Der Autor

Torsten Sträter, Jahrgang 1966, wohnhaft in Waltrop bei Dortmund, trägt seit 2008 auf Poetry Slams und in Solo-Shows selbstgeschriebene Texte vor. Geringste Zuschauerzahl: 9. Höchste Zuschauerzahl: über 4000. Sein zuletzt bei Ullstein erschienenes Werk Es ist nie zu spät, unpünktlich zu sein stand mehrere Wochen in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste.
Von Torsten Sträter sind in unserem Hause außerdem erschienen:
Der David ist dem Goliath sein Tod
Selbstbeherrschung umständehalber abzugeben
Als ich in meinem Alter war
Es ist nie zu spät, unpünktlich zu sein

Das Buch

Ohne Witz: Sträter kann auch Horror.
Zum Gruseln!

Jahre bevor er Deutschlands Bühnen mit seinem launigen Humor beschallte, übte sich Torsten Sträter in der ersten seiner Königsdisziplinen: Gruselgeschichten. Und alle waren begeistert. In diesem Buch mit Horror-Storys, die in der Zeit zwischen 2003 und 2006 entstanden, zeigt der Meister des abseitigen Humors eindrucksvoll, dass das Grauen nicht nur auf verfallenen Friedhöfen oder fernen schottischen Schlössern wütet. Es kann uns ebenso ereilen in Altenheimen, auf Autobahnen oder gar im heimischen Wohnzimmer. Gruselig, schräg und schon mit dem ganz speziellen Sträter-Humor versehen, lassen diese Geschichten schmunzeln, erschauern und machen vor allem eins: Spaß.

»Torsten Sträter ist einer der wenigen Autoren, die sich nicht komplett selbst überschätzen.«
Torsten Sträter

Torsten Sträter

Sträters Gutenachtgeschichten

Die gesammelten Horror-Storys

Ullstein

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www.ullstein.de

Vollständig überarbeitete Lizenzausgabe
© Eldur Verlag 2004, 2005, 2006.
Die Texte dieses Bandes sind erstmals unter den Titeln Postkarten aus der Dunkelheit (2004), Hämoglobin (2005) und Hit the road, Jack (2006) im Eldur Verlag, Wuppertal erschienen.
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: Autorenfoto: © Hans Scherhaufer, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2524-8
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Vorwort

Hallo und guten Abend …


ja, okay, ist vielleicht gerade tagsüber, Sonne, Rotkehlchen fliegen herum, ist gut. »Guten Abend« kommt einfach besser als Begrüßung. So heimelig. Gemütlich. Oder? Na, lassen Sie mich einfach mal machen.

Vorneweg: Das Buch, das Sie in den Händen halten, ist neu. Die Geschichten darin nicht. Zwischen den Buchdeckeln findet sich im besten Sinne staubiges Zeug. Wie kommt’s, werden Sie nun fragen. War RESTEVERWERTUNGS-MAN wieder unterwegs? I wo. Ich fange mal vorne an.


1. WIE HAT DAS GANZE ANGEFANGEN?
Also: Ich war Anfang des Jahrtausends in der Familienspedition angestellt. Meine Mutter war mein Boss. Das war einerseits ganz lustig, andererseits hielt meine Mutter nicht viel vom Denver-Clan-Dynastie-Denken, sodass ich nicht als DER SOHN DER CHEFIN erst gegen Mittag im Büro aufkreuzen konnte. Sechs Uhr morgens lautete die Ansage. Der Tag begann damit, dass ich Labormaterial sortierte. Gegen sieben kreuzten die Fahrer auf, schnappten sich ihre Listen und Kühlkisten und machten sich auf den Weg, um bei Ärzten Blutproben einzusammeln. Meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt schon entspannte drei Stunden in der Firma war, musterte mich. Um sieben Uhr dreißig war ich mental bereits fertig mit dem Tag. Fahl und übermüdet kippte ich Kaffee um Kaffee in mich rein und ließ die Geschäftigkeit der Spedition an mir vorbeirauschen. Ich mochte diesen Job nicht, und ich bin mir sicher, der Job hatte auch nichts für mich übrig. Das war’s also, dachte ich oft. Vom Herrenschneider über den Konfektionsverkäufer zum Berater für Mobiltelefone, dann ein, zwei Mal falsch abgebogen und mit Schmackes ins Speditionsgewerbe geballert. Treffer, versenkt. Fairnesshalber muss man sagen, dass ich schon einen SOHN DER CHEFIN-Bonus hatte, denn ich war auf einem so atemberaubenden Niveau inkompetent, das jeden anderen Boss zügig bewogen hätte, mich mit einem nassen Handtuch aus dem Büro zu prügeln. Außer Papier am Faxgerät nachzufüllen und Telefondienst war mir nicht viel abzuverlangen. Gelegentlich stellte ich Ware bei Apotheken zu, wenn Not am Mann war, aber das musste dann schon allergrößte Not an einem maximal verzweifelten Mann sein. Der Verdienst war indes lächerlich – für das, was ich machte, aber angemessen. Am späten Nachmittag versah ich meist Telefondienst. Unsere Räume bestanden aus zusammengeschraubten Bürocontainern. Einen davon belegte ich. DIN-A4-großes Fenster, Heizkörper, Schreibtisch, fünf Jahre alter PC, Nadeldrucker. Im Sommer wurde es angenehm mummelig in der Blechkiste, so knapp 40 Grad, also hockte ich da, Füße in einem Wassereimer, und versuchte, ins Internet zu kommen. Wenn ich surfte, konnte aber keiner telefonieren, wir reden hier von der Eisenzeit der Anlagentechnik, also blieb mir meist nur die Zauberwelt von Windows 98. Sie wissen schon. Sprechende Büroklammer. Schlimm.

