Über das Buch

Mit ihrem Mann Jörg führt Inga eine gemeinsame Firma und eigentlich könnte alles wunderbar sein - wenn Inga ihren Mann nicht bei einem Seitensprung mit der jungen Buchhalterin erwischt hätte. Hals über Kopf flieht Inga zu ihrer ihrer Freundin Judith, die auf Spiekeroog das Hotel »Inselfriede« führt. Fernab von allem kommt Inga nach Jahren endlich wieder zur Ruhe und zum Nachdenken. Führt sie wirklich das Leben, das sie sich immer gewünscht hat? Oder gibt es da noch mehr?

Unter den Gästen lernt Inga auch Hildegard kennen, die in der Bonner Altstadt ein kleines Hotel führt, und ihren Sohn Stefan, der um seine verstorbene Freundin trauert. Inga und Stefan verstehen sich auf Anhieb und auf einmal schwirren tausend Schmetterlinge in Ingas Bauch umher.

Doch dann erhält Inga einen Anruf von ihrem Vater. Sie muss nach Hause kommen, denn ihre Firma steckt in großen finanziellen Schwierigkeiten.

Schweren Herzens entschließt sich Inga wieder nach Hause zu fahren …

Ein wunderbarer Roman über ungeahnte Chancen, Neuanfänge und das Chaos, das sich Leben nennt.

Über Anne Labus

Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.

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Anne Labus

Das kleine Altstadthotel

Roman

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Nachwort

Impressum

Für meinen Mann, Udo Weinbörner,

der an mich geglaubt hat, als ich zweifelte,

mich ermutigte, weiterzuschreiben,

und nie müde wurde,

mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

1.

Vorsichtig schloss Inga die Tür und drehte sich um. Sie hatte genug gesehen. Sie hätte schreien, toben und ihm ihr Handy an den Kopf werfen sollen, das sie krampfhaft festhielt. Aber sie war müde. Nach zwanzig Ehejahren und Jörgs zahlreichen Seitensprüngen war der Anblick seiner Hand auf dem nackten Hintern der jungen Buchhalterin nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. War Inga wirklich erst vierzig? Sie fühlte sich uralt und abgelegt. Einem Schatten gleich schlich sie aus der Firma, packte wie in Trance zu Hause ihren Koffer und griff nach dem Autoschlüssel. Mehr als jeder hysterische Auftritt würde Jörg der Verlust seines geliebten Porsche treffen.

Erleichtert atmete Inga auf, als sie das Ortsschild von Neuharlingersiel nach einer vierstündigen Fahrt passierte. Sie hatte Glück, die Schranke des Parkplatzes war geöffnet, und sie stellte Jörgs Porsche auf einem der hinteren freien Plätze ab. Anfang März besuchten nur wenige Gäste die ostfriesische Insel. Inga hoffte darauf, vom kalten Ostwind die letzten trüben Gedanken aus dem Kopf geblasen zu bekommen.

»Komm nach Spiekeroog«, hatte ihre Freundin Judith gesagt. »Im Hotel ›Inselfriede‹ wirst du dich wohlfühlen.«

Inga und Judith kannten sich seit der Hotelfachschule. Doch während Inga geheiratet hatte und im familieneigenen Sanitärbetrieb arbeitete, tingelte Judith von einem Hotel zum anderen. Auf Spiekeroog hatte sie ihre Heimat gefunden und war im Hotel »Inselfriede« endlich angekommen.

Inga kannte die kleine autofreie Insel nicht. Mit Jörg war sie jedes Jahr nach Südfrankreich gefahren, immer in dasselbe Hotel. Ihr Mann weigerte sich, die wenigen freien Tage an der Nordsee zu verbringen oder auf die Berge zu kraxeln, wie sie es als Kind so gern getan hatte.

Dicke schwarze Wolken waren aufgezogen. Als Inga ihren Rollkoffer vom Parkplatz Richtung Fähranleger schob, liefen ihr die ersten Regentropfen das Gesicht hinunter. Ihre warme Steppjacke war zu kurz, und schon nach wenigen Metern hatte sich ihre Jeans vollgesaugt, und die Nässe kroch ihr die Beine hoch. »Toller Empfang!«, schimpfte sie laut gegen den Wind, der ihr entgegenblies, so dass sie kaum Luft bekam. Nach einer gefühlten Ewigkeit von zwanzig Minuten erreichte sie das Hafengebäude mit den Fahrkartenschaltern. Die nächste Fähre würde in einer Stunde ablegen, zu wenig Zeit, um bei diesem Wetter eines der Cafés hier aufzusuchen. Inga überlegte nicht lange, rollte ihren Koffer mit sich in die Damentoilette, zwängte sich in die enge Kabine und zog sich um. Zwar angelte sie in der Eile nur eine helle Jeans aus dem vollgestopften Koffer, stöhnte aber erleichtert auf, als ihre eiskalten Beine endlich wieder warm wurden. Die nasse Hose quetschte sie in den Rucksack, aus dem sie zuvor eine Flasche Wasser und einen Schokoriegel geholt hatte. Wenigstens daran hatte sie in der Hektik ihres Aufbruchs gedacht. Sie grinste, als sie sich Jörgs Gesicht vorstellte, der keinen Abend ohne die geliebten Schokoriegel fernsah – die letzten zwei aus seinem Vorrat waren in ihrem Rucksack gelandet. Sein Porsche weg und dann nicht mal Schokolade zum Trost, das Leben eines Mannes konnte verdammt hart sein.

Fast schon wieder versöhnt mit der Welt setzte sich Inga in den Aufenthaltsraum des Hafengebäudes und schaute den Arbeitern zu, die Gepäckstücke in Rollcontainer verluden. Der Regen hatte aufgehört, und erste Sonnenstrahlen fielen durch die Wolkenlücken auf die »Spiekeroog 1«, die gerade einlief. Zusammen mit den wenigen Urlaubern, die mutig genug waren, zu dieser Jahreszeit die Insel zu besuchen, bestieg Inga die Fähre. In ihrem Bauch kribbelte es vor Aufregung, als das Schiff die Motoren anließ und langsam den Hafen verließ. Nach zwanzig Jahren war sie zum ersten Mal allein unterwegs. Kein Mann, der im Auto neben ihr saß und ihren Fahrstil korrigierte, und keiner, der die Richtung vorgab. Ab sofort würde sie den Weg bestimmen. Zu lange hatte sie sich von Jörg alle wichtigen Entscheidungen abnehmen lassen und darauf vertraut, dass er immer das Richtige tat.

Während sie sich im Salon der Fähre die kalten Hände an einem Pott Friesentee wärmte und den Möwen nachschaute, die dem Schiff hinterherflogen, verabschiedete sich Inga von ihrem alten Leben in Dortmund. Auf Spiekeroog hoffte sie, den nötigen Abstand zu finden, um eine Entscheidung für ihre Zukunft zu treffen.

