image

Surk-ki Schrade

Natürlich
WEIN

Ungefiltert, ungeklärt, ungeschönt –
alles über Naturwein, Pet Nat und Co.

image

Inhalt

Vorwort / Aperitif

image

Was ist Wein?

Weinsozialisierung

Wirtschaftsfaktor Wein

image

Wie wird Wein hergestellt?

Farben und Geschmacksrichtungen

Qualitätskategorien in Deutschland

ERZÄHL DOCH MAL … Hubert Lay

(Erlaubte) Herstellungsverfahren

image

Was geschah bisher?

Eine kleine Wein-Chronik

Konventionell, bio oder biodynamisch – über Weinanbaumethoden

ERZÄHL DOCH MAL … Rudi Trossen

Die Kuhhörner und der ganze Mist

ERZÄHL DOCH MAL … Bianca Schmitt

Weinqualität früher und heute

image

Naturwein in Frankreich

ERZÄHL DOCH MAL … Pierre Overnoy

image

Naturwein in Deutschland

Eine Frage der Zeit?

Wo findet man ihn?

image

Essen & Trinken

Essers Krautfleckerl »Tante Jolesch«

Nobelhart & Schmutzig: Knollensellerie in Holzöl von der schwarzen Johannisbeere

Heinrich sein Enkel & Vin Pur: 2 Quiches – 2 Füllungen

Bistro Fatal: Saucisses de Montbéliard & Salade de lentilles vertes

Origine Kiosque: Hachis Parmentier de boudin noir mit Mesclun-Salat

Wie trinkt man ihn?

Die Weinprobe

image

Fragen über Fragen

image

Naturwein – ein Blick in die Zukunft

ERZÄHL DOCH MAL … Gilles Azzoni

Der Klimawandel

Frauen in der Szene

image

Nachwort / Digestif

Winzer*innen in Deutschland

Naturweinhandel und -gastronomie in Deutschland

Weiterführende Links und Literatur

Quellenangaben

Bildnachweis

Über die Autorin / Dank

Impressum

image

Vorwort / Aperitif

Das Wort »Naturwein« ist seit 1971 ein für Wein in der Vermarktung und Bezeichnung verbotener Begriff. Er wird hier im Buch weiter als die Kurzfassung des Begriffes »naturbelassener Wein« benutzt.

Wein begleitet mich als alkoholisches Getränk mein Leben lang. Auf Jugendfreizeiten durfte ich schon mal Sangria probieren, in Urlauben in Südfrankreich stand er in Rot oder Rosé neben Leitungswasser auf dem Tisch. Auch im Erwachsenenalter blieb er mir treu. 2008 erfuhr ich auf einer Weinmesse in Marseille von Unterschieden in der Herstellung und deren Hintergründen, von denen ich bis dato nichts gewusst hatte. Mein Glauben, seit jeher vergorenen Traubensaft getrunken zu haben, war erschüttert. Ich bin ein kritischer Mensch, stelle gerne Dinge infrage. Als ich mich dann in der Weinwelt erkundigte, stieß ich sehr bald auf Widerstand. Meine Fragen nach Zusatzstoffen und Hilfsmitteln waren den meisten Fachhändlern neu, sie hatten keine Antworten. Ich erfuhr durch Recherche, dass Wein ein Genuss- und kein Lebensmittel ist, daher müssen die Zusatzstoffe nicht auf dem Etikett stehen. Man erklärte mir, was ein guter Wein sei, ich verstand es nicht. Man erzählte mir von Parker-Punkten und dass die gut seien. Ich sah ein Interview mit Robert Parker und fragte mich ernsthaft, woher dieser Mann wissen wollte, was mir schmeckt und was nicht. 2009 holte ich meine erste Palette sogenannten Naturweins – von Frankreich nach Deutschland und eröffnete La Vincaillerie in Köln, einen der ersten Naturweinläden in Deutschland.

Da ich weder einen Sommelierkurs besucht, noch Biochemie oder Oenologie studiert hatte, war mein Lernen bestimmt durch ein stetes Frage-Antwort-Spiel und viel Probieren.

