Heinz G. Konsalik
Roman
Das große Haus war hell erleuchtet.
Breit, flach und lang stand es am Ufer des Rheins, der träge durch die Ebene floss. Seine Fenster leuchteten über das Wasser hin, über die gepflegte Wiese, die Rosenrabatten, das kleine Schwimmbecken mit den hellgrünen Kacheln und dem kleinen Park, der seitlich hinunter bis zum Ufer ging und die großen Glasflächen gegen Westen abschirmte. An der Auffahrt zur höher gelegenen Uferstraße hin stauten sich einige dunkle Wagen, milchig beschienen von den zwei kühn geschwungenen, modernen Laternen, die den Eingang des Hauses zierten.
Im Inneren, in der großen Eingangshalle, standen ein paar Männer in hellen Sommeranzügen, rauchten, betrachteten die Gemälde an den hohen Wänden oder saßen in den tiefen Sitzschalen und lasen. Eine merkwürdige Stille lag über ihnen, eine Bedrückung, die so gar nicht zu dem Glanz passte, den dieses Haus ausstrahlte, eine Dumpfheit, die wie ein Unheil durch die erleuchteten Räume zog.
Durch die Halle, aus der Bibliothek des Hauses kommend, trat jetzt ein Mann in einem schwarzen Anzug, begleitet von einem anderen, dicken und jovial aussehenden Herrn, bei dessen Eintritt eine spürbare Spannung durch die Wartenden zog. Er blickte sich um und winkte ab, als einer der Lesenden sich erhob und die Zeitung zusammenfaltete.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte er gedämpft, so, als könne seine normale Stimme jemanden stören. »Es ist noch nicht soweit. Er verlangt den Pfarrer.« Der schwarze Herr neben ihm sah sich um.
»Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie kommen können.«
Kriminalrat Dr. Werner nickte. »Ich möchte ihn ganz gerne noch einmal sprechen.«
»Wenn es möglich ist, werde ich es so einrichten.«
Der Pfarrer ging durch die Halle, vorbei an den stummen, wartenden Männern und öffnete eine Tür im Hintergrund. Für einen kurzen Augenblick sah man gedämpftes Licht, einen hellblauen Teppich und die Kante eines hellen Bettes. Dann schloss sich die Tür, vorsichtig, leise, ganz langsam zugezogen.
Dr. Werner lehnte sich gegen die getäfelte Wand und überblickte die Schar der stillen Männer.
»Er spielt uns den letzten Streich«, sagte er leise. »Seit dreiundzwanzig Jahren jage ich ihm nach, seit dreiundzwanzig Jahren suche ich ihn. Er war schon ein Alpdruck für mich, so, als wenn ich ein Phantom fassen wollte. Und jetzt habe ich ihn … und er rennt mir wieder davon. Und jetzt endgültig!« Er sah hinüber zu einem der Männer und winkte. »Haben Sie eine Zigarre bei sich, Schmitz?«
»Ja, Herr Kriminalrat.«
»Einen Fliegentöter?«
»Nee. Eine zu vierzig.«
»Ich lass’ mich überraschen. Na, geben Sie mal den Stängel her.«
Kriminalwachtmeister Schmitz reichte seinem Vorgesetzten die Zigarre, die er aus der Brieftasche holte, was Dr. Werner kopfschüttelnd vermerkte.
»Sie werden nie ein Zigarrenraucher, Schmitz. In der Brieftasche! Eine Vierziger! Sie hätten sich bei Ihrem Gehalt längst eine Zigarrentasche leisten können.«
»Am nächsten Ersten, Herr Kriminalrat.« Wachtmeister Schmitz grinste. Er gab Dr. Werner Feuer und wartete darauf, was er sagte. Da Dr. Werner schwieg, meinte er vertraut: »Ist sie nicht gut, Herr Kriminalrat?!«
»Vierzig Pfennig?« Dr. Werner sah Schmitz abschätzend an. »Da hat man Sie übers Ohr gehauen, Schmitz, Sie lernen es nie –«
In dem Schlafzimmer am Ende der Halle saß der Pfarrer auf einem Hocker neben dem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen, das Licht der Lampe war durch einen Schirm abgedämpft worden. Es roch im Raum nach Äther, süßlich, schwer, betäubend. Der Pfarrer schnupperte und sah den Mann an, der mit einem verzerrten Lächeln in den Kissen lag.
»Der Arzt«, sagte Frank Gerholdt. Seine Stimme war tief, klangvoll, eigentlich zu kräftig für die gedrückte Atmosphäre, die über dem hellen Haus am Rhein lag. »Er wollte mich retten! Was kennt er von Chiquaqua …«
»Chiquaqua?«
»Ein südamerikanisches Gift. Die Iquitos-Indianer destillieren es aus einer Gebüschwurzel, die sie Chiquaqua nennen. Ein stilles, schleichendes Gift, das erst nach Stunden wirkt und das man nicht eindämmen kann, weil es in die Blutbahn geht. Es verdünnt das Blut, ganz langsam … es löst das Blut praktisch auf. Es zersetzt die Zusammensetzung des Blutes. Es gibt da kein Gegenmittel, Herr Pastor. Man kennt das Gift in Europa kaum, nur vom Hörensagen.«
»Und Sie haben es eingenommen, Herr Gerholdt?«
»Ja. Genau fünfundzwanzig Gramm … Sie genügen, mir einige Stunden Leben zu erhalten und mit Ihnen zu sprechen. Sie genügen aber auch, mich dem zu entziehen, was man ›irdische Gerechtigkeit‹ nennt, Gerechtigkeit nennen kann.« Frank Gerholdt richtete sich in den Kissen auf. Er war ein über mittelgroßer, breit gebauter Mann mit einem runden Kopf, grauen, etwas lockigen Haaren, braunen Augen und einem Mund, der merkwürdig weich lächeln konnte, aber von einem zum anderen Augenblick schmal werden konnte und hart und brutal. »Ich habe Sie gebeten, Herr Pastor, eine Beichte zu hören. Nicht, weil ich glaube, dass ich mich damit freikaufen kann vor der himmlischen Gerechtigkeit, nicht, weil ich Gott fürchte oder die ewige Verdammnis, wie es so schön in den Sonntagspredigten von der Kanzel klingt – ich weiß, dass ich dort oben ebenso wenig zu erwarten habe wie hier auf Erden. Vor allem, weil ich nichts bereuen kann, was ich getan habe –«
»Sie wollen nicht bereuen, Herr Gerholdt?«
»Ich kann es nicht. Das ist etwas anderes als wollen! Ich habe ein reiches Leben geführt, gewiss, ich habe mit meinen Händen ein Leben aufgebaut, auf das ich stolz sein kann. Soll ich das bereuen? Nur der Anfang dieses eigenen Lebens war dunkel, schwer, schuldbeladen … aber ich habe diese Schuld in zwanzig Jahren abgetragen, Stück für Stück, und ich habe mir ein Schicksal aufgebaut, Stein für Stein …«
»Ein Schicksal aus zweiter Hand, Herr Gerholdt.«
»Was heißt das, Herr Pastor?! Wo war die erste Hand?! Das Leben in den Slums von Hamburg? Das Vegetieren als Gelegenheitsarbeiter auf den Werften? Das Essen in den Hafenkneipen, wo der Fisch stank und das Fleisch sauer war? Das Hungern, das Stempeln, das Anstellen nach Arbeit, die Missachtung derer, die verdienten, und die Gemeinheit der anderen, mit denen man zusammenleben musste? War das die erste Hand? Das gottgewollte Schicksal?!« Gerholdt beugte sich zur Seite und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben der Lampe auf dem Nachttisch stand. »Lieber Herr Pastor – Sie sitzen hier bei einem Sterbenden, nicht, um zu reformieren, sondern um zuzuhören. Bloß anzuhören, was dieser Sterbende, dieser Mensch ohne Himmel und Hölle, dieser kleine, dumme, nur an sich glaubende Mensch auf dieser Erde erlebt hat. Nennen Sie es auch: verbrochen hat. Es ist eins … Und wenn ich zu Ende bin mit meinem Leben, dann sagen Sie mir, was Gott denken könnte, wenn ich nachher vor ihm stehe und sage: Hier steht Frank Gerholdt. Ein Mensch. Weiter nichts! Nur ein Mensch! Glauben Sie, dass damit alles entschuldbar ist? Ein Mensch! Was gibt es auf dieser Erde nicht, was ein Mensch nicht tun könnte?«
Der Pfarrer sah auf seine Hände. Es waren alte, faltige Hände, die vierzig Jahre lang gesegnet, die auf den Stirnen Sterbender gelegen hatten und auf den schweißigen Haaren Gebärender. Ein ganzes Leben war in diesen Händen. Er hob sie und legte sie Frank Gerholdt auf den Arm. Dieser zuckte unter der Berührung zusammen.
