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www.lenos.ch

Leila Aboulela

Minarett

Roman

Aus dem Englischen
von Irma Wehrli

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Die Autorin

Leila Aboulela, geboren 1964 in Kairo, wuchs als Tochter einer ägyptischen Mutter und eines sudanesischen Vaters in Khartum, Sudan, auf. Sie studierte Ökonomie und Statistik an der dortigen Universität sowie Ökonomie und Politikwissenschaft in London. Ab 1990 Dozentin und wissenschaftliche Assistentin in Aberdeen, Schottland. Nach Jahren in Jakarta, Dubai, Abu Dhabi und Doha lebt sie seit 2012 wieder in Aberdeen. Aboulela veröffentlichte fünf Romane, zwei Erzählungsbände und Hörspiele. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in rund fünfzehn Sprachen übersetzt. leila-aboulela.com

Die Übersetzerin

Irma Wehrli, geboren 1954 in Liestal. Studium der Anglistik, Germanistik und Romanistik. Schwerpunkt ihrer Übersetzungstätigkeit sind englische und amerikanische Autoren des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne (Hardy, Wilde, Kipling, Mansfield, Hawthorne, Whitman, Cather, Wolfe u. a.). Für ihre Übertragung des Romans Of Time and the River von Thomas Wolfe wurde ihr 2011 das Zuger Übersetzer-Stipendium zugesprochen, 2017 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr Gesamtwerk als Kulturvermittlerin verliehen. Für den Lenos Verlag übersetzte sie 2019 When the Emperor Was Divine von Julie Otsuka.

Titel der englischen Originalausgabe:

Minaret

Copyright © 2005 by Leila Aboulela

E-Book-Ausgabe 2020

Copyright © der deutschen Übersetzung

2020 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Lenos Verlag, Basel

Coverfoto: Sandrine Vivès-Rotger

eISBN 978 3 85787 984 5

Inhalt

Die Autorin

Die Übersetzerin

Bismillâh al-rachmân al-rahîm

Erster Teil: Khartum, 1984/85

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Zweiter Teil: London, 2003

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Dritter Teil: London, 1989/90

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierter Teil: 2003/04

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Fünfter Teil: 1991

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Sechster Teil: 2004

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Anmerkungen der Übersetzerin

Minarett

Bismillâh al-rachmân al-rahîm1

Ich bin gesunken, tief gesunken. Ich bin abgerutscht an einen Ort, wo die Decke niedrig ist und man sich kaum bewegen kann. Meistens finde ich mich damit ab. Meistens begehre ich nicht auf. Ich nehme mein Urteil an und grüble nicht und schaue nicht hinter mich. Aber manchmal bringt eine Veränderung die Erinnerung zurück. Der gewohnte Trott wird gestört, und ein Neuanfang lässt mich jäh erkennen, wozu ich geworden bin, wie ich da auf einer Strasse voller Herbstlaub stehe. Die Bäume im Park gegenüber sind wie poliertes Silber und Messing. Ich blicke auf und sehe das Minarett der Moschee von Regent’s Park über den Bäumen. Ich habe es noch nie so früh am Morgen gesehen, in diesem verletzlichen Licht. London ist am schönsten im Herbst. Im Sommer ist die Stadt aufgedunsen und schäbig, im Winter wird sie von der Weihnachtsbeleuchtung geflutet, und der Frühling, die Zeit der Geburt, ist immer enttäuschend. Jetzt ist ihr bester Moment, jetzt ist sie mit sich im Reinen, wie eine reife Frau, deren Schönheit nicht mehr taufrisch ist und doch seltsam betörend.

Mein Atem dampft. Ich bleibe stehen, um auf einen Klingelknopf zu drücken, die Adresse steht in meinem Notizbuch. Um acht, hat sie gesagt. Ich huste und befürchte, auch in Gegenwart meiner neuen Arbeitgeberin husten zu müssen, so dass sie sich sorgt, ich könnte ihr Kind anstecken. Aber vielleicht neigt sie nicht zu Ängstlichkeit. Ich kenne sie ja noch nicht. Ich habe sie erst einmal gesehen, letzte Woche, als sie auf der Suche nach einer Hausangestellten in die Moschee kam. Sie wirkte elegant und in Eile. Ihr Seidentuch war nachlässig um Kopf und Nacken geschlungen, und als es verrutschte und ihr Haar entblösste, nahm sie sich nicht die Mühe, es wieder zurechtzuzupfen. So sind manche Araberinnen – eine reiche Studentin, Ende zwanzig, die das Leben im Westen auskostet … Aber ich kannte sie trotzdem noch nicht. Sie war nicht sie selbst, als sie mich ansprach. Die wenigsten Leute sind in einer Moschee ganz bei sich. Sie sind kleinlaut, und ein fragiler, vernachlässigter Teil ihrer selbst beherrscht sie.

Hoffentlich hat sie mich nicht vergessen. Hoffentlich hat sie sich nicht umentschieden und ihr kleines Mädchen in eine Kinderkrippe gegeben oder jemand anders genommen. Und hoffentlich bleibt ihre Mutter, die das Baby bis jetzt gehütet hat, nicht noch länger in Grossbritannien, und es braucht mich gar nicht mehr. Auf der St John’s Wood High Street ist viel los. Männer im Anzug und junge Frauen in topmodischen Kleidern steigen in neue Autos und brausen zu ihren tollen Arbeitsplätzen davon. Das ist eine piekfeine Gegend. Pastellrosa und viel Platz, wie es Leuten mit Geld vergönnt ist. Die Vergangenheit nagt, doch es sind nicht Besitztümer, die ich vermisse. Ich will keinen neuen Mantel, sondern möchte bloss meinen alten öfter reinigen lassen können. Ich wünschte nur, man hätte mir nicht so viele Türen vor der Nase zugeschlagen: die Türen von Taxis und Schulen, von Kosmetiksalons und Reisebüros, mit denen ich auf den Haddsch2 gehen könnte …

Als jemand sich an der Türsprechanlage meldet, sage ich mit hoffnungsvoll angespannter Stimme: »Salam alaikum, ich bin’s, Nadschwa …« Sie erwartet mich, alhamdulillâh.3 Ich werde vom Geräusch des Summers fast euphorisch. Ich stosse die Tür auf, und Holzwände umgeben mich: wohlkonservierte und gepflegte Vergangenheit. Das ist ein wunderbares Haus, würdevoll und behäbig. Altes, umsichtiges Geld, von Generation um Generation mit Liebe und Sorgfalt gehätschelt. Nicht wie das Geld meines Vaters, das ein Regime eingetrieben und Omar verschwendet hatte. Und auch ich war leichtsinnig mit meinem Anteil gewesen und hatte nichts Nützliches damit angefangen. In der Eingangshalle hängt ein Spiegel. Er zeigt eine Frau mit weissem Kopftuch im unförmigen beigen Mantel. Die Augen sind zu hell und die Wimpern zu lang, aber trotzdem sehe ich unscheinbar und verlässlich aus und bin im richtigen Alter. Ein junges Kindermädchen könnte nachlässig sein und ein älteres sich über Rückenschmerzen beklagen. Ich bin im richtigen Alter.

