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© 2015 Helmut Fischer
Sind die Kirchen noch zu retten?
Die europäischen Christen vor den
Herausforderungen durch den Kulturwandel
Philia Verlag Bad Nauheim
Gedruckt und zu beziehen von: BoD - Books on Demand GmbH
ISBN 978-3-7392-5998-7
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Dieses Buch widme ich jenen Vertretern der Kirchen, die sich hartnäckig weigern, die Situation der Kirchen im gegenwärtigen europäischen Kulturgefüge realistisch wahrzunehmen. Mehr als ein Dutzend religiöser Verlage haben mir durch Ihre stereotype Ablehnung des Manuskripts („passt nicht in unser Programm“) zu verstehen gegeben, dass darin Dinge verhandelt werden, die kirchlichen Ohren nicht gefallen.
Mein Dank gilt den Gesprächspartnern, mit denen ich bei unterschiedlichen Gelegenheiten die hier verhandelten Themen prüfend diskutiert habe, ganz besonders den Traditionalisten unter ihnen. Denn gerade sie haben mir durch ihre starre Weigerung, sich auf die Probleme der Gottesfrage inhaltlich einzulassen, eindrucksvoll vor Augen geführt, wie notwendig es für die Glaubwürdigkeit der Kirchen ist, längst fällige Fragen in das öffentliche Gespräch zu bringen.
Mein Dank gilt besonders Frau Bärbel Behrens für die Erstellung des Typoskripts, Frau Dietlind Wienen für das Korrekturlesen und Herrn Kurt Bangert, der dem Bändchen die ansprechende graphische Gestalt gab.
Alle Umfrageergebnisse der letzten Jahrzehnte zur christlichen Religion in Mitteleuropa enthalten die gleiche Botschaft: Die Austrittszahlen liegen seit Jahrzehnten hoch, die Zustimmungs-Werte zu den Kernthemen des traditionell formulierten christlichen Glaubens und die Teilnahme an den religiösen Praktiken der Kirchen sinken, und zwar mit zunehmender Tendenz. Daraus wird der Schluss gezogen: Nicht nur der christliche Glaube, sondern die Religion generell sei in der Krise. Eine Kirche versucht diesem Aderlass mit „europäischen Evangelisations-Offensiven“ entgegen zu wirken. Andere sehen darin ein „fröhliches Gesundschrumpfen“ oder sie entzünden kurzlebige „Leuchtfeuer“ oder sie reagieren darauf technokratisch mit Rückbaumaßnahmen oder wirtschaftsstrategisch mit neuen Marketing-Konzepten. Die Selbstentschuldung der Kirchen funktioniert perfekt, denn sie suchen Schuld und Ursachen für die diagnostizierte „Religionsverdunstung“ bei anonymen gottfeindlichen Mächten wie der Säkularisierung, bei der Konsum- und Genussgesellschaft, bei den Ego-Ideologien u. v. a. m. Die aufgezählten Begründungen für den vermeintlichen Religionsverlust erklären freilich wenig, denn sie schildern nur gedeutete Symptome.
Gewiss gibt es eine Reihe von kulturellen Faktoren, die zum Plausibilitätsverlust kirchlicher Inhalte und Frömmigkeitspraktiken beitragen. Eine Kirche, die diesen Plausibilitätsverlust wahrnimmt und ernstnimmt, sollte aber nicht zuerst nach externen Gründen dafür suchen, sondern danach fragen, wo ihr eigener Anteil an dem Problem liegt, und sich darauf konzentrieren, die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, der kirchlichen Entfremdung aktiv zu begegnen. Jene schlichte Klampfentheologie, die Gottes Liebe „wie Gras und Ufer“ in einem schwedischen Urlaubsparadies anpreist, wird dazu kaum ausreichen. Bischofsworte oder Präsidentenbriefe zu Weihnachten und Ostern lösen das Problem ebenfalls nicht. Sie dokumentieren es allerdings als eine tiefe Krise der Sprache christlicher Verkündigung. Auch wenn die folgenden Ausführungen für das anstehende Problem nicht bereits die fertigen Lösungen vorlegen können, so versuchen sie doch zu zeigen, wo der Handlungsbedarf und die Handlungsmöglichkeiten der Kirche liegen, um dem beklagten Verlust von Religion aktiv entgegenzuwirken.