Durch die Auseinandersetzungen mit Menschen aus der herkömmlichen Weinwelt vertiefte ich mich immer mehr in das Thema im fachlichen, sozialen und politischen Sinne. 2015 organisierte ich die erste deutsche Naturweinmesse Weinsalon Natürel in Köln, die 2020 in die sechste Edition gegangen wäre. Seit 2018 boomt die Naturweinwelt in Deutschland. Ob Winzer*innen oder Händler*innen, alle suchen und finden ihren eigenen Weg. Dieses Buch stellt die meisten vor, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, die es nicht geben kann. Diese Welt verändert sich so schnell wie Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren. Ich versuche hier also eine Momentaufnahme mitsamt Historie und Zukunftsvisionen. Naturweininteressierte finden hoffentlich eine bessere Orientierung und bei sich um die Ecke eine Quelle oder eben den Online-Shop ihres Vertrauens.

image

image

Wie war Wein vor 8.000 Jahren und was ist mit ihm im Laufe der Jahrhunderte passiert? Gibt es den guten Wein überhaupt? Diese Fragen stellen sich, sobald man nur ein wenig genauer herangeht. In diesem Buch werden Antworten gegeben und jede*r Leser*in ist eingeladen, sich weitere Fragen zu stellen und dabei ungeniert das nächste Glas Wein zu genießen. Mit zunehmendem Wissen und Probiererfahrungen wächst die Neugier auf dieses Getränk. Die Zuversicht, sich auf seine Sinne verlassen zu können, öffnet Türen ins Unbekannte, gelenkt von der ewig geltenden Prämisse: Hauptsache, mir schmeckt es!

Die Werkzeuge zur Beurteilung von Wein sind die eigenen Sinne. Diese zu entstauben und zu aktivieren, war eine sportliche Übung, in der ich mittlerweile Kondition habe. Das Schwierigste war, mich von Meinungen anderer frei zu machen. Bis heute behaupte ich, nicht objektiv schmecken zu können, da dies ein Widerspruch in sich ist. Denn wenn es etwas gibt, was subjektiv ist und bleibt, ist es der eigene Geschmack. Für mich ist der auch immer richtig. Niemand kann falsch schmecken, wenn er oder sie nicht gerade verschnupft ist oder dergleichen. Seine Sinne, die Werkzeuge, hat jeder gesunde Mensch immer bei sich.

image

Warum trinken wir Wein? Wir erleben mit jeder Flasche Momente der Geselligkeit, der Gastfreundschaft mit gutem Essen. Wir lassen alle Fünfe gerade sein und leben den Augenblick. Wir trinken auch, um uns zu berauschen, um der Zeit zu entgehen, Stress zu bewältigen, wir klinken uns also mit einem Glas Wein aus dem Funktionieren aus.

Dieses Buch verfolgt daher nicht den Anspruch, aus seinen Leser*innen Biochemiker*innen oder Önolog*innen zu machen. Der Versuch besteht darin, Wein einfach zu erklären. In manchen Erklärungen werden Fachleuten die Details fehlen, auf die hier bewusst verzichtet wird, um einen neuen Zugang zu erleichtern. Die Strategie, Wein als etwas Unaussprechliches oder nicht Begreifbares, zu Kompliziertes darzustellen, haben schon sehr viele andere Bücher verfolgt. Wer nach speziellerem Wissen sucht, findet Verweise auf Literatur oder Links, wo die Themen vertieft werden.

Das vorliegende Werk behandelt Wein im Allgemeinen, in seiner Historie, nennt aktuelle Fakten. Der Status Quo der Weingesetze im Vergleich zu den noch nicht festgeschriebenen Regeln des Naturweins zeigt den momentanen Umbruch: Die Definition von Weinqualität braucht einen neuen Anstrich. Die hier genannten Definitionen sind legitim und Zeugnisse der Geschichte, jegliche Entwicklungen und Veränderungen bis heute lassen sich an ihnen ablesen. Durch Naturwein wird es weitere geben, was nicht bedeutet, dass die alten Definitionen falsch sein müssen.