»Sprechen Sie«, sagte der Pfarrer leise.
»Was macht Dr. Werner?« Gerholdt blickte zur Tür. Der Pfarrer schüttelte den Kopf.
»Er wartet in der Halle. Er wird nicht kommen. Aber es wäre besser, er wäre auch hier und hörte sich alles an.«
»Nein!« Gerholdt schüttelte energisch den Kopf. »Dr. Werner verkörpert das Gesetz. Er ist die personifizierte Logik. Haben Sie schon einmal ein Leben gesehen, das logisch ist, Herr Pastor? Ein Leben nach der Logarithmentafel? Sie sind ein Mann der Güte, der Liebe, des Verständnisses menschlicher Regungen. Und deshalb will ich Sie allein sprechen, Herr Pastor.«
Gerholdt schwieg und sah an die Decke. Sie war mit einer gelben Tapete beklebt … verworrene Kreise und abstrakte Flecke zauberte die Nachttischlampe mit ihrem Licht auf das matte Gelb. Der Sterbende nickte mehrmals.
»Beginnen wir nicht wie ein Lebenslauf«, sagte er sinnend. »Ich wurde am Soundsovielten als Sohn ehrbarer Eltern geboren und besuchte bis zum soundsovielten Lebensjahr … Das ist albern. Sagen wir lieber so: Als ich am 14. September 1932 am Hafen stand, am Becken IV, neben der Fruchthalle der ›Kalifornischen Import-GmbH‹, war das Leben scheußlich und gemein. Ich war ein junger Bursche von vierundzwanzig Jahren, hatte Hunger, wunde Hände vom Sisalsackschleppen, keine Bleibe als das Seemannsasyl und wusste nicht, ob ich am nächsten Morgen wieder Arbeit bekam und ein paar Groschen, um mir einen Stockfisch zu kaufen, den ich roh aß … Stück für Stück im Munde mit dem Speichel aufweichend. Dazu trank ich Wasser. Wenn ich das konnte, war ich schon glücklich. So dreckig ging es mir …«
Der Pfarrer sah wieder auf seine Hände.
»Ist das ein Grund, ein schlechter Mensch zu werden?«, fragte er leise.
»Nein – aber Grund genug, davon zu träumen, wie herrlich es sein müsste, ein guter zu sein …«
⃰
Als es Nacht wurde, stand Frank Gerholdt am Freihafen und zählte sein Geld. Er brauchte dazu nicht lange. Seit fünf Tagen hatte er sich von seinem Schlepperlohn ein richtiges Mittagessen geleistet, sogar eine Flasche Bier hatte er getrunken. Nun zeigte sich die Strafe dieser Verschwendung, indem er nicht mehr Geld genug hatte, sein Bett im Seemannsasyl zu bezahlen.
Pro Nacht siebzig Pfennig, und eine Mark Pfand für den Blechlöffel, den man bekam, um die dünne Suppe zu essen, die jeden zweiten Tag die Heilsarmee stiftete und in großen Thermoskesseln heranfuhr. Das sind eine Mark siebzig! Und er hatte sie nicht mehr.
Die Hände in den Hosentaschen bummelte er am Hafen entlang, am Ufer der Norderelbe vorbei, den Holstenwall hinauf bis zu den Grünanlagen, die bei Planten und Blomen münden, dem herrlichen Park vor den Toren Hamburgs.
Auf einer Bank, die in der Einbuchtung einer Hecke stand, ließ er sich nieder und starrte hinüber auf die Lichtreklamen, die vom Holstenwall und vom Zeughausmarkt die Nacht mit flimmerndem Licht erfüllten.
Bleiben wir hier, dachte Frank Gerholdt. Die Clochards in Paris schlafen unter den Seinebrücken – warum soll ein Frank Gerholdt nicht auf einer Bank schlafen? Morgen würde er wieder Säcke schleppen oder Kisten in die Laderäume hieven. Allerdings musste man dann früh am Hafen sein, so gegen fünf Uhr morgens, denn um sieben standen die Ladestraßen voll von Arbeitslosen, die auf einen Job warteten, auf ein paar Stunden Arbeit und ein paar Mark. Das Arbeitsamt? Wie sagte doch der Beamte, als er den Stempel aufdrückte. »Zwei Millionen liegen auf der Straße, und Sie fragen nach Arbeit? Wohl ‘n bisschen trübe im Gehirn, was? Such dir was, Junge. Wir haben hier Familienväter mit sechs Kindern. Die kommen zuerst dran, wenn’s wirklich Arbeit gibt!«
So war das. Wenn am Morgen die Eigner in den Hafen kamen oder die Bosse der Transportgesellschaften, dann wurden die wartenden Arbeitslosen zu Bestien, die für einen Job am Kran oder als Kohlenschipper ihren besten Freund erwürgten. Um fünf Uhr aber, wenn noch alles schlief und nur die Nachtschiffe munter waren und beladen werden mussten, um am Morgen auszulaufen, gab es eine Chance, für ein paar Stunden Arbeit zu erhalten. Hatte man großes Glück, so zog die Kolonne weiter zum nächsten Schiff oder zu einer Ladehalle. Dann konnte man zwei oder drei oder gar vier Tage die Hand aufhalten und Geld zwischen den Fingern fühlen. Geld! Wie sieht die Welt gleich anders aus, wenn man gegessen hat, wenn man satt ist, wenn der volle Magen sogar anregt, sich nach Mädchen umzusehen und zu sagen: Süßer Käfer! Oder: Na, Mädchen, hilfste mit, ‘nem Seemann das Herz erleichtern?
Frank Gerholdt seufzte. Er hob die Beine auf die Bank, ließ sich nach hinten hinübersinken und lag auf dem harten Holz. Er starrte in den fahlen Himmel. Von irgendwoher, vielleicht von einem nahen Beet, wehte ein süßer Geruch. Zinnien, dachte Gerholdt. Was will man mehr? Mein Schlafzimmer riecht nach Parfüm wie das einer verwöhnten Frau.