Als die Fähre eine halbe Stunde später im Hafen von Spiekeroog einlief, hatten sich die letzten grauen Wolken verzogen, und Inga wurde von einem strahlend blauen Himmel begrüßt. Wie hatte Judith gesagt? Immer geradeaus auf die Inselkirche zulaufen, dann würde sie rechts schon das Hotel »Inselfriede« sehen. Das idyllische Inseldorf lag direkt vor ihr, als sie den anderen Reisenden auf dem breiten Hauptweg Richtung alte Dorfkirche folgte. Ihr Schritt, zunächst hektisch und zielstrebig, im Großstadtmodus, verlangsamte sich automatisch, je mehr sie sich dem kleinen Ortszentrum näherte. Immer wieder blieb sie stehen, um die niedrigen Friesenhäuschen mit ihren verglasten Veranden und den gepflegten Vorgärten, die zu dieser Zeit noch im Winterschlaf lagen, zu bewundern. Wie friedlich es hier war: kein Autolärm, kein Benzingestank, nur vereinzelte Radfahrer, und selbst die schienen es nicht eilig zu haben. Inga dachte an den hektischen Dortmunder Hellweg und die ewigen Staus auf der B1. Ihr Lebensrhythmus hatte sich über all die Jahre nach dieser Stadt gerichtet. Selbst in ihrer Firma herrschte betriebsame Hektik. Hier auf Spiekeroog gingen die Uhren anders.

»Da bist du ja endlich!« Judith war ihr vom Hotel aus ein Stück entgegengekommen und nahm sie stürmisch in die Arme.

»Entschuldige, aber ich konnte mich einfach nicht sattsehen an all den hübschen Häuschen.«

»Komm, ich zeig dir erst mal dein Zimmer. Du musst ja hundemüde sein nach der Fahrt.« Judith trug Ingas Koffer bis zum Hoteleingang und stellte ihn vor der Rezeption ab. »Ich habe dir ein Zimmer hier im Haupthaus reserviert. Dann brauchst du zum Essen nur die Treppe hinunterzulaufen.« Sie zeigte Inga den Frühstücksraum mit angrenzendem Wintergarten und das Restaurant gleich daneben. Alles war liebevoll und gemütlich eingerichtet. Ingas Doppelzimmer lag im ersten Stock. Vom kleinen Balkon aus konnte sie bis zum Hafen schauen. Erst jetzt spürte sie, wie müde sie war. Ihre Augenlider waren bleischwer, und sie fröstelte. Schnell schlüpfte sie aus ihrer Hose und dem Pullover und kroch unter die Bettdecke. Keine fünf Minuten später schlief sie tief und fest. Als sie erwachte, krallten sich ihre Hände in die Bettdecke, als hielte sie noch das Lenkrad fest. Sie erinnerte sich daran, von der Autofahrt geträumt zu haben.

Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte, und sofort saß sie senkrecht im Bett, rieb sich die Augen und schaute sich um. Kein Zweifel, sie war auf Spiekeroog gelandet.

»Ich habe in einer halben Stunde Mittagspause. Wollen wir zusammen einen Tee trinken?«, meldete sich Judith am anderen Ende der Leitung. Inga streckte sich noch einmal genüsslich auf der bequemen Matratze aus, warf die Decke zur Seite und sprang auf. Fast wäre sie dabei über ihren Rucksack gestolpert, der unausgepackt vor dem Bett lag. Um ihr Gepäck würde sie sich später kümmern. Langsam kehrten ihre Lebensgeister zurück, und ihr Magen knurrte so laut, dass sie lachen musste. In dieser himmlischen Ruhe klang sogar das bedrohlich.

Judith stand an der Rezeption und unterhielt sich mit einer älteren Dame. Inga fiel sofort der typisch rheinische Zungenschlag auf und die lebhafte Art der Frau, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters unternehmungslustig schien.

»Morgen will ich bis zur Franzosenschanze laufen. Wie wird denn das Wetter?«

Während Judith hinter dem Tresen verschwand, um nach der Wettervorhersage zu schauen, stellte sich die nette Rheinländerin Inga als Hildegard Schmitz aus Bonn vor. Als sie erfuhr, dass Inga allein angereist war, bot sie sofort an, ihr die Insel zu zeigen. »Wollen Sie morgen nicht mitkommen?«

Inga zögerte einen Augenblick, aber Judith zwinkerte ihr zu. »Du kannst dich für morgen ruhig mit Frau Schmitz verabreden. Ich muss sowieso bis zum Nachmittag arbeiten. Aber ihr seht euch heute Abend beim Essen. Dann könnt ihr noch genug quatschen«, mischte sich Judith ein und zog Inga mit sich zum Ausgang. »Frau Schmitz kommt schon seit vielen Jahren in unser Haus, immer im März. Sie hat selbst ein kleines Hotel in Bonn«, berichtete Judith, während sie an der alten Inselkirche vorbei zum »Café Teetied« liefen.

»Hallo Judith! Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast.« Der schlaksige junge Mann, der sie bediente, zwinkerte den Freundinnen zu. Sie sahen sich tatsächlich ein wenig ähnlich, die zarte Inga mit dem modischen Pagenschnitt und den braunen Augen und die kräftigere Judith mit den gleichen dunkelbraunen Haaren, die sie kurz geschnitten trug.

Während sie auf ihren Tee und die Waffeln warteten, schaute sich Inga in der alten Stube des Cafés um. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein: niedrige Decken, knarrende Holzdielen und antike Möbel. Inga, die in Omas Samtsofa fast versank, fühlte sich wie eine Kapitänsgattin im letzten Jahrhundert.

»Und wie soll es jetzt weitergehen mit dir und deinem Mann?« Judith schenkte Inga Tee ein und reichte ihr Kluntjes und Sahne. Da sie die einzigen Gäste im Nebenraum des Cafés waren, konnten sie sich ungestört unterhalten.

»Auf keinen Fall wie immer. Ich werde mir eine Wohnung suchen und in der Firma aufhören. Soll doch seine neue Buchhalterin meinen Job machen. Außerdem kann sie Jörg auch noch den Haushalt führen. Aber so durchgestylt, wie die ist, packt die garantiert keinen Putzlappen an.« Ingas Augen funkelten, und sie klopfte mit der Faust auf den Tisch, dass die Teetassen klapperten.

