Heinz G. Konsalik
Band 1:
Der Vater
Roman
Um fünf Uhr morgens schoben sie den Einbaum ins Wasser, so weit hinaus, dass sie bis zur Brust in den sanften Wellen standen. Anne saß schon im Boot. Die Decken, das Trockenfleisch und der Wasservorrat waren fest vertäut.
Bäcker hatte die Gewichtsverteilung genau berechnet: hinten Anne mit dem Material, in der Mitte beim Segelmast Shirley, vorne er, weil er der Schwerste war. So wurde hinten und vorne die Balance ausgeglichen, während Shirley wie das Zünglein an der Waage war.
Sie merkten deutlich, wie der Sog der Ebbe sie ins Meer hinaustrieb. Als die beiden Paddel aus dem Gummiboot ins Wasser tauchten und das Segel in den jetzt noch schwachen Wind drehte, blickten sie noch einmal zurück und waren erstaunt, wie weit sich der flache Strand mit dem Sand und dem Korallenstaub schon von ihnen entfernt hatte. Im blanken Morgenlicht lag die kleine Hütte. Aus der Feuerstelle ringelte sich noch der dünne Rauch. Die gelborange Gummiinsel leuchtete aufgespannt zwischen den Pfählen.
»Nicht zurückblicken!«, sagte Bäcker laut. »Das ist nun vorbei. Endgültig vorbei!«
Und sie tauchten die Paddel in das Meer, in dem sich die frische, messingfarbene Sonne badete.
Eine halbe Stunde lang ruderten sie mit der Ebbe, freuten sich, als ein frischer Morgenwind aufkam und das geflochtene Segel blähte. Es war eine Meisterarbeit Annes, wie ein gehäkeltes grünes Tuch sah es aus, und auch der Wind schien sich zu freuen, denn er hinterließ einen fröhlichen, singenden Ton, wenn er durch die grobgeflochtenen Maschen wehte.
Die drei einsamen Menschen in dem schmalen Boot konnten nicht anders … sie blickten doch zurück. Irgendwie blieb etwas auf dieser Insel zurück, ein durchaus nicht wertloser Teil ihres Lebens: viel Schweiß und Verzweiflung, eine herrliche Liebe und eine Verwandlung ihrer Wesen, eine unbeirrbare Hoffnung und ein überwundener Hass, vor allem aber der unbesiegte Glaube an das Gute im Menschen.
Die Insel lag hinter ihnen wie ein gewölbter, bemooster Schildkrötenpanzer. Die Bäume wirkten wie Stacheln, und der Sandstrand tauchte immer stärker in der Dünung unter.
»Sie ist verdammt flach«, sagte Shirley. »Wir haben das gar nicht bemerkt.«
»Sie war unüberwindlich hoch, als mich mein Bein töten wollte«, sagte Bäcker. »Ich habe damals nicht damit gerechnet, jemals diese kleine Böschung hochzukommen.«
»Und dann haben Sie sogar ein Boot gebaut. Es ist kaum zu begreifen, wozu ein Mensch fähig ist.«
Shirley hielt den Strick fest, an dem das Segel aufgezogen war. Der Wind war kräftig, und sie machten gute Fahrt.
»Ich nehme an, Sie fliegen sofort nach Auckland und von da nach Sydney. Das wäre das erste, was ich an Ihrer Stelle täte: mich sofort auf den Operationstisch legen und mir Bein und Gesicht in Ordnung bringen lassen. So, wie Sie jetzt aussehen, lassen alle sofort die Rollläden vor die Fenster sausen, wenn Sie auf der Straße Vorbeigehen.«
»Als erstes werde ich Anne heiraten, Paul. Sofort! Das Kind soll meinen Namen tragen, wenn es geboren wird.«
Shirley ließ die Leine los, das Segel fiel in sich zusammen. »Kehren wir um!«, sagte Paul.
»Sind Sie verrückt geworden, Paul?«
»Nein! Aber Sie sind übergeschnappt, Werner! Für eine Heirat braucht man auch in der Südsee Papiere. Die müssen Sie in Nuku Hiva anfordern, und was dort los ist, wissen Sie ja. Dort wird Anne immer noch als Mörderin geführt. Sie werden einen Kollegen von mir losschicken, und Anne landet wieder im Gefängnis. Werner, das Verfahren schwebt doch noch! Für die Behörde bleibt Anne eine Mörderin! Wenn Sie gescheit sind, lassen Sie sich irgendwo mit Anne nieder, wo Sie keiner kennt, und dann wuchert mit der Zeit über alles Gras. Aber eine offizielle Hochzeit – die werden Sie nie hinkriegen.«
»Ich habe Yul nicht die Kehle durchgeschnitten!«, sagte Anne vom Ende des Einbaumes.
»Es ist zum Kotzen!« Shirley schlug beide Hände über dem Kopf zusammen. »Jetzt sind wir wieder da, wo wir am Anfang waren! Natürlich sind Sie keine Mörderin, Anne, wir wissen das, aber Sie müssen das beweisen! Ruhe! Kein Wort mehr davon! Werner, wenn wir durchkommen, helfe ich Ihnen, irgendwo ein verborgenes Plätzchen zu finden. Da wird Sie keiner hindern, eine ganze Bäcker-Kolonie zu gründen.« Er zog das Segel wieder in den Wind. »Die Hauptsache ist, dass wir wieder unter Menschen kommen.«
»Ich laufe vor der Wahrheit nicht davon«, sagte Bäcker trotzig.
»Hören Sie auf mit Ihrem Heldengesang!«, rief Shirley wütend. »Wenn Sie bei dieser idiotischen Ansicht bleiben, dann kriegt Anne ihr Kind hinter Gittern! Verdammt, der Wind ist gut! Wir machen eine phantastische Fahrt! Messen Sie mal, in welche Richtung wir fahren!«
Bäcker holte seinen Sextanten hervor, schoss die Sonne und las die Position ab. Auf der Seekarte war an dieser Stelle ein leerer Fleck. Meer. Aber nördlich lagen einige Atolle, von denen er immer geglaubt hatte, sie seien unbewohnt. Jetzt war er davon überzeugt, dass die heimlichen Besucher auf Viktoria-Eiland von diesen Inseln gekommen waren.
»Wir müssen schräg vor den Wind«, sagte er, »dann treffen wir auf unsere unbekannten Leichenlieferanten.«
»Ich weiß nicht, ob das die richtige Richtung ist.« Shirley drehte das Segel etwas. »Es kann uns passieren, dass sie uns schleunigst wieder zu unserer Insel zurücktransportieren. Wir haben mit ihren Geistern gelebt, und da gehören wir nach ihrer Auffassung auf immer hin. Für sie sind wir jetzt selbst von den Dämonen besessen. Wie ist’s mit einer internationalen Schifffahrtsstraße? Da haben wir die größten Chancen, gesehen und aufgefischt zu werden.«
Bäcker tippte auf seine Seekarte und hielt sie Shirley hin. »Hundertfünfzig Meilen bis zur nächsten Schifffahrtsstraße, Paul. Rechnen Sie mal aus, wie lange wir brauchen, um dahin zu kommen. Wir haben uns an einer Stelle der Welt getroffen, wo Gott bei der Schöpfung seine Schweißtropfen abgeschüttelt hat. Wir müssen zu den Atollen, auch auf die Gefahr hin, dass uns die Eingeborenen ins Geisterland befördern! Vielleicht sehen Sie zu schwarz, Paul.«
»Wir kommen von einer Toteninsel – gibt’s was Schwärzeres?« Shirley blickte sich zu Anne um. Sie hockte zwischen der Ausrüstung und hatte begonnen, Kokosfleisch mit einem rauen Stein zu raspeln.