Er wandte den Kopf zur Seite und sah unter der Bank eine zusammengefaltete Zeitung liegen. »Hamburger Fremdenblatt« las er. 13. September 1932. Von gestern also. Er schob die Hand hervor, griff nach der Zeitung, drehte sich wieder auf den Rücken und entfaltete das Blatt.
Unruhen in Berlin. SA marschiert in Nürnberg. Hitler sagt: Wenn wir an die Macht kommen, lösen wir die Arbeitslosenfrage innerhalb sechs Monaten! Goebbels im Sportpalast: Wir versprechen dem deutschen Volke Arbeit und Brot! Keiner soll hungern und frieren!
Gerholdt schlug die Zeitung um. Zweite Seite. Empfang bei Reichskanzler v. Papen. – Ernst Thälmann in Kiel: Der Kommunismus ist die einzige Sozialform des Arbeiters! Nieder mit den Unternehmern! Wer arbeitet, hat ein Recht am Gewinn!
Dritte Seite. Kidnapper in Amerika! Eine Million Dollar für den entführten Billy Wilder!
Frank Gerholdt setzte sich. Eine Million! Für ein Kind. Ein entführtes Kind. Er las den Artikel mit großem Interesse … um besser Licht zu bekommen, drehte er sich so, dass der Schein der Lichtreklame auf dem weißen Papier reflektierte.
»Das Unwesen der Kindesentführung greift in den USA immer mehr um sich. Der Senat hat deswegen beschlossen, ein Sondergesetz für Kidnapping zu erlassen, das alle mit dem Tode bestraft, die ein Kind entführen oder sich an einer Entführung beteiligen. So einfach den Gangstern durch eine Entführung das Geldverdienen gemacht wird, so hoch ist jetzt der Einsatz geworden, wenn man sie erwischt. Es geht um den Kopf! Gott sei Dank ist Deutschland von diesen Methoden verschont geblieben. Bei der Schlagkraft unserer Polizei und den engen Grenzen ist eine Kindesentführung nicht lohnend, ganz davon abgesehen, dass solche Beträge wie in den USA nicht gezahlt werden können. Es lohnt sich also nicht in Deutschland. Und darüber sind wir froh.«
Frank Gerholdt las den Artikel noch einmal. Dann starrte er in die Nacht und hielt die Zeitung krampfhaft in seinen Händen, als habe er Angst, man könnte sie ihm entreißen.
Ein Kind stehlen. Das Kind eines reichen, zufriedenen, satten, keine Not kennenden Mannes. Und es zurückgeben, gesund, ohne ein Haar gekrümmt zu haben, wenn er zahlte … das war doch einfach, so einfach. Alle Not hatte dann ein Ende, alles Anstehen um fünf Uhr morgens im Hafen, alle Hinternkriecherei vor den Hafenbossen, alles Katzbuckeln vor den Launen, aller Kampf um die paar Groschen gegen die anderen, die sich herandrängten und auch einmal warm essen wollten, die von einer Zigarette träumten oder von einem Brötchen mit Butter und Wurst.
»Verrückt!«, sagte Gerholdt laut. »Total verrückt. Dir ist das Bier nicht bekommen, Frank.«
Aber er ließ die Zeitung nicht los. Er krallte die Finger in das raschelnde Papier und starrte hinaus in die Nacht.
Eine Million Dollar! Für ein Kind, das man dann wiederbringt! In Deutschland unmöglich, da keiner so viel zahlt. Keiner? Zahlt? Nicht eine Million, nein … aber einhunderttausend Mark! Mit einhunderttausend Mark kann man ein Leben anfangen, ein ganz neues Leben. Ein Leben ohne Stempeln, ohne Seemannsasyl, wo sie sich von Dirnen unterhalten und wo die Polizei jede Nacht die Strichjungen herausholt. Ohne die Hafenbosse, die einen abtaxieren wie eine Kuh, ehe sie sagen: Fang mal an, Junge. Stunde sechzig Pfennig. Wennste durchhältst, bekommste ab der dritten Stunde achtzig Pfennig. Das würde dann alles vorbei sein, das wäre dann alles nur wie ein böser Traum, aus dem man erwacht … mit einhunderttausend Mark in der Hand. Mit einem neuen Leben. Mit einem neuen Schicksal!
Frank Gerholdt zerknüllte die Zeitung und warf sie weg. Er warf sie hinein in die Zinnien, die so stark rochen und sein »Schlafzimmer« parfümierten. Dann ging er wieder hin und her … vor der Bank, über den Holstenwall, rund herum um den Zeughausmarkt … zurück zur Bank … getrieben von einer Unruhe, von einem Gedanken, einem wahnwitzigen Gefühl, etwas zu tun, was noch keiner vor ihm gewagt hatte.
Er wanderte die ganze Nacht in den Anlagen herum, er fand keinen Schlaf. Der Gedanke bohrte sich in ihn hinein wie ein glühender Pfahl … er nahm so vollends Besitz von ihm, dass er nichts anderes mehr denken konnte als: Einhunderttausend Mark! Einhunderttausend Mark! Ein neues Leben! Satt sein, immer satt sein!
Und ein Bett! Einen neuen Anzug. Ein Dach über dem Kopf ohne Läuse und Flöhe und den Gestank nie gelüfteter Kleider.
Als am Morgen die Lesehalle des Hamburger Fremdenblattes geöffnet wurde, trat er an die Lesetische und blätterte in dem neuen Jahrgang die Zeitungen zurück.
Familienanzeigen … Mai … April … März … Februar … Da! eine Anzeige. Mit einem welligen Rand eingerahmt.
»Die Geburt ihrer Tochter Rita beehren sich anzuzeigen in großer Freude
Werner von Buckow, Reeder,
und Frau Renate
Hamburg, den 6. April 1932.
Blankenese, Villa Renate.«
Werner von Buckow. Ihm gehörten die Schiffe, die er vorgestern entlud. Er hatte eine Tochter … wie alt war sie jetzt?
Fünf Monate. Rita hieß sie. Von Buckow würde bestimmt einhunderttausend Mark für sie bezahlen.
Er verließ die Lesehalle der Zeitung, ein bisschen schwankend, erschüttert von seinen Gedanken. Als er die Hände wieder in die Taschen vergrub, fühlte er unter seinen Fingern Papier knistern. Er zog es heraus …. es war das Zeitungsblatt mit der Geburtsanzeige. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er es herausgerissen hatte, aus dem dicken Jahrgang, mit den vielen, vielen Geburtsanzeigen. In großer Freude … ein Mädchen …
Als er zum Hafen kam, waren die Schlepperarbeiten schon vergeben. Er sah in die Halle hinein, in die Silos. Er grüßte höflich.
»Nichts!« – »Musste früher kommen!« – »Wer pennt, rostet!« – »Alles vergeben!«
Und in der Tasche hatte er neunzig Pfennig.
Im Zollhafen bekam er Arbeit. Für eine Stunde. Die Stunde vierzig Pfennig! Er musste den Lagerhallengang kehren und mit einem feuchten Lappen putzen. Südfrüchte waren angesagt. Bananen, südafrikanische Äpfel. Sie liebten Sauberkeit.