Ich selbst habe in der Recherche viele Fachbücher, Podcasts, Videos und andere Quellen durchforstet. Alle behaupten, Recht zu haben, setzen Meinungen in die Welt und haben die Wahrheit gepachtet. Denn Wein ist kompliziert, vielfältig, international, historisch, regional, traditionell, kulturell, eine chemische Wundertüte.

Und naturbelassenen Wein könne es schon deshalb gar nicht geben, behaupten viele, weil ungeschwefelter Wein weder stabil noch lagerfähig und nach einer Stunde im offenen Glas schon ungenießbar sei. Da heißt es etwa, man habe im Bordeaux studiert und wisse, dass jeder Wein mindestens 80 Milligramm Schwefel pro Liter brauche. Dies ist nur ein Beispiel dafür, was ich mir in den ersten Jahren anhören musste. Da ich eine Frau bin, wurde ich oft von Männern in der Weinwelt als Dummchen hingestellt, das nichts verstanden hatte. Auch an den Hochschulen wird über Naturwein noch nicht gesprochen, geschweige denn doziert. Doch er existiert, die Wissenschaft hängt nur etwas hinterher, weil seine Lobby noch zu schwach für bezahlte Studien ist.

Jede*r Weinliebhaber*in hat eigenes Wissen über Wein. Schließlich sind die Regale in Buchhandlungen und Bibliotheken voll von Schriften über die edlen Tropfen. Jetzt kommt noch ein Buch hinzu, allerdings mit einer anderen Einstellung. Wie im Film versetzen wir die Kamera ein wenig zur Seite und betrachten die Sache aus einem anderen Blickwinkel

image

PARKER, ROBERT: Als Weinjournalist und Kritiker hat er mit seinem Punktesystem ein weltweites Maß zur Preisbildung und Weinqualität auf dem Weinmarkt geschaffen.

SOMMELIER*IN: eine Weinkellner*in, zuständig für den Weineinkauf, die Lagerung, die Weinkarte und den Weinservice

OENOLOGIE: die Weinwissenschaft, kommt von »oenos« – Wein auf Altgriechisch

SCHWEFEL: hier genauer SO2 – Schwefeldioxid. Schwefel ist ein natürlicher Stoff, der auch in unserer Verdauung frei wird – nichts Schlimmes. Schwefel wirkt als Stabilisator und Antioxidans. Siehe auch Seite 135.

Was ist Wein?

Wenn ich bei Weinproben in die Runde frage, was unter Wein zu verstehen ist, lauten die Antworten von »vergorener Traubensaft« bis hin zu poetischen Exkursen à la »nachmittags, Sonne, gute Unterhaltung, der schöne Gedanke, dass der Tag noch einige Stunden übrig hat«. Frei nach dem Spruch »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« aus Wittgensteins Tractatus logico philosophicus (1963) geht es also zunächst darum, eine Definition von Wein festzulegen, um über ihn schreiben zu können. Im Allgemeinen spricht man von Wein als alkoholischem Getränk aus Trauben. Er kann aber auch aus anderen Früchten hergestellt werden, am bekanntesten ist wohl der Apfelwein aus Hessen. Die Definitionen und Vorstellungen variieren, je nachdem, wo man sich geografisch befindet. Daher lohnt ein Blick in die Gesetzbücher.

In der EU-Verordnung Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 steht auf Seite 200: »Der Ausdruck ›Wein‹ bezeichnet das Erzeugnis, das ausschließlich durch vollständige oder teilweise alkoholische Gärung der frischen, auch eingemaischten Weintrauben oder des Traubenmostes gewonnen wird.« (Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 / eur-lex.europa.eu)