Der Aufzug ist altertümlich, so dass ich an der Tür rütteln muss. Der Lärm dröhnt durch die elegante Stille des Hauses. Ich will den Knopf ins zweite Stockwerk drücken, aber auf dem ersten Knopf steht eins bis drei, auf dem zweiten drei bis vier und auf dem dritten vier bis sechs. Ich versuche mir einen Reim darauf zu machen, bin aber noch immer verwirrt. Ich beschliesse, lieber die Treppe zu nehmen. Über mir fällt eine Tür ins Schloss, und eilige Schritte kommen die Stufen herunter. Ein hochaufgeschossener junger Mann mit spriessendem Bart und Lockenschopf taucht vor mir auf. Ich halte ihn auf und frage ihn wegen des Aufzugs.

»Das sind die Nummern der Wohnungen und nicht der Stockwerke.« Er spricht Englisch, als wäre es seine Muttersprache, aber sein Akzent ist nicht von hier. In London errät man die Herkunft der Leute nur mit Mühe. Wäre er Sudanese, so würde er als hellhäutig gelten, aber ich kann ja nicht wissen, ob er einer ist.

»Ach so, danke.« Ich lächle, doch er erwidert das Lächeln nicht.

Stattdessen wiederholt er: »Sie müssen einfach auf die Nummer der Wohnung drücken, zu der Sie wollen.« Seine Augen sind wässrig braun, und es glänzt kein Scharfsinn darin, ganz im Unterschied zu Anwar, sondern Intuition. Ja, vielleicht ist er empfindsam, aber nicht besonders klug, nicht so schlagfertig und blitzgescheit wie die meisten jungen Leute.

Ich danke ihm noch einmal, und er neigt ein wenig den Kopf und zuckt mit den Schultern, um den Riemen seiner Tasche zurechtzurücken. Die Jugend gibt uns einen Vorgeschmack auf das Paradies, heisst es. Als er sich entfernt und das Gebäude verlässt, wird alles wieder wie sonst.

Ich fahre hoch, öffne die Lifttür, betrete einen eleganten, gesaugten Teppich und mache hoffnungsvolle Schritte auf die Wohnung zu. Ich werde mit dem kleinen Mädchen auf den Platz gegenüber gehen. Ich werde mit ihr zur Moschee gehen und es so einrichten, dass ich mit den anderen beten und danach die Enten in Regent’s Park füttern kann. Sehr wahrscheinlich hat die Wohnung Satellitenfernsehen, und ich kann einen ägyptischen Film bei ART und die Nachrichten auf al-Dschasîra sehen. Letzte Woche hörte ich einen Vortrag, und diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben und haben mich am meisten berührt: Die Gnade Allahs ist weit wie das Meer. Unsere Sünden sind ein Lehmklumpen im Schnabel einer Taube. Die Taube sitzt auf einem Zweig am Rand dieses Meers. Sie muss bloss ihren Schnabel öffnen.

Erster Teil

Khartum, 1984/85

Eins

»Omar, bist du wach?« Ich schüttelte den Arm über seinem Gesicht, der seine Augen verdeckte.

»Hmm.«

»Steh auf.« Sein Zimmer war angenehm kühl, weil er die beste Klimaanlage im Haus hatte.

»Ich kann mich nicht rühren.« Er nahm den Arm vom Gesicht und blinzelte mich an. Ich wich mit dem Kopf zurück und rümpfte wegen seines Mundgeruchs die Nase.

»Wenn du nicht aufstehst, nehme ich das Auto.«

»Im Ernst, ich kann nicht … ich kann mich nicht rühren.«

»Na, dann fahre ich ohne dich.« Ich ging an seinem Schrank und dem Michael-Jackson-Poster vorbei zum anderen Ende des Zimmers. Dort schaltete ich die Klimaanlage aus. Das Gerät verstummte geräuschvoll, und die Hitze lauerte draussen und wartete darauf, sich hereinzustürzen.

»Warum tust du mir das an?«

Ich lachte und sagte munter: »Das wird dich aus den Federn jagen.«

Unten trank ich Tee mit Baba. Er sah immer so gut aus am Morgen, frisch geduscht und nach Rasierwasser duftend.

»Wo ist dein Bruder?«, brummte er.

»Kommt wohl gleich runter«, sagte ich.

»Und wo ist deine Mutter?«

»Es ist Mittwoch, sie geht ins Fitnesstraining.« Es verblüffte mich stets, wie unbeirrbar Baba Mutters Terminkalender vergass und wie seine Augen hinter den Brillengläsern besorgt ins Leere blickten, wenn er von ihr sprach. Er hatte nach oben geheiratet, um voranzukommen. Seine Lebensgeschichte bestand darin, wie er es aus bescheidenen Verhältnissen zum Stabschef des Präsidenten brachte, nachdem er in eine alte, vermögende Familie eingeheiratet hatte. Ich hörte mir die Geschichte ungern an, sie verwirrte mich. Ich glich allzu sehr meiner Mutter.

»Verwöhnt«, murmelte er über seiner Teetasse, »ihr seid alle drei verwöhnt.«

»Ich werde es Mama sagen, dass du so über sie sprichst!«

Er verzog das Gesicht. »Sie ist zu nachsichtig mit deinem Bruder. Das ist nicht gut für ihn. Als ich so alt war wie er, schuftete ich Tag und Nacht; ich wollte es zu etwas bringen …«

O nein, dachte ich, komm nicht wieder damit.

Man muss es mir angesehen haben, denn er sagte: »Natürlich willst du nicht auf mich hören …«

»O Baba, tut mir leid.« Ich herzte ihn und küsste ihn auf die Wange. »Wunderbares Parfum.«

»Paco Rabanne.« Er lächelte.

Und ich lachte, denn keinem Vater in meinem Bekanntenkreis lag so viel an seiner Kleidung und an seinem Aussehen wie ihm.

»So, es wird Zeit«, sagte er, und das Ritual seines Abschieds begann. Der Boy erschien aus der Küche und trug seine Aktentasche zum Auto. Mûssa, der Fahrer, sprang aus dem Nichts herbei und öffnete ihm den Schlag.