Er putzte den Flur und hatte einen unbändigen Appetit auf Bananen und Äpfel. Für einhunderttausend Mark kann ich mir alles kaufen, durchfuhr es ihn. Was mir gefällt, was mir schmeckt, was ich will. Was sind einhunderttausend Mark für einen Reeder wie Herrn von Buckow. Ihm gehören neun Schiffe zwischen fünftausend und elftausend Tonnen. Frachter, Kombischiffe, ein Tanker, ein Trampdampfer. Und eine Tochter Rita hatte er auch. Fünf Monate alt. Verdammt – man sollte nicht daran denken.
Als die Stunde herum war, bekam er seine vierzig Pfennig und stand wieder auf dem Hafenkai in der Septembersonne. Er rechnete wieder. Neunzig und vierzig, das sind eine Mark und dreißig! Damit konnte man nach Rahlstedt fahren, in die Laubenkolonie »Gute Hoffnung«. Dort hatte einmal ein Freund von ihm gewohnt, ein Kieler. Jens Dooren hieß er. Vor einem Jahr zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wegen Falschmünzerei und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Jetzt stand die Laube leer und wucherte zu. Niemand kümmerte sich darum.
Frank Gerholdt verließ den Hafen und stieg in die Straßenbahn in Richtung Wandsbek. »Einmal umsteigen«, sagte er. Dann lehnte er an der Messingstange der hinteren Plattform und starrte auf die vorbeifliegenden Häuser, Menschen, Wagen und Läden. Was will ich eigentlich in Rahlstedt, dachte er. Was will ich in der alten Laube? Ich habe dort doch gar nichts zu suchen. Ich bin doch ein anständiger Mensch, der nachts auf Bänken schläft und für vierzig Pfennig die Stunde Flure schrubbt. Oder will ich ein Verbrecher werden und suche mir einen Schlupfwinkel? In der Laubenkolonie »Gute Hoffnung«. Will ich das wirklich?
Er stieg in Wandsbek um nach Rahlstedt. In der Laubenkolonie fand er schnell das Häuschen Jens Doorens. Ein verblichenes Holzschild hing schief am Zaun. Das Land war verunkrautet, die Farbe an der Laube bröckelte ab und war durch Regen und Wind vom Holz gelaugt. Aber sie hatte noch ein Dach, ein festes Dach. Und drinnen war es trocken, stand ein Bett an der Wand, ein Schrank, ein Ofen, ein Tisch und zwei Schemel. Verstaubt, dreckig. Ein Heim! Ein Verbrecherheim, wie es kein Edgar Wallace besser beschreiben konnte. Ein »home«, wie es der Gangster in den USA nennt.
Frank Gerholdt saß auf dem staubigen Bett und hatte die Augen geschlossen.
So weit bin ich also, dachte er. So wird ein Verbrecher geboren. Merkwürdig, wenn man es so miterlebte, von Phase zu Phase. Es begann mit einem Zeitungsartikel und endet mit – ja, mit was endet es? Mit Zuchthaus? Mit dem Todesurteil? Oder mit einem neuen Leben? Mit der Geburt eines neuen Frank Gerholdt, geboren aus Gemeinheit, Betrug, Scheußlichkeit, Tränen, Schmerz und Flüchen?
Der Tag ging vorüber. Von der Elbe schoben sich die Abendwolken heran. Er zündete kein Licht an … er saß im Dunkeln und schämte sich vor sich selbst. Aber er war nicht stark genug, seine Gedanken zu verscheuchen, sich loszulösen von dem verführerischen Zwang: einhunderttausend Mark für ein Kind. Für ein Kind, dem nichts geschehen würde, als dass es hin- und hergetragen wurde. Ein ganz, ganz neues Leben für eine einzige, schuftige Tat.
In der Nacht schlich Frank Gerholdt um die Villa Werner von Buckows. Er betrachtete den weißen Bau in Blankenese von allen Seiten … er lag in den Büschen und beobachtete, wer durch die erleuchteten Fenster zu sehen war … ein Mädchen mit einer Spitzenhaube … eine junge schöne Frau – sicherlich Renate von Buckow – …. einmal kurz eine große, schlanke Gestalt in einem Abendanzug, der Reeder Werner von Buckow, der Herr über neun Schiffe. Der Besitzer einer Million, dem sein Kind einhunderttausend Mark wert sein würde.
Frank Gerholdt umschlich noch immer das Haus, als die Lichter längst erloschen waren. Auf der Unterelbe fuhren die Schiffe zum Meer hin … ihre erleuchteten Bullaugen und Brücken schwebten durch die Dunkelheit wie geheimnisvolle, schwerelose Wesen. Von Ferne gellte ein Horn auf, ein Scheinwerfer glitt über das Wasser. Zollboote.
Jetzt schlafen sie, dachte er. Zufrieden, satt. Und er hatte Hunger, seit gestern hatte er nichts mehr gegessen … Fünfzig Pfennig klimperten in seiner Tasche. Ein Leben mit fünfzig Pfennig … ist das noch ein Leben? Und zwei Millionen Arbeitslose standen in langen Schlangen vor den Stempelstellen.
Er saß an der Elbe und starrte über das schwarze Wasser. Das ist alles kein Grund, ein Verbrecher zu werden, empfand er. Wenn diese zwei Millionen Arbeitslose alle ein Kind rauben würden – zwei Millionen geraubte Kinder! Das wäre das Chaos, der Ausbruch einer Hölle.
Als eine ferne Kirchenuhr zwei Uhr morgens schlug, ging er die Elbe zurück nach Altona. Ihm fehlte der Mut. Um fünf Uhr stand er wieder am Hafen, bekam für zwei Tage Arbeit in einem Getreidesilo und musste zehn Stunden lang Zweizentnersäcke, die eine automatische Waage abfüllte, in Eisenbahnwaggons schleppen. Zwei Tage lang. Am Abend des zweiten Tages war er lahm, als seien ihm sämtliche Knochen gebrochen … er schleppte sich in die Laube seines Freundes und warf sich auf das staubige Bett.
»Morgen tue ich es!«, sagte er laut zu sich, als wolle er sich Mut zusprechen. »Morgen! Ganz bestimmt! Ich tue es!«, schrie er. Seine Stimme überschlug sich. Er zitterte am ganzen Körper wie in einem Krampf.
In dieser Nacht schlief er nicht … er ging auch nicht zum Hafen.
Er aß das mitgebrachte Brot und eine Büchse Pferdefleisch, saß an dem kleinen Fenster hinter der vergilbten Gardine und beobachtete, wie in den anderen Gärten die Leute arbeiteten. Später schlich er sich hinaus, fuhr mit einem Omnibus nach Blankenese und strich wie ein hungriger Wolf durch die Villenstraßen, hinter den Gärten vorbei, die Unterelbe entlang. Um die Villa Renate machte er einen großen Bogen … einmal sah er von Ferne, wie ein Stubenwagen mit einem Baldachin aus rosa Tüll auf dem kurzgeschorenen Rasen vor der Terrasse stand. Ein Kindermädchen saß daneben und las in einem Buch.
Das Kind!
Frank Gerholdt verbarg sich hinter einem Busch und starrte auf den weiten Rasen. In dem Korb bewegte sich die Decke … es strampelte, ein paar kleine Fäuste stießen in die Sonne. Das Mädchen erhob sich … es beugte sich über den Wagen, für einen Augenblick sah er den kleinen Kopf, als das Kind in den Kissen aufgerichtet wurde. Blonde Locken. Leuchtend wie Gold. Jetzt wurde es weggefahren … die Abendkühle stieg vom Wasser herauf, die Schatten waren lang.