In dieser einfachen Definition sind Begriffe enthalten, die man schon nachschlagen müsste. Im zweiten Teil der Verordnung werden schon Ausnahmen gemacht: »nach etwaiger Anwendung der in Anhang VIII Teil I Abschnitt B genannten Verfahren einen vorhandenen Alkoholgehalt von mindestens 8,5 % vol – wenn der Wein ausschließlich aus in den Weinbauzonen A und B gemäß der Anlage I zum vorliegenden Anhang geernteten Trauben gewonnen wurde – und von mindestens 9 % vol bei den anderen Weinbauzonen«. (eur-lex.europa.eu, siehe Seite 8) Anbauregionen werden in Zone A, B und C von Norden nach Süden klimatisch unterteilt. Und schon ist die EU-Definition nicht mehr allgemeingültig. Denn es macht wohl einen Unterschied, ob beispielsweise 8,5 oder 9 % Alkohol erlaubt sind. Je nach Gebiet und Deklarierung sind bestimmte Parameter vorgeschrieben, Verordnungen regeln den Alkoholgehalt oder die Zuckerzugabe. Je nach Gebiet und je nach Deklarierung der Weine sind bestimmte Parameter erlaubt oder nicht. Dass dem so ist, liegt in der langen kulturellen Tradition des Weins und seiner klimatischen Bedingungen begründet. Da beide Aspekte nicht statisch sind und sich im Laufe der Zeit ständig verändern, verändern sich mit ihnen auch die Verordnungen und Gesetze. Sie passen sich an, so wie es mit allen Verordnungen und Gesetzen passiert, die unser Menschenleben auf der Erde regulieren. Daher laufen sie natürlicherweise der Zeit auch immer etwas hinterher.

Um über Wein zu sprechen, ist es essenziell, sich zu positionieren. Man kann dies in Bezug auf seine über 8.000-jährige Geschichte tun, ihn seiner Herkunft nach mit anderen Regionen oder Ländern vergleichen oder aber nach aktuellen Punktevergaben und Medaillen gehen. Wenn es darum geht, einen Wein als gut oder schlecht zu betiteln, ist es wichtig zu erwähnen, in welchem Vergleich, nach welcher Definition man dies tut.

ALKOHOLISCHE GÄRUNG ist der chemische Prozess, in dem Hefen vorhandenen Zucker zu Alkohol verwandeln (und Kohlensäure). Wenn die Hefen nicht als Reinzuchthefen zugesetzt werden, sondern aus dem Weinberg kommen und auf der Traube sind – nennt man das eine Spontangärung.

EINGEMAISCHTEN, MAISCHE: einfacher – die Matsche – Beeren, ggfs auch die Stiele (die Rappen), mit dem schon ausgetretenen Saft. Einmaischen heißt es, wenn man genau das tut, also einmatscht. Maischestandzeit ist die Zeit, die vor dem Pressen vergangen ist, wie lange war der »skincontact«, also der Hautkontakt mit dem Saft.

TRAUBENMOST ist der Traubensaft aus dem dann der Wein gemacht wird.

ZONE A, B UND C:

Europa ist für die Weinanbauregionen in diese drei Zonen unterteilt worden. Die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen sind der Grund dafür.

Zone A ist die nördlichste und umfasst in Deutschland alle Gebiete außer Baden.

Zone B ist schon etwas südlicher, mit zum Beispiel Baden, Österreich und nördlichen französischen Regionen.

Zone C ist der Süden Europas. Der wurde dann noch einmal in verschiedene Zonen unterteilt, da auch da die klimatischen Bedingungen sich unterscheiden.

ZUCKERZUGABE, CHAPTALISIEREN: meint, was es heißt. Man darf in den Wein ganz normalen Zucker (oder andere Süßungsmittel) reintun, um den Alkoholgehalt um 4 % zu erhöhen (je nach Gebiet). Den Hefen, egal ob Reinzucht oder nicht, ist es egal, welchen Zucker sie in Alkohol verwandeln. Erforscht hat das der Chemiker Jean-Antoine Chaptal im 19. Jahrhundert.

WEINSOZIALISIERUNG

image

Wo wurde man selbst »weinsozialisiert«? Eine zunächst komisch klingende Frage, es lohnt aber, dieser nachzugehen. »Ich trinke nur Weine aus Italien« – »Nein, ich trinke nur Merlot.« Die Entscheidungen für die eine oder andere Sorte liegen oft im sozialen Gefüge. Der eine hat ein Ferienhaus im Ausland und holt sich mit einer Flasche von dort ein Stück Urlaub in die düstere Heimat. Die andere wächst in einem Weingebiet auf, Reben drum herum, so weit das Auge reicht, und bleibt dort verwurzelt. Der Nächste trinkt auf jeden Fall etwas anderes als seine Eltern, aus Abnabelungsgründen.