»So energisch kenne ich dich gar nicht. Komm erst mal in Ruhe hier an und genieß die Insel. Nichts ist besser zum Nachdenken als ein langer Spaziergang am Strand.«

Nach der Teepause eilte Judith zurück zum Hotel, um die Neuankömmlinge von der Nachmittagsfähre zu begrüßen, und Inga bummelte durch das Ortszentrum. Unter großen alten Bäumen reihte sich ein malerisches Friesenhaus an das andere. Es gab kleine Boutiquen, einen Feinkostladen und eine Buchhandlung, mehrere Restaurants und Cafés. Im Schaufenster eines Modeladens entdeckte Inga einen Winterparka und passende warme Stiefel. Kurz entschlossen betrat sie das Geschäft und stand schon eine Viertelstunde später im neuen Outfit auf der Straße. Zum ersten Mal, seit sie an der Nordsee gelandet war, fühlte sie sich wohl in ihrer Haut. Der neue Parka reichte bis zu den Knien, war kuschelweich und warm, und in ihre ständig kalten Füße kehrte endlich wieder Leben zurück.

Sollte das nächste Sturmtief ruhig kommen, sie war bestens vorbereitet, zumindest auf das Wetter. Für die vor ihr liegende Scheidungsschlacht würde sie sich besser eine Ritterrüstung zulegen.

Auf dem Rückweg zum Hotel sah Inga, dass die Tür der Alten Inselkirche offenstand, und einige Urlauber hineingingen. Wie lange schon hatte sie keine Kirche mehr von innen gesehen? Von Judith wusste sie, dass das kleine Gotteshaus, 1696 erbaut, die älteste Kirche auf den Ostfriesischen Inseln war. Neugierig folgte sie den anderen Besuchern und betrat den Vorraum. Diese Kirche hatte so gar nichts an sich von den großen sakralen Bauten, die Inga kannte. Sie kam sich vor wie im Rumpf eines alten Schiffs, sicher und geborgen, dabei schlingerte ihr eigenes Lebensschiff gerade gewaltig durch meterhohe Wellen und drohte jeden Augenblick zu kentern.

2.

»Was fällt dir ein, mit meinem Porsche abzuhauen?«

Es dauerte einen Moment, bis Inga registrierte, dass ihr Mann sie mitten in der Nacht anrief, um über sein Auto zu reden. »Was heißt hier dein Porsche? Der Wagen ist auf die Firma zugelassen, gehört mir genauso wie dir. Du kannst ja mit meinem Mini fahren!« Es hatte sie unendlich viel Kraft gekostet, diese Sätze in ihr Handy zu brüllen. Abrupt beendete sie das Gespräch und schaltete das Smartphone aus. Auf keinen Fall würde sie im Halbschlaf mit Jörg diskutieren. Dazu brauchte sie einen klaren Kopf und musste ausgeschlafen sein. Inga drehte sich auf die Seite und versuchte, weiterzuschlafen, doch ihr Herz klopfte bis zum Hals, und in ihrem Kopf herrschte das totale Chaos. Was, wenn Jörg plötzlich hier auftauchte, um sie zur Rede zu stellen und seinen Wagen zu holen? Vor ihrer überstürzten Abreise hatte sie nur ihrer Mutter ihren Aufenthaltsort mitgeteilt und gesagt, dass sie ihre Freundin Judith besuchen wolle. Sicher würde Mama ihrem Lieblingsschwiegersohn verraten, wo sich seine Frau rumtrieb. Unruhig wälzte sich Inga hin und her, schlief erst gegen fünf Uhr ein.

»Guten Morgen, Schlafmütze. Wenn du frühstücken willst, solltest du jetzt runterkommen.«

»Danke, dass du mich anrufst, Judith. Ich bin gleich unten.« In Windeseile flitzte Inga ins Bad, duschte und zog sich an. Eine halbe Stunde später saß sie im Wintergarten des Frühstücksraums, vor sich eine Schale mit Obstsalat und einen Milchkaffee. Die meisten Gäste waren zu dieser Zeit unterwegs an den Strand oder bummelten durch die Einkaufsstraße. Judith war von der Rezeption herübergekommen und hatte ihr ein Croissant vom Buffet mitgebracht. »Sieht nicht so aus, als ob du viel geschlafen hättest.«

Wie genau die Freundin sie doch kannte. »Der Mistkerl hat mich tatsächlich mitten in der Nacht angerufen und sich darüber beschwert, dass ich mit seinem geliebten Porsche gefahren bin«, erklärte Inga total übermüdet.

»Hast du ihm wenigstens so richtig die Meinung gesagt?«

»Dazu war ich viel zu müde. Hab einfach aufgelegt.« Als Inga zu weiteren Erklärungen ausholte, kam Hildegard Schmitz an ihren Tisch und schaute sie freundlich an.

»Guten Morgen, ihr zwei Hübschen! Ich will nicht stören, möchte nur wissen, ob Sie gleich mit mir an den Strand gehen?«

Inga hatte ihre Verabredung mit der netten Rheinländerin total vergessen.

»Ach, wissen Sie was, ich lese in der Lobby noch mal gründlich die Tageszeitung und warte auf Sie.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte sich Frau Schmitz um und ließ die Freundinnen allein.

»Bei diesem tollen Wetter musst du an den Strand. Für morgen ist Regen gemeldet. Ich habe dir schon eine Massage und eine Beauty-Behandlung in unserem Spa gebucht.« Judith duldete keinen Widerspruch.

»Okay, wenn das so ist, bin ich mal ein braves Mädchen und gehe mit Frau Schmitz an den Strand. Aber nur, wenn ich heute Abend deine Wohnung sehen darf, und wir endlich Zeit zum Quatschen haben!« Die beiden verabredeten, sich nach dem Abendessen vor der Rezeption zu treffen.

Hastig beendete Inga ihr Frühstück. Ab morgen würde sie früher aufstehen, schwimmen und dann in Ruhe das Frühstücksbuffet durchprobieren, so ihr Plan.

Sie hatte Mühe, Hildegards Tempo zu halten, die mit kerzengeradem Rücken und ausholenden Schritten durch die Einkaufsstraße Richtung Strand marschierte. Unterwegs deutete die alte Dame auf einzelne Friesenhäuser, deren Geschichte sie ausführlich schilderte. Sie kamen am Haus des Gastes vorbei und am Meerwasser-Hallenbad. Inga staunte über die ausgedehnte Dünenlandschaft, bewunderte den Lesepavillon, der mitten in den Dünen thronte. Sie fotografierte den Utkieker, eine riesige Bronzefigur auf einer Aussichtsdüne, die über die ganze Insel schaute. Für Anfang März war es angenehm mild. Der sanfte Wind wiegte die Dünengräser hin und her, und einige mutige Urlauber saßen schon in luftiger Kleidung im Strandkorb. Inga schaute den Drachen hinterher, die über dem breiten Hauptstrand ihre Kreise zogen, und deutete begeistert auf einen Windsurfer, der über das Wasser glitt. Hildegard, die ihr inzwischen das Du angeboten hatte, schien zu spüren, dass Inga irgendetwas bedrückte. Mit lustigen Anekdoten aus der Bonner Altstadt versuchte sie, die junge Frau aufzuheitern. Sie verlangsamte ihren Schritt und setzte sich in einen Strandkorb auf der Promenade. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf den weitläufigen Strand und das Meer, das unter dem strahlenden Himmel heute besonders blau schimmerte.

»Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?«, fragte sie, doch Inga schüttelte nur traurig den Kopf und schaute in die Ferne. Auf keinen Fall würde sie die nette alte Dame mit ihren Eheproblemen belasten. Sie brauchte jetzt Bewegung, wollte unbedingt nah ans Meer. Langsam schlenderten sie den Bohlenweg hinunter an den Strand.

»Ist das Wasser nicht zu kalt?« Inga bewunderte Hildegard, die barfuß an der Wasserkante entlanglief.

»Ach was, zieh Schuhe und Strümpfe aus und spür mal wieder Sand unter den Füßen!«, rief Hildegard ihr zu und watete im seichten Wasser auf und ab. Vorsichtig steckte Inga einen großen Zeh ins blaue Nass, sprang dann mutig mit beiden Füßen hinein, dass das Wasser um sie herum hochspritzte. Ihre Schuhe und Strümpfe verstauten sie in Hildegards Rucksack, so dass sie bei ihrem ausgedehnten Strandspaziergang beide Hände frei hatten, um Muscheln zu sammeln oder sich gegenseitig zu fotografieren. Unterwegs erfuhr Inga, dass auch in Hildegards Leben nicht immer alles nach Plan gelaufen war.

»Als wir das kleine Hotel in der Bonner Altstadt von meinen Eltern übernahmen, hatten wir keine Vorstellung davon, wie teuer so eine Modernisierung ist und wie lange es dauert, bis der Laden mal läuft. In dieser schwierigen Phase haben wir uns oft gestritten, und als Paul unserer Nachbarin schöne Augen machte, hätte ich den ganzen Kram am liebsten hingeschmissen. Aber wir haben uns wieder zusammengerauft, und dann war ich auch schon schwanger.« Hildegard schilderte den Alltag in ihrem Hotel so lebhaft und voller Begeisterung, dass Inga am liebsten sofort mit ihr nach Bonn gefahren wäre.

»Du weißt sicher, Hildegard, dass ich Hotelkauffrau gelernt habe. Während meiner Ausbildung im ,Steigenberger‹ war ich berühmt für meine Tischdekorationen für die Festtafel. So ein eigenes kleines Hotel könnte ich mir gut vorstellen. Ich vermisse es, an der Rezeption zu stehen, die Gäste aus aller Welt zu begrüßen und für ihre kleinen und großen Wünsche da zu sein. Ein bisschen bin ich schon neidisch auf Judith, die so einen tollen Arbeitsplatz hat. Mein Job in unserer Firma hat mir nie so richtig Spaß gemacht.«

»Du bist bei uns jederzeit willkommen. Ab und zu könnte ich schon Hilfe gebrauchen.«

Um die Mittagszeit setzten sie sich auf eine der Bänke auf dem Bohlenweg, und Hildegard zauberte zwei Äpfel und eine Flasche Wasser aus ihrem Rucksack. Sofort versammelten sich drei Möwen vor ihnen im Sand und warteten darauf, gefüttert zu werden. Als sich eine besonders Vorwitzige auf einem Strandkorb postierte, zückte Inga ihr Handy, kniete sich in den Sand und fotografierte diese lustige Szenerie. Das Bild schickte sie ihrem Vater mit dem Versprechen, am Abend anzurufen. Er würde sicher Verständnis für seine kleine »Inga-Maus« haben und ihr den Rücken stärken. Die bevorstehende Scheidung verursachte ihr zunehmend Atemprobleme. Hastig sprang sie auf und lief vor der Bank hin und her.

»Was ist los, Inga? Geht es dir nicht gut?« Hildegard hielt sie am Arm fest und zog sie zu sich auf die Bank. »Möchtest du mir nicht erzählen, was dich so bedrückt?«

Inga zögerte. Dann redete sie sich doch ihren ganzen Ehefrust von der Seele.

»Du weißt schon, dass du vor deinen Problemen nicht weglaufen kannst?« Die alte Dame war aufgestanden und schaute nachdenklich über den Strand. »Wenn du dir ganz sicher bist, dass du die Scheidung willst, fahr zurück und mach Nägel mit Köpfen! Was du jetzt vor allem brauchst, sind ein guter Anwalt und deine Eltern als Verbündete. Es wird Zeit, dass sie erfahren, was für ein falscher Fünfziger ihr Schwiegersohn ist. Jetzt höre ich aber auf, dir kluge Ratschläge zu geben, lass uns ins Dorf zurückgehen. Um fünfzehn Uhr öffnet das ›Alte Inselhaus‹. Dort gibt es leckere Torten, und du musst unbedingt das älteste Haus der Insel von innen sehen.«

Inga nickte zustimmend und war erleichtert, nicht weiter über ihre Eheprobleme reden zu müssen. Sie schlugen den »Damenpad« für ihren Rückweg ein. Beide malten sich aus, wie sie in der guten alten Zeit in langen Kleidern den Weg hinunterstolzierten, jede mit einem Sonnenschirm in der Hand.

»Warte einen Moment, ich möchte das Haus fotografieren, bevor es dunkel wird.« Inga zog ihr Handy aus der Jackentasche und hielt das älteste Haus der Insel mit seinem fast bis zum Boden reichenden Dach, das sowohl mit Reet wie auch mit Ziegeln gedeckt war, und den kleinen Fenstern im Bild fest. Hildegard erklärte, dass es sich um ein »Drifthuus« handelte, ein Haus mit einem Schwimmdach. Im Falle einer Sturmflut könnten sich die Bewohner nach oben retten, und das Dach würde schwimmen.

Drinnen gab es drei kleine, wohnzimmerähnliche Räume, in denen es noch genauso aussah wie vor hundert Jahren. Selbst das Mobiliar war antik. Inga und Hildegard ergatterten einen Tisch vor dem Fenster mit Blick in den Garten. »Darf ich hier Fotos machen?«, fragte Inga die nette Bedienung, die sie fürsorglich vor der tief hängenden Lampe über ihrem Tisch warnte. So mancher Gast hätte sich vor Begeisterung über das Ambiente daran den Kopf gestoßen. Während die zwei bei riesigen Tortenstücken und Friesentee entspannt plauderten, klingelte Ingas Handy. Es war ihr Vater.