Ich sah zu, wie sie davonfuhren, und dann stand nur noch der Toyota Corolla in der Auffahrt. Er hatte Mama gehört, aber letzten Monat hatten Omar und ich ihn geschenkt bekommen. Mama besass jetzt ein neues Auto, und Omar benutzte sein Motorrad nicht mehr.

Ich sah in den Garten hinaus und auf die Strasse dahinter. Es waren keine Fahrräder unterwegs. Ich hatte einen Verehrer, der unentwegt an unserem Haus vorbeiradelte. Manchmal kam er drei- oder viermal am Tag. Seine Augen waren hoffnungsfroh, dabei verachtete ich ihn. Aber blieb die Strasse wie jetzt leer, so war ich enttäuscht.

»Omar!«, rief ich von unten. Wir würden zu spät zur Vorlesung kommen. Zu Beginn des Semesters, unseres allerersten an der Universität, waren wir immer sehr rechtzeitig aufgebrochen. Doch sechs Wochen später entdeckten wir, dass es angesagt war, erst in letzter Minute aufzutauchen. Alle Dozenten erschienen zehn Minuten nach der vollen Stunde und kamen in die Säle voll erwartungsvoller Studenten hereingerauscht.

Ich hörte keinen Ton von oben und sauste wieder die Treppe hoch. Nein, das Bad war leer. Ich machte die Tür zu Omars Zimmer auf, und der Raum war wie erwartet ein Brutofen. Doch da lag er in tiefem Schlaf hingestreckt und schnarchte. Er hatte das Bettzeug abgestrampelt und lag schweissnass und erschlafft da.

»So, das reicht. Ich fahre jetzt, ich hab nichts mehr mit dir zu schaffen.«

Er rührte sich ein wenig. »Was’n?«

In meiner Stimme lag Ärger, aber ich hatte auch Angst. Angst vor seiner Schläfrigkeit, an der keine Krankheit schuld war; Angst vor seiner Lethargie, über die ich mit niemandem sprechen konnte.

»Wo ist der Schlüssel?«

»Hä?«

»Wo ist der Autoschlüssel?« Ich warf seine Schranktür auf.

»Nein, in meiner Jeans … hinter der Tür.«

Ich zog den Schlüssel aus der Tasche, und Münzen fielen heraus und eine Schachtel Benson & Hedges.

»Wehe, wenn Baba das erfährt.«

»Mach die Lüftung wieder an.«

»Nein.«

»Bitte, Nana.«

Ich liess mich durch den Kosenamen ein wenig erweichen. Die Zwillingssymbiose packte mich, und vorübergehend war ich es, die sich so erhitzt und todmüde fühlte. Ich schaltete die Klimaanlage wieder ein und stapfte aus dem Zimmer.

Ich kurbelte das Autofenster hoch gegen den Staub und damit der heisse Wind mein Haar nicht zerzauste. Gern hätte ich mich wie eine emanzipierte junge Studentin gefühlt, die selbstbewusst am Steuer ihres eigenen Autos sass. War ich schliesslich nicht eine emanzipierte junge Frau, die ihren Wagen eigenhändig zur Universität fuhr? In Khartum gab es nur wenige Autofahrerinnen, und an der Universität waren nicht mal dreissig Prozent der Studenten Mädchen – wenn das nicht Grund für zu viel Selbstvertrauen war. Trotzdem war es mir lieber, wenn Omar auch da war, wenn Omar fuhr. Ich vermisste ihn.

Ich fuhr langsam, blinkte jedes Mal und achtete auf die Radfahrer. Bei der Ampel an der Gumhurîjastrasse klopfte ein kleines Mädchen an mein Fenster und bettelte mit gesenktem Kopf und leerem Blick. Weil ich allein war, gab ich ihr einen Geldschein. Wäre Omar dabei gewesen, so hätte ich ihr eine Münze gegeben – er verabscheute Bettler. Sie griff mit ungläubigem Staunen nach den fünf Pfund und eilte zurück auf den Gehsteig. Als die Ampel auf Grün wechselte, fuhr ich weiter. Im Rückspiegel sah ich, wie andere Kinder und ein paar verzweifelte Erwachsene das Mädchen umringten. Staub wirbelte auf, und ein Streit entbrannte.

Mit schweissnassen Händen klopfte ich an die Tür des Hörsaals 101. Ich war eine Viertelstunde zu spät. Drinnen hörte ich Doktor Baschîr ein weiteres Kapitel Buchhaltung, mein ungeliebtestes Fach, dozieren, aber mein Vater wollte, dass Omar Wirtschaft studierte. Und ich wollte, nach Jahren an einer Mädchenschule, mit Omar zusammen sein. Ich klopfte noch einmal lauter und drehte mutig am Knauf. Die Tür war geschlossen. Also hatte Doktor Baschîr seine Ankündigung wahr gemacht, keine Zuspätkommenden in seinen Vorlesungen zu dulden. Ich drehte mich um und ging zur Cafeteria.

Meine Lieblingscafeteria war im rückwärtigen Teil der Universität. Sie lag am Blauen Nil, aber das dichte Laub der Bäume verdeckte den Blick auf das Wasser. Der schattige Morgen und der Duft der Mangobäume beruhigten mich allmählich. Ich setzte mich an einen Tisch und tat so, als würde ich meine Notizen lesen. Sie sagten mir nichts und erfüllten mich mit Leere. Ich ahnte, wie viele Stunden es brauchen würde, auswendig zu lernen, was ich nicht begriff. Als ich aufblickte, sah ich, dass Anwar al-Sir an einem Nachbartisch sass. Er war in seinem letzten Studienjahr, und man wusste, dass er Bestnoten bekam. Heute war er mit seiner Zigarette und einem Glas Tee allein. Auf dem Campus waren die meisten ungepflegt, aber er hatte immer saubere Hemden an, war glattrasiert und trug sein Haar kurz, obwohl längere Frisuren Mode waren. Omar trug sein Haar genauso wie Michael Jackson auf dem Cover seines Albums Off the Wall.

Anwar al-Sir war Mitglied der Demokratischen Front, des studentischen Zweigs der Kommunistischen Partei. Vermutlich hasste er mich, schliesslich hatte ich ihn in einer nadwa4 voller Witz und Verachtung über die Bourgeoisie herziehen hören. Die Familien mit Ländereien, die Kapitalisten, die Aristokraten, sie seien schuld an dem Schlamassel, in dem sich unser Land befinde, sagte er. Ich unterhielt mich mit Omar darüber, aber der fand, ich nähme das zu persönlich. Omar hatte keine Zeit für Leute wie Anwar, er hatte seine eigenen Freunde. Sie tauschten untereinander Videos von Top of the Pops und wollten alle einmal nach Grossbritannien gehen. Omar fand, es sei uns unter den Engländern bessergegangen und es sei schade, dass sie nicht mehr da waren. Ich passte auf, dass er in seinen Aufsätzen in Geschichte und Wirtschaft nichts dergleichen schrieb, denn alle Lehrbücher und Dozenten waren sich einig, dass der Kolonialismus an unserem Entwicklungsrückstand schuld war.

