Maja von Vogel & Henriette Wich

Total verknallt!

Kosmos

Umschlagillustration von Ina Biber, München

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

 

 

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© 2009, 2012 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

 

 

ISBN 978-3-440-13358-3

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Kein Tag für Marie

 

 

Eigentlich war heute alles perfekt: Marie hatte für das Clubtreffen mit Kim und Franzi ihr neues lilafarbenes Kaschmir-Minikleid angezogen, dazu passende blickdichte Strümpfe und hochhackige Stiefel aus Wildleder. Mund und Augen hatte sie mit zarten Fliedertönen geschminkt und das Rouge so aufgetragen, dass es aussah, als käme sie gerade vom Après-Ski auf einer angesagten Skihütte in der Schweiz. Trotzdem streckte Marie ihrem Spiegelbild in der Glasscheibe des Café Lomo die Zunge heraus, denn eigentlich war heute überhaupt nichts perfekt. Als sich auch noch ein verliebtes Pärchen an ihr vorbeidrängte und knutschend im Café verschwand, war ihre Laune endgültig im Keller. Jetzt konnten sie nur noch zwei Menschen auf der Welt retten: Kim und Franzi!

Marie seufzte, holte tief Luft und betrat das Café Lomo. Sie musste nicht lange suchen. Ihre besten Freundinnen saßen wie immer in der gemütlichen Sofaecke im hinteren Teil des Cafés. Dort trafen sich die drei !!! oft, wenn sie ungestört über einen neuen Fall sprechen oder Neuigkeiten austauschen wollten, die ihren Detektivclub betrafen. Manchmal kamen sie aber auch einfach nur her, um abzuhängen, so wie heute.

»Da bist du ja endlich!«, rief Franzi.

Kim winkte Marie ungeduldig an ihren Tisch, auf dem bereits zwei dampfende Becher Kakao Spezial mit Vanille-Aroma standen, das absolute Lieblingsgetränk der drei !!!. »Musst du eigentlich fast jedes Mal zu spät kommen?«, fragte sie mit einem vorwurfvollen Unterton in der Stimme.

»Tolle Begrüßung!«, zischte Marie, und ließ sich in einen Sessel fallen. »Wie wär’s stattdessen mit: ›Schön, dich zu sehen, Marie! Wir haben dich vermisst. Toll siehst du wieder aus!‹«

Franzi verdrehte genervt die Augen. »Toll siehst du wieder aus, Marie, und vermutlich ist genau das der Grund, warum du zu spät bist. Hab ich recht?«

»Kann sein …«, sagte Marie nur. Sie hatte heute keine Lust auf einen Streit mit ihren Freundinnen. Außerdem brauchte sie jetzt dringend auch einen Kakao Spezial. Marie winkte der Bedienung, einer jungen Studentin, und bestellte sich zum Kakao noch einen Blaubeer-Muffin.

»Gute Idee«, sagte Kim sofort. »Für mich bitte einen Schoko-Muffin.« Eigentlich hatte sie sich die Kalorienbombe heute verkneifen wollen, da sie zu Hause schon zwei Riegel Nussschokolade verdrückt hatte, aber sie brauchte Süßigkeiten einfach als Nervennahrung – Hüftpölsterchen hin oder her.

Die Bedienung brachte Maries Getränk und die beiden Muffins und legte ein paar rote Servietten mit aufgedruckten Herzen dazu. »Guten Appetit!«, sagte sie lächelnd und verschwand wieder.

Marie nahm ihren Becher in die Hände und starrte trübsinnig auf den Milchschaum. Merkten Kim und Franzi eigentlich gar nicht, wie schlecht sie drauf war? Kim war doch sonst immer so sensibel, aber heute schien sie mit ihren Gedanken ganz weit weg zu sein. Franzi dachte offensichtlich auch nicht daran, nachzufragen. Sie spielte mit ihrer Serviette und betrachtete kopfschüttelnd die Tischdekoration. Heute standen auf jedem Tisch des Cafés drei rote Kerzen, und auf den Tischplatten war Konfetti in Herzform verstreut.