Dieser bewusst kurze Text ist mit der Absicht verfasst worden, ein für die christliche Verkündigung dringliches Thema ins Gespräch zu bringen, und zwar auf möglichst vielen Ebenen der Kirche. Es geht dabei nicht um die Kirche selbst, sondern um ihren Auftrag in der Welt. Ein Kurztext enthält zugespitzte Formulierungen, die er nicht gegen alle nur möglichen Missdeutungen absichern kann. Er setzt auf Leserinnen und Leser, die in der Lage und willens sind, seine Aussagen und Anregungen gemäß seinen Prämissen, seiner Intention und seiner Logik zu verstehen und weiterzudenken. Er geht davon aus, dass die Leser die Reduktion auf Wesentliches nicht mit Reduktionismus gleichsetzen, und das, was nicht erwähnt wird, als Ablehnung oder Ausblendung werten. Gegen die Missachtung der Intention des Textes und gegen falsches Hochrechnen seiner Prämissen zu einer gewollten conclusio oder reductio ad absurdum gibt es außerhalb eines kultivierten Dialogs keinen Virenschutz.
Die hier vorgetragenen Überlegungen gehen von der vielfach abgesicherten Erkenntnis aus, dass die Mehrzahl der deutschsprachigen Zeitgenossen ihre Welt und ihr Leben nicht mehr im Rahmen des monotheistischen Paradigmas (Denkmodells) verstehen und deuten, wonach ein allmächtiger und alsPerson vorgestellter Schöpfergott die Geschichte der Welt und auch jedes persönliche Leben lenkt. Dieser ernüchternde Tatbestand ist mit seinen vielfältigen Konsequenzen von der Kirche endlich wahrzunehmen und ernstzunehmen.
Es ist nicht Sache der Kirche, Religion im Sinne einer Kultpraxis oder Weltanschauung zu pflegen und theologische Systeme zu verkünden. Die Existenz einer christlichen Kirche liegt in ihrem Auftrag begründet, die Botschaft Jesu den Menschen ihrer Welt und Zeit nahezubringen. Damit ist die Frage gestellt, wie die im theistischen Paradigma verfasste und überlieferte Botschaft jenen Zeitgenossen nahegebracht werden kann, die, aus noch anzudeutenden Gründen, die Welt und ihr Leben nicht mehr theistisch denken und verstehen. Allein dies ist Thema der folgenden Ausführungen. Die theistische Redeweise für die, die darin zuhause sind, ist damit weder abgewertet noch abgetan noch in ihrem Recht grundsätzlich bestritten. Der Fokus des Nachdenkens ist hier freilich auf jene Mehrheit gerichtet, denen theistisches Denken fremd geworden ist.
Ausdrücklich sei betont, dass in diesem Text nicht verhandelt wird, wie Gott vorzustellen, zu denken, zu definieren sei. Dazu hat sich der Verfasser in anderen Veröffentlichungen geäußert.
Da es hier nicht um das schnelle Rezept, sondern um ein begründetes Konzept geht, ist es nötig, sich die langfristigen kultur- und geistesgeschichtlichen Prozesse zu vergegenwärtigen, in die christliche Verkündigung zu allen Zeiten eingebunden war und auch heute eingebunden ist. Die historischen Ausführungen verdeutlichen lediglich die entscheidenden religionsgeschichtlichen Weichenstellungen und dass die Herausforderungen, vor denen die christliche Verkündigung steht, zu allen Zeiten strukturell die gleichen waren. Wie zu zeigen sein wird, ist der Umbruch des Denkens, der sich kollektiv im letzten Jahrhundert vollzog, tiefergreifend als in den Jahrtausenden davor.
Bis ins 19. Jahrhundert haben sich alle Veränderungen im Weltverständnis nach Inhalt und Ausdruck innerhalb des theistischen Paradigmas vollzogen. Das kulturgeschichtlich Neue, das auch von der Verkündigung neue Lösungen forderte, hat sich seit der Aufklärung zunächst bei Wissenschaftlern und Philosophen und erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts bei der Mehrzahl der mitteleuropäischen Zeitgenossen durchgesetzt, nämlich der Umbruch von dem theistischen zu einem nontheistischen Paradigma des Welt- und Selbstverständnisses. Der Blick in die Geschichte zeigt, wie dringlich, notwendig und groß die Aufgabe ist, vor der die christliche Verkündigung heute steht. Und Verkündigung ist nicht allein an die verbeamteten Prediger zu delegieren; sie ist Sache jeder Gemeinde und derer, die sich zu ihr zählen.