»Unser zweites Frühstück«, sagte Shirley fröhlich. »Himmel noch mal, ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus! Unser Einbaum ist wirklich ein stabiles und seetüchtiges Ding. Ich werde ihn in Papeete als Denkmal aufstellen. Er hat’s verdient, Bäcker. Von so vielen blöden Hunden gibt es Denkmäler auf der Welt, nur weil sie mal ‘ne Schlacht gewonnen haben. Sie hätten mal einen Einbaum bauen sollen, ha, wo wären sie da geblieben?!«
Sie segelten und paddelten bis weit in den Nachmittag hinein, aßen Trockenfleisch, das sie im Mund durch den Speichel aufquellen ließen, denn das Wasser war genau berechnet und nur fürs Trinken da. Dann ruhten sie sich etwas aus, zogen zum Schutz gegen die brennende Sonne die Decken über ihre Köpfe und ließen sich treiben.
Shirley beugte sich zu Bäcker vor und winkte verstohlen. Anne konnte es unter ihrer Decke nicht sehen.
»Wie geht’s Ihren Augen?«, fragte er leise.
»Erstaunlich gut. Sie gewöhnen sich langsam daran, keine Lider zu haben.«
»Irgendwo in Europa, habe ich mal gelesen, gibt’s einen Spezialisten, der Lider verpflanzen kann. Ich glaube in England.«
»Daran denke ich jetzt noch gar nicht, Paul.«
»Sie sollten öfter eine Pausen machen und die Hände vor die Augen legen. Die Strahlenreflexion des Wassers ist mörderisch.« Er blickte zur Sonne und schätzte an ihrem Stand die Zeit. »Ich würde sagen: Es ist gegen vier. Wie verbringen wir die Nacht?«
»Wir sollten abwechselnd Wache halten. Jeder zwei Stunden. Vier Stunden Schlaf – das ist was wert.«
»Einverstanden!«
Sie ruderten wieder, als die Dämmerung über den Horizont kroch. Es war immer wieder faszinierend, den Abend aus dem Meer aufsteigen zu sehen. Er kam nicht vom Himmel, wie man annehmen sollte, sondern dunstete aus dem Wasser – ein ganz neues Bild aus der Perspektive eines treibenden Holzes zwischen Himmel und Meer, zwischen zwei Unendlichkeiten.
Es begann leise zu regnen, fadenfein, nicht wie aus Eimern, was sie zuerst befürchtet hatten. Das Meer wurde nicht unruhig, es kräuselte sich nur, als bekomme es eine Gänsehaut, und schaukelte das Boot in einem sanften, einschläfernden Rhythmus.
»Irgendjemand hält den Daumen davor«, sagte Shirley. »So ein Regen ist selten. Bäcker, gestehen Sie: Sie haben Kontakt zu einem Schutzengel!«
Das Boot schlingerte jetzt etwas stärker, aber es war stabil, vorzüglich ausbalanciert und ritt auf den Wellen, als sei die Flucht vor dem Tod nichts als ein herrlicher Spaß.
Das Meer färbte sich violett, der Himmel löste sich in grellfarbene Streifen auf … und da tauchten sie zum ersten Mal im Dämmerlicht auf, umkreisten den Einbaum und schossen ihm voraus … drei, vier, nach wenigen Minuten sechs dreieckige Rückenflossen.
Haie!
»Unser Begleitkommando ist endlich da!«, sagte Shirley rau. »Ich habe mich schon gewundert. Von jetzt an sind wir nicht mehr allein … diese Teufel werden immer um uns sein.«
Shirley sollte recht behalten. Die Haie blieben in der Nähe des Bootes, umkreisten es und wurden zu treuen Begleitern. Als eine der Rückenflossen fast in Reichweite vorbeischoss, griff Bäcker nach seinem Bambusspeer und wollte zustechen. Shirley konnte es im letzten Augenblick verhindern. Er schlug Bäckers Arm in die Höhe.
»Um Himmels willen – nein!«, schrie er. »Bloß das nicht!«
»Ich hasse sie!«, schrie Bäcker zurück. »Ich werde sie töten, wo ich sie treffe!«
»Aber nicht hier, Werner! Ein Tropfen Blut im Wasser, und das Meer kocht! Der Geruch bleibt an uns. Wollen Sie eine ganze Haifischarmee hinter sich herziehen? Sie treffen einen oder zwei, und zehn kommen zum Begräbnis! So stabil ist unser Einbaum nun auch wieder nicht, dass ihn zehn Haie nicht umwerfen könnten. Am besten ist, man beachtet sie gar nicht. Anne, werfen Sie keine Abfälle über Bord.«
Am Abend wurde es nötig, einen wichtigen Teil menschlichen Schamgefühls abzulegen. Zum ersten Mal waren die drei Menschen auf engstem Raum zusammen ohne die Möglichkeit, auch nur einen einzigen Schritt Distanz zwischen sich legen zu können. Aber den Körpern war das gleichgültig … die Därme arbeiteten, und die Blasen speicherten Urin. Man musste es loswerden.
Bäcker und Shirley drehten Anne den Rücken zu, als sie sich über die Bordwand erleichterte. Dann war Bäcker an der Reihe und setzte sich auf die Bootskante. »Halten Sie Balance, Paul!«, rief er dabei.
»Warten Sie einen Moment, Werner.« Shirley zog gleichfalls seine Hose runter. »Ich hänge mich zur anderen Seite über, dann wird’s zweistimmig.« Er lachte und hielt sich am Mast fest, während sein blankes Gesäß fast die Meeresfläche berührte. »Wissen Sie, dass ich in Papeete in einem Gesangverein war? Erster Bass. Und sagen Sie bloß nichts mehr gegen unser Boot! Ein Luxusding ist es. Nicht einmal auf der ›Queen Elizabeth‹ wird einem wie hier der Hintern abgespült! Welch ein Betrug an den Haien. Das fressen sie bestimmt nicht!«
Dann war die Nacht da, licht, sternenklar mit einem Silbermond, kühl und ruhig. Anne schlief als erste, Bäcker hatte die Wache. Aber Shirley, der im Sitzen schlafen musste und den Kopf gegen den Mast gelehnt hatte, konnte die Augen nicht zumachen.
Das gewölbte Meer, der Horizont, der rund um ihn herum lag und den Himmel abteilte, als läge er wie eine Glocke über der See, ließen ihn nicht schlafen.
»Werner, wir haben an eins nicht gedacht«, sagte er.
»An was?«
»An das Salzwasser. Ich kann das Salz schon von meinem Gesicht kratzen. In vier Tagen sehen wir aus wie Lots Weib! Die Haut wird uns wegbrennen.«
»Dann duschen wir uns ab.« Bäcker lag etwas verkrümmt vorne im Boot. Er hatte das Tuch von seinen lidlosen Augen genommen. Die Kühle der Nacht war eine Wohltat. »Bei jedem Regen werden wir uns ausziehen. Gott wird uns baden.«
Eine Weile war Schweigen. Dann richtete sich Shirley auf und seufzte.
