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Marlies Grötzinger

Seerausch

Bodensee-Roman

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Zum Buch

Turbulenzen am Bodensee Täglich beweist der Bodensee den Wasserschutzpolizisten Isabel Böhmer und ihrem Liebhaber, Polizeidirektor Carl W. Dangelmann, seine Unberechenbarkeit. Mitten in der Urlaubszeit hat er beide in tödliche Gefahr gebracht, aus der sie nur mühsam ins Leben zurückfinden. Die Hochsaison für Wassersportler bedeutet auch Hochbetrieb für die Wasserschutzpolizei am Schwäbischen Meer. Unter mysteriösen Umständen explodiert ein Segelboot und versinkt mitsamt der Ehefrau des Eigners im Bodensee. Trotz tagelanger Suchaktionen mit modernster Technik können Isabel und ihre Kollegen die Frau nicht finden. Als das Wrack endlich gehoben werden kann, verstrickt sich der Verdächtige in Widersprüche. Polizei und Behörden vermuten das perfekte Verbrechen. Doch damit nicht genug: Weitere außergewöhnliche Ereignisse überfordern die Dienststelle in Friedrichshafen: Während der Polizeidirektor trotz Amnesie nach monatelangen Klinikaufenthalten beruflich wieder einsteigen will, bahnen sich immer neue Katastrophen an. Und auch Isabels Privatleben hält einige Turbulenzen für sie bereit …

Marlies Grötzinger lebt in Oberschwaben und am Bodensee. Sie hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht. Besonders am Herzen liegt der Oberschwäbin ihre Muttersprache: Landauf landab lieben Dialektfreunde ihre humorvollen Mundarttexte. Für „herausragende Verdienste um die Heimat“ wurde sie von der baden-württembergischen Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst mit der Heimatmedaille des Landes ausgezeichnet. In ihren Romanen „Seebeben“ und „Seerausch“ erzählt die Schriftstellerin spannend und kenntnisreich vom Treiben am Schwäbischen Meer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © mmphoto / stock.adobe.com

und © emanoo / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6798-1

Zitat

»Jeder ist der,
dem er nicht entrinnen kann.«

Hans Kudszus

Kapitel 1

Der erste Schlag galt ihr selbst. Ebenso der zweite und der dritte. Bäuchlings lag Isabel auf ihrem Bett. Ihre Locken breiteten einen hellbraunen Fächer über Schultern und Kopfkissen und ließen ihr Gesicht mit den aufgequollenen Augenlidern nur erahnen. Mit ihren Händen malträtierte sie heftig das Kopfkissen. Ihre Apathie war plötzlich wieder in Zorn umgeschlagen, und jeder ihrer Faustschläge zeugte von Wut und tiefer Verzweiflung.

Seit Tagen hatte Isabel das Bett nicht mehr verlassen. Nicht einmal zum Duschen hatte sie es geschafft. Ein einziges Mal hatte sie es versucht, und als die ersten Wassertropfen auf sie niedergeprasselt waren, durchlebte sie erneut die Minuten, in denen sie um ihr Leben kämpfen musste: Sie sah die Wassermassen, die durch die offene Tür des Boots die Kajüte fluteten, sie in die Knie zwangen, hörte den ohrenbetäubenden Lärm. Sie empfand wieder den Schmerz, den sie gespürt hatte, als die spitzen Glassplitter der Fensterscheibe, die sie zuvor eingeschlagen hatte, ihre Haut ritzten. Die Silhouette eines muskulösen Mannes erschien unscharf vor ihren Augen. Carl! Carl, der die aus den Regalen purzelnden Flaschen und Gläser, die auf ihn zustürzten, nicht abwehrte, sondern mit weit geöffneten Glotzaugen sitzen blieb wie ein hypnotisiertes Kaninchen, selbst als ihm das Wasser bis zur Brust reichte.

Das aus dem Duschkopf herabstürzende Wasser hatte gedröhnt in ihren Ohren und in ihrem Innern eine solche Panik verursacht, dass Isabel schreiend zurück ins Schlafzimmer gelaufen war und zitternd und schluchzend in die Kissen sank.

Thomas war, aufgeschreckt durch ihre orientierungslosen Schritte, sofort aus seinem Zimmer geeilt, um zu sehen, was passiert war. Geduldig hatte er ihr die heiße Stirn abgetupft und ein weiteres Glas kalten Tee serviert. Kopfschüttelnd hatte er akzeptiert, dass sie keinen Arzt bei sich wollte.

In der Nacht nach dem Unglück war Isabel psychisch und physisch zusammengebrochen. Noch bevor sie erfahren hatte, dass die Rettungstaucher schnell zur Stelle waren, Carl gefunden und unverzüglich im Boot mit der Wiederbelebung begonnen hatten. Bevor sie gewusst hatte, dass an Land bereits der Hubschrauber und eine Notärztin auf den Verunglückten gewartet und ihn sofort in die beste aller infrage kommenden Kliniken nach Allensbach transportiert hatten, wo schon ein Heer von Spezialisten auf ihn wartete. Das hatte sie erst einen Tag später von ihrem Kollegen Markus Proll erfahren. Er hatte sie in einer Minute am Telefon erreicht, als sie gerade nicht wie im Delirium vor sich hindämmerte. Isabel wollte sich nicht ausdenken, was passiert wäre, hätte Thomas das Gespräch angenommen. Thomas, der nicht ahnte, was tatsächlich geschehen war.

Nun lag Polizeidirektor Carl W. Dangelmann auf der Intensivstation der neurologischen Akutklinik im Koma, und Isabel gab sich die Schuld daran. Sie, Polizeihauptkommissarin Isabel Böhmer, hatte versagt. Sie hatte sich gehen lassen, hatte den offensichtlichen Begierden von Carl, ihrem Vorgesetzten, nachgegeben. Wäre sie nicht so schwach und triebhaft gewesen, hätte sie sich nicht bereitwillig verführen lassen, wäre es nie zu dieser verhängnisvollen Affäre gekommen. Erneut traktierten ihre Fäuste das Kissen, erneut versuchte sie, ihrer Wut und Hoffnungslosigkeit auf diese Weise Luft zu verschaffen, um wieder freier atmen zu können, und zermarterte ihr Gehirn: Warum hatte sie das Unglück überlebt? Wie einfach wäre es, wenn sie in die Tiefen des Bodensees getrudelt und nie mehr aufgetaucht wäre. Dann müsste sie nicht hier liegen, in diesem Zimmer, mit ihrem schlechten Gewissen Thomas gegenüber. Thomas, der nichts von dem Verhältnis mit ihrem Chef wusste und der sie seit Tagen umsorgte. Thomas, ihr sanfter Bücherwurm, der, nur um sie nicht vollends zu verlieren, an den Bodensee gezogen war. Wie sollte er wissen, dass es schon zu spät war, dass sie ihn bereits betrogen hatte. Warum hatte sie die Kontrolle über ihren Körper verloren und sich auf dieses Abenteuer eingelassen? Warum ausgerechnet mit ihrem Vorgesetzten? Warum, warum, warum? So viele Fragen, auf die Isabel keine Antworten wusste und die sie Stunde um Stunde quälten.