So begann ich zu schreiben. Aus Langeweile. Einige beginnen zu schreiben, weil in ihnen dieses Feuer brennt, dieses unbändige Talent zur Sprache, andere hingegen, weil es eine Geschichte zu erzählen gibt, ein Stück Erzählung für die Nachwelt. Ich schrieb, weil ich zu blöd für Minesweeper war.

Ich war schon immer ein Fan guter Horror-Storys. Speziell von Stephen King. Für Clive Barker, den ich heute mehr schätze als damals, war ich seinerzeit noch etwas zu dumm. Na ja, jedenfalls dachte ich, ich könnte ja mal versuchen, eine Gruselgeschichte zu schreiben.

Ich war ziemlich erstaunt, wie viel Spaß ich daran hatte. Also schrieb ich viele Geschichten. Die meisten waren ziemliche Scheiße, aber ein paar waren gar nicht so übel. Ich beschloss daraufhin, einen Schreibratgeber zu kaufen. War ein interessantes Buch, glaube ich. Habe wenig verstanden. Trotzdem hatte ich das ungute Gefühl, bei meinen Geschichten lediglich instinktiv was richtig zu machen, so ab und zu, und das fand ich selbst für einen, der seine Füße in einem Eimer hat, zu wenig.

Irgendwann stieß ich auf Stephen Kings DAS LEBEN UND DAS SCHREIBEN (ON WRITING). King erzählt darin aus seinem Leben, wie er zu schreiben begann, liefert überaus anschauliche Beispiele für den Entwurf von Texten, und er erklärt, was man beim Schreiben besser lassen sollte.

Das half mir. Speziell, was man lassen sollte. Dank Stephen King entfernte ich die meisten bescheuerten Metaphern aus meinen Geschichten, viel beknackte wörtliche Rede, haarsträubende Vergleiche – und vor allem für einen Ruhrgebietsfuzzi peinliche Klamotten wie »James Hancock ging die Interstate 34 in Illinois entlang«. Junge, Junge.


Irgendwann freundete ich mich mit Peter Dobrovka an, seines Zeichens Gehirnchirurg, der im Begriff war, einen kleinen Verlag zu gründen. Wir einigten uns darauf, drei schmale Bände rauszubringen, die wir JACKS GUTENACHTGESCHICHTEN nannten. Warum, ist mir entfallen. Sämtliche Cover gestaltete ich, so wahr mir Gott helfe, selbst. Nicht schön. Aber die Bände waren recht erfolgreich in »der Szene«.

Das alles ist fast zwanzig Jahre her.


2. JA, UND JETZT?
Mittlerweile bin ich eher für meine humoristischen Sachen bekannt. Humor fällt mir leicht. Vielleicht, weil es keine klaren Regeln dafür gibt, was lustig ist. Doch ab und zu dachte ich noch an die gute alte brotlose Zeit der Horror-Storys, aber im Prinzip war ich durch damit.

Dann kam 2020, dieser strahlende Fixstern im bunten Reigen eindrucksvoller Scheißjahre. Bis dahin hatte ich mich von den Horrorgeschichten über Lesungen und Poetry-Slams in eine Nische der Halbprominenz emporgehampelt, die es mir ermöglichte, gut davon zu leben. Viel Fernsehen, eigene Show, große Hallen, der eine oder andere Preis. Dann, im März 2020, wurden wir alle ungefragt von einem Virus infiltriert. Die Umstände der Pandemie verdammten mich, wie viele andere auch, zur Untätigkeit. Das ging etwa vier Wochen gut, dann erfasste mich eine derartig elementare Unterforderung, dass ich begann, vor Autos aufzutreten. Oder vor zehn Menschen. Oder ohne Publikum, während ich in eine Kameralinse starrte. Ich nächtigte gelegentlich als einziger Gast in riesigen Hotels. Es war seltsam, so viel stillen Stein um sich herum zu haben. Mitunter ging ich an die Hotelbar, immer in der Hoffnung, einen Mitarbeiter zu treffen, der den Tresen abwischt und sagt:

»In der Tat, Mr. Torrance, ich bin mir nicht so sicher, ich habe meine Zweifel. Ich und auch andere neigen zu der Annahme, dass Sie nicht ganzen Herzens bei der Sache sind, dass es Ihnen an Begeisterung fehlt.«

Und dann bestelle ich Gin Tonic. Mir ist übrigens gerade wieder eingefallen, warum die Bände JACKS GUTENACHTGESCHICHTEN hießen.

Jedenfalls machte ich eine Menge komisches Zeug 2020. Und ich blickte zurück, denn selten war ein Rückblick so angebracht wie in jenem Jahr, das sowieso wirkte, als hätte Stephen King es geschrieben. Wenn du plötzlich in der Situation bist, deine kleine Karriere zu gestalten wie am Anfang, wenige Zuschauer, kaum Resonanz, dann stellst du deinen Blick nach hinten scharf und schaust noch weiter in die Vergangenheit. Mein altes Horrorzeugs fiel mir wieder ein. Stimmt, dachte ich, da war doch was, fragt sich nur, auf welcher Festplatte? Ich brauchte nur ein paar Minuten, dann fand ich, was ich suchte. Alle Geschichten in einem Ordner. Ich warf die Kaffeemaschine an, und im aufkommenden Geblubber des Geräts begann ich zu lesen, im Schlepptau die bange Frage: Taugt das noch was?


