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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-839-2
»Schon wieder neue Kundschaft«, kommentierte Dr. Bernd Schäfer lakonisch, als von draußen das Martinshorn zu hören war. Schon Sekunden später bog der Notarztwagen in die Auffahrt zur Kurfürsten-Klinik ein.
»Dann mal los«, meinte Schwester Monika und erhob sich, um in den Aufnahmebereich der Ambulanz zu gehen.
Seit mehr als sechs Stunden waren sie jetzt im Dienst – Dr. Adrian Winter, der Chef dieser Abteilung, sein Assistent Bernd Schäfer und die beiden Schwestern Monika und Juliane.
Juliane, eine kühle Blondine, war erst seit wenigen Wochen an der Kurfürsten-Klinik, doch alle mochten die ruhige und kompetente Kollegin gern.
Daß Juliane manchmal recht traurig dreinblickte, dafür hatten alle Verständnis, denn inzwischen hatte sich herumgesprochen, daß die junge Frau einen schweren Schicksalsschlag erlitten hatte. Ihr Mann, ein bekannter Archäologe, war seit einem halben Jahr im Amazonasgebiet verschollen. Es gab nicht das geringste Lebenszeichen von ihm – wenn man von einer Mappe mit Aufzeichnungen absah, die ein deutscher Missionar in einer kleinen Siedlung gleich am Fluß gefunden hatte.
Mehrere Suchtrupps waren losgeschickt worden, doch es gab nicht die geringste Spur des Mannes, der sich von seiner kleinen Expedition abgesondert hatte, um drei Tage lang mit einem Eingeborenen zu einer angeblichen Kultstätte der Amazonas-Indianer zu fahren.
Sein Expeditionskollege Oliver Kuhnert hatte ihm dringend von diesem Alleingang abgeraten, doch Harald Steffens, ein besessener Forscher, war nicht von seinem Vorhaben abzuhalten gewesen.
Und nun wartete seine junge Frau Juliane schon seit einem halben Jahr auf ein Lebenszeichen von ihm!
Seit knapp drei Monaten lebte die aparte Blondine mit ihrem vierjährigen Töchterchen Tanja in Berlin. Hier wohnten ihre Eltern, die sich tagsüber um das kleine Mädchen kümmerten, während Juliane als Krankenschwester an der Kurfürsten-Klinik arbeitete.
Sie war eine sehr gute Pflegerin, das bewies sie auch jetzt wieder, wo ein Mann eingeliefert wurde, der bei einem Unfall in einer Fabrik schwer verwundet worden war. Eine Explosion hatte ihm drei Finger seiner linken Hand abgetrennt, außerdem hatte er Verbrennungen im Gesicht und am Hals erlitten.
»Sieht nicht gut aus«, kommentierte Dr. Schäfer, der den Kranken einer ersten Untersuchung unterzog. »Die drei gebrochenen Rippen sind harmlos, die Brandwunden zum Glück nicht so tief. Aber der Arterienriß am Arm macht mir Sorgen. Und natürlich die weggerissenen Finger.«
»Die hat der Notarzt zum Glück mitgebracht.« Schwester Juliane wies auf eine Plastiktüte, in der die drei gekühlten Fingerglieder lagen.
»Kann mal jemand oben im OP 1 anrufen und nachfragen, wie lange Adrian Winter noch braucht mit seiner Magenoperation?« Dr. Schäfer sah sich nach Schwester Monika um, die schon den Hörer am Ohr hielt. »Sag ihm bitte, daß ich mir das hier allein nicht zutraue. Und ob sich so schnell ein Gefäßchirurg auftreiben läßt…« Er machte eine vage Handbewegung.
»Soll ich mal bei Dr. Rollert daheim anrufen? Vielleicht haben wir Glück«, schlug Schwester Monika vor. Dr. Rollert war ein stattbekannter Spezialist auf dem Gebiet der Gefäßchirurgie, und die Kollegen der Kurfürsten-Klinik hatten schon häufiger mit ihm zusammengearbeitet.
»Das wär zu schön, um wahr zu sein«, gab Dr. Schäfer zurück und untersuchte bereits die große Wunde am Arm, die der Notarzt nur notdürftig verbunden hatte.
Wenige Minuten später kam Monika mit der Nachricht zurück, daß Dr. Rollert auf einem Fachkongress in Wien war.
»Und was ist mit Adrian?« wollte Dr. Schäfer wissen.
»Der kommt jeden Moment«, erwiderte Schwester Juliane, und wie aufs Stichwort betrat Adrian Winter auch schon den Raum.