Die erste Begegnung mit Carl W. Dangelmann, den seine Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand nur »CaWe« nannten, weil er großen Wert auf die Abkürzung seines zweiten Vornamens mit dem Anfangsbuchstaben und einem Punkt legte, hatte sich in Isabels Herz eingebrannt. Das war gerade einmal fünf Monate her. Im April hatte sie ihre neue Stelle bei der Wasserschutzpolizei in Friedrichshafen angetreten. Sie erinnerte sich an das überbordende Glücksgefühl in ihr, nun an ihrem geliebten Bodensee arbeiten und leben zu können. Sie erinnerte sich an diesen Frühlingsmorgen, an dem Tulpen und Osterglocken in den frisch ausgepflanzten Uferanlagen um die Wette blühten und dufteten, an dem alle Zeichen auf Neubeginn und Freiheit standen.

Sie erinnerte sich, wie der Dienststellenleiter sie zu sich gerufen und überschwänglich begrüßt hatte. Wie er selbstzufrieden seinen Einsatz für sie und ihre Versetzung betont hatte, weil er eine Frau im Führungsteam der Wasserschutzpolizei Friedrichshafen haben wollte. Vom ersten Augenblick an war Isabel fasziniert von seiner Ausstrahlung, seinem Charme, seinen stechend klaren hellblauen Augen, seiner samtenen Stimme. Etwas an seinem Auftreten verunsicherte sie zwar, doch sie ignorierte die mahnende Stimme in ihrem Innern. Beflügelt wischte ihr entflammter Körper ihre Gewissensbisse weg.

Isabel gestand sich ein, dass Carl ihr zu Beginn ihrer Beziehung gutgetan hatte. Durch ihn hatte sie ihren Neuanfang am Bodensee wie einen taumelnden Rausch und besonders intensiv erleben dürfen. Das war am Anfang, als sie seinen wahren Charakter noch nicht erkannt hatte. Sein Werben hatte ihr geschmeichelt, jede ihrer Zellen hatte es begierig eingeatmet. Seine Stimme hatte sie eingehüllt wie eine warme Wolldecke. Seine Worte hatte sie regelrecht aufgesaugt, hatte tagelang von seinen Komplimenten gelebt. Die körperliche Nähe, die leidenschaftliche Intimität hatte sie in völlig neue, unbekannte Sphären katapultiert. Sie hatte die Frau in sich wieder gespürt, sich lebendig und begehrenswert, attraktiv, ja unwiderstehlich gefühlt.

Diese Sinnesreize hatte sie bei Thomas schon seit längerem vermisst. Thomas, ihr Freund, der noch in Tübingen geblieben war, um sein Philosophiestudium abzuschließen und mit dem Doktortitel zu krönen. Thomas, dem seine philosophischen Studien und seine toten Vorbilder im Laufe der Zeit wichtiger geworden waren als sie, seine äußerst lebendige Partnerin. Thomas, für den es selbstverständlich war, dass sie ihn, den ach so brillanten Geisteswissenschaftler, versorgte und mit den profanen Dingen des Alltags verschonte. Genauso, wie seine Mutter es zuvor getan hatte. Thomas, der sich alle Zeit der Welt lassen konnte mit Studium und Promotion, weil seine Eltern – Annerose und Rechtsanwalt Doktor Hubertus von Harnsfeld – ihren einzigen Sohn finanziell äußerst großzügig unterstützten.

Auch was die Beziehung zu Thomas betraf, quälten Isabel nun starke Schuldgefühle. Ruhelos drehte sie sich um und starrte an die Decke. Sie hatte die Defizite gespürt, hatte darunter gelitten. Warum hatte sie nicht rechtzeitig ein klärendes Gespräch gesucht? Warum hatte sie nicht aufbegehrt? Warum hatte sie Thomas nicht schon lange gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte? Hatten nicht ihre unerfüllten Bedürfnisse, die ins Leere gelaufenen Bitten nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sie erst schwach werden lassen – im Angesicht von Carls bestechenden Reizen, dem Blick in seine blauen Augen … Carl war ihr erschienen als der Ausweg aus einer langjährigen Beziehung mit starren Rollen, wenig Fantasie und zunehmender Distanz. Er gab ihr das Gefühl, endlich ihre Sexualität wieder selbstbestimmt ausleben zu können, Befriedigung zu erfahren, ein Abenteuer zu erleben, fernab ihres einstudierten Frauenbildes. Vielleicht wollte sie einfach frei sein, das brave Mädchen, das sie 32 Jahre lang gewesen war, hinter sich lassen. Doch was hatte sie sich davon versprochen?

Mit nicht enden wollenden Warums dämmerte Isabel vor sich hin. Dazu spukten die Fetzen eines Gedichts von Ulla Hahn in ihrem Kopf herum … Mit Haut und Haar … Damals, im Gymnasium, hatte sie es auswendig vortragen müssen und lustlos an der Interpretation gebastelt. Die Zeilen erschienen ihr unverständlich und übertrieben. Beim Umzug von Tübingen nach Friedrichshafen war ihr der Gedichtband »Herz über Kopf« wieder in die Hände gefallen, wie auch immer. In den vergangenen Monaten fühlte sie sich von dem Buch magisch angezogen. Wusste ihr Unterbewusstsein etwa, dass sie gerade eine Phase des Wandels durchlebte? Sie ihrem Kopf nicht länger gestatten wollte, allzeit über ihr Herz zu dominieren? Isabel hatte immer wieder in dem Band geblättert und »Mit Haut und Haar« hatte sie mehr und mehr beschäftigt:

Ich zog dich aus der Senke deiner Jahre

und tauchte dich in meinen Sommer ein

… Du wendetest mich um.

Du branntest mir dein Zeichen

mit sanftem Feuer in das dünne Fell.

Da ließ ich von mir ab. Und schnell

begann ich vor mir selbst zurückzuweichen …

Anfangs blieb noch Erinnern

ein schöner Überrest der nach mir rief …

Da aber war ich schon in deinem Innern

vor mir verborgen. Du verbargst mich tief

Bis ich ganz in dir aufgegangen war:

Da spucktest du mich aus mit Haut und Haar.