3. TAUGT DAS NOCH WAS?
Zugegeben, ich erwartete, beim Lesen ähnliche Empfindungen zu haben wie beim Betrachten von Fotos aus den Achtzigern. Das Gefühl lässt sich am besten mit »nachsichtiger Scham« umschreiben.

Man kennt das: Du auf ’nem Foto. Blonde Strähnchen, Leopardenhose, rotes Netz-T-Shirt, fingerlose Billy-Idol-Handschuhe.

Erster Gedanke: IM NAMEN JESU, WAR ICH EIN PILLEMANN!

Zweiter Gedanke: Na ja, äh, so war das damals, ne?

Aber zu meinem Erstaunen fand ich die Geschichten gar nicht schlecht. Gut gealtert, irgendwie. Also im Prinzip wie die ersten Jean-Claude-Van-Damme-Filme. Für fast zwanzig Jahre altes Material recht unterhaltsam. Einige Storys finde ich immer noch ziemlich gut, »Der Geruch von Blau« zum Beispiel oder »Voliere«. Oder »Post-it«. Andere sind etwas krude, aber ganz spaßig, und die richtig Üblen habe ich entfernt. Unterm Strich bin ich sehr zufrieden, aber Ihnen sollte klar sein, dass ich keine große Literatur produziere, okay? Ich fand einfach den Gedanken ansprechend, die ganzen alten Gruselsachen in einem vernünftigen Buch zusammenzufassen. Dafür habe ich ein bisschen hier gekürzt, da umformuliert, aber der leicht gestörte Geist der Originaltexte ist komplett erhalten geblieben.

Interessanterweise gibt es immer wiederkehrende Motive – meine Mutter oder dass jeder im Buch ausschließlich WDR 4 zu hören scheint. Ich musste auch ziemlich darüber wiehern, wie ich in »Unbekannter Teilnehmer« mal SO WAS VON NICHT das iPhone voraussehe und deswegen von supermodernen Nokia-Handys fabuliere. Auch dass ich dachte, der Gipfel des technisch Machbaren wäre ein Faxgerät im Auto (!), wollen wir nicht unter den Tisch fallen lassen, und an allen Ecken tauchen die Kreaturen auf, die dann und wann in eine Gruselgeschichte gehören. Das Gespenst. Der Werwolf. Der Vampir. Der Untote. Alles da.

Was soll ich Ihnen sagen? Ich hoffe einfach, Sie mögen die Geschichten. Sie kennen das vermutlich: Mag ja sein, dass Ihre Kinder totale Arschlöcher sind, frech, schlechte Manieren, zum Ausderhautfahren, absonderlich … aber es sind immer noch Ihre Kinder. So geht’s mir mit dieser Sammlung.


Also los. Genug gelabert. Fangen wir an.
Viel Spaß.


Torsten Sträter

Jägerlatein

Ich muss ihnen Einhalt gebieten.


Gestern waren wieder einige da.

Ich sah sie durch den Spalt meiner Bürotür – mindestens zwanzig, schätze ich.

Sie geben sich keine Mühe mehr, zu verbergen, was sie wollen.


Meinen ersten Löwenmenschen sah ich vor zwei Wochen, als ich gegen Mittag einen Kaffee im Bistro nebenan trank.

Es war ein Weibchen; sie sprach mich direkt an, wobei sie mir einen dieser Blicke zuwarf, die mich seitdem nicht mehr haben schlafen lassen.

Ich erstarrte augenblicklich, unfähig, den Anblick zu verarbeiten.

Sie plauderte irgendetwas, während ich ihren Schädel anstarrte. Seltsam kehlige Laute kamen aus ihrem Großkatzenmaul, während ihre leuchtenden, wilden Augen mich taxierten.

Ich antwortete ihr, ohne meine eigene Stimme zu hören; alles, was ich vernahm, waren ihre nassen Schnupperlaute zwischen den Sätzen.

Ich war der einzige Gast im Bistro, und die Bedienung nahm keine Notiz von den Vorgängen – ein Albtraum!

Die Löwin sprach weiter auf mich ein, ihre Schnurrhaare vibrierten dabei.

Ich starrte sie an, hoffend, dass sie nicht merkte, dass ich kapiert hatte, in welcher Gefahr ich schwebte. Ihr muskulöser Hals, über und über mit sandfarbenem Fell bewachsen, endete in einer weißen Baumwollbluse mit aufgestickten Röschen. Eine ihrer Tatzen schnitt scharf in meinen Arm, als sie ihn ergriff, und dann kam der erste verständliche Satz:

»Schauen Sie her!«

Ihr Maul öffnete sich, und ich sah sechs Zentimeter lange Reißzähne in erschreckend rosafarbenem Zahnfleisch; ihre Zunge war ein hellbrauner Lappen von der Größe eines Wiener Schnitzels, und als sie ihren Löwenkopf zu mir beugte, versagte mir die Blase.

Ich rannte auf die Straße. Sie folgte mir nicht.

Ich traue mich nicht, mit jemandem darüber zu sprechen.


Sie rufen jetzt schon nachts an.

Gestern klingelte das Telefon. Als ich es an mein Ohr hielt, erfüllte ein digitalisiertes Brüllen mein Schlafzimmer. Ich legte schreiend auf.

Es klingelte gegen vier Uhr morgens erneut, und diesmal klang es eher nach einem Schakal: Das Heulen hinterließ ein Rauschen in meinen Ohren, das bis zum Vormittag blieb. Aber mein Telefon wird nie wieder klingeln.

Mein guter alter Hammer hat es verstummen lassen.


Seit dieser Nacht sind es noch mehr geworden.

Noch drohen sie mir lediglich; sie bauen sich vor mir auf und fletschen die Zähne, nah genug, um mein Gesicht abzufressen wie das Innere einer Kokosnuss – aber sie tun es nicht!