Die beiden Ärzte brauchten nicht viel zu reden, beiden war klar, daß es ihnen nur mit sehr viel Glück gelingen würde, die Finger wieder anzunähen. Da sie nicht gerade abgetrennt, sondern durch die Explosion abgerissen worden waren, gab es keine glatten Wundränder.
»Na, wir werden unser Bestes tun«, meinte Adrian. »Was macht die Arterie?«
»Die ist genäht, alles in Ordnung«, erklärte sein Assistenzarzt. »Das hab’ ich gleich hier unten gemacht, um einen noch größeren Blutverlust zu vermeiden. Der Notarzt hatte auch schon gute Vorarbeit geleistet.«
»Na, dann wollen wir sehen, was wir noch für den armen Kerl tun können.«
Bereits zehn Minuten später lag der Patient im OP 2, und Dr. Winter und Dr. Schäfer versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um ihm die vollständige Gesundheit zurückzugeben.
Schwester Juliane säuberte unterdessen zusammen mit einer ungelernten Hilfskraft den Untersuchungsraum. Gerade war sie damit fertig, als das Telefon klingelte.
Ihre Mutter war am Apparat und sagte mit sorgenvoller Stimme: »Tanja geht’s gar nicht gut, Juliane. Vater und ich machen uns die größten Sorgen um sie. Seit drei Stunden hat sie stetig steigendes Fieber. Und als ich eben nach ihr schaute, war sie kaum noch ansprechbar.«
Juliane zuckte zusammen. »Aber das ist doch unmöglich«, stieß sie hervor. »Als ich zum Dienst ging, war sie doch noch ganz munter!«
»Stimmt«, erwiderte ihre Mutter. »Aber kaum warst du weg, begann sie zu quengeln. Na ja, das kennt man ja bei kleinen Kindern – irgendwas sitzt schief, sonst fühlen sie sich unwohl. Ich hab’ ihr einen leichten Fencheltee gekocht, ihr was vorgelesen und eine Wärmflasche auf den Bauch gelegt.« Sie seufzte hörbar auf. »Leider hat nichts geholfen.«
»Ruf einen Arzt«, schlug Schwester Juliane vor. »Oder, noch besser, bring Tanja her. Das ist bestimmt am gescheitesten. Die Ärzte hier sind alle sehr kompetent, gewiß läßt sich hier in der Ambulanz am raschesten abklären, was der Kleinen fehlt.«
»Wenn du meinst…«, sagte ihre Mutter zögernd.
»Glaub mir, Mutti, das ist das Beste. Wickle Tanja in eine warme Decke und ruf ein Taxi für euch… Ich warte!«
Nach einem schnellen Gruß beendeten sie das Gespräch, und für Schwester Juliane begann eine halbe Stunde bangen Wartens…
*
»So, das wäre geschafft. Bin gespannt, was der Galerist dazu sagt!« Die junge Frau trat ein paar Schritte zurück und sah sich das Bild, das sie eben vollendet hatte, aus schmalen Augen an. Es zeigte eine abstrakte Landschaft, und die Farbe Gelb dominierte.
»Das ist gut. Es erinnert an ein Rapsfeld in der Sonne.« Ihr Freund, der Rennfahrer Jonas Johannsen, lachte. »Fehlst nur du als Zentralfigur, mein Darling.«
Susanne Burgmer winkte ab. »Du hast wirklich keine Ahnung von Kunst, Jonas«, sagte sie. »Wenn ich anfinge, kleine Männchen in meine Bilder zu malen…«
»Kleine schöne Mädchen sollst du malen«, korrigierte er sie und griff spielerisch nach ihrer Hand. »Das würde mir gefallen.« Er tat, als wäre dies eine spontane Eingebung. »Mal mir ein Bild von dir«, sagte er. »Ein Porträt. Ich zahle auch, ich kann’s mir leisten. Der Vertrag bei der neuen Firma ist hervorragend.«
»Ich weiß, du hast es mir oft genug gesagt.« Ein wenig Ungeduld schwang in Susannes Stimme mit. Es nervte sie in den letzten Wochen sehr, daß Jonas seine eigenen Interessen, ja, seine eigene Person viel höher bewertete als sie – oder gar die Angelegenheiten, die nur sie, Susanne, betrafen.