»Entschuldige, Hildegard. Da muss ich jetzt rangehen.« Inga schnappte sich im Hinausgehen ihren Parka und stellte sich zum Telefonieren vor die Haustür. »Nein, es geht mir gut, Papa. Mach dir keine Sorgen.« Sie bat ihren Vater, zuzuhören, und redete dann zum ersten Mal mit ihm über ihre Eheprobleme und ihren Entschluss, sich scheiden zu lassen.

»Wenn das so ist, werde ich unseren Familienanwalt Dr. Ritter bitten, alle notwendigen Schritte einzuleiten. Kind, warum bist du denn nicht schon früher zu mir gekommen?« Ihr Vater versuchte gar nicht erst, sie umzustimmen. Sie war froh, ihn mit seiner zupackenden Art an ihrer Seite zu wissen. »Kannst du es bitte Mama so schonend wie möglich beibringen und dafür sorgen, dass sie nicht gleich zu ihrem Lieblingsschwiegersohn rennt, um ihn zu trösten?«

Ihr Vater versprach, seine Frau auszubremsen. »Aber du weißt, wie temperamentvoll deine Mutter reagieren kann. Deshalb solltest du auch so schnell wie möglich zurückkommen, um selbst mit ihr zu reden. Wir müssen uns zusammensetzen und klären, wie es mit der Firma weitergeht und was aus euren gemeinsamen Immobilien wird.«

Ihr Vater hatte ja recht, sie durfte auf Spiekeroog nicht einfach den Kopf in den Sand stecken, während Jörg zu Hause schalten und walten konnte, wie er wollte. Schließlich hatte auch sie Verantwortung für die gemeinsame Firma und die zwölf Angestellten übernommen. Trotzdem würde sie wie geplant erst am Sonntag zurückfahren. Um sich den notwendigen Auseinandersetzungen zu stellen, war sie jetzt noch zu aufgewühlt.

Hildegard stellte keine Fragen, als Inga zurückkam und lustlos in ihrer Torte stocherte. »Papa ist zwar auf meiner Seite, aber ich habe Angst, dass Mama mal wieder mir die Schuld gibt und zu Jörg hält. Am liebsten hätte sie ihn damals selbst geheiratet.«

»Dann musst du so bald wie möglich mit ihr reden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter Jörgs Seitensprünge gutheißt.« Hildegard lächelte Inga aufmunternd an, die immer nachdenklicher wurde und schließlich abwesend aus dem Fenster schaute.

»Ach, übrigens, morgen kommt Stefan, unser Sohn, um mich abzuholen. Wir fahren am Montag zurück nach Bonn.« Sie schwärmte davon, wie aufmerksam Stefan sei, da er sie jedes Jahr hier hochbringen würde. »Und ich spendiere ihm immer die kurze Auszeit auf der Insel.«

Inga beglückwünschte Hildegard zu ihrem Sohn, stellte sich aber insgeheim vor, dass Stefan mit seinen fünfundvierzig Jahren ein richtiges Muttersöhnchen sein musste. Als ob Hildegard ihre Gedanken lesen könnte, erzählte sie ihr von Stefans langjähriger Freundin, die vor zwei Jahren an Brustkrebs gestorben war. »Seitdem verkriecht er sich in die Arbeit. Die paar Tage auf Spiekeroog sind die einzigen Auszeiten, die er sich gönnt.«

Am liebsten würde Inga die Einladung ihrer neuen Freundin zu einem gemeinsamen Abendessen mit Stefan ausschlagen. Hatte sie doch das ungute Gefühl, dass Hildegard eine Frau für ihren Sohn suchte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, zu Hause der untreue Mann und hier ein trauernder.

Judiths Appartement befand sich in einem ehemaligen Kindererholungsheim. Familie Germis, die Inhaber des Hotels »Inselfriede«, hatten das leer stehende Haus vor einigen Jahren erworben, und die Räume nach und nach zu kleinen Appartements für die Angestellten umgebaut.

»Hast du aber einen tollen Blick auf die Wattenmeerseite.« Mit einem Glas Rotwein in der Hand stand Inga am Wohnzimmerfenster und schaute zum Hafen. »Wie gern würde ich in so einer kleinen gemütlichen Wohnung leben, ohne Mann. Stattdessen hocke ich mit Jörg in diesem Ungetüm von Bungalow und bin einsam.« Sie hatten den ganzen Abend über Ingas Eheprobleme gesprochen, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht einmal nach dem Privatleben ihrer Freundin gefragt hatte.

»Was soll ich dir da erzählen? Ich bin glücklich hier auf der Insel. Habe viele Freunde unter den Insulanern, und natürlich gibt es da auch jemanden, mit dem ich mich ab und zu treffe. Aber nichts Ernstes. Es ist gut, so wie es ist. Erzähl mir mal lieber, wie du dir dein Leben nach der Scheidung vorstellst. Hast du schon eine Ahnung davon, was du machen möchtest?«

Und genau das hatte Inga nicht. So sehr sie ein Ende ihres Ehedramas herbeisehnte, so sehr fürchtete sie sich davor, allein zu sein.

3.

Dicke Regentropfen klatschten Inga ins Gesicht, liefen ihren Nacken herunter, und der Wind zerrte an ihren Haaren. In ihren Hotelbademantel gehüllt, rannte sie die wenigen Schritte bis zum Spa des Hotels, das sich in einem separaten Gebäude befand. Sie schaffte es tatsächlich, vor dem Frühstück schwimmen zu gehen. Außer ihr zog nur eine ältere Dame mit altmodischer Badekappe stoisch ihre Bahnen durch das Becken, so dass Inga problemlos rückenschwimmen konnte. Ihr Körper fühlte sich gut an, schwerelos und leicht. Wenn doch das ganze Leben so sein könnte! Zum ersten Mal seit langer Zeit freute sie sich auf ein ausgedehntes Frühstück.

Frisch geduscht und dezent geschminkt ging sie auf ihrem Weg zum Frühstücksraum an der Rezeption vorbei, um sich bei Judith für den gestrigen Abend zu bedanken. »Heute bin ich mit Hildegard und ihrem Sohn verabredet. Ich hoffe, du bist nicht sauer deshalb.«

»Quatsch, ich find es super, dass du dich mit ihr so gut verstehst. Ihren Sohn wirst du auch mögen. Ein richtig netter Typ. Schade, dass er in Bonn lebt, sonst könnte ich glatt schwach werden«, alberte Judith herum und grinste. Doch Inga ging nicht darauf ein, drückte ihr nur einen Kuss auf die Wange und verschwand im Frühstücksraum.

An diesem Morgen schienen alle Hausgäste zur gleichen Zeit Hunger zu haben. Inga war froh, als Hildegard ihr aus dem Wintergarten zuwinkte und auf einen freien Platz an ihrem Tisch deutete.

