, Abigail, du bist ein Schatz.«

Und dann hatte er auch schon aufgelegt.

Abby legte das Telefon zurück auf die Station und sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal halb fünf. Eine Ewigkeit bis zum Feierabend, selbst wenn Stephen nicht noch einmal zurück ins Büro kommen würde.

Aber sie musste sich ohnehin noch auf die Lagebesprechung vorbereiten. Stephen Carter war an sich kein schlechter Chef, aber er war ein Pedant und außerdem sehr darum bemüht, es seinen Vorgesetzten recht zu machen, und da sie – dank ihres befristeten Vertrags – streng genommen nur eine Zeitarbeitskraft war, würde sie als Sündenbock für sämtliche Pannen, Fehlschläge oder Ungereimtheiten im Archiv herhalten müssen.

Und im Moment war sie vollkommen auf sich allein gestellt, sie musste ohne das Sicherheitsnetz einer Familie oder eines Partners auskommen. Deshalb wollte sie sich gar nicht ausmalen, welche Konsequenzen es hätte, wenn sie ihren Job verlöre.

Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, doch sie bemühte sich, ihre Gefühle zu unterdrücken, während sie sich in das Fotoarchiv begab: lange Reihen kriegsschiffgrauer Metallregale, in denen Dutzende Archivkisten voller Negative, Diapositive und Abzüge lagerten.

Sie schritt die Regalreihen ab und strich dabei mit dem Finger über die Kisten. Eigentlich mochte sie diesen Teil ihrer Arbeit am liebsten. Für Landkarten konnte sie sich nicht allzu sehr begeistern: Wie konnte irgendjemand angesichts eines schlecht gezeichneten Umrisses der Grafschaft Lancashire ins Schwärmen geraten? Mit den Fotografien jedoch war das anders. Sie hatten etwas Magisches an sich. Sie waren intime, persönliche Zeugnisse einer Zeit, in der die Welt noch nicht vollständig erforscht gewesen war, aufgenommen von den wenigen Menschen, die sich hinausgewagt hatten in die noch unbekannte Wildnis. Abby holte eine Kiste herunter und nahm dann auf einem Bürostuhl Platz. Grob gesagt bestand ihre Arbeit darin, die Sammlung zu katalogisieren, also zu vermerken, was die einzelnen Kisten enthielten: Expedition, Jahr, Erdteil, Namen, erreichte Ziele und dergleichen, sodass die Angaben im Computer erfasst und mit Querverweisen versehen werden konnten.

Doch daneben hatte sie noch eine weitere Aufgabe: Sie sollte die Geister der Vergangenheit für das Institut lebendig werden lassen. Das war der eigentliche Grund für ihre Anstellung gewesen: Sie sollte Ausstellungen kuratieren, um all diese lang vergessenen Dias der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Ihre erste Ausstellung sollte anlässlich der Zweihundertjahrfeier des Instituts in drei Wochen stattfinden; allerdings hatte Abby leichte Zweifel, ob sie tatsächlich schon so weit waren. Die Zusammenstellung der Bilder war einfach gewesen. Der Titel der Ausstellung lautete Die großen britischen Forschungsreisenden, und sie hatte aus einer Vielzahl spektakulärer Expeditionen auswählen können: Besteigungen des Mount Everest und des K2, Polarreisen und sogar Livingstones Suche nach den Nilquellen. Doch irgendetwas fehlte noch, eine Leerstelle im Herzen der Ausstellung, etwas, was sie zwar nicht genau benennen konnte, von dem sie aber hoffte, dass sie es erkennen würde, sobald sie darauf stieß.

Sie holte tief Luft, zog eine schmale Kiste heraus und öffnete sie. Darin befand sich eine Auswahl an Dias. Sie nahm das erste heraus und hielt es gegen das Licht: eine Gruppe winziger Gestalten, die angesichts des verschneiten Gipfels im Hintergrund wie Zwerge wirkten. Sie hielt das nächste hoch: eine Halbnahaufnahme eines Teams von Trägern, die den unsichtbaren Fotografen angrinsten. Sie drehte die Kiste auf die Seite; sie war beschriftet mit Mortimer-Expedition, Nepal, 1948. Dann rollte sie ihren Stuhl hinüber zu der Leuchtplatte, schaltete sie ein und griff nach einer Dialupe, einer Art Vergrößerungsglas, durch das hindurch man das Bild betrachten konnte, als wäre es ein normaler Abzug.