»Die fangen aber auch jedes Jahr früher an mit dem Valentinstag«, stöhnte Franzi. »Es ist doch erst Anfang Februar.«

»Erst? Schon!«, sagte Kim leicht panisch, strahlte aber gleichzeitig und wurde rot. »Ich muss noch so viel organisieren und vorbereiten. Hoffentlich schaffe ich alles rechtzeitig. Aber ich liebe diesen Stress – ich finde ja den Valentinstag fast noch schöner als Weihnachten!«

Franzi verzog das Gesicht. »Ich nicht. Ehrlich gesagt geht mir der ganze Romantikkram ziemlich auf den Geist. Zum Glück bleibt mir das dieses Jahr erspart! Benni und ich wollen stattdessen eine ausgiebige Skatertour durch die Stadt machen.«

Kim runzelte die Stirn, lachte dann aber. »Das passt zu dir. Läuft zurzeit gut mit Benni und dir, oder?«

Franzi nickte glücklich. Erst war sie nur mit Benni geskatet, danach war sie eine Zeitlang mit ihm zusammen gewesen, dann hatte sie sich von ihm getrennt, und nun waren sie wieder einfach nur Skaterfreunde. Seit Franzi wieder Single war und die ganzen verwirrenden Gefühle nicht mehr andauernd dazwischenfunkten, ging es ihr besser denn je.

»Und, was habt ihr vor, du und Michi?«, fragte Franzi, weil sie merkte, dass Kim vor Mitteilungsbedürfnis fast platzte.

Kim lehnte sich auf dem Sofa zurück und bekam einen verträumten Gesichtsausdruck. »Ich will Michi überraschen. Unser Einjähriges muss was ganz Besonders werden. Wahrscheinlich lade ich Michi zu mir nach Hause ein, stelle überall in meinem Zimmer Teelichter auf und verteile Sitzkissen auf dem Boden. Und dann verwöhne ich Michi mit selbstgebackenem Schokoladenkuchen – in Herzform natürlich!« Plötzlich stöhnte sie und fuhr sich durch die kurzen braunen Haare. »Mist! Das geht ja nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Franzi verwundert. »Hast du Angst, dass der Kuchen nichts wird?«

Kim schüttelte den Kopf. »Nein! Ich hab Angst, dass Ben und Lukas plötzlich reinplatzen. Ihr kennt doch meine Zwillingsbrüder, die zerstören jede Romantik. Ich muss einen anderen Ort für unser Valentins-Date finden.« Kim runzelte nachdenklich die Stirn. »Im Jakobipark wäre es romantisch oder am Badesee, aber da ist es im Februar bestimmt saukalt …«

»Wie wär’s denn mit dem Pferdeschuppen?«, schlug Franzi vor.

Kim sah sie überrascht an. »Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen, aber du hast recht! Ich könnte den alten Bollerofen anwerfen, dann hätten wir es total gemütlich. Franzi, du bist genial!«

»Moment mal!« Marie stellte ihren Becher abrupt auf dem Couchtisch ab. »Da hab ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich dachte, unser Hauptquartier ist Sperrzone, da dürfen nur die drei !!! rein und sonst niemand.«

Sofort hörte Kim auf zu strahlen. Franzi warf Marie einen verärgerten Blick zu. »Jetzt übertreib mal nicht! Michi würde nie in unserem Bürocontainer herumstöbern, er hat längst kapiert, dass wir unsere Clubgeheimnisse haben.«

»Stimmt«, gab Marie zu. Trotzdem war sie alles andere als begeistert von der Idee. Aber Kim und Franzi hatten sie sowieso schon überstimmt, also sagte sie schließlich: »Na, gut, wenn’s unbedingt sein muss.«

»Sag mal, was ist heute eigentlich los mit dir?«, fragte Franzi. »Hast du was gegen uns, oder warum stänkerst du die ganze Zeit rum?«

Marie legte den Muffin weg, den sie ohnehin kaum angerührt hatte, biss sich auf die Lippen und schwieg.