Sie lassen mich in ihre Schlünde starren, während ihr nach Steppe und Fleisch stinkender Atem meine Brille beschlagen lässt.


Seit Kurzem nehme ich Amitrioxid. Nur kleine Dosen, um das nachhallende Rauschen in meinem Kopf zum Verstummen zu bringen. Es gibt mir eine gewisse Distanz zu den Dingen, ohne mich allzu sehr zu lähmen. Früher nahm ich verschiedene Bluthochdruckpräparate, und zwar stets mit dem nötigen Gefühl für gewissenhafte Medikation. Amitrioxid ist etwas ernster, aber es ist schließlich nur vorübergehend.

Ich muss nur die Dosierung im Auge behalten. Amitrioxidtabletten sind keine Drops, und der Körper schreit schneller danach, als man denkt.

Trotzdem – es hilft. Ich stelle mir vor, dass die Angst schmilzt wie Softeis, während die Tablette zu wirken beginnt.

Gerade eben habe ich wieder eine geschluckt.

Ich spüle sie mit Wasser runter, hoffend, dass sie eher wirken, als das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelt. Meistens funktioniert es.

Wenn die chemische Fee ihren zarten Schleier über mich senkt, dimmt sich jedes Löwengebrüll zu einem Miauen herunter.


An Arbeit ist nicht zu denken.

An zu Hause bleiben leider auch nicht, das wäre zu auffällig.

Meine Gedanken rasen durch meinen Kopf: Sie dürfen nicht merken, dass ich Angst habe. Sie dürfen nicht erkennen, dass ich sie erkannt habe. Ich muss mich tarnen, so wie sie es tun, wenn sie in freier Wildbahn auf Beutezug sind. Nur dass ihre Tarnung äußerlich ist, meine nicht.

Ich hocke in meinem Büro und ignoriere die krächzende Sprechanlage.

Ich habe vor einer Woche mit dem Amitrioxid angefangen, und mittlerweile ist aus der Fee eine Walküre geworden. Unter fünf Tabletten wird der Schleier über meiner Wahrnehmung in Fetzen gebrüllt.

Fluvoxamin?

Ich werde es testen.


Ich musste mich gerade heftig in das Waschbecken meines Büros erbrechen.

Meine Magensäure hat eine Qualität angenommen, die besser in einer Autobatterie zur Verwendung käme.

Trotz meiner strikten Anweisung, niemanden vorzulassen, hatte man mir eine Hyäne hereingeschickt.

Sie trug eine Montur von Levi’s, und sosehr ich versuchte, mich auf den kleinen roten Wimpel an der Jeansjacke zu konzentrieren, scheiterte ich doch.

Der gedrungene Schädel der Bestie war so dicht vor meinem Gesicht wie kein anderer zuvor.

Ich sah einen Metallstift in der grauschwarzen Zunge des Tieres, der grünlich angelaufen war, aber der Atem war das Schlimmste.

Er stank nach Tod und Fäulnis. Hyänen sind Aasfresser. Dann sprach das Tier, vermutlich um mich zu quälen:

»Sehen Sie?«

Die Tiermenschen achten stets darauf, allein mit mir zu sein, wenn sie ihre Reißzähne blecken, um mir zu zeigen, was mich erwartet.

Wann wird das sein?

Wann wird der erste Tiger oder ein Puma-Mann meine Gesichtshaut mit seiner rauen Zunge berühren, Sekunden, bevor er sie abschält?

Wann wird mein Antlitz ausgelöscht?

Wann endet meine Identität im Magen einer Bestie?

Ich schrie das Monstrum an, fürchte ich. Alle Schutzmechanismen in meinem Bewusstsein schlugen ein »Entschuldigung, ich habe gerade zu tun« vor, aber der Teil, der für die Panik zuständig ist, formulierte einen hysterischen, speichelspritzenden Schrei.

Zwanzig Minuten später hatte ich mich zu Hause eingeschlossen.

Ich durchnässte weinend den Kragen meines Hemdes, während mein Hosenbein langsam trocknete.


Fluvoxamin löst Hitzeschübe aus.

Ich schwitze seit Stunden wie ein Schwein, während ich darüber nachdenke, was zu tun ist.

Wenn es so weitergeht, frisst die Angst mich schneller als irgendein Löwenmännchen oder -weibchen. Ich höre unablässig die Kaugeräusche der Angst, wie sie sich durch meinen gesunden Menschenverstand frisst: ein zähes Reißen, unterbrochen vom mahlenden Reiben stumpfer Zähne, an denen Fetzen meiner Selbstbeherrschung kleben.

Wie es wohl ist, tot zu sein?

Fluvoxamin hat noch eine interessante Nebenwirkung: Man sabbert, wenn die Einnahmeintervalle zu kurz sind.

Ständig läuft mir klarer Speichel aus den Mundwinkeln, sodass ich mich kaum traue zu sprechen.

Zwar versuche ich, mit niemandem zu reden, aber es ist nicht schön, seiner Haushaltshilfe mit dem Taschentuch vor dem Mund Anweisungen zu geben.

Wenn ich mich zurücklehne und die Augen schließe, ist es, als würde ich in einen Abgrund stürzen. Aber es fühlt sich gut an, und das macht mir Angst.


Bin seit achtundzwanzig Tagen unter Raubtieren.

Die Fee ist von der Walküre zu einer Furie mutiert: Clomipramin, Maprotilin, Morphin. Ich bin ständig auf Draht. Beruhigend, wenn man gute Kontakte hat.

Freunde – vor allem welche, die normale Gesichter haben – sind so wichtig.