Das scharf umrissene Schwarzweißbild der zerklüfteten Himalaya-Gipfel war eindrucksvoll, doch im Grunde unterschied es sich kaum von den Dutzenden anderer atemberaubender Bilder, die sie bereits von verschneiten abgelegenen Gegenden zusammengetragen hatte. Und genau das war das Problem: Die ganze Ausstellung wirkte sehr verschneit, sehr hügelig, sehr weiß. Sehr eintönig.

Sie blies die Backen auf und wünschte sich, sie dürfte eine Tasse Tee in das Fotoarchiv mitbringen. Doch das war in den beengten Räumlichkeiten, die Abby immer an alte U-Boot-Filme erinnerten, streng verboten.

Schade nur, dass die durchtrainierten Matrosen fehlen, dachte sie grimmig.

Einen Augenblick lang bereute sie es, in einer derart dunklen und abgeschotteten Umgebung zu arbeiten. Ihre Freundinnen hatten sie allesamt für verrückt erklärt, als sie ihre Vollzeitstelle aufgegeben hatte. Doch sie kannten ja auch nicht den wahren Grund für ihre Kündigung. Sie wussten nicht, weshalb sie ihre Festanstellung im V&A, dem berühmten Victoria & Albert Museum, für eine Stelle als freie Mitarbeiterin am RCI aufgegeben hatte.

Denn Abby und Nick Gordon hatten mit niemandem über ihre vergeblichen Bemühungen, ein Kind zu bekommen, gesprochen. Obwohl sie als erstes Paar in ihrem Freundeskreis geheiratet hatten, wurden sie nie gefragt, ob sie an Nachwuchs dachten. Sie waren Mitte dreißig, lebten in London, amüsierten sich und gaben beruflich Vollgas. Außerdem war es ein Tabuthema, eine äußerst private Angelegenheit. Man fragte nicht nach, wenn man vermutete, dass ein befreundetes Paar mit Fruchtbarkeitsproblemen zu kämpfen hatte. Nicht, wenn sie nicht von sich aus darüber sprechen wollten.

Abby und Nick waren vor den Schwierigkeiten einer künstlichen Befruchtung gewarnt worden. Doch sie hätte nicht gedacht, dass es sie körperlich und auch emotional derart belasten würde. Sie hatte ihren Arbeitsplatz aufgegeben und die flexiblere Stelle am Institut angenommen. Und trotzdem war kein Baby gekommen. Und dann gab es auf einmal auch keinen Mann mehr.

Sie zog eine weitere Kiste heraus, diesmal mit Schwarzweißabzügen. Peru, Amazonas, lautete die Beschriftung, 1961.

Sie versuchte, sich zu konzentrieren und die ungebetenen Erinnerungen an Nick zu verdrängen.

Nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, nahm sie die Fotos aus der Schachtel, balancierte den Stapel auf ihren Oberschenkeln und blätterte ihn aufmerksam durch.

Auf dem ersten Bild, einer Weitwinkelaufnahme eines langgezogenen Tals mit üppiger Regenwaldvegetation, war ein Mann zu sehen, der sich um mehrere Maultiere kümmerte. Das zweite Foto war eine hübsche Nahaufnahme von einem Kolibri, das dritte zeigte eine Schar von Trägern mit zerfurchten, von der Sonne gegerbten Gesichtern. Sie schleppten riesige Körbe.

Immerhin liegt zur Abwechslung mal kein Schnee, dachte sie. Sie ahnte, dass sie in dieser Kiste etwas Nützliches finden würde.

Sie ging die anderen Bilder durch, bis eine Fotografie sie innehalten ließ. Ein Bild von einem Mann und einer Frau, nur Zentimeter voneinander entfernt. Seine Hand ruhte auf ihrer Wange und sie hatte in einer zärtlichen Abschiedsgeste die Handfläche darüber gelegt. Abby stockte der Atem. Das Bild war wunderschön, geradezu ergreifend, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum. Die Situation an sich war nicht besonders ungewöhnlich, eine Szene, wie man sie tagtäglich auf Bahnhöfen und Flughäfen beobachten konnte.

Doch dieses Foto war anders: Es lag Anspannung, Herzschmerz darin. Die Frau wirkte aufgelöst, verzweifelt. Aber weshalb? Wer war dieser Mann? Und wer war die Frau, die ihn liebte?

Sie drehte das Bild um und las die Beschriftung auf der Rückseite: Blake-Expedition, Peru, August 1961.

Aus den übrigen Fotografien konnte sie schließen, dass er in den Dschungel gereist war. Hatte sie ihn angefleht, zu bleiben? Und war er trotzdem fortgegangen? Sie fragte sich, wie alt dieses Liebespaar inzwischen sein mochte, ob sie beide noch am Leben und immer noch ein Paar waren.