Nicht alle Zeilen der Dichterin waren noch präsent in Isabels Gehirn. Doch jedes poetische Wort, diese in wenigen Sätzen erzählte, tragisch endende Liebesgeschichte erschien Isabel als die ihrige. Ulla Hahn hatte in den Zeilen exakt das getroffen, was am Ende der Beziehung in ihr vorging. Es kam ihr vor, als hätte die Autorin ihre Zeit mit Carl vorhergesehen: Warum war ich so dumm und habe nicht auf die Warnung aus der Jugendzeit gehört? Naiv und leichtsinnig habe ich angenommen, in diesem lustvollen Spiel Erfüllung zu finden. Ich bin nicht nur Thomas, ich bin auch mir selbst untreu geworden, vor allem mir selbst. Ich habe meine Werte und Prinzipien über Bord geworfen, mich selbst vergessen und verloren, nur um ein Abenteuer zu erleben. Nur um des Kribbelns willen, das mich jedes Mal überfiel, sobald ich Carls Blicke und seine körperliche Nähe gespürt hab. Carl hat mich vereinnahmt, von mir und meinem Körper vollkommen Besitz ergriffen – mit Haut und Haar. Bereitwillig habe ich mich ihm hingegeben, voller Lust und eigenem Verlangen, bin ganz aufgegangen in ihm. Erst nachdem er mich geködert hatte, blickte ich mehr und mehr hinter seine Maske: Er fing an, sein wahres Gesicht zu zeigen. Auch mir gegenüber begann er, sich kalt, unberechenbar und respektlos zu verhalten, genauso, wie ich ihn seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber unzählige Male erlebt habe. All das habe ich beobachtet, zwar mehr und mehr erschrocken, doch habe ich nicht gewagt, Carl damit zu konfrontieren. Auch mir fehlten, genauso wie den anderen, die nötige Kraft und der Mut, mich ihm zu widersetzen und mich zu wehren. Mit dieser grauenvollen Erkenntnis döste Isabel ein …

Das Boot, es schaukelt hin und her … hin und her … Im selben Rhythmus spürt die Frau das Vor und Zurück … vor und zurück zwischen ihren Oberschenkeln. Wollust und Sinnesrausch sind stärker, lassen den Schmerz, den die harten Regalbretter am Rücken auslösen, vergessen. Ein plötzlicher Ruck reißt das Liebespaar auseinander. Der Mann rutscht seitwärts ab. Die Frau, nackt, schreit auf, verliert das Gleichgewicht und landet auf dem Fußboden, wird nassgespritzt. Teller, Gläser, Taschen, Schuhe – was nicht gesichert ist, fliegt durch den Raum. Mit einem Mal braust Wasser, überall. Wo kommt es her? Die Frau blickt auf. Ein schäumender Schwall schießt zur Kabinentür herein. Die Frau drückt sich hoch, will die Tür schließen, doch ein noch gewaltigerer Wasserstrahl quillt herein und drückt den Eingang weiter auf. Innerhalb weniger Minuten füllt sich der Raum mit dem kalten Nass. Wieder stößt die Frau einen Schrei aus, blickt zu dem Mann. Gerade eben war er ihr noch ganz nahe gewesen. Er sitzt da wie versteinert und starrt sie aus weit aufgerissenen Augen an, großen blauen Panikaugen. »Carl«, schreit die Frau, »komm! Wir müssen hier raus!« Er rührt sich nicht. Sie will nur noch weg. Weg von ihm, weg aus diesem engen Raum, raus aus den Wassermassen. Die haben ihren Busen erreicht. Fasziniert beobachtet sie für einen kurzen Moment ihre erregten Brustwarzen. Das Wasser hebt beide Brüste hoch, sie schwimmen. Das Wasser reicht dem Mann jetzt bis zum Hals, drückt seinen Körper hoch. Die Frau weiß, sie müssen raus, sofort. Der Mann? Immer noch regungslos. Seine Augen sind in dunklen Löchern versunken. Sie erschaudert. Also doch! Tiefenangst! Von ihm kann sie keine Unterstützung erwarten. Sie atmet schwer, schaut sich um, wuchtet den Feuerlöscher aus seiner Halterung, schlägt mit ihm gegen die Fensterscheibe. Wieder und wieder haut sie gegen das Glas. Endlich zerbirst die Scheibe. Glassplitter trudeln in Zeitlupe in die Tiefe. Die Reste bricht die Frau mit bloßer Hand aus. Sie hievt sich mit ihren Armen hoch, will durch das Loch nach oben, wendet sich nochmals um, dem Mann zu. Sie schreit noch einmal: »Carl! Komm!« Seine Augen – ein einziger stummer Hilferuf. Die Frau lässt sich wieder hinunterfallen, schwimmt zurück zu ihm, packt den Mann am Oberarm. Er versucht, sich mit einem Schlag aus dem Griff zu befreien, trifft ins Leere. Der zweite Hieb trifft die Frau an der Brust. Sie wehrt sich, nimmt ihn in den Schwitzkasten, schiebt seinen Körper nach oben und drückt ihn durch die Öffnung. Quält sich anschließend selbst durch. Messerscharfe Glassplitter, in der Fassung verblieben, schneiden in ihre Haut. Endlich draußen. Der Mann entgleitet ihr. Sie öffnet ihre Lippen, schreit, doch das Wasser erstickt jeden Laut, dringt in ihren Mund. Sie kämpft sich an die Oberfläche, schreit weiter …

Als der Schrei an Isabels Ohr drang, wachte sie schweißgebadet auf. Sie schlug sich die Hände vors feuchte Gesicht. Dann rieb sie sich die Augen und schob die Haarsträhnen zurück, die auf Stirn, Wangen und Hals klebten. Tränen liefen über ihre Wangen. Es war nur ein Traum. Gottlob auch diesmal nur der Albtraum, der sie seit dem Unglück immer wieder heimsuchte. Isabel setzte sich halb auf und betrachtete den schlafenden Thomas neben ihr. Er schlief den Schlaf des Gerechten. Ach, Thomas, wenn du wüsstest …

Noch benommen, erhob sich Isabel und taumelte ins Bad. Sie stützte die Arme auf das Waschbecken, betrachtete im fahlen Schein der Straßenlampe ihr Gesicht und stieß einen Seufzer aus. Sie tappte in die Küche, griff sich ein Glas, das neben der Spüle stand, öffnete den Wasserhahn und zuckte zusammen, als der Strahl mit großem Druck die Stille des Raums durchbrach. Einem Reflex folgend, drückte sie den Hahn schnell wieder zu. Mit dem halbvollen Glas stellte sie sich vor das Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Wann würde das endlich aufhören? Sie leerte das Glas in einem Zug, schlich zurück ins Schlafzimmer und stieg wieder in ihr Bett. Verfolgt von den Bildern im Kopf, wälzte sie sich hin und her, bis sie erneut in einen unruhigen Schlaf fiel.