Es wäre kindisch gewesen, mich woandershin zu setzen. Aber ich fühlte mich unbehaglich Auge in Auge mit Anwar. Er lächelte mich an, und das verblüffte mich. Er liess mich nicht aus den Augen. Meine Bluse fühlte sich zu eng und mein Gesicht zu erhitzt an. Ich muss gestöhnt haben, denn er sagte: »Es ist heiss, was? Und du bist Klimaanlagen gewohnt.« Sein Ton war spöttisch.

Ich lachte. Als ich antwortete, klang meine Stimme fremd in meinen Ohren, als ob sie nicht mir gehörte: »Aber ich mag es lieber heiss als kalt.«

»Warum?« Er warf seine Zigarettenkippe weg und wischte Sand mit den Füssen darüber. Seine Bewegungen waren sanft.

»Das ist doch natürlicher, nicht?« Zwei Tische trennten uns, und ich fragte mich, wer wohl den ersten Zug machen, aufstehen und zum Nachbartisch gehen würde.

»Kommt drauf an«, sagte er. »Ein Russe würde vielleicht die Kälte natürlich finden.«

»Wir sind aber keine Russen.«

Sein Lachen war angenehm, und dann verstummte er. Sein Schweigen enttäuschte mich, und ich überlegte mir, wie ich das Gespräch wieder in Gang bringen könnte. Schnell stoppelte ich mir im Kopf ein paar Sätze zusammen: Du hast doch einen Bruder, der in Moskau studiert. Mir ist die Klimaanlage im Auto ausgestiegen. Weisst du, Doktor Baschîr wollte mich nicht mehr reinlassen. Aber ich verwarf alle als einfältig und fehl am Platz.

Das Schweigen begann zu dröhnen, bis mein Herzklopfen das Vogelgezwitscher übertönte. Ich stand auf und verliess die Cafeteria, ohne ihn anzuschauen oder mich zu verabschieden. Es war fast zehn und Zeit für die Makroökonomie.

Der Dozent liess die Präsenzliste zirkulieren. Ich trug mich ein, nahm einen anderen Stift und schrieb in steileren Buchstaben Omars Namen auf das Blatt.

Als die Makro-Vorlesung um war, wartete Omar vor dem Saal auf mich.

»Gib mir den Autoschlüssel.«

»Hier. Und vergiss nicht, dass wir um zwölf Geschichte haben. Bitte lass dich da blicken.«

Er runzelte bloss die Stirn und eilte davon. Ich machte mir Sorgen um ihn. Sie liessen mich nicht los. Schon als ich klein war, hatte meine Mutter zu mir gesagt: »Pass gut auf Omar auf, du bist das Mädchen, du bist die Ruhige und Vernünftige. Pass auf Omar auf.« Und Jahr um Jahr nahm ich meinen Bruder in Schutz. Ich spürte seine Schwachheit und kümmerte mich um ihn.

Zwei

Ich nahm Brieftasche, Notizbuch und Federmäppchen aus meiner Strohtasche und liess sie auf der Ablage neben der Bibliothekstür. Zwei Mädchen aus meinem Kurs kamen gerade heraus, und wir lächelten einander zu. Ich wusste ihre Namen nicht mit Bestimmtheit. Sie trugen beide einen weissen Tob,5 und eine war besonders hübsch, mit ihren tiefen Grübchen und funkelnden Augen. Sie kamen aus der Provinz, und ich war ein Mädchen aus der Hauptstadt, darum waren wir keine Freundinnen. Ihretwegen machte mich meine Kleidung zum ersten Mal im Leben verlegen: meine zu kurzen Röcke und zu engen Blusen. Viele kleideten sich wie ich, ich fiel nicht auf. Trotzdem fühlte ich mich unwohl in Gesellschaft dieser Mädchen aus der Provinz. Ich nahm ihre bescheidene Anmut wahr, den Tob, der ihre schlanken Körper bedeckte – reine weisse Baumwolle über den Armen und auf ihrem Haar.

Im Erdgeschoss der Bibliothek schnauften die Klimaanlagen, und die Fächer an der Decke surrten. Ich legte meine Sachen auf den Tisch und musterte die Regale. Etwas Russisches, um ihm näherzukommen und ihm etwas zu sagen zu haben. Marxistische Theorie, Dialektik. Nein, davon würde ich gar nichts verstehen. Schliesslich griff ich nach einem dicken Wälzer im Regal und nahm Platz, um in einer Sammlung übersetzter Gedichte zu lesen.

Ich verstand die Zeile »Ich überlebte all mein Sehnen«6. Aber ich wusste nicht, woher dieses Verständnis kam. Ich führte ein glückliches Leben. Meine Eltern liebten mich und waren stets grosszügig. Im Sommer machten wir in Alexandria, Genf und London Urlaub. Es gab nichts, was ich nicht hatte, nicht haben konnte. Keine Träume verrosteten, und keine Wünsche wurden begraben. Und trotzdem lauerte in mir manchmal Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum.

»Ich mag russische Schriftsteller«, gestand ich Anwar beim nächsten Mal, denn es gab ein nächstes Mal, eine zweite Chance, die nicht so zufällig wie die erste war. Wir gingen zusammen an der Post und an der Universitätsbuchhandlung vorüber.

»Wen denn?«

»Puschkin«, sagte ich, aber meine Antwort beeindruckte ihn nicht.

»So«, sagte er, »hilfst du mir ein paar Flugblätter verteilen?«

»Ich kann nicht. Ich habe meinem Vater versprochen, ich würde mich nicht in Studentenpolitik einmischen.«

Er zuckte die Achseln und hob die Brauen, wie um zu bemerken: Wer sagt’s denn?

»Was sind denn deine eigenen politischen Ansichten?«, fragte er.

»Ich weiss nicht. Ich hab keine.«

»Was soll das heissen, du weisst es nicht?«

»Jeder scheint jedem die Schuld zu geben.«

»Gut, aber jemand muss die Schuld auf sich nehmen für das, was geschieht.«

»Und warum?«

»Damit diese Leute den Preis zahlen können.«

Diese Bemerkung gefiel mir nicht: den Preis bezahlen.