Gestern Nacht habe ich festgestellt, dass ich mich nass gemacht habe, während ich schlief.

Ich habe von einer Dompteursnummer geträumt, die schrecklich schiefging.

Meine Augen haben Ringe – und unten auf der Straße warten die Bestien. Es ist alles zu viel.

Ich habe einen Entschluss gefasst: Wenn es schon unvermeidlich ist, Beute zu werden, werde ich diese Welt nicht allein verlassen. Ich werde ein paar Bestien mitnehmen – alle werde ich kaum schaffen.

Es sind unermesslich viele geworden.


Ich habe versucht, ein Gewehr zu kaufen, aber trotz meines erstklassigen Leumunds ist mir das nicht gelungen; ich benötige eine Waffenbesitzkarte. Die entschlossene, aber dezent gelangweilte Stimme des fetten Verkäufers führte dazu, dass ich mir den Kauf einer doppelläufigen Flinte augenblicklich aus dem Kopf schlug – aber nicht mal diesen stupsnasigen Trommelrevolver wollte er mir verkaufen.

Ich bot ihm tausend Euro, und ich war ziemlich hündisch dabei. Aber mit einem Blick auf mein schweißnasses Gesicht griff er zum Telefon, ohne die Banknoten anzusehen.

Wieder einmal Flucht.


Warum sind einige Leute völlig normal, andere Bestien?

Mein Bruder, der mich Sonntag besuchte, war wie immer nervig in seinem Bemühen, mich zu beleihen, aber definitiv menschlich.

Meine Zugehfrau ebenso: penibel, verwelkt, menschlich.

Mein Nachbar hingegen zeigte das struppige Haupt von etwas, das entfernt an einen feisten Jaguar erinnerte.

Ich sah ihn an der Grenze zu unserem Garten herumstromern, während ich mir am Küchentisch Morphin injizierte. Mit der Gruppe der Neuroleptika und Antidepressiva bin ich durch, nichts zu machen. Scheiß auf die Depotwirkung – ich brauche jetzt Hilfe, verflucht.

Als er mich sah, hob er seine Tatze.

In meinem Bemühen, das Fenster zu verdunkeln, riss ich die Jalousien von der Wand, die Kanüle noch im Arm.

Ich erwachte auf dem Fußboden, halb zugedeckt von zwei Meter Rattangeflecht.

Mein Kopf fühlte sich an, als sei er voller Scherben.

Das ist mein letzter Tag als Beute, schwor ich mir, und der Gedanke löste ein pochendes Echo aus.

Draußen scheinen Wölfe zu heulen – eine neue Spezies mit dem gleichen Ziel.

Sie sind nah.


Montagmorgen.

Eine letzte Injektion.

Ich weigere mich, »Schuss« zu sagen. Ich bin kein Junkie, sondern ein Mann in verzweifelter Lage.

Allerdings habe ich eine Lösung für mein Problem gefunden.

Das Medikament beginnt zu wirken … In Ordnung, das Heroin beginnt zu wirken.

Mein Schrank war leer, und es ist nur dieses eine Mal.

Ich höre sie im Nachbarzimmer toben; noch zwei Minuten.

Ich zwinge mich, Kaffee zu trinken. Starkes Zeug, das meine Haushaltsdame gebraut hat.

Bitter. Die Panik verblasst, aber ich habe keine Lust, langsam in die Knie zu gehen und das Bewusstsein zu verlieren.

Wie es wohl mit dem Heroin arbeitet? Koffein, meine ich.

Mein Herz pocht bereits, aber meine Finger sind ruhig, als ich das Messer aufklappe.

Ich war noch mal bei dem fetten Kerl, der keine tausend Euro braucht.

Für lediglich zweihundert Euro habe ich dieses kleine Meisterwerk erstanden: ein Messer mit zwölf Zentimeter langer, nie abstumpfender Keramikklinge, so scharf, dass die Nervenenden irritiert sind, wenn man sie durchtrennt. »Es soll nicht besonders schmerzen«, sagte der Mann.

»Wild«, meinte er, »hält fast still, wenn man ihm damit die Kehle durchschneidet.«

Genau, was ich brauche.


Ich drücke den Knopf der Sprechanlage. Mein Finger kommt mir zu lang vor, als ich es tue.

Merkwürdig.

Ich will gerade sprechen, als ich die Verkrustung auf der Klinge sehe.

Der Verkäufer hatte einen Paviankopf. An Katzen bin ich fast gewöhnt, aber diese grell gezeichnete Fratze ließ etwas in mir zerbrechen. Was sollte ich tun?

Ich nehme einen sterilen Tupfer.

Ein bisschen Alkohol löst die Kruste und das Problem.

Ich räuspere mich.

»Der Nächste bitte.«

Ich höre meine eigene Stimme blechern widerhallen, ein Phänomen, das mir auch ohne Sprechanlage vertraut geworden ist. Die Tür geht auf.

Meine Stuhlassistenz hat frei. Was ich heute tue, tue ich allein.

Eine Gepardin in Loden kommt herein; sie hält ihr Junges auf dem Arm. Dann setzt sie es auf den Stuhl.

»Es scheint ein Backenzahn zu sein«, sagt sie.

Das Junge bleckt die Zähne, und ich ergreife die Sonde, schalte die Lampe ein.

Ich tue das mit links, denn den rechten Arm halte ich hinter dem Rücken.

»Mach Ah«, sage ich.


Das Junge tut es, aber nur kurz.

Hämoglobin

Knocke betrachtete die Donuts in der Auslage, auf deren Glasur sich Kondenswasser gebildet hatte. Der Kerl hinter der Kasse war dagegen pudertrocken, und er hasste ihn dafür.