Isabel wusste nicht, wie viele Stunden inzwischen vergangen waren, als sie durch ein Geräusch hochschreckte. Ihr Handy klingelte. Sie griff zum Nachttisch und tippte den Punkt auf dem Display an. Markus Proll, der Kollege, mit dem Isabel das Dienstzimmer in der Station der Wasserschutzpolizei ebenso teilte wie die Vorliebe für Studentenfutter, meldete sich und fragte besorgt: »Wie geht’s unserem Küken heute?«

»Hallo, Markus, geht so, ist noch flügellahm«, hauchte Isabel ins Telefon und ließ sich zurück ins Bett fallen.

»Kann ich etwas Gutes tun für dich, Isabel?«, fragte er. »Kann ich dir ein paar Äpfelchen bringen? Ich habe geerntet, und die schmecken super gut. Du weißt ja: An apple a day keeps the doctor away!«

»Alles Fake«, flüsterte Isabel und seufzte. »Du willst also wissen, wann ich wiederkomme?«

»Bingo, liebe Kollegin! Dein Scharfsinn ist ungebrochen!«, stellte Markus zufrieden fest. »Also, wann stehst du wieder auf der Matte, ähm, auf der Wache?«

Ein kleines Lächeln umspielte Isabels Mund. Mit einem Mal merkte sie, dass ihr der Kollege fehlte, seine ehrliche, direkte und unkomplizierte Art, die neckenden Gespräche voll Leichtigkeit und schlichtem Humor. Und auch ihre Arbeit bei der Wasserschutzpolizei vermisste sie. Noch etwas verschlafen stammelte sie: »Du, ich weiß nicht, kann dir nichts versprechen. Ich komme, sobald ich kann.«

»Versprochen? Wir brauchen dich hier!«, appellierte er, um Isabel aus ihrer Lethargie zu kippen.

»Versprochen!« Isabel legte das Handy zurück. Jetzt erst beachtete sie den Zettel auf dem Nachttisch mit Thomas’ ebenmäßiger Handschrift: ›Bin in der Uni Konstanz. Seminartag. Bis später. Thomas.‹

Isabel fiel erneut in die Kissen und starrte minutenlang an die Decke. Dann gab sie sich einen Ruck: Genug gelitten, das Leben muss weitergehen, hämmerte sie sich ein. Ich werde jetzt das Bett verlassen. Jetzt sofort! Sie warf die Bettdecke zurück, schwang sich auf, setzte einen Fuß nach dem anderen auf den Boden, wollte sich hochstemmen, ein Gedankenblitz ließ sie auf die Bettkante zurücksinken. Sie überlegte. Sie musste Carl sehen, würde mit dem Zug nach Allensbach fahren. Ja, genau das würde sie tun, und zwar so schnell wie möglich. Sie griff nochmals nach ihrem Handy und suchte auf der Homepage nach Verbindungen. Es gab mehrere. Wenn sie sich beeilte, könnte sie den nächsten Zug erreichen.

Entschlossen erhob sie sich und zog den Rollladen hoch. Sie kniff die Augen zusammen, das gleißende Licht der Sommersonne schmerzte. Sie widerstand dem kurzen Impuls, die Augen wieder zu schließen und sich erneut auf das Bett zu werfen. Stattdessen tappte sie ins Bad, zog ihren Schlafanzug aus, warf ihn über den Rand der Badewanne. Diesmal lass ich mich nicht unterkriegen, sagte sie sich und stellte sich in die Duschkabine, ließ das Wasser laufen. In dem Moment, als das Nass auf Isabel niederprasselte, überfiel sie ein Schwindelgefühl und ihr Körper fing zu beben an. Mit zitternder Hand gelang es ihr, den Hebel zurückzuschieben, bevor sie an den Fliesen hinunter auf den Boden rutschte. Sie hörte ihr Herz gegen ihre Rippen hämmern. Wasser, diese Kraft, das Rauschen … wieder flogen Erinnerungen an ihrem inneren Auge vorbei und drohten ihr Hirn zu sprengen. Wasser, strömendes Wasser … wieder so unerträglich wie damals …

Isabel wollte fliehen, musste raus aus dieser Enge. Sie zog sich an den Armaturen hoch, kletterte mühsam aus der Duschkabine und ließ sich auf den Teppich sinken. So blieb sie liegen, bis Gänsehaut ihren ganzen Körper bedeckte und sie fröstelte. Dann setzte sie sich halb auf, griff nach einem Handtuch und frottierte ihre Haut, bis sie warm und gerötet war. Nackt ließ sich Isabel auf dem Rand der Badewanne nieder, atmete Sekunden, Minuten, ohne jedes Zeitgefühl, immer regelmäßiger. Als sie sich erholt hatte, formte ihr Gehirn erste klare Gedanken: Es gab kein Zurück mehr, nur das Vorwärts zählte. Mechanisch griff Isabel zum Waschlappen, mit dem festen Willen, sich den Schweiß der vergangenen Tage und auch die quälenden Schuldgefühle abzuwaschen. Wenn duschen nicht möglich ist, dann eben anders, dachte sie und richtete sich auf. Sie befeuchtete den Frotteehandschuh, gab Seife darauf und wusch sich von Kopf bis Fuß. Anschließend putzte sie sich die Zähne, bürstete ihre Locken, schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Sandalen, schnappte ihren Rucksack und verließ auf wackeligen Beinen die Wohnung.

Kapitel 2

Draußen vor der Tür hob Isabel ihr Gesicht der Sonne entgegen. Für einen Moment schloss sie die lichtentwöhnten Augen. Amseln zwitscherten in den Ästen der Buche über ihr und auch das Motorengeräusch eines Rasenmähers drang an ihr Ohr. Sie breitete ihre Arme aus und sog die Morgenluft tief in ihre Lunge. Eine Nachbarin blickte verwundert zu ihr herüber. Sie wässerte gerade mit dem Gartenschlauch die Salatpflanzen in ihren Beeten. Gebannt blickte Isabel auf den Wasserstrahl, hielt kurz die Luft an, verdrängte die Erinnerung und lief los in Richtung Bahnhof. Sie beobachtete Spatzen, die sich um Brotkrümel stritten, die zwischen den Tischchen des Stehimbisses auf dem Gehweg lagen. Die Autoschlange kämpfte sich lärmend und stinkend durch die Straßen wie eh und je. Die Menschen eilten hektisch wie immer vorbei, ohne Isabel zu beachten. Und doch hatte sich etwas verändert: Zum ersten Mal seit Tagen knurrte Isabels Magen, sie verspürte Hunger. In einer Bäckerei kaufte sie sich gewohnheitsmäßig, ohne viel überlegen zu müssen, zwei Brezeln und einen Kaffee und erreichte in letzter Minute ihren Zug.

Stickige Luft empfing Isabel im fast menschenleeren Abteil. Sie setzte sich auf einen Platz am Fenster. Sie verzog das Gesicht, als der erste Schluck Kaffee bitter ihre Kehle hinunterrann. Auch der zweite schmeckte ihr nicht und jeder weitere ekelte sie regelrecht an. Die Brezeln verspeiste sie dagegen mit gutem Appetit.