Die eigene Weinvorliebe lässt sich mit einer Art Verein vergleichen: Je nach dem, was man trinkt, gehört man zu einem Kreis mit eigenen Spielregeln. Ob Frankophile, Alt-68er oder Hipster – die Mitglieder definieren sich und ihre Freunde über ein bevorzugtes Getränk. Die Gruppendynamik bestimmt das Anrecht auf Zugehörigkeit und Mitspracherecht. Fatal wird es, wenn man sich seiner Gruppe nicht bewusst ist oder durch Mitmenschen hineingezogen wird, ohne das selbst entschieden zu haben.

image

DIE VINO-TRINKER*INNEN: Vino ist das italienische Wort für Wein. Auch in Deutschland spricht man von »amore«, »passione« und »la dolce vita« und meint die großen Gefühle. Eine hochgegriffene Erwartung an ein Getränk. Verbunden wird sie mit Urlaub, Ferien, Sonne, Meer, Aperitivo, leichter Kleidung und einer lauen Brise, die sanft durchs Haar weht. Kurzum, das absolute Gegenteil davon, was jeder von uns in seinem Alltag lebt. Vino steht für Flucht, Auszeit und Nichtdeutsch.

DIE »PETIT-ROUGE«-TRINKER*INNEN: Viele Alt-68er sind früher gern durch Südfrankreich getrampt. Rotwein aus dem Zapfkanister ist eine echte Waffe gegen den Kapitalismus und der Liter darf nicht mehr als 2 Euro kosten, so wie damals in jenem kleinen Dorf bei der Kooperative. Dass Zeiten sich ändern und ein 2-Euro-Wein heute kein Dorf mehr ernährt, wird gerne ausgeblendet. Bordeaux ist gleich Snobismus und daher verpönt. Alternativ zum kleinen Ballonglas geht auch das mallorquinische Weingläschen, das wie ein Wasserglas aussieht. Denn das Weinglas mit Stiel gehört in die Bonzen-Ecke.

DIE PUNKTE-JONGLIERER*INNEN: In der Weinwelt herrschen Rankings, die berühmtesten sind die erwähnten Punkte von Robert Parker. Er hat sich in den 1990ern als internationaler Weinkritiker etabliert und führt nun sein System als Markenzeichen, er selbst arbeitet nicht mehr, er lässt arbeiten. Seine Macht reichte eine Weile lang bis zum Bankrott mancher Güter, wenn sein Daumen nach unten ging. »Der Wein hat 96 Parker-Punkte, dann muss er ja gut sein.« Hier lautet die Spielregel: blindlings glauben, nicht infrage stellen, trinken und behaupten, es schmecke großartig. Erst wenn man sich die Mühe macht, solche Weine unbeeinflusst selbst zu beurteilen, und dann erfahrungsbasiert zu dem Schluss kommt, dass sie einem wirklich schmecken, können die Parker-Punkte Orientierung geben. Wer mitreden will, sollte das ausprobieren. Mehr dazu und gut zusammengefasst unter www.webweinschule.de.

DIE LAGENBEZEICHNER*INNEN: Gerade in Deutschland unterscheidet man Weine nach deren Lage, also der geografischen Stelle, wo die Trauben wachsen. Sie heißt mal Hölle, mal Sonnenberg, hier Brotwasser, dort Pulvermächer oder Feuerstein, von Schlossberg bis Sonnenuhr gibt es unzählige mehr. Worin sich Lagen unterscheiden, wird ab Seite 68 untersucht.

DIE SAMMLER*INNEN: Hauptsache besitzen, ist hier das Motto. Man mietet sich vielleicht ein Fach in einer »Winebank«. Solche Orte bieten die richtigen Lagerbedingungen. Man führt Listen über die Schätze und ja, manchmal öffnet man auch einen. Vorrangig geht es aber darum, Weinflaschen wie Kunst zu behandeln. Je rarer, desto teurer, desto wertvoller. Wenn dann auf dem Etikett sogar noch handschriftlich so etwas steht wie »N° 67 von 376«, weiß man, dass es maximal noch 375 andere Flaschen von diesem Jahrgang auf der ganzen Welt gibt und das verschafft einem ein gutes Gefühl.