Dieses Früchtchen in seinen zerfledderten Jeans durfte trotz aller offensichtlich inzestuös vererbter Idiotie den ganzen Tag in kühler Frische verbringen.

Knocke hingegen musste sich ohne Klimaanlage über die Straßen quälen; sein Fenster heruntergekurbelt, das des Beifahrers aber geschlossen, da sonst seine Listen flügge geworden wären.

So trocknete der Schweiß immer nur auf der dem offenen Fenster zugewandten Körperhälfte, und das brachte ihn dazu, sich wie ein Kräcker zu fühlen, den man halb in heiße Suppe getaucht hat.

Er schaute in die flirrende Hitze jenseits der Scheibe, rüber zu seinem Wagen und den gut sichtbaren Kühlboxen auf der Rückbank, welche die Blutproben fremder Menschen enthielten.

Dieses Blut irgendwelcher Leute, denen vermutlich gar nichts fehlte, ruhte im Dunkel inmitten eiskalter Kühlakkus, während er, der Chauffeur, langsam durchbriet.

Aber momentan war es besser für ihn, die Klappe zu halten.

Er hatte das Unmögliche vollbracht, den Fehler aller Fehler: Bei einem Arzt in Dortmund hatte er einen Beutel mit Blut abgeholt, einen blauen Beutel; darin waren extrem eilige Proben. Zeug, das so schnell es ging unters Mikroskop musste.

Er hatte, als er die Praxis verließ, die Bäckerei im selben Gebäude aufgesucht und Wasser, ein belegtes Brötchen und ein Pfund Kaffee gekauft.

Den blauen Beutel hatte er auf die Kühltruhe gelegt, in der die Getränke zur Selbstbedienung lagerten. Vierzig Kilometer und dreizehn Ärzte später lag er dort noch immer, und als Knocke gegen kurz vor sieben Uhr in den heiligen Hallen des Labors erschien, hatte sich das vergessene Blut im Angesicht putzender Bäckereifachverkäuferinnen in Schorf verwandelt.

Man hatte ihm absurderweise mit einer Klage wegen Körperverletzung gedroht; er sollte für Schmerzen büßen, die noch gar nicht verursacht waren, denn eine zweite Abzapfung war unerlässlich.

Die alte Dame, aus deren Adern das Bäckereiblut stammte, verzichtete allerdings darauf. Wie es schien, war ihr eine erneute Blutentnahme – und die daraus resultierende Aufmerksamkeit – eine willkommene Abwechslung. Knocke durchlitt zeitgleich seine fünfzehn Minuten Berühmtheit.

Heute war seine letzte Chance: Würde er noch mal erst gegen sieben Uhr im Labor aufkreuzen oder Proben verschludern, könnte er sich eine Rasierklinge besorgen und daheim mit seinem eigenen Blut Schindluder treiben, hatte sein Chef ihm flüsternd zu verstehen gegeben. Drecksakademiker. Hielt ihn für einen Bummler, egal, wie sehr er hetzte, wie oft er geblitzt wurde, wie stark er schwitzte. Die Hitze war in den letzten Wochen ständig angestiegen, und an manchen Tagen meinte Knocke, sein Hirn schwimme in zähem Gelee.

Es war einfach nicht fair.


»Die Sieben und eine Packung Luckys«, sagte er.

Der schockgefrostete Jeansboy schaute ihn verständnislos an.

»Lucky Strike. Zigaretten«, knarrte Knocke ungeduldig. »Nikotinhaltige, stark süchtig machende Tabakstäbchen mit Papierummantelung.«

»Ist mir klar. Aber soll das auch auf Ihre Firmenkarte?«

Gar nicht so dumm, der Vogel, dachte Knocke. Den üblichen »Ich wollte sie ja bezahlen, aber der Dummkopf hinter der Kasse hat sie auf Karte gebucht«-Trick konnte er diesmal abhaken.

»Natürlich nicht. Separat.«

Er hatte noch eine gute Stunde, wie immer zu wenig.


Als er die Tür nach draußen passierte, spürte er augenblicklich, wie der Schweiß aus seinen Poren schoss; zwanzig Grad Temperaturunterschied bescherten seinem Kreislauf eine Achterbahnfahrt.

Hinter seinem Wagen parkte ein Smart, schwarz-weiß wie ein Killerwal, zudem die Cabriovariante. Hinter dem Steuer saß ein junges Mädchen, die Sonnenbrille ins Haar gesteckt, mit schlanken, gebräunten Armen und dem Lächeln eines Menschen, dem Autofahren Spaß bereitete.

Ihr Blick blieb an seinem geröteten Altherrengesicht hängen; nur eine Sekunde, aber es reichte, um Knocke eines klarzumachen: Sie verachtete ihn wegen seines Alters, seines Schweißes, seines Lebens.

»Schickes Auto«, sagte er, keinen Zweifel daran lassend, wie er es wirklich meinte.

»Schön kühl. Ihres auch?«, erwiderte sie.

Ihr wissendes Lächeln biss schmerzhaft in seinen Stolz.

»Weißt du«, sagte er, wobei er sich etwas zu weit in den Wagen lehnte, »mein Caddy ist heiß. Jou. Aber es ist ein Wagen, immerhin.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn so eine Karre«, er wies auf ihr Auto, »neben einem fährt – und das tut sie verdammt selten –, denke ich immer, da kann nur ein beschissenes Playmobil-Männchen drinsitzen.«

Er lachte heiser und schlug mit der Hand auf die Motorhaube des Smart, wobei er einen schmierigen Abdruck hinterließ.