Isabel schaute zwar zum Fenster hinaus, nahm aber die geliebte Landschaft kaum wahr, die draußen vorbeizog. Auf einem Verkehrsschild las sie das Wort ›Konstanz‹, und in diesem Moment fiel ihr ein, sie hatte versäumt, Thomas eine Nachricht zu hinterlassen, falls er vor ihr zurück sein sollte. Sie holte ihr Handy und tippte: »Hab’s geschafft. Bin aufgestanden, musste raus.« Dahinter setzte sie ein Emoticon mit hochgerecktem Daumen und ein Smiley. Sie dachte an Thomas. In der Zeit, als er allein in Tübingen geblieben war, musste er gemerkt haben, was Isabel auch zu seinem Wohlbefinden beigetragen hatte. Er begann, sie zu vermissen. Der Zufall wollte es, dass ein Professor seine große Wohnung in Friedrichshafen aufgab und Thomas anbot. So war er Isabel an den Bodensee gefolgt. Obwohl sie sich damals schon auf Carl eingelassen hatte, schaffte sie es nicht, Thomas die Wahrheit zu sagen. Sie gab ihre kleine Wohnung auf und zog wieder mit Thomas zusammen, was ihre Situation nicht einfacher machte. Sie musste immer neue Lügen erfinden, um mit Carl zusammen sein zu können, hasste sich mit jedem Mal mehr für ihre Schwäche und nahm sich wieder und wieder vor, dem Dreiecksverhältnis ein Ende zu setzen.

Kauend öffnete Isabel nun den Müllbehälter, um die Reste ihrer Mahlzeit zu entsorgen. Da entdeckte sie eine zerknitterte Zeitung. Das Foto eines Motorboots weckte ihre Neugier. Das Boot kam ihr bekannt vor. Mit spitzen Fingern fischte Isabel die Zeitung aus dem Behälter heraus, schnippte die Verpackung eines Müsliriegels weg und strich das Blatt mit beiden Händen glatt. Die fette Schlagzeile über dem Bild sprang ihr regelrecht entgegen:

Motorjacht sinkt vor Friedrichshafen

Der letzte Bissen blieb Isabel beinahe im Hals stecken, ihr Herz schlug schneller. Ihr Blick wanderte hoch zum Datum der Seite: 24. August. Die Zeitung war also schon ein paar Tage alt. 24. August! Der Tag nach dem Unglück, schoss es ihr durch den Kopf. Unter dem Foto der »Amareno« las Isabel die Bildunterschrift:

Das soll die gekenterte Motorjacht sein.

 

Isabels Augen flogen nun über den Text:

Vor Friedrichshafen ist gestern Nachmittag eine Motorjacht überrollt, gekentert und anschließend gesunken. Wassersportler hatten das 9,70 Meter lange und 3,20 Meter breite Schiff in Konstanz gechartert. Nach unbestätigten Informationen soll das Boot Schlagseite bekommen haben, weil sich zu viele der elf Personen auf einer Seite aufgehalten haben. Bei einem Kurvenmanöver soll dann das Unglück passiert sein. Neun der elf Besatzungsmitglieder kamen fast unversehrt davon. Sie retteten sich durch einen Sprung ins Wasser. Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber von Tauchern geborgen werden. In lebensbedrohlichem Zustand musste sie in eine Klinik eingeliefert werden. Die zweite Person erlitt offensichtlich nur leichtere Verletzungen. Die anderen Passagiere kamen mit einem Schock davon. Eine vorbeifahrende Segeljacht hatte das Unglück beobachtet, einen Notruf abgesetzt und zehn Personen an Bord genommen. Wie es tatsächlich zu dem Unfall kommen konnte, ist noch nicht abschließend geklärt. Nach unbestätigten Angaben sollen die Verunglückten selbst Polizisten gewesen sein. Die Ermittlungen dauern an.

Isabel ließ das Blatt sinken, ihre Hände zitterten. Sie hatte es kaum geschafft, den Artikel zu Ende zu lesen. Ihre Augen brannten, auf einmal tauchten Sterne auf, und sie merkte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. So fühlt sich das also an, wenn man selbst betroffen ist. Die zweite Person erlitt offensichtlich nur leichtere Verletzungen … Offensichtlich, was ist schon offensichtlich, fragte sie sich und sackte in ihrem Sitz zusammen.

Eine Frau, die gerade den Gang entlangkam, hatte den Zwischenfall beobachtet und eilte sofort zu Isabel. Sie tätschelte ihr die Wange, und als Isabel die Augen öffnete, kramte sie eine Plastikflasche mit Mineralwasser aus ihrer Tasche, schraubte den Verschluss ab, bot sie Isabel an und sagte: »Trinket Sie erst mal einen Schluck.«

Das kalte Wasser rann wohltuend Isabels Kehle hinunter, und sie hauchte: »Danke, das tut gut.«

»Sie send ohnmächtig worde! Was ist los mit Ihne?«, fragte nun die Frau in alemannischem Dialekt.

»Es … geht schon wieder«, stieß Isabel hervor. »War nur eine kleine Kreislaufschwäche.«

Die freundliche Fremde half Isabel, sich wieder aufzurichten. »Ich hab wohl zu wenig getrunken«, fügte Isabel hinzu.

»Sie könnet die Flasch gern behalte. Ich steig sowieso gleich aus«, sagte die Frau und erhob sich.

»Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen«, antwortete Isabel höflich und nahm einen weiteren Schluck. Schnell erholte sie sich und starrte wieder zum Fenster hinaus. Was würde sie am Ziel erwarten? In welchem Zustand würde sie Carl antreffen? War er inzwischen wieder bei Bewusstsein? In ihrem Kopf jagte ein banger Gedanke den anderen. Den Umstieg in Radolfzell schaffte Isabel ohne Probleme, und in Allensbach verließ sie pünktlich den Zug.

Kapitel 3

Isabel entschied sich, nicht den Bus zur Klinik zu nehmen, sondern zu Fuß zu gehen. Der kurze Marsch würde ihr guttun und helfen, ihre innere Anspannung zu mildern. Sie erreichte das weitläufige Klinikareal und schritt auf dem gepflasterten Weg zum Eingangsgebäude. Dabei nahm sie kaum die Blumenpracht in den großen Betontrögen wahr, die den Weg säumten.