Traditionelles kirchliches Denken neigt dazu, den Inhalt der Botschaft Jesu, wie sie uns in den Sprachformen der Bibel, der Dogmen und der Bekenntnisse vorliegt, für alle Zeit festgeschrieben zu sehen, d. h. Gehalt und Gestalt der Botschaft gleichzusetzen. J. Ratzinger steht nicht allein da, wenn er als Professor und als Papst bis in seine letzte Enzyklika und in seine private Veröffentlichungen keine Gelegenheit ausgelassen hat, jeden Hinweis darauf, dass unsere sprachlichen Äußerungen in die jeweilige Sprache, Kultur und politischen Umstände eingebunden sind, als „Relativismus“ zu diffamieren. Wer hinter die Einsicht zurückfällt, dass wir geistige Inhalte immer nur in den Denkmustern, Anschauungsformen und Symbolen einer bestimmten Sprache und vor dem Hintergrund unserer Zeit – also sprach- und zeitgebunden – formulieren können, der schließt sich selbst aus dem Dialog mit seinen Zeitgenossen aus und verzichtet darauf, sie mit seiner Botschaft zu erreichen. In der Verkündigung gilt es nicht, seine erlernten oder gewohnten Glaubensvorstellungen zu bekennen, sondern das zu tun, was Paulus bereits 1Kor 9,10 ff. so ausdrückte: den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche zu werden, d. h. die Botschaft im Denkhorizont und in der Sprache der jeweiligen Adressaten auszudrücken, um sie in ihrer Welt zu erreichen.
Zum gleichen Problem gibt es stets unterschiedliche Zugänge. Ein schriftlicher Sachtext bemüht sich um systematische Entfaltung seines Themas. Leserinnen und Lesern, die einen pragmatischen Zugang zumThema haben, sei empfohlen, mit Kapitel 6 zu beginnen und sich den Begründungen in den historischen Kapiteln 2 bis 5 erst zuzuwenden, wenn sich Fragen dazu einstellen.
Aus langer Gesprächserfahrung mit der Thematik dieser Schrift habe ich Anlass zu der Feststellung, dass ich für das verantwortlich bin, was ich geschrieben habe, nicht aber für das, was Leserinnen oder Leser aus diesem Text heraus- oder in ihn hineinlesen.
Klärungsbedarf besteht bereits bei dem Begriff „Religion“. Dieses Wort haben wir von den Römern übernommen, und es trägt bis heute die typischen Kennzeichen der römischen Religionspraxis und der Staatsreligion in der Kaiserzeit. Im Mittelpunkt jener Religionspraxis standen die Zeremonien und Verehrungsrituale für die staatlich anerkannten Götter, deren Wohlwollen man damit sicherzustellen suchte. Für die korrekt auszuführenden Kulthandlungen waren die Priesterkollegien zuständig, die, vom Staat versorgt, unter der Aufsicht des Pontifex Maximus standen. Als zentraler Kultakt galt das blutige oder unblutige Opfer, das den Göttern als Speisung dargebracht wurde.
Von dieser römischen Kultpraxis her ist das europäische Religionsverständnis darauf festgelegt, dass sich Religion auf die Verehrungspraxis der Götter bezieht. Die Religionswissenschaft hat aber gezeigt, dass mit diesem europazentrierten Religionsverständnis viele Erscheinungsformen des Religiösen nicht zu erfassen sind, weil Gottheiten nicht überall vorkommen. Unstrittig ist aber auch, dass ein konsensfähiges Religionsverständnis bisher nicht zu finden war und wohl auch nicht zu erreichen sein wird. So legt es sich nahe, nicht von den Formen und Funktionen der religiösen Erscheinungen auszugehen, sondern den Bereich von Religion dort zu suchen, wo er in seiner elementaren Form auftaucht, nämlich bei der conditio humana und dem Versuch des Menschen, sein Leben zu bestehen.