Gespannt lag er im Gebüsch und beobachtete das Haus. Da – das dritte Fenster neben der Terrasse, das musste das Kinderzimmer sein. In ihm ging das Licht an, er sah die Umrisse des Kindermädchens, es lief hin und her. Ein größerer Schatten mischte sich dazwischen. Werner von Buckow … sicherlich sagte er jetzt der kleinen Rita Gute Nacht und gab ihr einen Kuss auf den kleinen, rosigen Mund oder auf die blauen, großen, strahlenden Augen.
Frank Gerholdt biss sich auf die Lippen. Nicht denken, bloß nicht denken! Tue es und habe für einen Augenblick keine Seele. Denke nur an das Geld.
Gegen elf Uhr abends wurde es dunkel im Haus. Um halb ein Uhr überkletterte Gerholdt die Hecke und schlich über den Rasen der Terrasse zu. Vor dem breiten Fenster des Kinderzimmers blieb er stehen … es war angelehnt, er brauchte nur leicht dagegen zu drücken, um unhörbar einzusteigen. Alles war so einfach, so verblüffend zwanglos. Er schob sich an das Fenster heran und lauschte. Im Zimmer war es still. Vorsichtig stieß er den Fensterflügel auf und stemmte sich auf die Fensterbank. Als er die Gardine zur Seite raffte, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck.
Neben dem Kinderbett stand ein großes Bett. In ihm schlief das Kindermädchen. Es hatte das Gesicht zum Fenster gedreht und atmete leise, regelmäßig.
Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn sie aufwachte, musste er Gewalt anwenden, damit sie nicht schrie und das ganze Haus alarmierte. Aber gerade Gewalt wollte er nicht sehen, er hasste sie; er wollte das Kind stehlen, ganz leise, unbemerkt, so, als habe ein Geist es weggetragen. Und so sollte es auch wiederkommen, unversehrt, gesund, in seiner Unschuld ihn genauso anlächelnd wie das Kindermädchen oder den Vater und die Mutter.
Er ging auf Zehenspitzen an dem großen Bett vorbei und beugte sich über das Kinderbett. Rita schlief, die Fäustchen geballt neben den Kopf gelegt. Die Decke hatte sich etwas verschoben, ein Beinchen ragte hervor, ein krummes Beinchen in einem Strampelchen.
Frank Gerholdt zögerte. Zum letzten Mal hielt ihn ein inneres Sträuben zurück, die schreckliche Tat auszuführen. Dann überwand er sich, griff nach der Decke und schlug sie zurück. Dabei stieß er gegen das Bett, mit dem Knie, als er sich vorbeugte; es gab einen knackenden Laut, der ihn zusammenfahren ließ.
Das Kindermädchen richtete sich auf. Als sie den dunklen Schatten im Zimmer sah, fuhr sie empor und wollte schreien, aber Frank Gerholdt war bereits über ihr, drückte sie in die Kissen zurück und umklammerte ihren zuckenden Hals.
»Einen Laut nur, und ich drücke zu!«, zischte er. »Du bist ganz still, hörst du! Ganz still.«
Das Mädchen nickte unter seinen Händen. Er löste die Umklammerung, ihr Kopf sank zurück … mit entsetzensweiten Augen starrte sie ihn an und rückte bis an die Wand zurück.
»Was wollen Sie von mir?«, stammelte sie. Ihr Mund blieb nach diesen Worten offen, wie ein greller Schrei, der in der Kehle erfroren war.
»Von dir will ich nichts. Ich will das Kind mitnehmen.«
»Rita – –«
»Ja.« Gerholdt hob das schlafende Kind aus dem Bett und wickelte vorsichtig die Decke um den kleinen Körper. Das Mädchen wollte aufspringen. »Liegen bleiben oder ich schieße!«, sagte Gerholdt hart. »Du brauchst keine Angst zu haben. Rita passiert nichts. Gar nichts. Sie kommt auch wieder … nur für heute muss ich sie mitnehmen … nur für heute …« Er ging an dem leichenblassen Mädchen vorbei zurück zum Fenster und wandte sich noch einmal um, ehe er wieder auf die Fensterbank kletterte. »Und keinen Laut! Wenn ich dich schreien höre, schieße ich durch das Fenster.«
Er sprang zurück auf den Rasen vor das Haus und sah auf das Kind. Es schlief noch immer. Das Köpfchen lag an seiner Brust, als sei sie ein Kissen. Wie einfach das alles ist, durchfuhr es ihn. Jetzt habe ich einhunderttausend Mark in der Hand.
Er rannte über den Rasen und hörte hinter sich aus dem Fenster den gellenden Schrei des Kindermädchens.
»Hilfe! Hilfe!« Im Hause gingen die Lichter an … er hetzte durch den Garten, nach hinten hinaus durch die Hecke, über die stille Uferstraße nach Altona zu. Der gellende Schrei des Mädchens verfolgte ihn, er ging ihm nicht mehr aus dem Ohr. Auf der Elbchaussee tauchten Lichter auf … in rasender Fahrt kamen sie näher. Ein blauer Scheinwerfer zuckte durch die Dunkelheit.
Polizei! Schon die Polizei?! Wie schnell das ging. Wie schrieb die Zeitung doch: Bei der Schlagkraft unserer Polizei ist eine Kindesentführung nicht lohnend …
Er warf sich in den Straßengraben und ließ den Polizeiwagen an sich vorbeirasen. Dann hetzte er weiter, den Lichtern Hamburgs entgegen. Vor einer Milchbude stand ein einsames Fahrrad … er riss es von der Wand, stieg auf und trampelte die Chaussee hinab, mit der Linken das Kind fest an sich pressend, mit der Rechten steuernd. Er schlug einen Bogen um Altona, er fuhr über Eidelstedt am Flughafen Fuhlsbüttel vorbei, über Ohlsdorf nach Rahlstedt … über fünf Stunden radelte er die Landstraße entlang, schweißüberströmt, die Angst im Nacken. Einmal wachte das Kind auf … es quäkte etwas. Da hielt er an, streichelte es, wiegte es in seinen Armen, bis es wieder schlief.
In der Laube legte er Rita in das große Bett. Er stopfte eine Decke zusammengerollt an den Bettrand, damit sie nicht bei einer heftigen Bewegung aus dem Bett fiel, er deckte sie liebevoll zu und verließ dann die Laube, um nach Rahlstedt zu fahren.
Hier stand er an der Ecke des Marktes, bis die Drogerie öffnete. Als er sie betrat, empfing ihn Radiomusik. Frühmusik … Frühkonzert, unterbrochen von der Zeitansage.
»Eine Milchflasche bitte«, sagte er mit aller Sicherheit, die er aufbrachte.
»Mit Gramm-Einteilung?«, fragte das Fräulein, das hinter der Theke stand. Ihr weißer Mantel war wie ein tanzender Fleck vor Gerholdts Augen.
»Ja, natürlich«, stotterte er.
»Aus Jenaer Glas?«
»Ja.« Er sah zu, wie sie eine Milchflasche aus einer Schublade holte und sie vor ihm auf die Theke stellte.