»Dein Vater steht dem Präsidenten nahe?«

»Ja, sie sind befreundet.«

»Bist du ihm schon mal begegnet?«

»Natürlich. Und er ruft meinen Vater zu Hause an, und ich gehe ans Telefon.«

»Einfach so«, sagte er lächelnd.

»Ja, ganz normal. Einmal vor Jahren, als ich noch in der Grundschule war, rief er an, und ich antwortete auf sehr englische Weise mit hello.« Ich hielt einen eingebildeten Hörer ans Ohr, äffte mich selber nach und sagte: »Hello, 44959.« Es gefiel mir, wie Anwar mich beobachtete, mit amüsierten Blicken. »Daraufhin«, fuhr ich fort, »wurde der Präsident wütend und sagte: ›Sprich anständig, Kind! Sprich arabisch mit mir.‹«

Anwar brach in Gelächter aus. Es freute mich, dass ich ihn zum Lachen gebracht hatte.

»Ich unterhalte mich gern mit dir«, sagte er langsam.

»Warum?« Ja, so bekam man Komplimente zu hören. Fragt doch, warum.

Wenn ich Jahre später zurückschaute und mich an Zeichen verborgener Anspannung hinter der Fassade der Heiterkeit zu erinnern versuchte, denke ich an das ständige Ringen, das ich einfach hinnahm. Der Geruch nach Staub und Kloaken rang mit dem Duft des Jasmins und der Guaven, und keiner war stärker. Der Blaue Nil strömte aus dem Äthiopischen Hochland, und die Sahara drang vor, doch weder der eine noch die andre gewann. Omar wollte weggehen. Die ganze Zeit wollte Omar weggehen, und ich, sein Zwilling, wollte bleiben.

»Warum durfte Samîr und ich nicht?«, fragte er Baba beim Mittagessen. Wir assen aus Porzellantellern mit Silberbesteck. Wir wischten uns den Mund mit Servietten ab, die täglich gewaschen und gebügelt wurden.

»Weil Samîrs Noten nicht gut genug waren«, sagte Mama. Sie war frisch vom Friseur zurück, und das Haar floss in Wellen über ihre Schultern. Sie roch nach Haarspray und Zigaretten. Ich wünschte, ich wäre so bezaubernd wie sie, offen und grosszügig und mit der Gabe, stets das Richtige zu sagen und im richtigen Moment zu lachen. Eines Tages würde ich es schaffen.

»Aber ist es denn fair«, kam ich Omar zu Hilfe, »dass der mit den schlechten Noten ins Ausland darf und der mit den guten Noten hierbleiben muss?« Samîr war unser Cousin, der Sohn von Onkel Sâlich, Mamas Bruder. Samîr war jetzt am Atlantic College in Wales, wo er das internationale Abitur machte.

»Kommst du auch noch?« Baba funkelte mich an.

»Nein, ich will nirgendwohin gehen. Ich will hier bei euch bleiben.« Ich lächelte Mama an, und sie erwiderte das Lächeln. Wir standen einander zu nahe, als dass ich sie hätte verlassen mögen, um im Ausland zu studieren.

»Nadschwa ist sehr patriotisch«, sagte Omar sarkastisch.

»Das solltest du auch sein«, tadelte Baba.

»Esst jetzt, und streitet später«, sagte Mama, aber sie achteten nicht auf sie.

»Ich will nach London gehen. Ich hasse es, hier zu studieren.« Es war Omar ernst. Ich hörte es seiner Stimme an, dass es ihm ernst war.

»Das tut dir gut«, sagte Baba. »Härtet dich ein wenig ab. Dieser ganze Privatunterricht hat dich verwöhnt. An der Universität siehst du, wie man auf der anderen Seite lebt. Du wirst verstehen, wie dein Land wirklich ist und in was für einem Umfeld du einmal arbeiten wirst. Als ich so alt war wie du …«

Omar stöhnte, und ich befürchtete schon eine Szene. Ich schluckte leer und hatte Angst, dass Baba herumschreien und Omar davonlaufen würde. Dann konnte ich den ganzen restlichen Tag herumtelefonieren und ihn suchen.

Ich stand allein unten im Garten. Mein Verehrer fuhr auf seinem Rad vorbei. Seine Kleider waren schrecklich und seine Frisur fürchterlich. Es war nicht schmeichelhaft, von seinesgleichen bewundert zu werden. Ich fühlte den wohlbekannten Ärger in mir aufsteigen. Aber es machte Spass, sich über ihn zu ärgern. Ich warf ihm finstere Blicke zu, obwohl ich wusste, dass ihn jede Reaktion nur noch ermutigen würde. Er grinste hoffnungsvoll und pedalte davon. Ich wusste tatsächlich rein gar nichts von ihm.

»Komm mit, Nadschwa«, sagte Mama. Sie trug ihren uniblauen Tob und schwarze Sandalen mit hohen Absätzen. Sie trommelten gegen den Marmor der Vorderterrasse. Mama hielt eine Plastiktüte voller Lutscher und Süssigkeiten in der Hand.

Mûssa, der Fahrer, brachte den Wagen, und das Knirschen von Kies rührte die Nachmittagsstille auf. Er öffnete den Schlag für sie und holte im Haus noch mehr randvolle Plastiktüten mit alten Kleidern und zwei Dosen selbstgemachte Kekse. Ich erkannte Omars altes Coca-Cola-T-Shirt und ein rosa Kleid, das ich nicht mehr trug, weil es aus der Mode war.

»Wo gehst du hin?« Ich konnte ja Mamas bedeckter Kleidung entnehmen, dass es kein angenehmer Ort war.

»Cheshire Home«, sagte sie und nahm auf dem Rücksitz Platz. Sie sagte »Cheshire Home« so munter, als wäre ein Besuch dort ein Vergnügen. Dazu war bloss Mama imstande.

Ich zögerte ein wenig. Die dünnen, verrenkten Glieder der Kinder verstörten mich, und ich ging lieber zur Gehörlosenschule mit. Dort konnten die Kinder zwar nicht richtig sprechen, aber sie rannten sorglos herum und nahmen mit wachen, verständigen Augen auf, was sie nicht hören konnten.

Trotzdem setzte ich mich neben sie in den Wagen, und als Mûssa den Motor anliess, öffnete sie ihre Tüte und gab mir einen Minzkaugummi.

»Du hättest mal das Waisenhaus sehen sollen, zu dem deine Tante mich gestern geschleppt hat!«, sagte sie. »Im Vergleich dazu ist Cheshire das Paradies. Unglaublich, wie dreckig es dort war.«

Ich rümpfte angewidert die Nase und war erleichtert, dass sie am Morgen gegangen waren, als ich an der Uni war. So hatten sie mich nicht mitschleppen können.