»Ich habe wieder – Werner, gehen Sie nicht gleich wieder in die Luft – ein komisches Gefühl. Haben Sie den Sonnenuntergang gesehen? Herrlich, nicht wahr? Wenn den van Gogh gesehen hätte – er hätte sich vor Begeisterung auch noch das zweite Ohr abgeschnitten. Aber so ein fantastischer Sonnenuntergang ist in Wirklichkeit ein großer Mist. Ich lebe seit dreißig Jahren im Pazifik! So einen Theater-Sonnenuntergang gibt’s nur, wenn eine Schönwetterperiode kommt. Das heißt: kein Regen mehr!
Bei Ihnen drüben in Europa fängt’s jetzt an zu schneien … hier wird es Sommer! Ich sage Ihnen, wenn’s morgen und übermorgen nicht regnet, sitzen wir in einem glühenden Ofen.«
Es regnete nicht.
Vier Tage war es fast windstill. Das Segel hing schlaff am Mast, sie kamen nur voran durch die Paddel und die Strömung. Selbst das Meer war still, dampfte gegen Mittag, formte Blasen aus der Luft. Nur die Haie waren in ständiger Bewegung … kamen sie nahe genug heran, sah man ihre torpedoschnellen Körper dahinschießen.
Sie paddelten bis zur Erschöpfung. Das aufspritzende Wasser trocknete an ihrem Körper und überzog ihn mit einer dünnen Salzschicht. Die Haut juckte erst, dann brannte sie und rötete sich wie geätzt.
Ein paarmal maß Bäcker mit seinem Sextanten die Richtung. Sie trieben von den Atollen ab, trotz Segel, trotz Paddeln … die Strömung unter ihnen war stärker. Am fünften Tage wussten sie, dass sie den Kampf schon verloren hatten. Sie wurden vom Meer in ein Gebiet getragen, das auf der Seekarte weiß war. Ganz am Rande, jetzt 200 Meilen entfernt, verlief die Seeschifffahrtslinie.
»Sagen Sie Anne nichts davon«, sagte Shirley in der sechsten Nacht zu Bäcker. »Aber Sie sind sich hoffentlich darüber klar, dass wir unsere Frist von drei Wochen nicht einhalten können. Um die Vorräte, vor allem das Wasser, für zwei zu strecken, muss der dritte weg.« Er schluckte und sah an Bäcker vorbei ins Meer. »Wir hatten ausgelost, wer es sein würde. Und Sie hatten verloren, Werner.«
»Noch eine Woche, Shirley.« Bäcker warf einen Blick auf Anne. Sie schlief unter der alten Decke. Ihr Leib wölbte sich deutlich, und es war sein Kind, das da wuchs. »Geben Sie mir noch eine Woche Zeit, Paul!«, sagte Bäcker heiser. »Ich verspreche Ihnen – dann springe ich über Bord.«
Es regnete zwölf Tage nicht. Der Einbaum trieb über das wie flüssiges Metall glänzende Meer, der Himmel war glühendes Blei, in dem ein flammender Tropfen wanderte – die Sonne. Bäcker, Shirley und Anne verkrochen sich tagsüber unter ihre Decke. Es war unmöglich, ungeschützt in dieser Glut zu hocken. Die Salzschicht an ihren Händen und Armen wurde immer dicker, das Gesicht verkrustete völlig, die Haut brannte, und Bäcker wunderte sich, dass sie nicht schon längst versengt war und das rohe Fleisch unter dem Salz hervorquoll.
Nachts, wenn sich die heiße Luft ein wenig abgekühlt hatte – aber selbst dieser kleine Unterschied zum Tag war wohltuend und in einem geringen Maße erfrischend –, kratzten sie sich gegenseitig die weiße Schicht vom Körper und opferten für jeden zwei Hände voll Wasser, um die Poren notdürftig auszuspülen.
»So gründlich ist noch kein Fisch gepökelt worden«, sagte Shirley sarkastisch. »Wenn wir aus dieser Lake herauskommen, sind wir für die nächsten hundert Jahre konserviert.«
Bäcker hatte es aufgegeben, mit dem Sextanten die Position zu bestimmen. Es hatte keinen Sinn mehr. Immer, wenn er ihren Standort auf der Seekarte suchte, musste er lügen, um Anne zu beruhigen.
»Wir haben nur noch wenige Meilen vor uns«, sagte er dann. »Eigentlich müssten wir die Atolle schon sehen.«
Anne wusste genau, dass er log, aber sie tat so, als glaube sie ihm. Zweimal ließ sich selbst Shirley täuschen, aber in der neunten Nacht sagte er: »Jetzt zeigen Sie mir mal auf der Karte, wo wir wirklich sind.«
Anne schlief. Bäcker breitete die Karte aus und legte den Zeigefinger auf einen Fleck Pazifik, wo nichts, aber auch gar nichts mehr war. »Hier, Shirley. Das ist die Wahrheit.«
»Und Sie können sich nicht irren? Von diesem Ding da, dem Sextanten, verstehe ich gar nichts. Funktioniert er einwandfrei?«
»Hundertprozentig. Wir schwimmen praktisch im Nichts.«
Shirley starrte ins Wasser. Plötzlich lief ein Zucken über ihn, er beugte sich vor, und Bäcker starrte in Augen, wie er sie bei Shirley noch nicht gesehen hatte. Etwas Erschreckendes lag in ihnen, als sei in seinem Inneren etwas geplatzt und suche jetzt durch die Augen den Weg nach draußen. Er drückte die Stirn gegen den krüppeligen Segelmast und riss Bäcker die Seekarte von den Knien.
»Sie machen mich verrückt mit Ihrer Karte!«, stöhnte er. »Immer diese Karte! Immer auf dieses Nichts starren! Das ist ja schon Geilheit, verdammt noch mal! Ich will nicht mehr wissen, wo ich bin. Ich will Hoffnung haben, verstehen sie, Hoffnung! Ich will an das Leben glauben – und Sie sitzen da herum und tippen mit Ihrem Zeigefinger auf den Tod! Das halte ich nicht mehr aus!«
Er packte die Karte mit beiden Händen und riss sie mittendurch. Bäcker schnellte den Oberkörper vor, aber ein Fausthieb gegen die Brust ließ ihn zurückfallen. Der Einbaum schwankte und rollte bedenklich.
»Shirley!«, schrie Bäcker und klammerte sich an der Bordwand fest. »Mein Gott, drehen Sie jetzt nicht durch! Die Karte ist für uns so wichtig wie das Wasser! Shirley! Sie Vollidiot! Sie bringen uns alle um!«
Shirley zerfetzte die Seekarte in kleine Stücke und warf die Schnipsel dann ins Meer. Er lachte dabei, und dieses Lachen gefror auf Bäckers Haut. Es lag ein Klang in diesem Lachen, der unmenschlich war.
»Holen Sie sich Ihr Satansblatt!«, schrie Shirley und hieb mit dem Paddel auf die neben dem Einbaum treibenden Papierfetzen. »Da haben Sie endlich einen Grund, über Bord zu gehen! In vier Tagen sind Sie sowieso dran, Werner! Warum nicht gleich jetzt? Hoffen Sie, dass ich die Nerven verliere? Das ist eine Fehlspekulation. Ich war nie so klar wie jetzt! Ich weiß genau, was ich tue! Aber Sie nicht mehr! Los, springen Sie! Da schwimmt Ihre verfluchte Karte. Und da sind auch zwei Haie. Die Nachtschicht, mein Lieber! Hinein in die Suppe … Es geht schnell. Wenn Sie Angst haben vor den paar Minuten Schmerzen, kann ich Ihnen auch eins unters Kinn geben und Sie über den Rand rollen.«
»Halten Sie den Mund, Paul, und versuchen Sie zu schlafen«, sagte Bäcker heiser. »Morgen geht’s Ihnen besser. Es war ein Fehler von mir, Ihnen unsere Position zu zeigen.«
Nach drei Stunden schlief Shirley endlich ein, an den Mast gekauert. Es war die einzige Möglichkeit, und er hatte sich auch daran gewöhnt. Als er laut zu schnarchen begann, hob Anne unter ihrer Decke den Kopf.