Da legte Kim ihr die Hand auf den Arm. »Hey, dir geht’s nicht gut, oder? Was ist denn passiert?«

»Heute ist echt nicht mein Tag!«, sagte Marie, und dann ließ sie endlich den ganzen Ärger raus, den sie bis jetzt hinuntergeschluckt hatte. »Dabei wollte ich es mir extra schön machen. Nach dem Mittagessen hab ich meine neue Yoga-Meditations-CD eingelegt, mich im Lotus-Sitz auf meine Decke gesetzt und die Augen geschlossen. Gerade als ich mich auf die Reise zu meinem inneren Ich gemacht hab, geht dieser Krach unten los. Mörderisch! Die neuen Nachbarn nehmen überhaupt keine Rücksicht, nicht mal in der Mittagszeit! Können die nicht leise umziehen, wie zivilisierte Menschen?«

Kim und Franzi tauschten einen amüsierten Blick und prusteten gleichzeitig los.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, fragte Marie wütend.

»Entschuldige« sagte Kim, »aber übertreibst du nicht ein bisschen? Umzug macht nun mal Lärm, da können deine neuen Nachbarn doch nichts dafür.«

Franzi nickte. »Sei nicht so spießig! Du drehst doch auch ab und zu eure Anlage auf, oder?«

»Das ist ja wohl ganz was anderes!« Marie verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.

Kim schaffte es gerade noch, sich ein Lachen zu verkneifen. Dann sah sie Marie genauer an und fragte leise: »Könnte es sein, dass noch was anderes dahinter steckt? Du hast dich doch nicht nur über die Nachbarn aufgeregt, oder?«

»Ist was mit Holger?«, hakte Franzi nach.

Ein brennender Schmerz fuhr durch Maries Herz. Franzi hatte ins Schwarze getroffen. Jetzt brach der ganze Kummer aus Marie heraus. »Wir sehen uns so selten. Warum muss er nur in Billershausen wohnen, 25 Kilometer weit weg? Ich hasse diese Fernbeziehung! Und wenn wir uns nach einer halben Ewigkeit mal wieder treffen, muss ich mich erst an ihn gewöhnen. Jedes Mal dauert es länger. Manchmal erschrecke ich über mich selbst, weil … weil … Holger ist mir richtig fremd geworden.« Die letzten Worte hatte sie nur noch geflüstert, da liefen ihr auch schon die Tränen über die Wangen. Schniefend kramte Marie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und schnäuzte sich ausgiebig.

»Jetzt versteh ich«, sagte Kim mitfühlend. »Deshalb hast du die ganze Zeit geschwiegen, als wir über den Valentinstag geredet haben. Ich hab mich schon gewundert.«

»Du Arme!«, sagte Franzi. »Was machst du denn jetzt am 14. Februar?«

Marie schluchzte. »Na, was wohl? Ich lasse den Valentinstag ausfallen. Das hat doch alles keinen Sinn mehr. Am besten trenne ich mich schon vorher von Holger.«

»Was?«, riefen Kim und Franzi wie aus einem Mund und sahen Marie bestürzt an.

»Tu das nicht!«, sagte Kim. »Du warst doch immer so glücklich mit Holger. Weißt du noch, wie du dich kaum von ihm trennen konntest, als du ins Modelhaus gegangen bist?«

Marie nahm ein zweites Taschentuch aus der Packung. »Natürlich weiß ich das noch. Aber die Zeiten sind vorbei – endgültig!«

»Sag so was nicht«, murmelte Franzi. »Denk lieber noch mal in Ruhe über alles nach.«

Kim nickte. Dann sagte sie eindringlich: »Gib Holger nicht so einfach auf. Rede mit ihm über deine Probleme. Vielleicht geht es ihm ja ähnlich wie dir, und ihr findet gemeinsam eine Lösung.«

Marie sah Kim und Franzi hinter einem Schleier von Tränen an. Jetzt wusste sie wieder, warum die beiden ihre besten Freundinnen waren. Niemand verstand sie so gut, und niemand konnte sie so gut trösten. »Danke! Ihr seid lieb«, sagte sie tapfer. »Aber lasst uns besser von was anderem reden. Ist vielleicht irgendein neuer Fall in Sicht?«