»Und sie haben rein gar nichts«, fuhr sie fort. »Aber kann das eine Entschuldigung dafür sein, die Kinder nicht zu waschen?«

Sie erwartete keine Antwort von mir. Mûssa lächelte und nickte auf seinem Fahrersitz, als spräche sie mit ihm. So war sie eben. So redete sie. Manchmal war sie lebhaft, und manchmal war sie bedrückt und still. Und seltsamerweise war sie auf Partys und Hochzeiten oft kühl und nachdenklich, während sie in kritischen Momenten zu ihrer Hochform auflief. Wenn ich hörte, wie sie über das Waisenhaus sprach, wusste ich, dass sie keine Ruhe geben würde. Sie würde an allen Fäden ziehen und meinem Vater und Seiner Exzellenz in den Ohren liegen, bis sie bekam, was sie wollte.

Cheshire Home war schattig und kühl und lag in einem freundlichen Teil der Stadt mit Bungalows und alten grünen Gärten. Ich beneidete meine Mutter um die Natürlichkeit, mit der sie mit ihren Tüten voll Süssigkeiten und Keksen ins Haus segelte, während ihr Mûssa alles Übrige nachtrug. Die Kinderschwester, Salma, hiess sie wie eine alte Freundin willkommen. Salma war sehr grossgewachsen und dunkel, mit hohen Wangenknochen und strahlend weissen Zähnen. Ihre langweilige weisse Uniform konnte ihrer eleganten Erscheinung nichts anhaben: Sie wirkte würdevoll, mit weissen Strähnen im Haar. »Gratuliere«, sagte sie zu mir, »du hast es an die Universität geschafft.« Sie hatte mich schon lange nicht mehr gesehen.

»Du hältst dieses Heim gut in Schuss«, begann Mama Salma zu loben.

»Ach, früher war Cheshire noch besser.«

»Ich weiss, aber es ist immer noch gut. Da war ich doch gestern in dem Waisenhaus da, und es starrte vor Dreck, unglaublich.«

»Wo war das denn?«

Der Saal war gross, mit einer Tafel auf einer Seite und ein paar Kindertischen und -hockern. Eine Reihe von Betten stand an der Wand, und dazwischen lagen da und dort ein paar Bälle und Spielsachen. Sie kamen mir bekannt vor – vielleicht hatte Mama sie bei einem früheren Besuch mitgebracht. Ein paar Plakate an der Wand erklärten, wie wichtig das Impfen sei, und daneben hing ein schreckliches Bild von einem Baby mit Pocken. Salma brachte Stühle für Mama und mich, während sie selbst auf einem Kinderhocker Platz nahm. Die Kinder kämpften sich in ihren Laufstühlen zu uns, und manche robbten über den Boden. Ein Junge aus dem Süden war sehr schnell, weil er seine Arme und ein Bein ungehindert gebrauchen konnte.

»Jetzt einer nach dem andern, und ich gebe euch die Lutscher«, sagte Mama. Ein Ansatz zu einer Schlange bildete sich, verlor sich jedoch im Gewimmel der ausgestreckten Hände. Mama gab jedem Kind einen Lutscher.

»John«, rief Salma dem Jungen aus dem Süden zu, »hör mit diesem Herumkaspern auf, und hol dir deinen Lutscher!«

Er hievte sich mit einem lässigen Grinsen in unsere Richtung, und seine Augen leuchteten.

»Welche Farbe möchtest du?«, fragte ihn Mama.

»Rot.« Seine Augen schossen hierhin und dorthin, als ob er alles kritisch prüfen oder an etwas anderes denken würde.

»Hier. Da hast du einen roten«, sagte Mama. »Das ist der letzte rote, alle übrigen sind gelb.«

Er nahm den Lutscher und begann ihn auszuwickeln. »Ist das dein Auto da draussen?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Mama.

»Was geht dich das an?«, schimpfte Salma mit ihm.

Er ignorierte sie und wandte kein Auge von Mama. »Was für ein Auto ist es?«

»Ein Mercedes«, sagte Mama lächelnd.

Er nickte und lutschte an seinem Stängel. »Ich fahr mal einen grossen Laster.«

»Dummer Junge«, lachte Salma, »wie willst du denn mal fahren?«

»Schaff ich schon«, sagte er.

»Mit bloss einem Bein?« Salma zog spöttisch amüsiert die Brauen hoch.

Da veränderte sich etwas an ihm: sein Blick. »Du brauchst zwei Beine, um ein Auto zu fahren«, fügte Salma hinzu. Er machte kehrt und schleppte sich davon.

»In Europa gibt es Spezialanfertigungen«, sagte ich, »für Leute ohne … für Behinderte.« Zum ersten Mal seit unserer Ankunft hatte ich den Mund aufgemacht; meine Stimme klang dämlich, und alle ignorierten mich.

Auf einmal stiess John einen Tisch um und schleifte einen Hocker durch den Saal, mit dem er nach allen Seiten schlug.

»Hör auf, John, benimm dich!«, brüllte Salma.

Er achtete nicht auf sie und stiess den Hocker durch den Saal. Wäre der nicht mit einem anderen Hocker zusammengestossen, so hätte er Salma voll getroffen.

»Wart nur, ich rufe die Polizei.« Salma stand auf. »Sie sollen kommen und dir eine Abreibung verpassen.«

Er muss ihr geglaubt haben, denn er hielt inne und wurde ganz still. Er lehnte sich an die Wand. Sein Bein stand in einem bizarren Winkel ab, und er neigte den Kopf gegen die Wand, den Lutscher im Mund. Auf einmal still.

In der Stille hörten wir das Weinen. Sie war vielleicht elf oder zwölf, ein ganz dünnes Mädchen mit Gehschienen an beiden Beinen und einem rosa Kleid, das zu klein für sie war. Wie sollte sie mal heiraten, wie sollte sie arbeiten können …? Das dürfe ich nicht fragen, sagte Mama immer, es habe keinen Zweck, das zu denken, wir dürften einfach nicht aufhören mit den Besuchen.

»Warum weint sie?«, fragte Mama Salma.

»Ich weiss nicht.«

»Komm und nimm dir einen Lutscher«, rief Mama dem Mädchen zu, aber es hörte nicht auf zu weinen.

»Los jetzt, komm dir deinen Lutscher holen!«, schrie Salma das Mädchen an.