»Er wird irrsinnig werden«, sagte sie leise. »Ich sehe es schon seit zwei Tagen. Was machen wir dann mit ihm?«
»Du hast alles gehört?«, fragte er entsetzt.
»Heute ja. Aber ich glaube, ich habe manches verschlafen. Was heißt: ›In vier Tagen sind Sie dran?‹«
»Er hat irre geredet, Anne.«
Er zog die Decke bis zum Kinn, starrte mit seinen lidlosen Augen in die Sterne und dachte: Ich kann es ihr nicht sagen. Sie würde es nie verstehen, dass wir mit zwei Fingerknochen um unser Leben gelost haben. Aber ich habe verloren, und ich werde den Preis zahlen. »Du lügst schon wieder«, sagte Anne. Ihre Stimme war sanft, und diese Zärtlichkeit war schlimmer für ihn, als wenn sie ihn angeschrien hätte. »Liebling, ich bekomme ein Kind von dir. Meinst du nicht, dass ich ein Recht habe, die Wahrheit zu erfahren?«
»Shirley hatte einen Anfall, du hast es gehört. Er wusste nicht mehr, was er sagte.« Bäcker legte einen Lappen über sein Gesicht. Auch die Nacht war zu hell für seine gequälten Augen. »Morgen ist alles vergessen.«
»Und die Seekarte?«
»Wir brauchen sie wirklich nicht mehr, Anne.«
Sie fragte nicht weiter, legte sich zurück, zog die Decke über sich und tat, als ob sie schliefe.
Wie tapfer sie ist, dachte Bäcker. Wie rätselhaft tapfer. Woher nimmt sie nur die Kraft, Lügen zu glauben und Hoffnungslosigkeit nicht zu sehen? Ist es ihre Liebe zu mir oder das Kind, das sie erwartet? Was macht sie so unheimlich stark, stärker als ich bin? Ich weiß, dass ich nur noch vier Tage und Nächte zu leben habe. In der fünften Nacht werde ich mich ins Meer fallen lassen. Davor habe ich Angst. Es wäre dumm, das nicht zu gestehen. Ich bin kein Held, und ich bezweifle, dass es überhaupt Helden gibt. Nur die Situation macht aus einem den Helden, der man gar nicht sein will. Jeder Mensch lebt viel zu gern – wenn er sein Leben wegwirft, muss er schon verdammt verzweifelt sein.
Ich aber werde ins Meer springen müssen mit klarem Verstand, und davor zittere ich …
Er nahm den Lappen von seinen Augen, setzte sich wieder auf, ergriff das Paddel und stieß den Einbaum durch das ruhige Meer.
Im Mondlicht sah er die Rückenflossen von vier Haien. Sie schwammen neben ihm her wie Schlepper, die ein Schiff in den Hafen ziehen. Als eine der Dreieckflossen in Griffnähe kam, schlug er mit dem Paddel zu. Der große Fisch machte eine elegante Wendung und schoss davon. »Du Mörder!«, knurrte Bäcker. »Du gottverdammter Mörder! Ich werde Shirley bitten, er soll mich vorher töten und dann ins Meer werfen. Lebend zerreißt ihr mich nicht wie Vicky und die Kinder.«
Er paddelte eine Stunde, nur um nicht grübelnd und allein mit seiner Angst in der Nacht zu sitzen, zog dann das Paddel ein und weckte Shirley, als er glaubte, seine zwei Stunden Wache seien vorüber.
Shirley schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er fror und schlug die Arme um seinen Körper. Als er Bäcker ansah, war sein Blick eisig. Eine glänzende Starrheit hatte seine Augen verwandelt.
»Was ist?«, fragte er frostig.
»Ablösung, Paul.«
»Lecken Sie mich am Arsch mit Ihrer Ablösung. Das Meer ist still, der Wind schläft … lassen Sie mich auch schlafen.«
»Wie Sie wollen.«
Shirley knurrte etwas Unverständliches, drückte den Kopf wieder an den Mast, umarmte den knorrigen Stamm und schlief rasch wieder ein. Er wachte erst auf, als sich das Meer blutrot vom Morgenrot färbte und rund um die Sonne der Himmel in einem grandiosen Violett strahlte, das schnell in Orange und Gelb überfloss. Im gleichen Augenblick, als sie die Sonne sahen, fiel auch die Hitze wieder über sie her.
Ein weicher Wind hing in dem Segel, das Meer kräuselte sich, sie machten – verglichen mit den vergangenen Tagen – eine deutlich schnellere Fahrt. Shirley und Bäcker halfen mit den Paddeln nach. Am Stand der Sonne sahen sie, dass sie nach Südwesten trieben. Sie brauchten die Seekarte wirklich nicht mehr, um zu wissen, dass sie sich immer weiter von den bewohnten Atollen entfernten.
Anne verteilte frisches, saftiges Kokosfleisch. Sie hatte mit dem Beil eine Nuss gespalten und die Milch in einen Plastiksack geschüttet. Bald würde die Zeit kommen, wo ein einziger Schluck über Leben und Tod entscheiden würde.
Shirley aß sein Nussfleisch wie ein Raubtier. Mit beiden Händen umklammerte er sein Kokosstück und hieb die Zähne in das weiße Fleisch. Es knisterte laut, als er kaute, und sein Hals zuckte heftig, wenn er es runterschluckte. Bäcker beobachtete ihn stumm. Ab und zu trafen sich seine und Annes Blicke. Sie verstanden sich.
Er löst sich auf, dachten sie gleichzeitig. Er beginnt, den Menschen abzuwerfen. Was dann noch übrigblieb von Shirley, war im Augenblick nicht denkbar, aber man würde es erleben.
Die Sonne brannte. Der Wind, eine Stunde lang erwacht, schlief wieder ein. Auch er kapitulierte vor der Glut, die vom Himmel fiel. Bäcker tauchte sein Paddel wieder ins Meer. Selbst in der Sinnlosigkeit liegt noch ein Sinn: nicht kampflos untergehen!
Die Haie umkreisten den Einbaum. Bäcker zählte zehn Rückenflossen. Die tödliche Anhänglichkeit der Fische war fast rührend.
Shirley schien Bäckers Gedanken zu erraten; er zeigte auf die Haie.