Kim seufzte. »Nicht dass ich wüsste.«

»Ich hab leider auch keine Neuigkeiten«, sagte Franzi. »Langsam bekomme ich schon Entzugserscheinungen. Unser letzter Fall ist eine halbe Ewigkeit her.«

Marie nickte und stopfte ihre Taschentücher zurück in die Handtasche. »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht aus der Übung kommen!«

Im Grunde machte sich Marie jedoch keine Sorgen. Die drei !!! hatten seit der Gründung ihres Detektivclubs schon mehr als ein Dutzend Fälle gelöst, einen davon sogar im Ausland. Mittlerweile waren sie richtige Profis und hatten bei der Jagd auf Schmuggler, Einbrecher oder Betrüger reichlich Erfahrungen gesammelt. Wenn es brenzlig wurde, konnten sie jederzeit Michi oder Kommissar Peters anrufen, einen Freund von Maries Vater. Die beiden hatten die drei !!! von Anfang an bei ihren Ermittlungen tatkräftig unterstützt.

Plötzlich knuffte Franzi Kim mit dem Ellbogen in die Rippen und zeigte zur Tür. »Sind das nicht Ben und Lukas?«

Ehe Kim antworten konnte, kamen Ben und Lukas auch schon auf sie zu. Breitbeinig bauten sie sich vor ihrer Schwester auf und grinsten frech.

»Hallo, Planschkuh!«, sagte Ben.

»Du hast dir ja schon wieder einen Muffin reingestopft«, stellte Lukas fest.

»Hüftgold, Hüftgold!«, riefen die Zwillinge im Chor.

Kim wurde knallrot. »Haltet sofort den Mund, ihr kleinen Ungeheuer! Was macht ihr überhaupt hier? Ihr solltet doch Mathe lernen, nachdem ihr die letzte Arbeit schon wieder versiebt habt.«

»Das geht dich gar nichts an, fette Planschkuh«, sagte Ben, und Lukas streckte ihr die Zunge raus. Dann machten die Zwillinge auf dem Absatz kehrt und düsten ab.

In Augenblicken wie diesen war Marie immer heilfroh, dass sie keine Geschwister hatte. Ihr Vater war nicht nur der allerbeste Fernsehkommissar, sondern auch der allerbeste Vater und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Nur ihre Mutter vermisste Marie manchmal sehr. Frau Grevenbroich war bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Damals war Marie erst zwei Jahre alt gewesen.

»Jetzt will ich aber wissen, was die hier treiben!«, sagte Kim und riss Marie aus ihren Gedanken.

Ben und Lukas standen mittlerweile vor dem Schwarzen Brett des Cafés und pinnten mehrere rote Zettel daran.

Franzi nickte. »Ich bin auch neugierig. Kommt, lasst uns die Zettel mal genauer ansehen.«

Marie hatte nichts dagegen. Alles, was sie von ihrem Liebeskummer ablenkte, war gut.

Als sich die drei !!! dem Schwarzen Brett näherten, fuhren die Zwillinge herum, streckten Kim noch mal die Zunge heraus und hauten ab. Das war kein gutes Zeichen. Kim hatte das untrügliche Gefühl, dass sie wieder mal etwas ausgefressen hatten. Schnell beugte sie sich vor und las den Text, der auf den roten Zetteln stand:

 

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Happy Valentine!

 

Franzi pfiff durch die Zähne. »Das sieht ja richtig professionell aus. Hätte ich den Knirpsen gar nicht zugetraut.«

»Ich auch nicht«, sagte Marie. »Vielleicht haben wir deine kleinen Brüder doch unterschätzt?«

Kim lachte. »Glaub ich nicht. Die wollen doch nur angeben und ihre permanente Taschengeldkrise in den Griff kriegen. Wartet erst mal ab, ob die das überhaupt bis zum Schluss durchziehen.«

»Aber die Idee ist nicht schlecht«, sagte Franzi anerkennend. »Ich brauche dieses Jahr zwar keine Rose, aber die Mädels aus meiner Klasse haben bestimmt Bedarf – und unsere Freundinnen aus dem Jugendzentrum sicher auch, oder? Was meinst du, Marie?«

Keine Antwort.