Ihr Blick fiel wieder auf das Bild. Verdammt, es war wirklich gut. Sie wusste auf Anhieb, dass es sich perfekt für die Ausstellung eignen würde. Atemberaubende und dramatische Aufnahmen hatte sie inzwischen schon zur Genüge: winzige Gestalten, die eine Felswand erklommen, Schiffe, die mit dicken Eiszapfen behangen zwischen Eisschollen feststeckten. Aber das hier? Das hier war anders. Das Foto barg Emotionen, es vermittelte einem das Gefühl, dass es bei Forschungsreisen um mehr ging als lediglich darum, aufzubrechen und fortzugehen. Es verankerte die heldenhafte Tat in der Wirklichkeit und brachte einen zum Nachdenken: Was wäre, wenn ich fortgehen würde? Wie würde ich mich fühlen? Und was würde ich empfinden, wenn ich diejenige wäre, die zurückbleibt? Die Fotografie sprach deutlich von der Macht der Liebe und der Angst vor dem Verlust.

Sie merkte erst, dass sie weinte, als eine dicke Träne auf die Leuchtplatte tropfte.

Mensch, Abby, du kannst doch nicht die unbezahlbaren Artefakte vollheulen, schalt sie sich und eilte aus dem Fotoarchiv, um ein Taschentuch zu holen.

»Abigail? Geht es Ihnen gut?«

Als sie sich umdrehte, stand Mr Bramley vor ihr und musterte sie besorgt. Christopher Bramley zählte zu den treuesten Mitgliedern des Instituts: Er kam häufig hinunter ins Archiv, um zusätzliche Materialien für seine Forschungsarbeit anzufordern. Ein weißhaariger, gebeugter und eher wortkarger Mann, der normalerweise nur sprach, wenn er irgendein Dokument oder eine Landkarte benötigte.

»Ja, danke, es ist alles in Ordnung«, erwiderte Abby schnell und rieb sich die feuchten Augen.

Der alte Mann hob die Brauen. »Das hoffe ich sehr«, meinte er freundlich.

Sie fragte sich, wie viel er über sie und ihr Leben wusste. Ob er davon gehört hatte.

»Bitte sehr. Das sind die Landkarten, die Sie angefordert hatten«, sagte sie etwas heiterer.

»Ich glaube, ich bin für heute Ihr letzter Kunde. Im Institut ist kaum noch jemand«, bemerkte er lächelnd, während er in seinen Taschen wühlte und ein Taschentuch zutage förderte. Er reichte es ihr. »Ich bin sicher, Mr Carter hätte nichts dagegen, wenn Sie heute ein bisschen eher Schluss machen.«

Sie beschloss, genau das zu tun, und kehrte in das Fotoarchiv zurück, um ihre Sachen zusammenzupacken.

Die Aufnahme von der Blake-Expedition steckte sie in einen kartonierten Umschlag. Sie wollte Stephen gleich morgen dazu befragen, schließlich arbeitete er schon seit über zehn Jahren am RCI und besaß ein enzyklopädisches Wissen über jeden Forschungsreisenden und Kartografen der letzten dreihundert Jahre.

Dann schaltete sie die Lichter aus, sah nach, ob alles abgeschlossen war, und zog sich ihre Jacke an.

»Sehe ich Sie morgen wieder, Mr Bramley?«, fragte sie, während sie sich ihre Tasche über die Schulter schwang und den Lesesaal durchquerte.

»Sollte mich nicht wundern«, gab der alte Mann zurück. »Gehen Sie noch aus?«

»Ja, ich gehe mit ein paar Freundinnen was trinken.«

Er lächelte. »Dann amüsieren Sie sich schön, Abigail. Sie haben es sich verdient.«

Sie erwiderte sein Lächeln. Zwar hatte sie sich bis jetzt noch nicht sonderlich auf ihren Mädelsabend gefreut, aber vielleicht war es ja genau das, was sie brauchte. Sie rannte die Kellertreppe hinauf und trat in die lichtdurchflutete Vorhalle des Instituts. Zurück in die Zivilisation, dachte sie, als sie auf ihr Handy blickte und sah, dass sie im Keller, wo es keinen Empfang gab, einen Anruf verpasst hatte.

Sie wählte die Mailbox. Während sie die Nachricht abhörte, wurde ihr so übel, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.

»Hi Abs, ich bin’s, Nick. Ruf mich bitte zurück. Wir müssen reden.«