»Wie war’s bei Judith?«, fragte sie, als Inga mit einem üppig beladenen Teller vom Buffet zurückkam. Während Inga heißhungrig Lachs und Rührei in sich hineinstopfte und von Judiths Wohnung schwärmte, schaute Hildegard immer wieder ungeduldig auf ihre Armbanduhr. Eine Viertelstunde später, Inga war beim Müsli angelangt, sprang sie hektisch auf und verabschiedete sich.

»Ich muss zur Fähre, Stefan abholen! Wir sehen uns heute Abend.« Und schon eilte sie davon. Inga gönnte sich noch eine Tasse Milchkaffee und las in aller Ruhe die Tageszeitung.

Während draußen der Wind um die Häuser pfiff und es mittlerweile Bindfäden regnete, ließ sich Inga in der Wellnessabteilung des Hotels verwöhnen. Judith hatte eine Ganzkörper-Ölmassage für sie gebucht, und es dauerte keine fünf Minuten, bis Inga unter den erfahrenen Händen der Therapeutin vor Behagen schnurrte wie ein Kätzchen. Der von der langen Autofahrt verspannte Nacken wurde langsam wieder schmerzfrei. Inga spürte, wie sich ihre Anspannung löste.

»Nutzen Sie die Zeit bis zur Gesichtsbehandlung, um sich auszuruhen«, empfahl ihr die Therapeutin, und genau das tat Inga auch. Eingewickelt in eine Decke lag sie im wintergartenähnlichen Ruheraum. Entspannt beobachtete sie die vorbeiziehenden Wolken über den Richelwiesen. Das gleichmäßige Heulen des Windes und der beruhigende Lavendelduft eines Aromaöl-Lämpchens sorgten dafür, dass ihr Kopf zur Ruhe kam, und sie einschlummerte.

»Frau Reuter.« In der Ferne rief jemand ihren Namen und eine Hand strich sanft über ihren Arm. »Ich hole Sie zur Gesichtsbehandlung ab.«

»Aber nur, wenn ich dabei weiterschlafen darf.« Fast wie in Zeitlupe schälte sich Inga aus der Kuscheldecke und folgte der Kosmetikerin in den Behandlungsraum. Eine Stunde später schwebte sie fast aus dem Spa. Ihre Haut war rosig wie ein Kinderpopo, und sie duftete zart nach Pfingstrosen. Das sollte ich mir zu Hause auch mal gönnen, war ihr erster Gedanke, als sie zu einem Spaziergang durch den Ort aufbrach. Der Regen hatte aufgehört, und es war so warm geworden, dass sie ihren Parka aufknöpfte und den Schal in der großen Handtasche verstaute. Bis zum Abendessen blieb genug Zeit für einen ausgiebigen Einkaufsbummel. In der Inselbuchhandlung erstand sie einen Krimi für sich und einen Bildband über die Insel für ihre Eltern. Im Schaufenster der Boutique gegenüber entdeckte sie eine entzückende Handtasche, eine von der Sorte, die jede Frau unbedingt haben musste. Jörg hatte sich so oft über ihre Handtaschensucht aufgeregt, dass sie sich in letzter Zeit jeden Neukauf verkniffen hatte. Doch heute bremste sie kein Jörg aus, diese Tasche musste sie haben.

»380 Euro«, sagte die Verkäuferin, und Inga reichte ihr die Kreditkarte.

»Tut mir leid, aber die Karte funktioniert nicht.« Die junge Frau schüttelte bedauernd den Kopf, und Inga kramte in ihrem Portemonnaie nach der Visa-Card. Doch auch die wurde vom Lesegerät nicht akzeptiert. »Haben Sie es nicht bar?« Die Verkäuferin wurde langsam ungeduldig, und eine aufgetakelte Dame, die hinter Inga stand und darauf wartete, bedient zu werden, räusperte sich empört.

»Das verstehe ich nicht, können Sie es nicht noch mal mit der Visa-Card probieren?«, bat Inga mit flehender Stimme. Die Situation wurde langsam peinlich. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, und ihr Gesicht glühte.

Als auch der erneute Versuch mit der Visa-Card fehlschlug, fragte sie kleinlaut nach der Möglichkeit, die Tasche zurücklegen zu lassen, und verließ überstürzt das Geschäft.

»Das habe ich mir gleich gedacht. So wie die aussah, konnte sie sich die Tasche gar nicht leisten«, hörte Inga die Verkäuferin hinter ihrem Rücken sagen.

Am liebsten wäre sie jetzt im Boden versunken. Sie eilte schnurstracks ins Hotel und zu Judith. Die saß am Computer und buchte die neuen Anmeldungen ein. »Welcher Geist ist dir denn erschienen?« Ein Blick in Ingas puterrotes Gesicht reichte. Sie stand auf und ging besorgt auf die Freundin zu.

»Ich glaube, Jörg hat meine Kreditkarten sperren lassen«, stöhnte Inga verzweifelt.

»Dann musst du ihn sofort anrufen. Stell ihn zur Rede. Lass dir nicht alles gefallen!« Judith hatte sie bei den Schultern gepackt und drehte sie Richtung Treppe. »Los, worauf wartest du?«

Langsam, unendlich langsam, bewegte sich Inga mit hängendem Kopf und gebeugtem Rücken die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Alles in ihr sperrte sich dagegen, Jörg kleinlaut darum zu bitten, ihre Konten wieder freischalten zu lassen. Doch ihr blieb nichts anderes übrig.

»Muss ich erst deine Karten sperren lassen, damit du dich bei mir meldest? Es wird Zeit, dass du zurückkommst und dich wieder daran erinnerst, dass unsere Firma nicht von alleine läuft!« Diesmal schrie er sie unbeherrscht an, ließ ihr keine Chance, zu reagieren.

»Wie kannst du nur so gemein sein?«, brachte sie mühsam heraus, dann hatte ihr Mann das Gespräch schon beendet. Blieb nur ihr Vater! Hastig wählte sie seine Nummer, erreichte aber lediglich die Mailbox. Bestimmt war er um diese Zeit auf dem Tennisplatz. Sie hinterließ ihm eine Nachricht, schrieb zur Sicherheit eine SMS. Inga lief in ihrem Zimmer auf und ab, immer mit Blick auf das Handy.

Erst als sie zum Abendessen nach unten wollte, meldete sich ihr Vater zurück. »Ich habe gerade mit Jörg gesprochen. Sieht gar nicht gut aus mit eurer Firma.«

»Wieso das denn? Wir konnten uns doch in letzter Zeit kaum vor Aufträgen retten?« Inga wurde es speiübel, ihr Magen krampfte.

»Die Firma, die den Großauftrag für die Ausstattung von vierzig Bädern in einem Neubauprojekt erteilt hat, ist insolvent. Jörg hat die Bäder bereits eingebaut und sitzt jetzt auf den Kosten. Du musst umgehend zurückkommen, hier brennt die Hütte!« Ihr Vater, sonst die Ruhe in Person, war total aufgebracht und nervös.