»Erde an Marie!«, rief Franzi. »Ich hab dich was gefragt.«

»Entschuldige«, sagte Marie. »Ich hab gerade nicht zugehört. Seht mal, was ich entdeckt hab!« Sie tippte auf einen Zettel, der neben dem Aushang von Ben und Lukas hing. »Die suchen Statisten für ein Drama. Das Theater kenne ich sogar: Es ist klein, macht aber richtig gute Produktionen. Da muss ich mich unbedingt bewerben!«

»Viel Glück!«, sagte Kim, und Franzi drückte jetzt schon mal beide Daumen.

Marie ließ einen lauten Stoßseufzer los. Endlich konnte sie sich wieder ein ganz klein wenig freuen. Der Aushang des Theaters war der erste Lichtblick an diesem abscheulichen, furchtbaren, schrecklichen Tag!

Stress mit dem Nachbarn

 

 

Auf dem Heimweg kreisten Maries Gedanken um das Vorsprechen im Theater, das nächsten Mittwoch stattfinden sollte. Wie viele Leute sich wohl bewerben würden? Ob sie eine kurze Szene vorbereiten sollte? Oder lieber frei improvisieren? Und die wichtigste Frage: Was sollte sie anziehen? Marie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie eine reelle Chance auf eine Rolle hatte. Sie nahm seit Jahren Schauspiel- und Gesangsunterricht, spielte in der Theater-AG des Jugendzentrums mit und schlüpfte auch während der Ermittlungen des Detektivclubs immer wieder sehr überzeugend in die unterschiedlichsten Rollen. Marie hatte ihr Ziel fest vor Augen: Sie wollte später eine berühmte Sängerin oder Schauspielerin werden – mindestens so berühmt wie ihr Vater, der in der Vorabendserie Vorstadtwache den Hauptkommissar Brockmeier spielte.

Als Marie vor ihrem Haus stand und in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel suchte, wurde sie jäh aus ihren Gedanken gerissen. Eine Gruppe junger Leute, etwas älter als Marie, vielleicht achtzehn oder neunzehn, überquerte die Straße und steuerte direkt auf sie zu. Sie redeten und lachten so laut, als wären sie allein auf der Welt. Marie wurde zur Seite gedrängt, als einer der Jungs auf dem Türschild nach einem Namen suchte und auf die Klingel drückte.

Marie wäre beinahe der Hausschlüssel aus der Hand gefallen. »He!«, rief sie empört. »Pass doch auf!«

»Sorry.« Der Junge lächelte ihr entschuldigend zu. »War keine Absicht.«

Da ertönte der Summer, und die Gruppe verschwand im Treppenhaus. Marie folgte ihnen kopfschüttelnd. Manche Leute waren so was von rücksichtslos! Seufzend stieg sie die Treppe hinauf. Gleich hatte sie ein Telefon-Date mit Holger. Ob das Gespräch wieder so unterkühlt verlaufen würde wie die letzten Male? Morgen, am Sonntag, wollte Holger vorbeikommen. Wenn Marie ganz ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie keine große Lust auf das Treffen hatte. Manchmal wusste sie einfach nicht mehr, worüber sie mit Holger reden sollte. Dabei hatten sie sich am Anfang ihrer Beziehung so viel zu sagen gehabt. Was war nur mit ihr und Holger geschehen?

Maries Schritte wurden immer langsamer. Auf dem Treppenabsatz blieb sie kurz stehen. Etwas weiter oben klingelten die jungen Leute gerade an der Wohnungstür der neuen Nachbarn, die heute Mittag so einen Krach veranstaltet hatten. Jetzt drangen statt Umzugslärm laute Musik und Stimmengewirr aus der Wohnung. Klang nach einer Party. Die neuen Gäste wurden mit großem Hallo begrüßt, dann ging die Tür wieder zu.