DIE ETIKETTENTRINKER*INNEN: Wem der ganze Schnickschnack um Rebsorten, Herkunft und Qualität zu undurchsichtig und wenig verständlich ist, der greift oft auch zu schönen Etiketten. Schön ist wieder Geschmackssache. Ob klassisch à la Château mit Schnörkelschrift, schlicht und modern oder extravagant künstlerisch gestaltet – Etiketten sind Kaufmagneten. Das haben Marketingagenturen erkannt und toppen sich gegenseitig darin, Lebensgefühle durch Humor und Wortspielereien zu vermitteln. Und tatsächlich schmeckt der Wein dann wegen des Etiketts meistens gut.

DIE KRITIKEN-LESER*INNEN: In einer Zeitschrift oder in einem Magazin wird ein Wein empfohlen, also wird er gekauft. Wer diesen Beitrag geschrieben hat, weiß man erstmal nicht, kennt diesen Menschen nicht persönlich. Dazu muss man wissen, dass bei bestimmten Presseerzeugnissen Weingüter dafür bezahlen müssen, dass ihre Produkte überhaupt besprochen und verpunktet werden. Wie bei Literatur- oder Filmkritikern empfiehlt es sich, über einen längeren Zeitraum stichprobenartig kritisch zu testen, ob man die Sprache, den Geschmack, den Stil der Weinempfehlung nachvollziehen kann und sich darin wiederfindet.

DIE WEINHÄNDLER-TREUEN: Weinhändler*in, Hausärzt*in oder Anwält*in – sie alle zählen zum Sammelsurium an notwendigen Menschen, die das eigene soziale Leben bereichern können. Den kleinen Laden im eigenen Viertel unterstützt man gerne. Man kennt sich schon länger, hat auch schon mal zusammen Weine probiert, ein Vertrauensverhältnis wurde aufgebaut. Man schätzt die Fachberatung und lässt sich gerne auch mal auf eine neue Geschmacksrichtung ein. Gute Händler*innen holen ihre Kunden*innen ab und orientieren sie je nach Neugier und Vorlieben. Da ist man gut aufgehoben, braucht allerdings etwas Zeit zum Kennenlernen.

DIE NATURWEINTRINKER*INNEN: Manche langweilen sich in der normalen Weinwelt und wollen geschmacklich überrascht werden, andere achten auf alles, was sie konsumieren, und landen aus Nachhaltigkeitsgründen beim Naturwein. Allergiker*innen finden sich ein, die Schwefel oder andere Zusatzstoffe nicht vertragen und endlich wieder Wein genießen wollen, ohne dafür mit rotem Ausschlag im Dekolleté oder verstopfter Nase zu bezahlen. Diese Gattung ist neu und entwickelt sich weiter. Ihre Anhänger sind jung und alt, reich und arm, erfahrene Weintrinker oder Novizen. Eine Charaktereigenschaft haben sie gemeinsam: Sie sind neugierig. Jungen Menschen fällt der Zugang zu Wein über Naturwein leichter, da kein großes Wissen vorausgesetzt wird, der Gaumen noch nicht formatiert ist und die Szene eher gelassen und in Partystimmung daherkommt. Hier darf jede*r frei entscheiden, was schmeckt. Hier gibt es keine Lobby, keine Punkte oder Medaillen. Hypes in sozialen Medien feiern allerdings auch schon manche Weingüter und Weine wie Rockstars.

image

image

Naturwein ist … ist die spannendste, vielseitigste und konsequenteste Art von Wein.

image

– Johannes / frohnatur NATURWEINE

FAZIT

Jede Art des Weintrinkens bietet eine Orientierung in der Weinauswahl. Sicherlich existieren noch andere Charaktere und Mischtypen. Um mündig zu werden, empfiehlt sich eine bewusste eigene Entscheidung, in welche Richtung der Genuss gehen soll, eine selbst gefundene Definition, was man unter einem guten Wein für sich versteht, was man erwartet und was er denn können muss. Frei und je nach Neugierde und Wissensstand kann sich dann der eigene Geschmack auch immer wieder verändern und weiterentwickeln.