»Ist sie so richtig?«
»Ich weiß nicht.« Er lächelte schwach. »Meine Frau schickt mich. Ich habe darin keinerlei Erfahrung. Das erste Kind … wissen Sie …« Er versuchte ein schelmisches Blinzeln. Das Fräulein nickte verständig. »Und zu essen soll ich auch mitbringen. Kindernahrung. Meine Frau hat mir den Namen gesagt … aber ich habe ihn vergessen.«
»Nestle Kindernahrung?«
»Ja, ja, das wird es sein!«
Das Radio schwieg. Der Sprecher der Nachrichten gab die neuesten Meldungen durch. Frank Gerholdt zuckte zusammen. Während das Mädchen die Büchse in Papier einrollte, tönte die Stimme durch den Raum.
»In der vergangenen Nacht wurde aus dem Hause des Reeders Werner von Buckow dessen fünf Monate alte Tochter Rita entführt. Der Täter, ein junger, großer Mann Mitte der Zwanzig konnte bisher unerkannt das Weite suchen. Beschreibung des Kindes: Blonde, lange Locken, rosa Strampelchen, weißes Jäckchen und ebensolches Hemdchen. Auf dem linken Oberschenkel ein fünfpfennigstückgroßes Muttermal. Für die Ergreifung des Täters sind tausend Mark Belohnung ausgesetzt. Zweckdienliche Mitteilungen nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Das Mädchen hinter der Theke stellte die eingewickelte Büchse vor Frank Gerholdt hin. »So ein Schuft«, sagte es mit Abscheu in der Stimme. »Ein Kind stehlen! Stellen Sie sich vor, man würde Ihr Kind stehlen.«
Gerholdt schluckte. »Ich würde den Kerl umbringen!«, sagte er dumpf.
»Er hätte es nicht anders verdient.«
»Bestimmt nicht.« Er nahm die Büchse und die Milchflasche, bezahlte mit dem Geld, das er vorgestern so schwer in den Silos verdient hatte, und verließ schnell die Drogerie. Mit dem gestohlenen Rad fuhr er zur Laubenkolonie zurück und trat in den dumpfen Raum, als das Kind gerade erwachte und mit den Ärmchen in der Luft herumfuhr. Dabei quäkte es und sah Gerholdt – wie er glaubte – verwundert an.
»Ich mache dir zu essen«, sagte er zärtlich. Er streichelte Rita über die Locken und spielte mit den Fingerchen, die sich um seine Hand krallten. »Gleich bekommst du Breichen …« Er gab ihr das Papier, in das die Dose eingewickelt war. Während er den Ofen anmachte und die Beschreibung durchlas … pro Mahlzeit dreihundert Gramm, spielte Rita hinter ihm mit dem Papier, ließ es rascheln, zerknutschte es und schob es hin und her. Einmal quiekte sie vor Vergnügen und versuchte, den Oberkörper aufzurichten. »Gleich, gleich«, sagte Gerholdt leise. »Nur noch abkühlen …«
Er hielt die Flasche mit dem Brei unter den Wasserkran. Wie stand auf der Dose? Zur Feststellung der richtigen Breiwärme träufele man ein paar Tropfen auf den Handrücken. Er tat es, drückte aus dem Sauger Brei auf seine Hand und stellte fest, dass er nicht mehr zu heiß war. Dann setzte er sich auf das Bett, nahm das Kind auf seinen Schoß und gab ihm die Flasche.
Während der kleine Mund gierig an dem Sauger zog und das schmale Hälslein schluckte, war es Gerholdt, als öffnete sich vor ihm ein Tor und er blickte in eine Welt, die er nie gekannt hatte. Das junge, strampelnde Leben auf seinem Schoß, das glucksende Schlucken der kleinen Kehle, das stoßweise Atmen der winzigen, zarten Nase und die großen, blauen Augen, die ihn betrachteten, das alles nahm ihn so gefangen, dass er an nichts mehr dachte als an das Kind und an eine unbändige Zärtlichkeit, die in ihm emporstieg wie ein unaufhaltsames Naturereignis. Er drückte den kleinen Körper an sich, er schüttelte die Flasche, als der langsam erkaltende Brei etwas dicker wurde, er putzte den kleinen Mund ab und legte das Kind dann wieder in die Kissen, deckte es mit der gestohlenen Decke zu und saß neben dem Bett, bis Rita satt und zufrieden eingeschlafen war und mit lächelndem Gesicht tief atmete.
Auf Zehenspitzen verließ er die Laube, schwang sich auf das Rad und fuhr wieder nach Rahlstedt hinein. Vor einer öffentlichen Fernsprechzelle hielt er an, suchte im Telefonbuch die Nummer von Buckows und drehte sie, den Hörer fest an das Ohr pressend.
9-7-4-2-8-1.
Es knackte, eine Stimme meldete sich. Er drückte den Zahlknopf herunter und vernahm jetzt klar, was die Stimme sagte.
»Hier bei Buckow.«
»Ich möchte Herrn von Buckow sprechen«, sagte Gerholdt mit sicherer Stimme.
Der Mann am anderen Ende räusperte sich. »Ich nehme an, dass Sie der Entführer des Kindes sind. Sprechen Sie ruhig mit mir. Ich bin Kriminalkommissar Dr. Werner.«
Frank Gerholdt lehnte sich an die Glaswand der Fernsprechzelle. Schweiß trat plötzlich auf seine Stirn. Er umklammerte den Hörer und nahm allen Mut zusammen.
»Sie können das Kind wiederhaben«, sagte er laut. »Gesund und unbeschädigt. Für einhunderttausend Mark!«
Er schloss die Augen und hörte kaum, was die Stimme am anderen Ende sagte.
Die Würfel sind gefallen, dachte er. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich bin ein Gangster geworden. Ein ganz gemeiner Gangster.
In der Villa von Buckows war nach dem Aufschrei des Kindermädchens eine Welle von Entsetzen über alle Bewohner hinweggerollt. Renate von Buckow brach zusammen, sie fiel in die Arme ihres Mannes und wurde wie leblos in das Schlafzimmer zurückgetragen. Unterdessen rief der Gärtner schon die Polizei und den Arzt an, während das Kindermädchen hysterisch schreiend in das große Wohnzimmer geführt wurde und dort in einem Sessel hockte, am ganzen Körper zitternd. Werner von Buckow schloss die Tür des Kinderzimmers ab. Seine äußere Ruhe war die Maske einer ungeheuren Selbstbezwingung. In seinem Inneren aber tobte ein Vulkan und zerriss sein Herz unter tausend Schmerzen.
»Er kann nicht weit kommen«, sagte er immer wieder. »Es fällt sofort auf, wenn irgendwo ein kleines Kind auftaucht. Rundfunk und Presse werden alles alarmieren. Er kann nicht weit mit Rita kommen …«
Als die Polizei vor das Haus fuhr, war der Arzt schon bei Renate von Buckow und stellte ein schweres Nervenfieber fest. »Wenn das Herz durchhält, können wir sie retten«, sagte er ernst. »Aber das Herz ist schwach. Es will nicht! Das ist die große Gefahr … es will nicht!«
Kriminalkommissar Dr. Werner, ein mittelgroßer, etwas rundlicher Beamter, kam aus dem Kinderzimmer und setzte sich vor den offenen Kamin der Wohnhalle in den tiefen englischen Sessel. Er betrachtete mit Wonne die Kiste Zigarren, die ihm von Buckow hinhielt, und wählte umständlich unter den Importen eine gleichmäßig gefärbte aus.