Inga traute sich kaum, ihn mit ihren Problemen zu belasten. »Heißt das, dass meine Konten gesperrt sind, weil das Limit ausgeschöpft ist? Wie soll ich jetzt meine Hotelrechnung bezahlen? Und tanken muss ich auch noch!«

»Gib mir die Bankverbindung des Hotels und die Rechnungssumme durch, dann überweise ich den Betrag direkt und noch etwas mehr. Das kannst du dir in bar auszahlen lassen. Wann kommst du?« Sein Ton war zunehmend aggressiver. So kannte Inga ihren Papa gar nicht. Die Lage schien wirklich ernst zu sein.

»Okay, ich werde übermorgen die Frühfähre nehmen und bin hoffentlich gegen Mittag bei euch.«

»Fahr bitte vorsichtig, Kleines. Der Porsche ist nichts für nervöse Fahrer, der reagiert auf die kleinste Unsicherheit.«

Wenigstens machte er sich Sorgen um sie. Inga konnte sich genau vorstellen, wie sehr ihn die Probleme der Firma mitnahmen. So ganz hatte er sich noch nicht von ihr gelöst. Schließlich war er es gewesen, der diese Firma gegründet hatte, und er nannte sie stolz sein Baby.

Nach diesem Telefonat wäre Inga am liebsten den Rest des Abends in ihrem Zimmer geblieben und hätte Trübsal geblasen. Wie sollte sie mit Hildegard und Stefan an einem Tisch sitzen und sich nett unterhalten, wenn ihr zum Heulen war und ihr so langsam die Probleme über den Kopf wuchsen? Während sie überlegte, die Verabredung abzusagen, klopfte es an ihrer Zimmertür.

»Judith deutete an, dass du Probleme hast.« Hildegard schaute sie ernst an, kam dann auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber du bist mir so sympathisch. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Inga lehnte den Kopf an Hildegards Schulter und seufzte. »Unsere Firma steckt in ernsten Schwierigkeiten«, brachte sie unter Schluchzen heraus. »Sogar meine Konten sind gesperrt.«

Geduldig wartete Hildegard, bis sich Inga beruhigt hatte, setzte sich dann in einen der kleinen Sessel und bat Inga, Platz zu nehmen. »Jetzt erzähl mal der Reihe nach.«

Eine halbe Stunde später betraten die zwei Frauen das Restaurant. Ein großer, schlanker Mann kam auf sie zu und führte sie zu ihrem Tisch. Das Auffälligste an Stefan waren seine braunen Augen, die so traurig aussahen, dass Inga für einen Moment vergaß, wie elend sie sich fühlte.

»Hallo, ich bin Inga«, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand. Sein Händedruck war fest und warm, seine Stimme hatte einen überraschend fröhlichen Klang, der so gar nicht zu dem ernsten Gesichtsausdruck passte. »Mama hat schon von dir geschwärmt. Ich darf doch Du sagen?« Ganz Gentleman rückte Stefan beiden Frauen den Stuhl zurecht und setzte sich dann ihnen gegenüber. »Habt ihr schon entschieden, was ihr essen wollt? Ich habe nach der Anreise einen solchen Kohldampf, dass ich die ganze Karte einmal rauf und runter essen könnte.«

Als hätten sie sich abgesprochen, entschieden sich alle drei für den Wolfsbarsch und wählten die rote Grütze zum Dessert. Hildegard bestellte eine Flasche Grauburgunder und bestand darauf, den Wein auf ihre Rechnung setzen zu lassen. Inga, die seit dem opulenten Frühstück nur etwas Obst gegessen hatte, trank ihr erstes Glas schon vor der Vorspeise. Sie bereute es aber sofort, denn ihr Kopf wurde plötzlich leicht, und der Raum schien sich zu bewegen. Hastig griff sie zum Wasserglas und leerte es in einem Zug.

»Das hab ich jetzt gebraucht nach diesen Hiobsbotschaften«, entschuldigte sie sich, und als Stefan sie fragend ansah, schilderte sie ihm, ohne lange zu überlegen, das ganze Finanzdesaster ihrer Firma. Ihre Eheprobleme sprach sie bewusst nicht an. »Deshalb muss ich am Sonntag zurückfahren. Mein Vater hat den Familienrat einberufen. Aber was belaste ich euch hier mit meinen Problemen? Wir wollten doch einen gemütlichen Abend haben.« Sofort bereute sie es, mal wieder nur über ihre Probleme geredet zu haben, und erkundigte sich bei den beiden, was sie für die nächsten Tage geplant hätten.

»Das ist jetzt nicht so wichtig.« Stefan sah sie besorgt an. »Vor drei Jahren stand ich mit meiner Elektrofirma vor einem ähnlichen Problem. Lass uns gleich nach dem Essen in Ruhe darüber sprechen.«

Dankbar lächelte Inga ihn an und nickte, senkte dann aber sofort wieder den Blick. Als die Vorspeise serviert wurde, griff sie hastig zum Besteck und widmete sich so intensiv ihrem Wildkräutersalat, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen.

»Hast du deine Massage genossen?«, lenkte Hildegard geschickt ab, und Inga schwärmte von den Zauberhänden der Therapeutin und schilderte ihren entspannten Nachmittag im Spa.

»Na, dann kann ich mich ja schon mal auf mein Verwöhnprogramm freuen.« Auch Hildegard hatte für den nächsten Vormittag eine Massage gebucht und im Anschluss eine Kosmetikanwendung. »Hoffentlich sieht meine Haut dann genau so rosig aus wie deine.« Bewundernd strich sie über Ingas Wange und lächelte sie an.

»Hab ich ein Glück, mit den schönsten Frauen der Insel diesen Abend verbringen zu dürfen.« Stefan versuchte, heiter zu klingen, doch in seinen Augen lag sehr viel Trauer.

4.

»Hilfe!« Inga schrie aus Leibeskräften, trat um sich und versuchte, an die Wasseroberfläche zu kommen, doch etwas hielt sie fest. Sie schlug so heftig mit den Armen, dass ihre rechte Hand gegen einen harten Gegenstand stieß, und ein dumpfer Schmerz bis in ihren Arm fuhr.

Sofort war sie hellwach, saß senkrecht im Bett und schaute sich um. Was für ein schrecklicher Alptraum. Irgendjemand hatte sie unter Wasser gezogen. Sie schaltete die Leselampe an und stand auf, holte ein Getränk aus der Minibar und presste sich die kühle Flasche an die heißen Schläfen. Dann trank sie das Wasser aus, ohne einmal abzusetzen.