»Lass sie, Salma. Sie braucht Zeit.« Als das Mädchen sich nicht rührte, ging Mama zu ihr hinüber, gab ihr Schleckzeug und streichelte ihr zerzaustes Haar. Es nützte nichts. Sie sass mit den Süssigkeiten im Schoss wimmernd da, bis unser Besuch vorüber war. Erst als wir aufstanden, um zu gehen, sah ich, dass sie sich beruhigte und den Lutscher auswickelte. Sie blinzelte vornübergebückt, und Schleim tropfte ihr aus der Nase über den Mund. Es war ein Kampf für sie, den Lutscher auszuwickeln und ihn in den Mund zu kriegen. Ich hatte geglaubt, ihr Problem seien die Beine, aber auch mit den Händen stimmte etwas nicht.

Drei

Die Party im American Club war in vollem Gang, als Omar und ich eintrafen. Wir tauchten in die aufreizenden roten und blauen Discolichter ein und in Oops Up Side Your Head von der Gap Band.

»Wo hast du bloss gesteckt?«, kreischte meine beste Freundin Randa und versuchte die Musik zu übertönen. »Komm mit mir auf die Toilette.«

»Aber ich bin gerade erst angekommen«, versuchte ich abzuwehren, doch sie packte mich am Arm und zog mich mit.

»Du siehst umwerfend aus«, sagte ich zu ihr. Sie trug ein rückenfreies schwarzes Shirt und einen mittellangen, weitschwingenden Rock. Ich hatte mir nicht halb so viel Mühe gegeben wie sie. Die Toilette war übelriechend und heiss. Randa legte Lipgloss mit Erdbeeraroma auf und strich ihre Brauen glatt. Sie trug Flitter im Haar und auf ihren nackten Schultern.

»Bist du beim Friseur gewesen?«

»Klar bin ich beim Friseur gewesen.«

»Meine Hose sitzt zu eng.« Ich verrenkte mich, um meine Hüften im Spiegel zu sehen.

»Deine Hose ist toll – wie hast du sie angekriegt?«

»Aaah …«

»War nicht ernst gemeint.«

»Ist er hier?«

»Ja, Hoheit sind vor zwei Minuten erschienen, dabei bin ich schon seit sieben hier!«

Hoheit war der rätselhafte Amîr, mit dem sie seit einem halben Jahr ausging. Er hatte sich in letzter Zeit seltsam benommen.

»Heute Nacht soll er mal endlich zur Sache kommen«, sagte sie.

Ich wich ihrem Blick aus. Man munkelte, dass Amîr einem Mädchen aus dem Arabischen Club schöne Augen machte. Ich hatte nicht den Mut, es Randa zu erzählen. Stattdessen sagte ich: »Du siehst wirklich klasse aus heute.«

»Danke, Liebes.«

»Raus hier jetzt, ich ersticke noch.«

»Wart.« Sie zauberte den unvermeidlichen Minzespray aus ihrer Handtasche. Sie machte den Mund auf und sprühte, dann wandte sie sich mir zu. Ich hasste den Geschmack und öffnete trotzdem den Mund.

Vor der Toilette war die Luft frisch, und ein paar Kinder schwammen noch im Pool. Aus der Küche roch es verlockend nach Kebab und Pommes.

»Ich hab Hunger«, sagte ich.

»Wer denkt denn jetzt ans Essen?«

Ich liess mich von ihrer Aufregung anstecken, und wir gingen Arm in Arm kichernd die Treppe hinunter und tauchten wieder in die flirrende Finsternis der Party ein. Mein Lieblingslied lief: Brown Girl in the Ring von Boney M. Ich begann mitzusingen. Mitten auf dem Dance-floor tanzte die Inderin Sundari mit ihrem Marine. Ihr glattes schwarzes Haar fiel ihr bis auf die Taille, und wenn sie herumwirbelte, flog es auf und nieder. Ich konnte mich nicht sattsehen an ihr. Ihr Tanzstil war so, dass sie sich weit von ihrem Partner entfernte und auf ihren Stilettos wieder zu ihm zurückhüpfte. Er sah so sudanesisch aus, dass man sich leicht täuschen könnte, aber Randa und ich hatten ihn genau inspiziert und entschieden, er müsse Amerikaner sein, was man nur schon an seiner Haltung erkenne – weil es ihm peinlich sei, dass er in eine so unattraktive Weltgegend abkommandiert worden sei.

Ich musste nicht lange warten. Einer von Omars Freunden forderte mich auf, und wir entfernten uns von Randa zur Mitte der Tanzfläche. Weisser Rauch stieg aus dem Boden auf wie in Saturday Night Fever. Ich wirbelte herum, dass meine Ohrringe schaukelten, und die Arme der anderen Tänzer streiften die meinen.

Leider kamen nach Boney M. die Bee Gees mit How Deep Is Your Love an die Reihe, und das Volk auf der Tanzfläche schrumpfte auf höchstens fünf Paare zusammen. Erhitzt vom Tanzen, kaufte ich mir eine Pepsi und lief grüssend an den Tischchen vorbei, bis ich Randa in Gesellschaft von Omar und dem ewig ernsten Amîr fand. Seine Brille blitzte im Dunkeln und verbarg seine Augen; Randa lächelte hoffnungsvoll.

»Und wie geht’s an der Uni?«, fragte sie ihn.

»Ganz gut«, sagte er einsilbig.

»Wann kriegt ihr dieses T-förmige Lineal?«, fragte ich. Die Architekturstudenten fielen auf dem Campus nämlich immer auf, wenn sie mit ihrem Lineal rumspazierten.

»Nächstes Jahr.« Sein Langweilertum war ansteckend. Ich gab auf, lehnte mich in meinem Stuhl zurück, goss Pepsi in mein Glas und schaute den Tänzern zu. Einige Paare tanzten engumschlungen, andere linkisch auf Armeslänge Abstand. Sundari und ihr Marine tanzten dicht an dicht – seine Hände umschlossen ihre schmale Taille, und ihre lange Mähne berührte sie. Sie hob den Kopf von seinen Schultern, warf ihn in den Nacken und flüsterte ihrem Freund etwas zu. Er lächelte. Ich stellte mir vor, ich würde mit Anwar so tanzen, und ermahnte mich gleich, nicht so dumm zu sein, denn für genau so was hatte er doch bloss Verachtung übrig: westliche Musik und westliche Sitten. Ich hatte Randa nicht von ihm erzählt. Sie würde es nicht begreifen. Zwar würde sie ihn auch attraktiv finden, aber er war keiner von uns, nicht wie wir … Und Mitglied der Demokratischen Front; sie wüsste nicht einmal, was die Front war.

Omar bot Amîr eine Zigarette an. Ein Windstoss kam plötzlich auf und blähte das Tischtuch. Bald kam der Winter, und wir würden Strickjacken tragen, und es wäre zu kalt zum Schwimmen.