»Der Täter war ein Laie«, sagte er nach den ersten Zügen, deren Genuss ihn fast verzauberte. »Er hat sich keine Mühe gemacht, Fuß- oder Fingerspuren zu verwischen oder gar zu vermeiden. Auf der Scheibe und auf der Fensterbank finden wir herrliche Abdrücke. Sie nützen uns nur nichts, weil ich garantiere, dass sie in keiner Kartei zu finden sind. Ein Einzelgänger und ein Anfänger.«
Werner von Buckow sah an die getäfelte Decke. »Sie haben wenig Hoffnung?«
»Das will ich nicht sagen. Keiner raubt ein Kind aus purer Kinderliebe. Sagen wir – kein Mann. Bei Frauen ist so etwas möglich. Mutterkomplex nennen wir das! Aber einen Vaterkomplex hat es meines Wissens noch nicht gegeben. Der Bursche will also Geld –«
»Erpressung?«
»Genau! Nach dem Vorbild der amerikanischen Kidnapper. Geld und Kind zurück, oder kein Geld und Kind zurück, aber tot.«
»Ich werde ihm jede gewünschte Summe geben!«, sagte von Buckow rau. »Mein Kind ist mir alles wert!«
Dr. Werner betrachtete seine Zigarre und schob die Unterlippe vor. »Vom Standpunkt des Vaters ist das richtig. Vom Standpunkt der Polizei wäre es falsch! Unsere Aufgabe ist es nicht, den Verbrecher zu belohnen, sondern ihn zu fangen! Hat er erst das Geld sicher bekommen, so erwischen wir ihn nie, falls er intelligent genug ist, sein Geld so auszugeben, dass er nicht durch großspurige Ausgaben auffällt. Meistens ist das der Anlass, dass wir diese Brüder ergreifen. Das plötzliche Geld, in solchen Summen, macht sie verrückt! Auf der Reeperbahn halten sie ganze Lokale frei und kaufen den Dirnen Brillanten. Dann haben wir sie. Aber ist der Kerl ein wenig intelligent, zieht weg von Hamburg und lebt irgendwo in Süddeutschland als biederer Kaufmann, macht ein Geschäftchen auf und wird ein guter Bürger … wie wollen Sie bei siebzig Millionen Deutschen diesen einen gerade herausfischen?«
Werner von Buckow war aufgestanden und ging erregt in dem großen Raum hin und her. »Was schlagen Sie also vor?«
»Wir versprechen dem Kerl das Geld, wenn er sich meldet.«
»Gut. Und weiter.«
»Wir hinterlegen es da, wo er es haben will. Und wenn er es holt, haben wir ihn.«
»Falls er ein Idiot ist!« Von Buckow blieb stehen. »Sie glauben doch nicht, dass ein intelligenter Verbrecher in eine so plumpe Falle geht? In die geht kein Vierzehnjähriger mehr nach der Lektüre von zwei Kriminalromanen.«
»Es ist eine Frage der Summe.« Dr. Werner schnippte vorsichtig die Asche von der Zigarre. »Je höher die Summe, umso verwirrter werden die Gehirne. Nichts beeinträchtigt die Intelligenz mehr als ein plötzlicher Haufen Geld.«
»Theoretisch.«
»Lassen wir es auf die Praxis ankommen.«
Werner von Buckow seufzte tief. Er stand mit dem Rücken zu dem Kamin und sah Dr. Werner aus einem von Qual zerfurchten Gesicht an. »Das ist nicht alles, Herr Kommissar«, sagte er leise. »Wenn Rita innerhalb drei Tagen nicht wieder hier ist, muss sie sterben …« Dr. Werners Kopf flog empor. In seine Augen trat plötzlich ein verbissener Zug. »Ja … Sie haben richtig gehört … sie muss sterben! Rita ist krank, sehr krank sogar … Sie lebt von einem Tag zum anderen.« Er schlug die Hände vor das Gesicht und schwankte plötzlich. »Es ist furchtbar«, stöhnte er. »Wir haben keine Zeit zu langen Verhandlungen und Experimenten …«
»Hören Sie mich?«, fragte die Stimme.
Frank Gerholdt nickte.
Er hielt noch immer den Telefonhörer umklammert und lauschte auf die Worte von Kriminalkommissar Dr. Werner, deren Sinn ihm erst allmählich aufging.
»Ja, Herr Kommissar«, sagte er schwach.
»Sie haben eine verdammt schuftige Tat begangen«, rief Dr. Werner eindringlich durch das Telefon. »Herr von Buckow ist bereit, Ihnen alles zu verzeihen, und auch wir würden uns sehr loyal verhalten, wenn Sie das Kind sofort zurückbringen.«
»Erst hunderttausend Mark!«
»Sie sind ja verrückt! Wir sind hier nicht in den USA! Wir werden Sie jagen wie einen tollwütigen Hund! Und wenn wir Sie haben, merzen wir Sie aus der menschlichen Gesellschaft aus!«
»Wenn«, sagte Gerholdt. Er hatte seine Klarheit wieder gewonnen. »Dem Kind geschieht gar nichts! Sagen Sie Herrn von Buckow, er soll mir hunderttausend Mark schicken!«
»Das weiß er sogar schon! Ich habe es ihm gesagt, außerdem hört er unser Gespräch am zweiten Hörer mit. Und er ist bereit, Ihnen diesen Preis zu bezahlen.«
»Das freut mich.«
»Wie mich das beruhigt.« Die Stimme Dr. Werners wurde sarkastisch. »Aber Sie werden die hunderttausend Mark nie erhalten. Ich werde es verhindern! Und nun hören Sie genau zu, mein Junge: Rita ist sehr krank! Sie wird sterben, wenn sie nicht jeden Tag ein bestimmtes Medikament bekommt!«
Frank Gerholdt war es, als habe man ihn in einen eisigen Fluss gestoßen und er treibe zwischen Eisschollen hilflos ins weite Meer hinaus. »Das ist nicht wahr …«, stotterte er. Er sah das kleine, hellblonde Lockenköpfchen vor sich, die rosige Haut, die großen, blauen, strahlenden Augen. »Das ist ein Bluff. Sie wollen mich unsicher machen!«
»Sehen Sie es an, wie Sie wollen!« Dr. Werners Stimme war hart, fast roh in seiner zerschmetternden Realität. »Rita leidet an einer Bluterkrankung. Die tägliche Erneuerung des Blutes ist gehemmt … wenn sie drei Tage das Medikament nicht bekommt, stirbt sie an Blutzersetzung! Dieses Medikament ist ein Aufbauextrakt. Ohne es kann Rita nicht weiterleben … begreifen Sie endlich, mein Junge? Sie haben ein todkrankes Kind geraubt, das innerhalb drei Tagen unter Ihren Händen rettungslos sterben wird, wenn Sie es nicht sofort zurückbringen!«
Gerholdt lehnte die heiße Stirn gegen das Glas der Telefonzelle. Eine Schwäche, die ihn fast zu Boden warf, übermannte ihn. »Das ist doch unmöglich …«, stotterte er.
»Unter diesen Umständen habe ich Herrn von Buckow untersagt, Ihnen die hunderttausend Mark zu zahlen! Sie bringen Rita zurück. Heute noch!«
»Nennen Sie mir den Namen des Mittels!«, schrie Gerholdt in das Telefon. Er umklammerte den an der Wand hängenden Apparat und schüttelte, als könne er damit den Namen herausreißen.
»Sie erfahren keine Silbe«, antwortete Dr. Werner kalt.