»Das nennt man Ausdauer! Sie geben nicht auf!« Er lachte, und es war wieder dieses böse, hämische Lachen. Er warf seine leere Kokosnussschale ins Wasser und klatschte in die Hände, als zwei silbern glitzernde Leiber zu ihr hinschnellten und ein schrecklicher Rachen aufklappte. »Fehlanzeige!«, schrie er. »Die Fütterung erfolgt später, wird noch bekanntgegeben –«
»Halten Sie das Maul, Shirley!«, sagte Bäcker. »Paddeln Sie!«
»Zu Befehl, Sir!« Shirley starrte Bäcker hasserfüllt an. Dann drehte er den Kopf zurück zu Anne. »Wie lange reicht das Wasser?«
»Ich weiß es nicht. Der Kanister ist noch voll.«
»Das sind zehn Liter«, sagte Bäcker. »Bei täglich einem halben Liter pro Person reicht das zusammen mit der Kokosnussmilch für gut neun Tage.«
»Sieh an, sieh an, neun Tage!« Shirley stützte den Kopf in die Hände. Sein roter Bart hing ihm bis zum Brustbein. »Wenn man anders rechnet, könnten es auch vierzehn Tage werden …«
»Sie sollen das Maul halten!«, schrie Bäcker. Er machte eine heftige Bewegung, das Boot schwankte stark, und Anne stieß einen hellen Schrei aus. Shirley und Bäcker hatten große Mühe, das Schaukeln durch Gegenbewegungen aufzufangen und das Boot wieder ins Gleichgewicht zu kriegen.
»Junge, das war ein Mordversuch«, sagte Shirley leise. Seine Augen veränderten sich erneut. Sie wurden rötlich wie sein Bart. Bäcker erschrak. Er hatte den Ausdruck von ›blutunterlaufenen Augen‹ für eine Redensart gehalten. Shirley bewies ihm nun, dass es so etwas tatsächlich gab. Sein Blick war starr, glasig und böse wie bei einem gereizten Bullen. »Sie wollten mich ins Meer kippen, was? Zu den Haien?! Sie Dreckskerl!«
»Shirley, fangen Sie nicht an zu spinnen! Wenn das Boot umkippt, sind wir alle dran! Ziehen Sie die Decke über sich. Das Salz brutzelt ja auf ihrer Haut!«
»Ich kann mit meinem Salz machen, was ich will!«, brüllte Shirley. »Hören Sie auf, hier zu befehlen. Hören Sie auf! Sie hinterlistiger Schuft wollten mich zu den Haien kippen!«
Er riss die Decke von sich, streifte sein Hemd vom Oberkörper und saß entblößt in der höllischen Sonne. Sein Blick war leer.
Man sollte ihn jetzt zwingen, vernünftig zu sein, dachte Bäcker. Aber als er in Annes Augen blickte, verzichtete er darauf, Shirley einfach niederzuschlagen.
Stundenlang hockte Shirley mit bloßem Oberkörper in der Glut. Er paddelte sogar mit, aber er sprach kein Wort mehr. Mittags kaute er sein Trockenfleisch wie ein Tiger, am Nachmittag umklammerte er plötzlich den Mast und begann, mit der Stirn gegen die Stange zu schlagen. Immer und immer wieder, bis die Stirnhaut aufplatzte und das Blut über sein Gesicht strömte. »Betty!«, schrie er dabei. »Betty! Betty!«
Schließlich biss er in den Mast und heulte schauerlich. Seine Zähne hackten Splitter aus dem Holz.
Bäcker hatte alle Mühe, das Schwanken des Einbaums auszugleichen. Ein paarmal schrie er Shirley an, hieb mit seinem Paddel gegen dessen Schultern, als Shirley sich in den Mast festbiss. Und als Anne von hinten mit dem stumpfen Ende des Bambusspeeres Shirley in den Rücken stieß, brüllte dieser auf und klammerte sich an dem Mast fest.
»Sie töten mich, Betty!«, kreischte er. »Sie werfen mich den Haien vor. Mörder! Mörder! Betty, sie fallen über mich her wie die Geier!«
Bäcker versuchte, an Shirley heranzukommen. Aber wenn er sich ihm auf Reichweite näherte, hieb Shirley mit den Fäusten um sich, und Bäcker musste sich wieder um das Gleichgewicht des Bootes kümmern. Als sähen oder hörten die Haie das beginnende Drama, kamen sie näher heran und zogen ihre Kreise immer dichter um den Einbaum.
»Paul!«, schrie Bäcker. Er stieß Shirley mit dem Paddel gegen die Brust. Das Blut aus der Stirnwunde hatte Shirleys Gesicht völlig überströmt, der Bart war vollgesogen, und jetzt tropfte das Blut aus dem roten Haarwald heraus über den entblößten Oberkörper.
Er wird es nicht mehr lange aushalten, dachte Bäcker schaudernd. Das Salz frisst sich in die Wunde hinein, und wenn er noch nicht völlig wahnsinnig ist, wird er’s in ein paar Stunden sein. Man kann ihn nur noch retten, wenn man ihn überwältigt. Aber wie ist das möglich in einem schwankenden, schmalen Einbaum?
»Paul!«, brüllte er noch einmal. »Sehen Sie mich an! Erkennen Sie mich, Paul?«
»Sie Halunke!«, kreischte Shirley. »Sie hinterlistiges Aas! Und ob ich Sie erkenne! Sie wollen Betty haben! Meine Betty! Ich beobachte Sie schon seit Wochen! Seit Sie in Papeete sind, habe ich keine Ruhe mehr. Ich liebe Betty, sage ich Ihnen, und ich schlage Ihnen den Schädel ein, wenn Sie ihr weiter nachstellen. Sie geiler Hund, Sie verfluchter!«
Er biss wieder in den Mast und heulte tierisch. Bäcker gab es auf. Es hatte keinen Zweck mehr, Shirley durch Anbrüllen aus seinem Wahn zu reißen. Mit jeder Stunde in dieser glühenden Sonne und auf diesem schimmernden Meer zerfiel ein Stück seines Gehirns; noch zwei oder drei Tage, und Shirley war eine leere Hülle.
Drei Tage mit einem Wahnsinnigen in einem Einbaum mitten auf dem Pazifik … Bäcker wagte nicht, Anne anzusehen. Als er es später doch tat, sah er sie ruhig zwischen ihren Vorräten sitzen und Trockenfisch in Streifen schneiden.
Das Abendessen.
Welch eine Frau, dachte er. Mit ihr kann man durch die Hölle wandern … um den Himmel zu erreichen.
Shirley verweigerte an diesem Abend die Mahlzeit. Er schlug Anne die Trockenfischstreifen aus der Hand und keifte: »Ich lasse mich nicht vergiften! Ihr überlistet mich nicht! Ihr nicht!«
Dann versuchte er zu angeln, hatte Glück und zog an der Leine aus zusammengeknoteten Streifen eines zerschnittenen Unterhemdes mit einem Haken aus einem gebogenen Nagel einen großen Fisch aus dem Wasser, schneller, als die Haie ihm die Beute abjagen konnten. Eine Weile betrachtete er ihn mit leeren Blicken. Plötzlich packte er den Fisch am Schwanz, schlug ihm auf der Bootskante den Kopf ab und verschlang ihn roh. Der Fisch zuckte noch, als er die Zähne hineingrub. Er aß ihn mit Haut und Gräten, nur die Schuppen spuckte er aus. Ein kannibalisches Bild.
Anne gelang es, Bäcker seinen Trockenfisch an dem kauenden Shirley vorbei hinüberzureichen. Jetzt könnte man ihn überwinden, dachte Bäcker. Ein Tier, das frisst, ist unvorsichtig.
»Shirley«, sagte er fragend. »Paul …«
Shirley hob den Kopf. Auf der Platzwunde an der Stirn hatte sich Schorf gebildet, in dem die Salzkristalle glitzerten. Er muss entsetzliche Schmerzen haben, dachte Bäcker. Aber er sagt keinen Ton. Welch eine unheimliche Kraft liegt im Wahnsinn!