»Nächsten Monat gehe ich weg«, stiess Randa plötzlich hervor.

»Was!«, riefen Omar und ich gleichzeitig. »Wohin gehst du?« Omar und ich bedrängten sie mit Fragen.

Amîr zuckte nicht mit der Wimper und sagte kein Wort. Sie antwortete uns und liess ihn dabei nicht aus den Augen, um seine Reaktion zu beobachten und ihn zu prüfen.

»Ich gehe nach England, um dort Abitur zu machen.«

»Aber wolltest du nicht die mittlere Reife noch mal versuchen, um es dann vielleicht doch an die Uni Khartum zu schaffen?«

»Meine Eltern wollen, dass ich gehe.«

»Wie bei meinem Cousin Samîr«, sagte Omar. »Er hat es nicht geschafft und darf ins Ausland. Und wir sitzen hier fest.« Er sah Amîr an, der ihm zustimmen oder wenigstens die Ironie des Schicksals würdigen sollte. Es kam keine Reaktion.

»Oh, Randa, ich bin völlig durcheinander.« In den ganzen höheren Klassen hatte ich gehofft, wir würden zusammen an die Uni gehen. Und als ihre Noten nicht gut genug waren, hatte ich gehofft, sie würde es noch mal versuchen und ein Jahr später nachkommen. Ich hatte geträumt, wir wären zusammen, und sie würde Anwar kennenlernen und endlich auch wissen, was die Front war.

»Ich kann ja nach dem Abitur wiederkommen.« Ein harter Ton lag in ihrer Stimme. Und auf einmal verloren der Flitter im Haar und das Lipgloss etwas von ihrem Reiz.

»Was meinst du dazu, Amîr?« Sie wandte sich erneut ihm zu, und ihre Stimme war fast schon schneidend und konzentriert.

Er zuckte die Schultern. »Warum nicht?«

»Genau, warum nicht?« Sie liess sich in ihrem Stuhl zurückfallen.

So, das war’s dann, sie war ihm egal. Es tat mir leid für sie, und dazu kam der Schock, dass sie fortgehen würde. Wollte sie jetzt mit mir zur Toilette gehen und weinen? Verzweiflung lag auf ihrem Gesicht.

»Komm, Omar, gehen wir tanzen«, sagte sie.

Es gab eine Pause, bis mein Bruder begriffen hatte, was sie sagte, und entschieden hatte, ob er seine Zigarette ausdrücken oder mitnehmen wollte. Ich starrte auf den Boden. Sie begaben sich auf die Tanzfläche und versperrten mir die Sicht auf Sundari und ihren Marine. Ich schaute ihnen nicht beim Tanzen zu und ergab mich stattdessen den süsslichen Gesängen der Bee Gees. Amîr sagte nichts, und ich trank meine Pepsi aus und biss auf den letzten Eisklümpchen herum. Ich wartete, bis die langsamen Songs zu Ende waren und Omar und Randa zurückkommen würden.

Nach der Party ging ich mit zu ihr. Omar brachte uns hin und fuhr dann zu einer anderen, diesmal privaten Party weiter – einer dubiosen Veranstaltung, an der er mich nicht dabeihaben wollte. Sie wurden zahlreicher, seine rätselhaften Eskapaden, und damit auch die Orte und die neuen Freunde, zu denen ich keinen Zugang hatte.

Randas Eltern hatten gerade Gäste zum Dinner. Um der Gesellschaft auszuweichen, gingen wir durch die Küchentür ins Haus, an den fieberhaft arbeitenden Dienstboten vorbei und über einen Fussboden, der von Frittieröl und Küchenabfällen ganz klebrig und rutschig war. Randas Zimmer im Obergeschoss war sauber, und die Klimaanlage blies sanft. Randa zog eine langärmlige Bluse über ihr rückenfreies Shirt. »Damit wir uns was zu essen holen können«, sagte sie. Ich zupfte meine Bluse aus meiner Hose, und obwohl der untere Teil ganz zerknittert war, bedeckte er wenigstens meine Hüften und machte meine Kleidung etwas schicklicher.

Randas Eltern waren ein wenig verrückt, fanden meine Eltern. Sie hatten aus England, wo sie studiert hatten und Randa geboren worden war, auch exzentrische englische Gewohnheiten mitgebracht. Sie gingen spazieren, luden zum Dinner mit Kartenspiel ein und hatten einen jungen Hund. Randas Mutter war eine der allerersten Professorinnen im Land. Darum war Randas Unvermögen, es an die Universität zu schaffen, eine herbe Enttäuschung. Und jetzt wollten sie sie nach England auf die Schule schicken – auch dies ein kühnes Unterfangen, denn nur wenige Mädchen gingen allein im Ausland studieren.

Die Erwachsenen hatten fertiggegessen und waren im Garten, wir mussten also nicht alle begrüssen und Konversation machen. Kurz bevor das Dienstmädchen im Speisezimmer abzuräumen begann, füllten wir unsere Teller mit Essen und verzogen uns wieder in Randas Zimmer. Sie hatte wohl Liebeskummer wegen Amîr und ass nicht viel. Ich jedoch putzte meinen Teller leer und ihren noch dazu.

»Hast du Sundari mit ihrem Marine gesehen?« Ich lachte. »Das wird allmählich ernst …«

»Stell dir vor, ich hab ihr Auto neulich auf dem Parkplatz vor dem Marine House gesehen.«

»Das soll wohl ein Witz sein?«

»Nein, und es war während der Siesta!«

Ich kreischte und Randa lachte. Sie wurde wieder sie selbst, und bald kicherten wir zusammen und hechelten alle aus der Disco durch (ausser Amîr, natürlich) – was sie anhatten, mit wem sie getanzt hatten und wie eng. Ich wartete, bis sie Amîr erwähnen würde, aber sie tat es nicht. Sie trug die leeren Teller in die Küche und sagte, sie werde ein Dessert mitbringen.

Allein in ihrem Zimmer, tat ich das, was Mama mir jahrelang vergeblich abzugewöhnen versucht hatte: Ich schnüffelte herum. Ich öffnete Randas Schränke und begutachtete ihre Schubladen. Ich fand ein Foto von uns beiden in der Schule in der gleichen Uniform – dunkelblaue Schürze und weisser Gürtel. Arm in Arm lächelten wir in die Kamera. Es war schön damals, Randa jeden Tag zu sehen; neben ihr in der Klasse zu sitzen, während der Stunden zu schwatzen und die Lehrer zu ärgern, Sandwiches auszutauschen und aus derselben Flasche Double Cola zu trinken.

Ich blätterte in einer Jackie7Time Magazine