Fast geräuschlos schoben sich die Glastüren am Eingang zurück, und mit klopfendem Herzen betrat Isabel das Gebäude. Am Empfang erkundigte sie sich nach der Intensivstation. Eine junge Frau erklärte ihr freundlich den Weg und bat sie, sich am Pflegestützpunkt der Station zu melden. Isabel bedankte sich und folgte mit hämmerndem Herzen den Schildern. Sie führten einen Flur entlang, vorbei an Arztbüros und Therapieräumen, der Isabel endlos erschien und vor einer weiteren Schiebetür aus Glas endete. Diese war offensichtlich mit Code gesichert. Isabel trat einen weiteren Schritt auf sie zu und sie öffnete sich wie von Geisterhand. Isabel war unschlüssig, ob sie eintreten sollte, dann schlüpfte sie, einem spontanen Impuls folgend, kurzerhand hinein. Das Blut in ihren Adern pulsierte, als sie sich umschaute. Der Pflegestützpunkt war nicht besetzt, und so ging sie einfach weiter. Eine Schwester mit einem Tablett voller medizinischer Instrumente eilte aus einem Zimmer heraus. Die Tür blieb einen Spaltbreit offen. Schritte näherten sich und wie von einer höheren Macht geleitet, huschte Isabel rasch in das Zimmer hinein. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an und blieb bewegungslos stehen. Ihr Herz hämmerte, und jede Faser ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig schaute sie sich um. Zwei Betten standen im Raum und beide waren belegt. Neben jedem befanden sich mehrere Beatmungs- und Überwachungsgeräte. Überall blinkte, piepste und surrte es.  

Gerade hatte sich Isabel vom ersten Schrecken erholt, da überfiel sie der nächste. In dem Bett unmittelbar vor ihr entdeckte sie einen grauen Haarschopf. Diese Locken kannte sie. Carl! Blitzschnell schlug sie die Hand vor den Mund, als verböte sie sich selbst, den Namen auszusprechen. Ihr Herz schlug noch heftiger. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen und trat näher an das Bett heran. Lautlos glitt ihr Rucksack auf den Boden. Carl, er war es zweifelsfrei. Seinen Körper konnte Isabel unter einem weißen Laken nur erahnen. Mehrere Kabel und Schläuche verbanden ihn mit piepsenden Apparaten. Bildschirme zeichneten mit farbigen Linien Pulsfrequenz, Blutdruck und weitere Werte auf.

Isabels Herz krampfte sich zusammen, als sie Carl so liegen sah: blass und bar jedes Lebenszeichens. Energielos, abhängig, machtlos, ausgeliefert – der Zustand, der ihm am meisten verhasst war. »Carl«, flüsterte Isabel nun doch mit erstickter Stimme. Und nochmals voller Mitleid: »Carl.«

Immer noch starrte Isabel auf Carl, als sie plötzlich ein Schluchzen vernahm. Erstaunt drehte sie den Kopf. Am Nebenbett saß eine Frau, in sich zusammengesunken, und kramte in ihrer Handtasche. Isabel hatte die Frau bisher noch gar nicht bemerkt. »Guten Tag«, flüsterte sie ihr zu, denn sie traute sich nicht, laut zu reden.

Die Frau zückte ein Taschentuch, schnäuzte sich und blickte aus rotgeweinten Augen zu Isabel auf. Ein leises »Grüß Gott« kam über ihre bebenden Lippen. Bevor sie weiterreden konnte, betrat ein Mann in weißem Kittel den Raum. Er grüßte die beiden Frauen knapp und blieb vor Carls Bett stehen. Kurz musterte er Isabel und fragte: »Sind Sie eine nahe Verwandte?«

Isabel trat einen Schritt zur Seite. Der Kloß in ihrem Hals verhinderte eine Antwort. Sie faltete ihre Hände und nickte heftig.

»Doktor Held. Ich bin der Anästhesist«, stellte sich der Arzt vor, während er bereits zu den Geräten blickte und die Zahlenreihen auf dem Monitor kontrollierte. »Noch keine Reaktion, aber das will nichts heißen.«

Wieder zu Isabel gewandt, fuhr er fort: »Wir tun unser Möglichstes. Wir wissen nie genau, was ein Patient in welchem Stadium mitkriegt, und ebenso wenig, wie weit der Patient weg ist.«

Isabel blickte den Mediziner flehend an. Der vertiefte sich in seine Unterlagen und sagte: »Der Patient hat eine schwere Pneumonie, das Lungengewebe ist geschädigt.« Nach einer Pause fügte er in zuversichtlichem Ton hinzu: »Eigentlich hat der Patient gute Chancen. Er ist unterkühlt gerettet worden und wir haben im MRT kein Hirnödem entdeckt.«

Obwohl ihn sein Beruf wahrscheinlich täglich mit solchen Befunden konfrontierte, klang aus seiner Stimme Mitgefühl. Jetzt gelang es Isabel nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten, und sie ließ ihnen freien Lauf.

Doktor Held fuhr sich durch die Haare, um mit dem unerwarteten Gefühlsausbruch besser umgehen zu können. Er räusperte sich und sagte: »Also jetzt lassen Sie mal den Kopf nicht hängen, junge Frau. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Wir haben den Patienten in ein künstliches Koma versetzt, um den Erhalt der lebenswichtigen Funktionen besser steuern zu können.«

Ein hoffnungsfrohes Blitzen in ihren Augen verriet dem Mediziner, dass Isabel verstanden hatte. Nach einer kurzen Pause, in der Doktor Held nochmals seine Akte studierte, redete er weiter: »Der Mann ist noch relativ jung, wie es aussieht topfit, und er hat keine Vorerkrankungen. Der kann das schaffen. Wir tun jedenfalls, was wir können. Das verspreche ich Ihnen.«

Nach diesen Worten klappte er die Akte zu, warf einen kurzen Blick auf den anderen Patienten, schenkte der Frau neben dem Bett ein Lächeln und verließ das Zimmer.

Es war mucksmäuschenstill im Raum, nur das regelmäßige Piepsen der Überwachungsgeräte war zu hören. Isabel schaute zu der Frau hinüber. Sie saß auf ihrem Stuhl, drückte ein Taschentuch vor den Mund, weinte lautlos und starrte auf den Mann im Bett vor ihr. Isabel fiel nichts ein, was sie der Frau sagen könnte, und sie trat wieder einen Schritt näher an Carls Bett. Sie nahm allen Mut zusammen, mit zitternden Fingern hob sie das dünne Laken an und suchte nach Carls Hand. Ein Schauer schüttelte Isabel, als sie seine kalten Finger ertastete. Wie die Hand eines Toten, durchzuckte es sie. Nur kurz drückte Isabel die Hand und zog die ihrige dann schnell zurück. In Carls bleichem Gesicht erkannte sie nicht den Anflug einer Reaktion.