Es war wirklich sehr heiß.

Er schaute auf die Uhr in den Armaturen.

Es war achtzehn Uhr zwölf, das Innenthermometer zeigte noch immer einunddreißig Grad, und WDR 4 ließ »karibische Träume« vom Stapel.

Die Musik wehte weitgehend ungehört zum Seitenfenster hinaus, denn Knocke stand unter Druck. Um achtzehn Uhr dreißig war Probenabgabe im Labor, und er hatte noch dreißig Kilometer vor sich. Ihm war übel von der BiFi, die er aus der Seitenablage gefischt hatte, und seine Füße produzierten jedes Mal ein nasses Quatschen in seinen Schuhen, wenn er die Pedale trat.

Das scharfe Fiepen des Radios riss ihn aus seiner triefenden Lethargie.

»Stauschau. A 42, zwischen Kreuz Castrop-Rauxel und Kreuz Recklinghausen, drei Kilometer …«

»Hm«, grunzte er.

»… A 43, zwischen Bochum-Riemke und …«

»Scheißdreck!« Das war seine Strecke.

Sein Finger schnellte nach vorn und brachte ihn zurück in die Karibik, weg von allen schlechten Nachrichten, weg von einer übellaunigen, gut bezahlten Laborleitung in kompetentem Weiß, deren Finger auf das Zifferblatt ihrer Uhr klopften.

Fürs Erste.

Sein Blick wanderte zum Spiegel, und was er darin sah, besserte seine Laune nicht.

Er kniff kurz die Augen zusammen, als Schweiß ihm hineinzulaufen drohte, und öffnete sie dann wieder.

Ein Smart, lackiert wie ein Killerwal, zog heran; er kam schnell näher, und Knocke war wahrhaftig nicht langsam; sein Tacho wies hundertsechzig Stundenkilometer auf.

Er spürte das Blut in seinen Ohren rauschen.


Der Smart benötigte nur zwanzig Sekunden, um zu Knocke aufzuschließen, weitere fünf, um ihn einen Blick ins Innere werfen zu lassen.

Es war derselbe Wagen, es war dieselbe Frau; ihre Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie das Lenkrad.

Sie drehte ihm den Kopf zu.

Knockes schon seit Stunden hart ackerndes Herz schien kurz zu pausieren; es fühlte sich an wie eine Sturzfahrt – einen kochenden Wasserfall hinunter.

Ihr Gesicht war leer gefegt von allen Empfindungen, ihre Haut durchzogen von feinen Verästelungen blaugrauer Adern, was Knocke an die Muster alter Tapeten denken ließ, dann schrie er schockiert in den brausenden Fahrtwind.

Er sah, dass sie weinte: Milchig-zähe Tropfen einer toten Körperflüssigkeit rannen träge ihre Wangen hinab, dann öffnete sie den Mund und schrie ebenfalls.

Knocke fummelte fahrig am Radio herum, unfähig, klar zu denken.

Er schien nichts als ein überhitzter Resonanzkörper für sein wummerndes Herz zu sein, dessen Rhythmus er bis in die Zähne spürte.

Knocke versuchte erneut, die Augen zu Schlitzen zu verengen, aber diesmal führte das zu einem dröhnenden Schmerz hinter der Stirn.

Er musste den Ton abdrehen, Ruhe haben. Sein Herz schlug Kapriolen, und er vermutete, es unter der Haut pochen sehen zu können, wenn er sein Hemd aufriss.

Dann hörte er den Gesang.

Er war wunderschön, zugleich aber schneidend schmerzhaft im Ohr; eine sirenenartige Symphonie auf- und abschwellender Schluchzer. Trotzdem meinte Knocke, nach einigen Sekunden beklommenen Lauschens, darin eine unterschwellige Freude zu hören.

Er kam aus dem hinteren Teil des Autos, vom einzig kühlen Platz.


Er drehte das Radio wieder laut.

»Ich werde wahnsinnig«, sagte er in den Wind, dann etwas gefasster: »Es ist zu heiß.«

Hinter dem Cabrio der Frau fuhr nun ein weiteres Fahrzeug, bemerkte er aus den Augenwinkeln. Er ignorierte das Pulsen in seinem Kopf und schaute hin.

Ein japanischer Familienvan mit passender Füllung: Vorne saßen Mami und Papi, hinten zwei Kinder. Das Alter der Kleinen war schwer zu schätzen; sie waren völlig verkohlt, und ihre Augen schauten neugierig durch die geborstene Scheibe zu Knocke herüber – vier blutige Löcher, in denen babyblaue Pupillen schwammen.

»Gewichtsverlust durch Erhitzen«, kam es aus seinem Mund, und er spürte etwas, das er gern als Muskelkrampf im Hirn angesehen hätte, aber der unverkrampfte Teil seines Denkens sagte, dass es so etwas nicht gab. Der Verkehr war langsamer geworden. Er fühlte es mehr, als dass er es sah.


Knocke versuchte durchzuatmen, tief, um den Kopf zu klären, aber die Luft war wie Sirup.

Rex Gildos ungebrochen gut gelaunte Stimme begann durch die Fahrerkabine zu spuken, und Knocke stellte das Radio so hektisch ab, als wäre es ein Zeitzünder.