»Shirley, morgen früh werden Sie vor Durst schreien. Werfen Sie den Fisch weg!«
»Ihr kriegt mich nicht klein!«, keuchte Shirley. Er fraß den zuckenden Fisch, seine Zähne zermalmten laut das Rückgrat und die nackten Gräten. »Ich kämpfe um Betty, das sage ich Ihnen!«
In der Nacht schlief er, in sich zusammengesunken. Bäcker kroch vorsichtig zu ihm, hob Shirleys Kopf hoch und wusch die Stirnwunde mit Regenwasser sauber.
Dieses Wasser war verschenkt, bedeutete einen Tag Durst mehr, aber es war ihm unmöglich, Shirley in diesem Zustand liegen zu lassen. Anne half ihm, sie hielt Shirleys Kopf fest.
Sein Schlaf war mehr eine Ohnmacht – er rührte sich nicht, obgleich das Auswaschen der Wunde sehr schmerzhaft sein musste.
»Ich habe Angst vor dem Morgen«, sagte Anne später. Über Shirley hinweg hielten sie sich an den Händen, eine traurige, aber alle Liebe dieser Welt beschwörende Zärtlichkeit. »Sag die Wahrheit, Liebling: Werden wir auf dem Meer sterben?«
»Ich weiß es nicht.« Bäcker küsste die Finger. Seine vernarbten Lippen waren rau und hart. »Ich warte, dass ein Wunder geschieht.«
Am nächsten Morgen wurden sie von einem Aufschrei geweckt. Shirley stand am Mast, die Beine gespreizt auf den Bordwänden, das schlaffe Segel schlug träge gegen seinen blutverkrusteten Bart. Die Sonne war gerade wie eine riesige Apfelsine aus dem Meer getaucht. Der Himmel wuchs in roten Streifen zusammen. »Land!«, brüllte Shirley. »Land! Viel Land!«
Seine Stimme überschlug sich. Er winkte mit dem freien Arm hoch über seinem Kopf, und in diesem Augenblick sah er aus wie eine Figur aus einem Piratenbuch.
Bäcker hatte der laute Schrei elektrisiert. Er sprang auf, hielt sich unterhalb Shirleys Hand am Mast fest und starrte in die Unendlichkeit des rotglänzenden Meeres, wo Shirley Land entdeckt haben wollte. Aber er sah nichts als die träge Dünung und das Farbenspiel eines in Morgenlicht getauchten Horizontes.
»Da ist es!«, schrie Shirley wieder. »Tahiti! Die Bucht von Papeete! Betty! Ich bin da, Betty!« Er stierte Bäcker an, ein lebloser Blick, ein Loch, das ins Leere führt. »Sehen Sie Betty auch, Sie Schuft? Meine Frau! Meine Kinder! Das ist eine Familie, was?«
Bäcker nickte. Er hatte das Gefühl, als spreizten sich seine Nackenhaare. »Paul –«, sagte er sanft. Er legte dabei seine Hand über Shirleys Finger, die sich um den Mast krallten. »Paul, Sie haben eine wunderschöne Frau. Gratuliere. Sie können stolz sein.«
»Sind Sie denn blind?«, schrie Shirley schrill.
»Mann, legen Sie an! Sie segeln ja an der Landungsbrücke vorbei. Wo haben Sie Ihr Schifferpatent gemacht? Anhalten, Sie Rindvieh! Halt!«
Shirley hob den rechten Fuß. Bäcker griff mit beiden Händen zu, aber seine Finger glitten an Shirleys glatter, von Salzwasser übersprühter Haut ab.
»Shirley!«, brüllte er. »Zurück! Vorsicht! Die Haie!«
Mit einer Kraft, die ungeheuerlich war, schlug Shirley mit der Faust auf Bäckers Unterarm. Es war ein Schlag, der Bäcker völlig lähmte, der eine Dumpfheit vom Arm durch den ganzen Körper trieb. Er starrte auf Anne. Sie hatte die Hände vor das Gesicht gepresst, ließ jetzt eine Hand fallen, zog die Decke über ihren Kopf und schrumpfte zusammen.
»Betty –«, sagte Shirley zärtlich. Sein Blick schweifte über Bäcker hinweg in die Ferne. Es war so viel Glück in seinem Gesicht, ein Leuchten so voller Zärtlichkeit, dass Bäcker den Kopf senkte und die Hand über seine Augen legte.
Er hörte, wie Shirley sich vom Boot abstieß, als spränge er an Land. Der Einbaum schaukelte gefährlich, aber er rollte nicht herum. Das aufspritzende Wasser traf Bäcker wie eine Fontäne, und dann wartete er, starr vor Grauen, auf den Schrei, auf diesen fürchterlichen Schrei, den Shirley ausstoßen würde, wenn die Haie ihn zerrissen.
Aber Shirley schrie nicht. Vielleicht hatte sein Herz schon versagt, als er im Meer untertauchte … nur das Meer brodelte, und ein roter Fleck schwamm fettig auf dem Wasser. Als Bäcker nach einer ganzen Zeit zurückblickte, waren die dreieckigen Rückenflossen rund um das Boot verschwunden.
»Anne –«, sagte er mit einer gepressten, brüchigen Stimme.
Sie rührte sich nicht unter der Decke, aber er sah deutlich ihr Zittern.
»Es ist vorbei, Anne. Du musst jetzt zur Mitte kommen und das Segel bedienen.«
Der Deckenhaufen bewegte sich. Anne kroch hervor, rutschte auf den Knien bis zum Mast und setzte sich auf Shirleys Platz. Sie musste sich schräg setzen, ihr hoher Leib war im Weg.
»Ich habe mich so auf das Kind gefreut«, sagte sie leise. »Mein Gott … oh mein Gott …«
Bäcker verstand sie. Auch für sie gab es kein Entrinnen mehr.
Sonne, Meer und Himmel – das war alles, was sie sahen. Ein träger Wind kam auf, mehr ein Windhauch, aber für sie ein dreimal gesegneter Wind. Der Einbaum trieb irgendwohin. Es hatte jetzt seit drei Wochen nicht mehr geregnet, sie maßen das wenige Wasser, das sie noch hatten, genau ab, zählten fast die Tropfen, und schließlich war es so weit, dass sie kaum noch genug Speichel hatten, das Trockenfleisch im Mund quellen zu lassen.
Bis zuletzt hatte Anne drei Kokosnüsse versteckt – sie zerteilte von diesem eisernen Vorrat eine, als Bäckers Zunge zu schwellen begann und wie ein bläulicher Klotz in der Mundhöhle lag. Er bettelte nicht um Wasser, aber als er die Kokosmilch trank, kühl, süß, ein paradiesisches Gesöff, als er in das weiße Fruchtfleisch biss, verstand er die kannibalische Wonne, die Shirley an seinem letzten Tag beim Zerreißen des Fisches genossen hatte.
Sie ließen das Segel nun immer aufgespannt, aber sie paddelten nicht mehr. Die große Gleichgültigkeit, die über ihnen lag, der völlige Tod ihrer Angst, hatte etwas Gnadenreiches in sich. Ihre Herzen waren in Ohnmacht gefallen. Sie trieben in die Unendlichkeit hinein, aßen kaum und tranken noch weniger und wurden so schwach, dass jedes Wort wie eine Zentnerlast war. Sie lagen verkrümmt im Boot, bereit, zu sterben und zu verdorren.