Isabel konnte es kaum ertragen, Carl so hilflos daliegen zu sehen, und zermarterte ihr Gehirn mit Selbstvorwürfen: Hätte sie doch bloß seinem Werben gleich zu Anfang, als sie ihren Dienst am See angetreten hatte, nicht nachgegeben. Wäre sie nicht schwach geworden, sondern sich und ihren Werten treu geblieben, er würde nicht hier liegen und leiden …

Sie fixierte seine geschlossenen Lider. Jedoch war es schließlich er, Carl, der sie verführt, der sie umgewendet hatte. Wieder geisterten einzelne Wörter des Gedichts der Lyrikerin durch ihr Gehirn: … Du wendetest mich um … schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen … Bis ich ganz in dir aufgegangen war: Da spucktest du mich aus mit Haut und Haar …

Wie oft hatte Isabel ihren Treuebruch schon in den Wochen vor dem Unglück bereut, hatte das Verhältnis beenden wollen. Sie war zu inkonsequent gewesen, obwohl ihre Leidenschaft bereits bröckelte. Jetzt war es zu spät für diese Erkenntnis, und das Schuldgefühl schnürte Isabel die Brust zusammen. Außerdem empfand sie die Situation, an Carls Bett zu stehen und nichts tun zu können, mehr und mehr als beklemmend. Plötzlich betrat eine Krankenschwester das Zimmer.

»Ah, hallo«, sagte die Schwester in resolutem Ton, als sie Isabel bemerkte. Mit einer Hand drehte sie routiniert an den kleinen Kunststoffrädern der Infusionsflaschen, so dass die Tropfen schneller strömten. Dabei murmelte sie, ohne Isabel nochmals anzusehen: »Der Patient liegt in tiefem Koma. Mal sehen, ob da wieder was kommt. Machet Sie sich keine große Hoffnung. Der Mann war so lang hypoxisch. Allerdings … man weiß ja nie.«

Isabel zuckte zusammen, als die Worte an ihr Ohr drangen, und starrte die Schwester von der Seite an. Wie konnte jemand nur so wenig einfühlsam sein? Sie öffnete ihren Mund, wollte einwenden, Doktor Held habe eine viel positivere Diagnose gestellt, aber die Schwester schritt schon zum nächsten Bett, rüttelte dort kurz an einem Schlauch des Patienten und marschierte wieder zur Tür hinaus. Isabel sah ihr nach und dachte: Wahrscheinlich arbeitet sie schon lange auf der Intensivstation und sieht hier jeden Tag Elend und Leid. Bestimmt härtet das ab. Dann blickte sie wieder in Carls Gesicht. Seine Züge hatten sich nicht verändert. Kleine Fältchen zogen sich von den Augenwinkeln zum Haaransatz. Die Haare klebten am Kopf. An seinem Kinn das Grübchen. Wie oft hatte sie einen Finger hineingelegt, es mit der Zunge geleckt und danach mit geschlossenen Augen seine vollen Lippen gesucht. Jetzt waren sie blutleer und blass. Isabel horchte in sich hinein, spürte keinerlei Erregung aufkommen. Stattdessen meldete sich ihr Verstand: Ob Carl wohl eine Patientenverfügung hatte? Wer würde im Fall des Falles entscheiden, ob die Ärzte die Geräte abschalten durften? Isabel tastete instinktiv nach dem kleinen Ledermäppchen in der Außentasche ihres Rucksacks. Hatte Carl einen Organspenderausweis? Bestimmt nicht. Über so etwas hatte sich Carl sicherlich nie Gedanken gemacht. Hätte er sich doch bloß seine Tiefenangst eingestehen können. Hätte er ihr oder seinem Stellvertreter oder seiner Sekretärin, hätte er irgendjemandem seine Schwäche anvertraut, er läge nicht hier. Niemals wären die Kollegen auf die Idee gekommen, als Geburtstagsüberraschung für ihn ein Boot zu chartern, hätten sie von seinem Problem gewusst. Die Schuld lag nicht allein bei ihr.

Isabel seufzte. Wirre Gedanken schwirrten weiter durch ihre Sinne. Wieder vernahm sie die leise Stimme der Frau am zweiten Bett: »Fünf Tage ist das erst her. Das ist noch keine Zeit. Das Schicksal spielt manchmal ganz anders, als das medizinische Personal denkt.« Um Isabel zu trösten, fügte sie an: »Der Mensch denkt, und Gott schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.«

Ein Lächeln umspielte Isabels Mund, als sie sich der Frau zuwandte. Sie schätzte ihr Alter um die 50 Jahre. Sie saß am Bett eines Mannes, so viel konnte Isabel trotz des Kopfverbands erkennen. Auch er hing an mehreren Kabeln und Schläuchen, auch er bewegte sich nicht. Isabel sagte: »Danke. Hoffentlich haben Sie recht. Und Sie … warum sind Sie hier?«

»Mein Sohn hatte einen Motorradunfall. Er liegt schon seit drei Wochen im Koma«, schniefte die Frau. »Aber ich geb die Hoffnung nicht auf. Ich vertraue auf Gott und bete jeden Tag.«

Isabel betrachtete den bandagierten Kopf. Nur die Monitore mit ihren verschiedenen Kurven und das regelmäßige Fiepen zeigten an, dass der Mann lebte. Sie ist voller Gottvertrauen, so wie meine Mutter, erinnerte sich Isabel. Diese Zuversicht hatte ihrer Mutter geholfen, hatte sie manche Stürme des Lebens überstehen lassen. Nur über den Tod ihres Mannes, Isabels Vater, hatte ihr Glaube sie nicht hinwegtrösten können.

Isabel spürte das Bedürfnis, der Frau Mut zuzusprechen. Sie ging zu ihr, legte die Hand auf ihre Schulter und sagte leise: »Ihr Beten hilft bestimmt … ganz bestimmt hilft es.«

Die Frau griff mit ihren beiden Händen nach Isabels Hand, hielt sie fest umklammert und sah flehend zu ihr auf: »Ja, gell, der liebe Gott kann mir meinen Rolf doch nicht einfach nehmen. Das darf er doch nicht!«

Isabel war von dem Kontakt zu überrascht, um etwas sagen zu können. Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie die Haut eines anderen Menschen berührte. Sie lächelte der Frau zu und schüttelte nur den Kopf. Dann entzog sie der Frau ihre Hand, trat ein paar Schritte zurück und stellte sich wieder an Carls Bett, diesmal an das Fußende. Von dieser Position aus erschien sein Antlitz noch schmaler und farbloser. Aus dem weißen Laken stachen die schwarzen Nasenlöcher mit den Schläuchen furchterregend hervor. Mit einem Mal glaubte Isabel, keine Luft mehr zu bekommen, überhaupt nicht mehr atmen zu können in dem Zimmer. Sie schnappte ihren Rucksack, warf nochmals einen Blick auf die Frau und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Möglichst rasch wollte sie alles hinter sich lassen: Carl und die Klinik und Allensbach und ihre Vergangenheit …