Auf beiden Seiten seines alten Caddys schoben sich nun Autos in sein Sichtfeld: ein SLK mit einer Gruppe lächelnder, zerfetzter Araber, deren Fahrer eine zerbrochene Ray-Ban trug und dessen Hemd wie ein Lätzchen mit braun-roten Klumpen beschmiert war; ein Transporter mit einer Eierlikör-Reklame auf der Seite, in dessen Innerem ein Mann hockte, etwas in der Hand, das wie ein geschmolzenes Handy aussah. Er schaute starr nach vorn und war fahl wie eine Made; dann ein Taxi, Typ und Farbe nach aus den Sechzigern. Hinter dem Steuer des Benz saß kein Mensch: Es war nur ein Gewimmel verrotteten Fleisches und emsiger Organismen, die ihre Arbeit schon aufgenommen haben mussten, als Ilja Richter noch DISCO moderiert hatte.

Das Ding hob eine Hand – einen moosbesetzten Stumpf, aus dem Fragmente bleichen Gebeins ragten – und winkte.

Und in der Finsternis der Kühlboxen sang das Blut.

Knocke zwang sich, wegzusehen.

Als er stattdessen an sich herabsah, blieb sein Blick an seinen Beinen hängen, die dürr aus den Shorts ragten. Sie waren käsig, aber mit ungesund aussehenden, rötlich blauen Quaddeln übersät.

»Scheiße«, flüsterte er. »Verdammte Scheiße.«

Er schaltete das Radio wieder ein, eine beruhigend normale Sache. Es musste doch möglich sein, klar zu werden. Bata Illic. Trotzdem, okay.

Seine Gedanken formten sich so stockend, als würde ein Fünfjähriger Schreibmaschine schreiben.

Knocke war nun sicher, einen Sonnenstich zu haben: Er musste an den Seitenstreifen, in den Schatten und etwas trinken. Er benötigte Flüssigkeit, sonst ging er vielleicht drauf.

Seine Hand fischte unter dem Sitz nach der Cola von gestern.

Zuckerwasser wäre jetzt gut. So gut. Warm, die Brühe? Keine Kohlensäure?

»Scheiß der Hund drauf«, knurrte er, die eigene Panik, so gut es ging, ignorierend.

Das Singen schwoll an, als hätte seine kurzzeitig zurückgewonnene Entschlossenheit es dazu ermutigt. Knocke langte nach hinten und schlug seine triefende Faust auf den Deckel der Box, ein dumpfes Geräusch, das nichts bewirkte, außer ihm eines klarzumachen: Wenn er schon begann, auf Kühlboxen einzudreschen, war da auch was. Da war was.


Randstreifen.

Er schaltete den Warnblinker ein und sog heiße, abgasgeschwängerte Luft in seine Lungen.

Dann versuchte er auszusteigen; ohne den eigenen Fahrtwind war sein Caddy eine verdammte indianische Schwitzhütte – mit einem kleinen Fehler: Es erschienen nicht die Geister der Toten. Nicht im Inneren, zumindest. Knocke versuchte zu lachen, nur für sich, aber es kam nur ein staubiger Laut des Unbehagens.

Die Karawane der Leichen zog an ihm vorbei. Manche grüßten, andere schauten starr geradeaus, als hätten sie Angst, eine Ausfahrt zu verpassen.

Knocke sah im Rückspiegel, dass hinter ihm weitere Fahrzeuge herankamen.

Es waren Tausende.


Er fand keine Cola, aber das war auch nicht mehr sein vordringlichstes Problem.

Knocke hatte begonnen, sich benutzte Papiertaschentücher in die Ohren zu stopfen.

Er konnte nicht weiterfahren. Er wusste, was geschah, wenn er sich in die Karawane einfädelte. Aber der Gesang des Blutes war nicht länger zu ertragen.

Ein Mann muss tun, was er kann, also tat er es.

Das Summen hatte einen irgendwie höhnischen Tenor, der ihm zusetzte, aber er lauschte trotzdem.

Seine Uhr zeigte unglaubliche zwanzig Minuten nach sieben, als sein Blick zu den Armaturen schweifte, aber es erschien ihm nicht mehr wichtig.

Er hatte Durst.

Ein Lkw zog wie in Zeitlupe vorbei. Knocke konnte den Fahrer nicht sehen, aber der Kabine des Lasters entwich ein beißender Gestank von faulem Fleisch.

Um neunzehn Uhr zweiundvierzig wusste Knocke, dass er sterben würde, wenn er nichts unternahm. Der Gestank des Lkws, der sägende Klang der höllischen Arie aus den Boxen, die winkenden Kadaver: Es war genug!

Seine Beine waren nun geschwollen und purpurfarben, aber sie spielten mit, als er gegen zehn nach acht durch die Sitze nach hinten kroch.

Er riss den Deckel der ersten Box hoch und genoss für eine Sekunde den Eishauch, der ihr entwich.

Reiß dich zusammen, dachte er. Du schaffst das.

Knocke griff sich die ersten hauchzarten Plastikbeutel, entnahm die kleine gelbe Karteikarte und öffnete das Röhrchen, dessen Inhalt fast schwarz aussah.

Sein Herz hatte wieder begonnen, Rumba zu tanzen, heftige Ausfallschritte mit kleinen, tückischen Pausen dazwischen, aber trotz der beginnenden Unschärfe seiner Wahrnehmung wusste er, dass die Kälte das Blut flüssig gehalten hatte.

Flüssig genug.

Er schaffte achtundzwanzig Röhrchen, manche rein wie Morgentau, andere karzinogen, überfettet, verseucht.


Als sein Caddy gegen einundzwanzig Uhr von der Autobahnpolizei, Bereich Wuppertal, auf der A 2 geborgen wurde, fanden sie ihn wie einen Fötus zusammengekauert auf dem Rücksitz, das Gesicht völlig zugeschwollen, ein ausgefranstes Lächeln des Triumphs auf den blutigen Lippen.


Gegen dreiundzwanzig Uhr war Knocke dann doch noch im Labor.