Wenn er etwas wollte, wurde das gemacht. Seine Termine waren viel bedeutsamer als ihre. Daß sie die erste große Ausstellung hatte – und dazu noch in einer namhafter Berliner Galerie – das bewegte ihn kaum. Er sah sich die Bilder an – und vergaß sie im nächsten Moment auch schon wieder. Er konnte, das mußte die junge Malerin einsehen, mit ihrer Kunst nichts anfangen.
Susanne seufzte unterdrückt auf. »Wärst du so nett und würdest mich eben zur Bugenhagenstraße fahren?« bat sie dann. »Die letzten drei Bilder müssen noch aufgehängt werden. Und das hier… es ist zwar noch ganz frisch, aber ich würde es gern mitnehmen. Es paßt exakt zu den fünf Bildern, die ich in der Provence gemalt habe und die so gut angekommen sind.«
»Meinetwegen.« Jonas erhob sich lässig und griff nach der Lederjacke, die er über die Sessellehne gelegt hatte. »Danach gehen wir aber endlich mal wieder schick essen, ja? Wir waren seit drei Tagen nicht aus.«
»Ich weiß.« Susanne trat zu ihm und gab ihm einen raschen Kuß. »Aber versteh doch, daß ich unbedingt fertig werden mußte.«
»Ja, ja, schon gut. Wir fahren gleich los, du gibst deine Bilder ab, dann geht’s raus zum Wannsee. Da soll ein neues kleines Lokal eröffnet haben mit exzellenter japanischer Küche.«
»Darf ich mich wenigstens vorher noch duschen und umziehen?« fragte Susanne herausfordernd. Sie war nervös, denn die bevorstehende Eröffnung ihrer ersten großen Ausstellung war eine Herausforderung. Und es gab noch so viel zu tun und zu bedenken, bis es soweit war! Erst vor fünf Tagen hatte der Galerist noch ein weiteres Bild aus der gelben Periode bestellt, und er überraschte Susanne jeden Tag mit neuen, ausgefallenen Ideen.
Sie mußte ihm vertrauen, mußte sich ganz auf ihn einstellen, denn er hatte in der Branche einen guten Namen, und sie, die unbekannte junge Künstlerin, mußte es sich zur Ehre anrechnen, daß er ihre Bilder ausstellte.
»Aber Darling, du weißt doch, daß ich dir alle Zeit der Welt lasse.« Jonas Johannson lehnte sich wieder auf dem hellen Ledersofa zurück und schlug die Beine lässig übereinander.
Jonas war von Beruf Rennfahrer, ein sehr erfolgreicher sogar, und wenn er ein paar Tage frei hatte, konnte er absolut entspannen und abschalten. Man sagte, dies sei mit ein Teil seines überragenden Erfolgs – diese Fähigkeit, zu relaxen, ganz in sich zu versinken oder in totaler Ablenkung Entspannung zu suchen.
Susanne hatte den Mann vor knapp einem Jahr kennengelernt, als sie an der italienischen Riviera Urlaub machte. Jonas war zu den Renntagen von Monaco an der Cote d’Azur gekommen.
Sie waren sich am Strand begegnet – und es hatte sofort gefunkt. Seit dieser Zeit waren sie ein Paar, und es passierte immer häufiger, daß Susannes Name mit dem des erfolgreichen Rennfahrers in Verbindung gebracht wurde.
Manchmal, in Stunden der Angst und der Zweifel, fragte sich die junge Malerin sogar, ob der Galerist überhaupt auf sie aufmerksam geworden wäre, wenn sie nicht Jonas’ Freundin wäre. Aber diese Überlegungen verwarf sie rasch wieder. Sie war gut, das wußte sie. Sie hatte eine fundierte Ausbildung, war kreativ und hatte einen gefälligen und dennoch eigenwilligen Stil.
Jetzt mußte nur noch der Durchbruch kommen!
Eine halbe Stunde später war sie geduscht und umgezogen. Statt des langen T-Shirts und einer fleckigen Jeans trug sie jetzt einen eleganten hellgrauen Hosenanzug, der ihre schlanke Figur dezent betonte. Das braune, leicht gewellte Haar fiel locker und glänzend bis auf die Schultern, und ein dezentes Make-up ließ ihren Teint schimmern.
»Bildschön«, kommentierte Jonas und nahm sie kurz in den Arm. »Alle werden mich um dich beneiden.«
Susanne lachte. »Unsinn! Alle werden dich umringen und um Autogramme bitten. Und die Teenager – die weiblichen vor allem – werden deinen Namen kreischen und dich anhimmeln.«
»Ach was«, winkte der Mann ab.