Schon lief Isabel wieder auf die Glastür zu, die die Intensivstation von dem langen Flur trennte. Diesmal öffnete sich die Tür nicht automatisch wie beim Eintreten, und Isabel stieß mit dem Kopf gegen das Glas. Ein leises »Aua!« kam ihr über die Lippen und sie drückte eine Hand gegen die schmerzende Stirn. Wie soll ich bloß hinauskommen? Mit Grausen dachte sie daran, hier drinnen eingesperrt zu sein. Da entdeckte sie an der Wand auf der rechten Seite einen Türöffner. Sie drückte ihn, doch nichts geschah, der Ausgang blieb verschlossen. Jetzt erst bemerkte Isabel unter dem Türöffner ein Kästchen mit Zahlen und Zeichen. Die Tür war also mit einem Code gesichert. Während sie noch ratlos die Nummern fixierte, näherte sich auf der anderen Seite ein junger Mann. Die Tür öffnete sich. Er kam herein und nickte Isabel freundlich zu. Sie nutzte blitzschnell die Chance, um hinauszuhuschen und die Station zu verlassen.

Geschafft! Draußen atmete sie erst einmal tief ein, hielt den Atem an, um anschließend lange auszuatmen. Kurz blickte sie zurück und eilte dann den Flur entlang zum Ausgang. Beinahe hätte sie den Karren einer Raumpflegerin umgestoßen, und erst als Isabel im Freien war, stoppte sie. Voller Dankbarkeit streckte sie das Gesicht der Sonne entgegen. Sie schloss die Augen und sog die warme, klare Luft ein. Ein blumiger Duft strömte in ihre Nase und belebte ihre Sinne. Sie, Isabel, atmete aus eigener Kraft. Sie konnte gehen, sich bewegen, rennen, denken, sprechen, fühlen, konnte essen, riechen, hören, sehen … Isabel öffnete die Augen wieder, nahm endlich die Blumenpracht um sich herum wahr. Sie sah den Bienen, Hummeln und Wespen zu, die sich an den bunten Blüten labten. Sie genoss das laue Lüftchen, das über ihr Gesicht strich und die Blätter der exakt zurechtgeschnittenen Bäume rascheln ließ. Sie lebte. Sie durfte die Schönheit um sich herum wahrnehmen. Sie hatte die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen, sie konnte in ein neues Leben starten. Dieses Bewusstsein beflügelte Isabel, gab ihr neue Kraft und neuen Mut. Sie spürte ihren wiedererwachten Lebenswillen in jede Zelle ihres Körpers vordringen. Doch zuallererst wollte sie eines: ihre Freundin Lena treffen, und zwar sofort. Nichts liegt näher, als gleich ins nahe Konstanz zu fahren, dachte sie.

Kapitel 4

Isabel saß im Bus von Allensbach nach Konstanz und blickte über den See, der zu ihrer Rechten vorbeizog. Das große Wasser machte ihr nicht mehr Angst, vielmehr sorgte die natürliche Weite dafür, dass ihr Innerstes sich beruhigen und ihr Herz wieder weit werden konnte.

Am Abend nach dem Unglück war Isabel nicht zu Thomas nach Hause gegangen. Entgegen dem Rat der Rettungssanitäter, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen, hatte sie, durcheinander wie sie war, die Katamaranfähre bestiegen und war von Friedrichshafen nach Konstanz zu ihrer Freundin gefahren. Im Nachhinein wunderte sie sich selbst, dass sie damals ein Boot ohne Hemmungen hatte besteigen können. Später war ihr klar geworden, dass sie zu der Zeit in völligem Schockzustand funktionierte. Panik und Angstzustände kamen erst hinterher.

Lena hatte sie aufgenommen, ohne lange zu fragen, und zu Bett gebracht. Thomas hatte sie nur eine kurze Nachricht über WhatsApp geschickt. Eine Nacht und einen halben Tag lang hatte die Freundin bei ihr ausgeharrt, ihr zugehört, sie in den Arm genommen und erst losgelassen, als die Weinkrämpfe aufgehört und die Tränen versiegt waren. Lena, die ohnehin von der Affäre mit Carl wusste, hatte Isabel alles erzählen können. Nur ihr. Am nächsten Tag hatte Lena sie nach Friedrichshafen zurückgebracht und dem völlig ahnungslosen Thomas übergeben.

Lena staunte, als Isabel nun unangemeldet in ihrer Praxis auftauchte: »Du bist wieder auf den Beinen? Und hier in Konstanz? Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«, begrüßte sie die Freundin.

»Hab mich ganz spontan entschlossen. Hast du überhaupt Zeit?«, fragte Isabel.

»Bald. Lass dich erst mal umarmen.« Dicht an Isabels Ohr flüsterte Lena: »Ich bin gerade mitten in einem Patientengespräch. Wenn das Telefonat beendet ist, haben wir Zeit, bis ich Ben aus der Kita holen muss.« Sagte es und schielte hinüber in ihr Behandlungszimmer. Dann drückte sie die Freundin von sich und fügte hinzu: »Setz dich einen Moment und nimm dir was zu trinken.« Damit verschwand Lena noch einmal im Zimmer nebenan.

Was würde ich bloß machen ohne Lena, dachte Isabel in einem Anflug von Verzweiflung. Sie kannte Lena länger als jeden anderen Menschen auf der Welt – abgesehen von ihrer Schwester Katharina, die allerdings vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Ihrer Schwester war Isabels Beamtendasein zu spießig. Sie wusste nicht einmal, wo Katharina sich gerade aufhielt, ob sie noch studierte oder ins Berufsleben eingetreten war. Und doch verdankte Isabel ihrer Schwester, dass sie seinerzeit Thomas kennengelernt hatte, als sie Katharina in Freiburg besucht hatte.

Bis Isabel bei Thomas eingezogen war, hatte sie in Tübingen lange Zeit eine Wohnung mit Lena geteilt. Obwohl Lena einige Jahre älter war – in wenigen Tagen erreichte sie das Schwabenalter – verband sie eine innige Freundschaft. Diese Verbindung war so stark, dass sie auch die räumliche Distanz, die durch Lenas Umzug nach Konstanz entstand, unbeschadet überdauert hatte. Lena war ihr vorausgeeilt: Sie hatte die berufliche Chance, in Konstanz in eine Praxis von Psychotherapeuten einzusteigen, auch genutzt, um sich in aller Freundschaft vom Vater ihres Sohnes Ben zu trennen. Damit hatte Lena geschafft, was sie selbst bis zum heutigen Tag nicht hinbekam: Mutig hatte sie diese Entscheidung getroffen, und dafür bewunderte Isabel sie. Ben war, neben Lenas Berufstätigkeit und Isabels Schichtdienst, der Grund, warum sie sich nicht mehr wie früher einfach mal spontan trafen und sich gemeinsam eine Nacht um die Ohren schlugen.