»Sie ermorden das Kind, Kommissar!«
»Nicht ich, sondern Sie! Sie haben es geraubt!«
»Den Namen!«, schrie Gerholdt. »Den Namen, Dr. Werner! Ich bringe sie sofort zurück, wenn Sie mir den Namen sagen und hunderttausend Mark bringen.«
»Keins von beiden!« Dr. Werner wollte weitersprechen, aber Werner von Buckow riss ihm den Hörer aus der Hand. Sein Gesicht war verzerrt. Über die gelbliche Haut perlte kalter Schweiß.
»Hören Sie zu. Hier spricht von Buckow. Ich zahle Ihnen die hunderttausend Mark!«
»Verrückt!« Dr. Werner wollte den Hörer wieder nehmen, aber von Buckow boxte ihn verzweifelt weg. »Der Kommissar ist nicht der Vater … er weiß nicht, wie es mir zumute ist. Glauben Sie mir – es geht wirklich um Leben oder Tod. Rita ist krank, sie muss heute und morgen das Medikament bekommen, sonst stirbt sie! Kein Tag darf ausgesetzt werden, bis sie später, wenn sie älter ist, durch einen großen Blutaustausch gerettet werden kann. Geben Sie mir mein Kind wieder. Bitte, bitte – geben Sie mir es wieder …«
Dr. Werner nahm das Telefon aus den plötzlich kraftlosen Händen von Buckows. Der Reeder sank in einen Sessel und bedeckte die Augen mit den Händen. Er schluchzte. Dr. Werners Stimme war rau vor Erregung.
»Hör zu, mein Junge: Wenn das Kind stirbt, weil es das Mittel nicht bekommen hat, wird die Anklage auf Mord lauten! Sie wissen, was das bedeutet. Noch gibt es in Deutschland die Todesstrafe. Ich möchte heute sagen: Gott sei Dank!«
Frank Gerholdt atmete schwer. »Ich weiß es, Herr Kommissar. Rita wird nicht sterben. Sie darf nicht sterben …«
»Sie bringen sie also zurück?«
»Für hunderttausend Mark!«
»Ihr letztes Wort?!«
»Ja.«
»Gut!« Dr. Werners Stimme hatte etwas Endgültiges. »Dann sehen wir uns auf dem Schafott wieder! So ekelhaft eine Hinrichtung ist … bei Ihnen werde ich zuschauen ohne das Gefühl des Grauens!«
Er hängte ab. Frank Gerholdt schüttelte den Hörer, er klopfte gegen den Apparat. »Den Namen des Mittels!«, schrie er in die Hörmuschel. »Sagen Sie mir den Namen des Mittels, Kommissar.«
Er rannte aus der Telefonzelle, schwang sich auf das Rad und raste zurück zur Laubenkolonie. Wie von Furien getrieben trat er auf die Pedale, den Kopf weit über den Lenker gebeugt. Schweißgebadet kam er an der Laube an, warf das Rad in das hohe Unkraut und stürzte in die Hütte.
Rita schlief noch. Mit rosigem Gesicht lag sie in den Kissen, ein bisschen quer, weil sie sich im Schlaf gedreht hatte. Über das Gesicht fielen die blonden Löckchen, wie kleine Schlangen kringelten sie sich um den runden Kopf. Das Mündchen war ein wenig offen … ganz, ganz leise schnarchte sie.
»Rita«, sagte Gerholdt erschüttert. »Rita – – – du darfst nicht sterben.«
Leise kochte er den zweiten Brei, füllte ihn in die Flasche, stellte sie in einem Wasserbad warm und saß am Fenster der Laube, darauf wartend, dass Rita erwachen würde.
Er ahnte nicht, dass in diesem Augenblick zwei Streifenwagen hinaus nach Schnelsen jagten, wo zwei Spaziergänger, unter Blättern verborgen, die nackte Leiche eines Kindes gefunden hatten. Als Dr. Werner die Meldung bekam, sah er von Buckow kurz an und griff nach seinem Hut.
»In zwei Stunden bin ich wieder da.«
»Eine Spur, Herr Kommissar?« Buckow stellte sich ihm in den Weg. »Sagen Sie die Wahrheit. Ich sehe es Ihren Augen an, dass etwas geschehen ist! Hat man Rita gefunden? Mein Gott, reden Sie doch! Sie können mir alles sagen, ich bin doch keine alte Jungfer! Ich kippe nicht um! Ist etwas mit Rita?!«
Dr. Werner zog den Mantel an und winkte den beiden Sekretären, schon zu den Wagen vorzugehen. »Man hat in Schnelsen einen Fund gemacht.«
»Rita!« Buckows Gesicht wurde fahl, aber er beherrschte sich und stand wie eine Säule.
»Das weiß ich noch nicht. Spaziergänger fanden das Kind in einem Waldstück unter Zweigen und Blättern.«
»Ich begleite Sie«, sagte von Buckow mühsam.
»Auf gar keinen Fall!« Dr. Werner winkte ab, als der Reeder etwas entgegnen wollte. »Sie haben Ihre Nerven genug strapaziert. Ich werde ihnen sofort Nachricht geben, wenn es ein positiver Fund ist. Es kann auch ein anderes Kind sein … manchmal kommen solche Sachen zusammen.«
Er verließ schnell die Halle und stieg draußen in den schwarzen Horchwagen. Von Buckow rannte durch das Haus und prallte auf der Treppe auf seine Frau, die voll angekleidet aus dem Schlafzimmer kam.
»Renate!«, rief er entsetzt. »Du hast strengste Bettruhe. Was machst du hier?! Sofort gehst du zurück.« Er wollte sie zärtlich, aber bestimmt unterfassen und wieder die Treppe hinaufführen, aber Renate wehrte ihn ab. In ihren Augen stand eine Hohlheit, eine Ausdruckslosigkeit, die Werner von Buckow erschreckte.
»Du fährst weg?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte allen Klang verloren. Es war, als schwängen die Stimmbänder nur widerwillig mit.
»Eine eilige Fahrt …«
»Wegen Rita?« Sie richtete sich auf, straffte den Oberkörper, als wolle sie eine der großen Tragödinnen des Theaters nachahmen. »Ich begleite dich.«
»Unmöglich, Renate!«
»Du kannst mich nicht mehr loswerden! Ich hänge mich hinten an den Wagen und lasse mich mitschleifen!« In ihre Augen trat der Glanz des Irrsinns. Ihr sonst so schöner Mund verzerrte sich. »Du weißt, wo Rita ist. Und du führst mich zu ihr! Sofort! Sofort!«
Sie klammerte sich an seine Rockaufschläge fest, ihr Körper flog und schien auseinanderzuflattern.
»Komm«, sagte von Buckow. Seine Mundwinkel zuckten. Renate, dachte er. Bist du noch Renate?! O dieser Lump, dieser Schuft! Er hat mir nicht nur das Kind genommen, sondern auch die Frau …
Sie eilten durch den Gang, der vom Flur zur Garage führte. Als sie den schweren Maybachwagen herausfuhren, sahen sie die Autos der Polizei gerade um die Ecke biegen. Von Buckow lenkte das schwere Fahrzeug vorsichtig aus der Ausfahrt hinaus … auf der Chaussee aber drückte er den Gashebel hinab, dass der Wagen einen Satz machte, als spränge er mit allen vier Rädern in die Luft. Dann raste er über das glatte Band der Straße, schob sich an den Wagen Dr. Werners heran und folgte ihnen in Sichtweite nach.