Nach sechsundzwanzig Tagen hatten sie noch einen Liter Wasser und eine Kokosnuss. »Wir werden es strecken«, sagte Bäcker. »Eine Woche kann es reichen.«
Er füllte für Anne etwas Wasser in den Blechbecher, ritzte mit dem Messer in seinen Unterarm und ließ Blut dazulaufen. Dann verrührte er es mit dem Wasser und gab Anne den Becher. Sie sah ihn groß an und trank das Blut-Wasser-Gemisch in langsamen, kleinen Zügen.
»Du wirst nicht verdursten«, sagte er und band einen Lappen um seinen Arm. »Ein Mensch hat fünf Liter Blut. Himmel, ist das eine Menge! Solange ich Blut habe, wirst du leben, Anne …«
Nach neunundzwanzig Tagen wurde der Himmel zum ersten Mal dunkel. Aber es regnete nicht, obgleich Bäcker die Hände faltete und mit Gott sprach. Er war so schwach geworden, dass er nicht mehr sitzen konnte, und Anne lag neben dem Mast, hielt das Tau, an dem das Segel hing, und weinte. Ein starker Wind kam auf, und das Meer erwachte zum ersten Mal nach wochenlanger bleierner Ruhe und hob und senkte sich wie mit einem tiefen Atemzug. Der Einbaum trieb auf den langen Wellen wie ein großes Stück Holz.
Nach einer Stunde mussten Anne und Bäcker das hineingeschlagene Wasser aus dem Boot schöpfen, nach drei Stunden kämpften sie gegen das Meer, in der vierten Stunde flog das Segel davon, und sie lagen Kopf an Kopf am Mast, umklammerten ihn mit beiden Händen und warteten auf die letzte, alles mit sich hinabreißende Woge-
Aber sie überlebten auch diesen Sturm. Sie lebten auch noch in der Nacht, als das Meer sich beruhigte. Und sie erwachten aus dem Schlaf, als die Morgensonne aufging und das Wasser wieder wie ein silberner Spiegel war.
Bäcker hob den Kopf über den Rand des Einbaums, und was er sah, war so unwahrscheinlich, dass ihm die Stimme versagte. Es kostete ihn seine ganze Kraft, Annes Kopf zu umfassen und sie zu küssen. Er riss sie aus einem totenähnlichen Schlaf.
»Land …«, stammelte er. »Land … vor uns ist Land … Es ist Flut … Wir treiben darauf zu … Anne, Anne … Land –«
Sie lagen bäuchlings im Boot, hatten die Köpfe auf den Bordrand gelegt und blickten hinüber zu dem gelben Streifen und den grünen, im Wind schwankenden Wellen der Baumkronen.
»Ein Strand«, flüsterte Anne.
»Und ein Wald.«
»Korallenriffe.«
»Felsen.«
»Land.«
»Wirklich Land, Anne …«
Sie küssten sich, lagen sich in den Armen, weinten und lachten und überließen es der Flut, sie ins Leben zurückzubringen. Sie selbst hatten keine Kraft mehr dazu; den winzigen Rest sparten sie auf, um später auf das Land zu fallen.
Der Strand kam näher. Ein Land, flach, zur Mitte sich aufwölbend wie ein Schildkrötenpanzer. Feiner gelber Sand, Korallenstaub, auf den Felsen Tausende von Vögeln.
Eine Böschung – darüber begann der Wald. Am Hang drei hohe, schlanke Palmen. Filigran gegen den blauen Himmel. Und an der Böschung eine Hütte aus Bambus und rohen Brettern, mit Palmblättern gedeckt. Daneben, zwischen vier hohen Pflöcken aufgespannt, ein gelbleuchtendes Etwas.
»Die Hütte«, sagte Anne mit winzig kleiner Stimme. Sie weinte plötzlich.
»Die Gummiinsel.« Bäcker atmete röchelnd.
»Unser Wald.«
»Wir sind zurückgekehrt.« Bäcker zog sich am Mast hoch. Es war eine Anstrengung, die seine sämtlichen Muskeln zu zerstören schien. Aber dann stand er hochaufgerichtet da und sah seiner Insel entgegen. So schnell fällt man keinen Mann, dachte er. Auch ihr nicht – Sonne, Meer und Wind.
»Anne – wir sind endlich zu Hause!«, sagte er. Es klang wie ein Amen.
Er wusste nicht, woher er noch die Kraft nahm – aber als er den sandigen Grund unter sich knirschen hörte, sprang er aus dem Boot und trug Anne auf seinen Armen an Land.
Sie schliefen einen Tag, eine Nacht und wieder einen Tag, denn als Anne aufwachte, stand die Sonne weit im Westen, und das Meer wurde wieder violett.
Bäcker hatte das Boot noch aus der Flut gezogen, bevor er buchstäblich auf allen vieren zur Hütte gekrochen war. Nun lag der Einbaum im Sand, so wie damals, bevor man ihn unter Jubel ins Meer gelassen hatte. Ein langer, ausgehöhlter Stamm mit einem krüppeligen Mast, an dem noch ein paar Reste des vom Sturm zerfetzten Palmensegels hingen.
Lange stand Anne vor der Hütte, blickte in die purpurfarbige Sonne, über die trägen Wellen des Pazifiks und das Boot, das sie in einem weiten Bogen zurückgetragen hatte, aus der Einsamkeit in die Einsamkeit.
Die Angst, die stille, verborgene Angst, die sie bisher auf der Fahrt begleitet hatte, fiel von ihr ab. Es war nicht die Angst vor dem unberechenbaren Meer gewesen, vor Haien, Durst, dem Wahnsinn in der gnadenlosen Sonne, einem Wegtrocknen mitten auf dem Meer – es war die Angst vor dem Leben gewesen, in das Bäcker und Shirley unbedingt zurückkehren wollten. Es war die Angst vor den Menschen gewesen, die zu ihr sagen würden: »Du bist eine Mörderin. Du hast Yul, deinem Mann, mit einem Malaiendolch den Hals durchgeschnitten. Beweise erst, dass du es nicht warst.«
Und sie würde wieder dastehen wie damals in Nuku Hiva vor Shirley und nichts anderes sagen können als: »Ich bin es nicht gewesen. Glaubt mir doch.« – Aber keiner war bereit, es zu glauben.
Bäcker schlief noch. Er lag auf dem Rücken, die lidlosen Augen starrten gegen das Blätterdach der Hütte – ein schrecklicher Anblick, solch ein Mensch, der mit offenen Augen schläft. Anne riss einen Fetzen aus ihrer Bluse und deckte ihn über sein Gesicht. Den Lappen aus Shirleys grobmaschigem Unterhemd hatte Bäcker beim letzten Sturm verloren. Der Wind hatte ihm den Gitterstoff von den Augen gerissen und ihn mitgenommen in die Weite des kochenden Meeres.
Die aufgespannte Rettungsinsel war vom letzten Regen nur überm Boden mit Wasser bedeckt worden. Vogelkot und Flugsamen schwammen darin herum – es war so nicht genießbar. Man musste es durch ein Tuch seien und abkochen. Drei, vier Liter Wasser sind es, schätzte Anne. Mehr nicht. Damit beginnen wir nun unser drittes Leben. Und ein viertes ist schon herangewachsen in meinem Leib. Es drängt nach unten, das Gehen ist eine merkwürdige Sache geworden. Wir werden nicht mehr lange warten müssen, bis es kommt. Und es wird zu früh kommen. Plötzlich werden die Wehen einsetzen, und erst dann, wenn diese Winzigkeit von Mensch zu schreien anfängt, wird diese Insel wirklich eine Heimat sein.