Es war erst sechs Uhr. Zu früh, um schwimmen zu gehen. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Lustlos blätterte sie in einer Frauenzeitschrift, wollte einige Seiten in ihrem neuen Krimi lesen, konnte sich aber nicht auf die Handlung konzentrieren. Hastig zog sie sich an, rannte die Treppe hinunter und verließ das Hotel.

Die ganze Insel schien zu schlafen. Selbst die Vögel waren still, und der Wind ruhte sich aus. Ziellos wanderte sie aus dem Ort hinaus, vorbei an den Pferdeweiden. Immer noch raste ihr Puls, und sie rang nach Atem. Auf der Aussichtsdüne entdeckte sie einen einsamen Wanderer. Ob ihn auch ein Alptraum aus dem Bett vertrieben hatte? Der Mann trug eine Strickmütze und eine blaue Regenjacke. Er schaute konzentriert durch ein Fernglas über das Watt.

»Guten Morgen«, murmelte Inga leise, um ihn nicht zu erschrecken.

Der Mann zuckte kurz zusammen, ließ das Fernglas sinken und schaute sie an. »Inga, was für eine Überraschung. Ich dachte schon, ich wäre der einzige Frühaufsteher auf dieser Insel. Für mich gibt es nichts Schöneres, als schon vor dem Frühstück über die Insel zu laufen und die Vögel zu beobachten. Da schau mal.« Er reichte ihr sein Fernglas und deutete Richtung Watt.

»Ich sehe nichts.« Inga hielt das Glas mal wieder verkehrt herum und schaute durch die falsche Seite.

»Kein Wunder!« Lachend drehte Stefan das Fernglas um, und diesmal entdeckte Inga die riesige Vogelkolonie.

»Sind das Graugänse?«

»Ja, und direkt daneben brüten die Lachmöwen. Wenn wir Glück haben, sehen wir gleich auch noch den Rotschenkel.«

Fasziniert hörte Inga Stefan zu, bewunderte sein Fachwissen und fühlte sich zum ersten Mal an diesem Morgen wieder wohl in ihrer Haut. Es war schön, den Tag hier draußen zu beginnen.

»Ich gehe noch bis zur Hermann-Lietz-Schule. Kommst du mit?« Stefan griff in seine Jackentasche und zog einen Müsliriegel hervor. »Wir teilen brüderlich, äh, schwesterlich.« Geschickt brach er den Riegel in der Mitte durch und reichte ihr eine Hälfte.

»Normalerweise bin ich keine Frühaufsteherin. Aber heute Morgen habe ich es einfach nicht länger im Bett ausgehalten.« Inga biss ein kleines Stück vom Müsliriegel ab, kaute hastig und schilderte Stefan dann ihren Alptraum.

»Das kenne ich. Als Christina krank wurde, hatte ich oft solche schlimmen Träume. Wachte schweißgebadet mitten in der Nacht auf. Seitdem gehe ich jeden Morgen schon vor der Arbeit spazieren. Nur so überstehe ich den Tag.«

»Hast du immer noch Schlafprobleme?« Inga traute sich nicht, ihn auf Christinas Tod anzusprechen, denn Stefan nickte nur und wechselte abrupt das Thema.

»Wollen wir durch das Wäldchen zurückgehen? Meine Mutter freut sich bestimmt, wenn wir mit ihr zusammen frühstücken.«

Den Rest des Weges wanderten beide schweigend nebeneinanderher. Obwohl Stefan um einiges größer war als Inga, hatte er seinen Schritt ihrem angepasst. »Dich scheint aber irgendetwas anderes zu beschäftigen. Willst du nicht darüber reden? Vielleicht kann ich dir ja helfen.«

Inga schluckte. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht mit ihm über ihre Ehekrise zu reden. Tat es dann aber doch. »Es sind nicht nur die Probleme mit unserer Firma, die mir zu schaffen machen. Mich quält die bevorstehende Auseinandersetzung mit meinem Mann.« Jetzt war es heraus. Inga schnaufte einmal tief durch, bevor sie Stefan ihr ganzes Ehedrama anvertraute.

Er unterbrach sie nicht. Erst als sie an dem kleinen Friedhof der Namenlosen stehen blieben, um die Inschrift auf dem Gedenkstein zu lesen, drehte er sich zu ihr um und sah sie an. »Weißt du, es tut verdammt weh, seinen Herzensmenschen zu verlieren, mit dem man so glücklich war. Aber ich glaube, es tut genauso weh, wenn man von dem Menschen, den man liebt, immer wieder betrogen wird. Du musst dich von ihm trennen.«

Überrascht schaute Inga ihm in die Augen. »Danke, Stefan. Es tut gut, mit dir darüber zu reden.«

Sanft strich Stefan über ihr vom Wind zerzaustes Haar, ordnete die Ponysträhnen. »Du kannst mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, auch wenn du nur quatschen willst. Und wenn du es in Dortmund nicht mehr aushältst, packst du einfach deinen Koffer und kommst nach Bonn. In Mamas Hotel ist immer ein Dachzimmerchen frei.« Mit dem Fuß malte er ein Haus in den sandigen Boden und zeichnete unter dem Dach ein kleines Zimmer mit einem noch kleineren Bett ein. »Siehst du? Da würdest du dann wohnen.«

Ingas Miene hellte sich auf, und sie zeichnete ein kleines Auto mit einem riesigen Koffer auf dem Dach neben das Haus. »So würde ich bei euch vorfahren. Standesgemäß, oder?« Beide kicherten ausgelassen wie zwei Teenager, schubsten sich gegenseitig und standen schließlich Rücken an Rücken mitten auf dem Haus im Sand. »Zur Not passen wir beide in die Dachkammer.«

Als Inga und Stefan kurz darauf den Frühstücksraum des Hotels betraten, sah Hildegard ihnen schon erwartungsvoll entgegen. »Na, ihr scheint ja einen aufregenden Spaziergang gemacht zu haben!«

Ingas Wangen glühten, und sie senkte ertappt den Blick. »Wir haben uns ganz zufällig auf der Aussichtsdüne getroffen«, stammelte sie.

»Und dann habe ich sie heldenhaft vor den Gefahren der Insel beschützt und zurückbegleitet.« Stefan stellte zwei Gläser Orangensaft auf den Tisch und zog Inga mit sich. »Ran ans Buffet. Wer weiß, wann du deine nächste gute Mahlzeit bekommst?« Seine Augen hatten ihre Traurigkeit verloren, er schaute sie so verschmitzt an, dass sich Inga für einen Moment unbeschwert und leicht fühlte. Während des Frühstücks alberten Stefan und sie ausgelassen herum, bis einige Hotelgäste ihnen böse Blicke zuwarfen, und Hildegard mahnte: »Kinder, nicht ganz so wild. Sonst muss die Mama mit euch auf dem Zimmer essen!«