Marie stieg die letzte Treppe hinauf. Na, das konnte ja heiter werden! Die Wohnung befand sich direkt unter dem Penthouse ihres Vaters, und das Haus war leider ziemlich hellhörig. Musste sie sich jetzt etwa den ganzen Samstagabend diesen Lärm anhören? Ausgerechnet heute, wo sie alleine war und ihr Vater einen Abend-Dreh hatte?

Als Marie die Wohnung betrat, begann ihr Handy zu klingeln. Schnell zog sie ihren Mantel aus, warf ihn über die Garderobe und nahm den Anruf entgegen. Es war Holger. Pünktlich wie immer.

»Hallo, mein Schatz«, begrüßte er sie. »Wie geht’s dir?«

»Geht so«, murmelte Marie. Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das weiße Ledersofa fallen. Sie konnte die dröhnenden Bässe unter ihren Füßen spüren. Das Wummern der Musik war leider sehr gut zu hören und ging ihr jetzt schon wahnsinnig auf die Nerven. Wie in aller Welt sollte sie so in Ruhe telefonieren?

»Was ist denn los?«, wollte Holger wissen. »Gab’s Ärger in der Schule?«

»Nein, in der Schule ist alles in Ordnung.« Marie erzählte kurz von den neuen Nachbarn. »Hoffentlich geben sie wenigstens am Sonntag Ruhe«, seufzte sie schließlich. »Wann kommst du morgen eigentlich?«

»Äh … na ja … weißt du … genau darüber wollte ich mit dir reden.« Holger räusperte sich umständlich.

»Wieso?«, fragte Marie alarmiert.

»Also … die Sache ist die …« Holger zögerte kurz, dann gab er sich einen Ruck. »Ich kann leider nicht kommen.«

»Was?« Marie setzte sich kerzengerade hin. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Ich muss lernen. Wir schreiben am Montag eine wichtige Matheklausur, und ich hänge total hinterher.«

»Hättest du nicht früher anfangen können zu lernen?«, fragte Marie schnippisch. »Die Klausur ist doch bestimmt nicht erst gestern angesetzt worden.«

»Ich hab den Stoff total unterschätzt.« Holger klang zerknirscht. Oder tat er nur so? »Tut mir echt leid, dass ich unser Date abblasen muss. Bist du sauer?«

Marie atmete tief durch. Sie wollte nicht, dass ihre Stimme zitterte. »Quatsch. Ist nicht so schlimm, dann mache ich mir eben alleine einen schönen Sonntag.«

Holger seufzte. »Du bist doch sauer, stimmt’s?«

Leider kannte Holger sie ziemlich gut. Marie hätte vor Wut platzen können. Was für eine Unverschämtheit, sie so kurzfristig zu versetzen! Das Treffen war seit Wochen geplant. Was fiel Holger eigentlich ein?

»Keineswegs«, sagte Marie betont munter. »Wir können uns genauso gut ein andermal sehen. Ist doch überhaupt kein Problem.« Holger sollte sich bloß nicht zu wichtig vorkommen.

»Wann denn?«, fragte er. »Nächste Woche?«

»Da kann ich nicht«, antwortete Marie kühl. »Nächste Woche hab ich ein wichtiges Vorsprechen, auf das ich mich vorbereiten muss.«

»Ehrlich? Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.« Holgers Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll.

»Ich muss dir schließlich nicht alles erzählen, oder?« Marie merkte, wie sie Kopfschmerzen bekam. Ob das Gespräch mit Holger oder die Bässe von unten daran schuld waren, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Wahrscheinlich beides zusammen.

Holger antwortete nicht. Eine Weile war es still in der Leitung. Marie massierte sich mit der freien Hand die Schläfe, um die Kopfschmerzen zurückzudrängen.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte Holger schließlich. »Du hast doch irgendwas.«

»Ich?« Marie zog die Augenbrauen hoch. »Nein, alles in Ordnung. Hast du vielleicht ein Problem?«

Holger zögerte. »Nein, ich habe kein Problem«, murmelte er schließlich.

»Prima!« Marie ignorierte den bitteren Tonfall in seiner Stimme. »Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen, ich hab noch einen ausgiebigen Wellness-Abend geplant. Viel Erfolg morgen beim Lernen.«