Sie blickte zurück in die Hütte – Bäcker hatte sich nicht gerührt. Er atmete langgezogen tief, kräftig und gesund.
»Wir werden auf dieser Insel bleiben, mein Liebling«, sagte Anne leise. »Hast du Sehnsucht nach den Menschen? Ich nicht. Du, ich und das Kind, das ist genug, um glücklich zu sein.«
Sie nahm Shirleys Bambusspeer, der noch im Inneren der Hütte neben der Tür lehnte, und stieg die Böschung hinauf in den Wald. Von den niedrigen Palmen warf sie wieder einige Kokosnüsse ab, sammelte essbare Wurzeln und Bambussprösslinge und ging dann ohne Scheu zu dem Begräbnisplatz mit dem scheußlichen Totemgötzen.
Vier neue Tote lagen im Kreis der Gerippe. Ein widerlich süßlicher Gestank schwebte über dem Platz. Jetzt, im Sommer der Südsee, verwesten die Körper schneller, als die Vögel sie zerhacken und auffressen konnten.
»Ich habe keine Angst vor euch«, sagte Anne und stützte sich auf den Speer. »Ich habe nur Angst vor den Lebenden.«
Dann ging sie herum, pflückte ein paar betäubend duftende Blumen, warf sie zwischen die Toten und kehrte an den Klippen vorbei zur Hütte zurück. Auf diesem Wege suchte sie noch die Austernbänke ab und hatte das letzte Stück schwer an dem aufgesammelten Essen zu tragen.
Bäcker erwachte endlich, nachdem Anne ihn geküsst hatte. Zunächst lag er still, unbeweglich unter Annes Blusenfetzen über seinen Augen, und hielt ihre Hand fest, die ihn wachgestreichelt hatte.
»Leben wir wirklich?«, fragte er stockend.
»Ja, Liebling, wir leben.«
»Auf unserer Insel?«
»Es ist der herrlichste Fleck auf Erden.«
»Es war alles umsonst …«
»Was Menschen tun konnten, haben wir getan. Aber das Meer war stärker, und der Wind war stärker … Das sollten wir einsehen und den Wahn aufgeben, stärker sein zu wollen als sie.«
»Und das Kind, Anne?«
»Es wird das glücklichste Kind auf der Erde sein. Es wird keinen Krieg kennenlernen, keinen Hass, keinen Neid, keine Jagd nach dem Geld, keinen Diebstahl, keinen Totschlag, es wird nie unter ein Auto kommen können, aus einem Fenster fallen, sich mit Gas vergiften oder einen elektrischen Schlag bekommen. Es wird nur das Meer kennen, die Sonne, den Regen, die Vögel, die Fische, die Bäume und Blumen, den Sand und die Klippen … Ist das nicht wundervoll?« Sie küsste ihn wieder, nahm den Stofffetzen von seinen Augen und lächelte ihn an. »Draußen steht das Abendessen, Liebling. Frische Austern mit gekochtem Yam, Wildente, in Kokosmilch gedünstet …«
»Anne!« Er umarmte sie, zog sie zu sich herunter, und dann weinte er, lautlos, mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich habe versagt«, seufzte er später, nachdem sie gegessen hatten. Sie saßen in der hellen Nacht um das Feuer, und es musste jetzt wieder wie in den Monaten zuvor erhalten bleiben, denn Bäcker besaß nur noch neunzehn Streichhölzer. Neunzehn Streichhölzer, die ein ganzes Leben reichen mussten. Aus Steinen Funken zu schlagen, hatte er noch nicht versucht, aber er ahnte, dass ihm das nie gelingen würde.
»Ich gebe nicht auf!«, sagte er. »Ich kann es nicht ertragen, versagt zu haben. Wir müssen von dieser Insel wegkommen!«
»Wir werden immer wieder zu ihr zurückkehren. Ich weiß das. Gib es auf, Liebling.«
»Nein.«
»Willst du es versuchen, wenn das Kind da ist? Mit dem Kind in einem Einbaum übers Meer? Mit meinem Kind? Ich weigere mich.«
»Nicht mit dem Einbaum. Ich werde den Eingeborenen auflauern, die hier ihre Toten ablegen. Sie müssen uns mitnehmen.«
»Das werden sie nie. Wir wollten flüchten, aber die Götter haben uns zurückgeholt. Für sie sind wir Verfluchte – sie werden uns nie berühren! Gewöhne dich daran, Liebling: Wir sind selbst zu Totengeistern geworden.«
»Aber das Kind! Das Kind!« Bäcker legte beide Hände über seine Augen und warf sich zurück in den Sand. »Die Geburt. Ich habe Angst, Anne, schreckliche Angst. Dreimal habe ich das mitgemacht, und es wurde immer fürchterlicher für mich. Dabei lag Vicky jedes Mal in einer Klinik, die besten Ärzte waren um sie, es konnte gar nichts passieren – aber ich war immer verrückt vor Angst. Und jetzt du! Ein Kind, das auf dreckigen Decken, im Sand und im Korallenstaub zur Welt kommt! Noch dreimal gegen das Meer kämpfen, das traue ich mir zu … aber das nicht!«
»Zum Kämpfen haben wir gar keine Zeit mehr«, sagte Anne. »Ich werde das Kind bekommen wie alle Frauen auf diesen Inseln. Bin ich anders als diese Frauen?« Sie legte sich neben Bäcker, ihr Leib wölbte sich zu den Sternen. Sie faltete die Hände über das strampelnde Leben in sich und lächelte glücklich. »Ich werde die beste Mutter auf der Welt sein. Das Kind wird laufen lernen wie ein Mensch, sehen wie ein Vogel, schwimmen wie ein Fisch, die Enten im Fluge schießen, die Früchte von den Bäumen holen. Wir werden stolz auf es sein, Liebling.«
Er drehte sich zu ihr und legte seinen zerstörten Kopf vorsichtig auf ihren Leib. Als er die Hände auf ihre Brüste legte, war er erstaunt, wie rund und prall sie geworden waren. Es ist immer wieder ein Wunder, dachte er. Ein unbegreifliches Wunder.
»Wann?«, fragte er leise. »Wann kann es sein?«
»Jeden Tag –«
Es war ihm, als hacke ihm jemand mitten durchs Herz.
Es kam ganz plötzlich.
Anne wachte in der Nacht von einem ziehenden Schmerz im Rücken auf. Ein Schmerz, der hinunterglitt bis zu den Leisten und ihren Unterleib spaltete.
Sie wälzte sich auf die Seite, küsste Bäcker, bis er sie umarmte, und sagte glücklich: »Es kommt.«
Dann krümmte sie sich wieder, hielt seine Hände fest, schlug die Nägel in seine Handrücken und stöhnte. Aus den Poren brach Schweiß, und das schmale, zarte Gesicht schien zu zerfließen.
Bäcker hatte siebzehn Tage Zeit gehabt, sich auf diese Stunde vorzubereiten. Von dem Regen, der in dieser Zeit gefallen war – zweimal ein lauer, erbärmlicher Regen, in den sie sich hineingestellt hatten und durch den sie gelaufen waren wie Kinder durch einen Zaubergarten –, hatte er so viel Wasser wie möglich gesammelt und in der »Speisekammer«, der Höhle in der Böschung, in Kanistern und Plastikbeuteln gespeichert. Was mit der ausgespannten Gummiinsel aufgefangen worden war, reichte zusammen mit der Kokosmilch gerade zum Stillen des ärgsten Durstes.