KOOPERATIVE oder auch »Cave cooperative« – so nennt man eine Winzergenossenschaft. Viele Weinbauern in einem Dorf, einer Gegend ernten Trauben, bringen diese an einen gemeinschaftlichen Ort, an dem dann der Wein für alle gemacht wird, und darüber hinaus auch verkauft wird.

WIRTSCHAFTSFAKTOR WEIN

So wie alle anderen Märkte wird auch der Weinmarkt durch die entsprechenden Marktführer reguliert. Diese sind natürlich nicht daran interessiert, bestehende Machtgefüge zu verändern. In vielen Artikeln von Tages-und Fachzeitungen konnte man lesen, dass über 80 % der Deutschen ihren Wein in Discountern oder Supermärkten kaufen. Dadurch bestimmen diese, was getrunken werden soll, und zwar das, was sie verkaufen wollen. Logisch, oder? Der Trend zu groß und günstig ist inzwischen so fortgeschritten, dass er sich in der geografischen Aufteilung der Weinbaubetriebe widerspiegelt. Viele kleine Hersteller haben aufgegeben oder sich aufkaufen lassen, weil sie mit der Konkurrenz preislich nicht mithalten konnten. Man sieht an der Gesamt-Rebfläche, dass sie immer noch bearbeitet wird, nur eben von großen Weingütern. Für die Discounter ist das natürlich einfacher und kommt ihnen entgegen: lieber nur ein paar große Betriebe, die Menge in gleichbleibender uniformierter Qualität liefern können.

Mit Wein wie auch mit Socken wird Geld verdient. Ein Blick auf die Umsatzzahlen für Deutschland:

Socken

imageDer Umsatz im Segment Socken & Strümpfe beträgt 2021 etwa 1.048 Mio. €.

imageLaut Prognose wird im Jahr 2026 ein Marktvolumen von 1.178 Mio. € erreicht; dies entspricht einem jährlichen Umsatzwachstum von 2,36% (CAGR 2021–2026).

imageUmgerechnet auf die Bevölkerungszahl werden in diesem Markt im Jahr 2021 etwa 12,49 € pro Kopf umgesetzt.

Wein

imageDer Umsatz im Segment Wein beträgt 2021 etwa 11.443 Mio. €.

imageLaut Prognose wird im Jahr 2025 ein Marktvolumen von 18.266 Mio. € erreicht; dies entspricht einem jährlichen Umsatzwachstum von 12,40% (CAGR 2021–2025).

imageUmgerechnet auf die Bevölkerungszahl werden in diesem Markt im Jahr 2021 etwa 136,39€ pro Kopf umgesetzt.

imageDer durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch beträgt rund 21,9 l im Jahr 2021.

Quelle: statista.com

Die Veränderungen zeigt die Statistik des Deutschen Weininstituts (DWI) auf Seite 16 deutlich.

Dass Qualität auch immer mit der zur Verfügung stehenden Quantität einhergeht, ist bei dieser Verkaufsstrategie selbstverständlich. Discounter würden nie einen Wein ins Sortiment nehmen, von dem es nur 5.000 Flaschen gibt.

image

Sie können aufgrund ihrer Vermarktungswege gar nicht mit kleinen Gütern arbeiten, sonst müssten sie wesentlich mehr Beschäftigte einstellen, die jeden Tag nach neuen Quellen suchen.

Ein Weineinkäufer einer großen Supermarktkette kam mal in meinen Laden und erkundigte sich, wie er für seinen Betrieb Naturwein einkaufen könnte. Die Durchschnittsgröße von Naturweingütern liegt bei acht Hektar. Sie machen im Schnitt 48 Hektoliter pro Hektar. Das sind 38.400 Liter jährlich, also knapp 51.200 Flaschen im Jahr.

image

Naturwein ist … anarchische Freude und Freiheit im Glas.

image

– Andreas / Die Weinbagaluten

Übersicht

Betriebe (ab 0,5 ha) mit bestockter Rebfläche 2010 und 2016

image

Zum Vergleich: Weingüter, die an Discounter liefern, produzieren im Jahr mehr als 1,5 Millionen Flaschen. Das rechnete ich ihm vor und fragte, wie viele Mitarbeiter er habe, um neue Weine zu bestellen. Meinen Vorschlag, er könne doch erstmal auf Bioweine umstellen, nahm er nicht an, denn die lägen nicht so im Trend wie Naturwein.

image

Für gut wird demnach befunden, was sich viel und überall verkaufen lässt – diese Weine können nur ein bestimmtes Maß an Individualität haben, sie müssen allgemein kompatibel sein. Das nennt man Mainstream. Daher frage ich in meinen Weinproben nach Trinkgewohnheiten. Bei Weißwein werden Riesling und Grauburgunder genannt, dann lange nichts. Etwa 15 % der Teilnehmenden können noch drei, vier andere Sorten nennen. Dieser Teufelskreis aus Einkaufsgewohnheiten und entsprechenden Anforderungen des Handels hat eine arme Eintönigkeit in dieser so reichen Weinwelt geschaffen.

Selbst der Riesling und der Grauburgunder, die sich auch auf Gastronomiekarten finden, sollen stets wiedererkennbar schmecken. Da sich immer weniger Menschen geschmacklich beraten lassen, zu Fachhändler*innen oder in spezialisierte Restaurants mit geschultem Personal gehen, müssen Weinbeschreibungen eindeutig sein und lassen wenig Platz für Vielfalt.

image

Sich darüber zu wundern oder gar erbost darüber zu sein, ist mühsam. Jede*r Weinkund*in kann stattdessen als Teil dieser Kette auf sie einwirken. Das fängt damit an, das Getränk besser zu begreifen, Angaben auf Etiketten zu recherchieren und zu verstehen, sich als Kunde*in zu erkundigen. Das heißt auch infrage zu stellen, was für einen selbst ein guter Wein ist.

Bei Aldi findet man zum Beispiel diese Weinbeschreibung: »Die Qualitätsbezeichnung ›Classic‹ wird ausschließlich bei Weinen aus gebietstypischen, klassischen Rebsorten von gehobener Qualität verwendet. Dieser charaktervolle Riesling erfüllt in vollem Umfang diesen Qualitätsanspruch. Weinstil: Weißwein still, Trinktemperatur: 9–11 °C, Geschmack: halbtrocken, Anbaugebiet: Rheinhessen oder Pfalz, Herkunft: Deutschland, Rebsorte: Riesling. Der Wein passt gut zu folgenden Speisen: Fisch, Meeresfrüchte, Pasta, vegetarisch, 0,75-l-Flasche.« (Produktbeschreibung Riesling Classic Rheinhessen/Pfalz QbA 0,75l / aldi-sued.de)

Das Portal wein.de des Verlags der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) erklärt die Qualitätsbezeichnung »Classic« so:

Sie ist seit 2000 in Deutschland zulässig für Weine aus gebietstypischen, klassischen Rebsorten von gehobener Qualität. Pro Anbaugebiet sind zwischen einer und acht Rebsorten festgelegt. Mit Ausnahme des württembergischen Trollinger mit Lemberger dürfen die Weine nur aus einer dieser Rebsorten gekeltert werden.

Zudem sind sie Jahrgangsweine, was eine Auswahl nach individuellen Geschmacksvorlieben ermöglicht. Classic-Weine sind gehaltvolle, trockene Weine, deren Restzucker nicht über 15 Gramm pro Liter liegen darf und deren Alkoholgehalt ein Volumenprozent höher sein muss, als die entsprechende Qualitätsstufe im jeweiligen Anbaugebiet definiert. Der Winzer sucht das ideale Verhältnis von Säure zu Zucker. Der Begriff ›Classic‹ ist EU-weit geschützt, die Preise von Classic-Weinen liegen im mittleren Preissegment.« (Erlaubte Typen- und Qualitätsbezeichnungen beim Wein / wein.de)

Bezeichnungen wie »Classic« werden angeblich für die Verbraucher*innen gemacht, allerdings wissen die wenigsten davon. Zudem nützt es ihnen wenig, wenn im Ungenauen bleibt, was unter gehobener Qualität zu verstehen ist.