Inhaltsverzeichnis
Keyx, der Sohn des Abendsterns und der Nymphe Philonis, ward durch unheilverkündende Weissagungen erschreckt und beschloß deshalb, über das Meer nach Klaros in Kleinasien, wo ein berühmtes Orakel des Apollon war, zu fahren. Seine treue Gattin Halkyone, eine Tochter des Windgottes Äolos, mit welcher ihn die innigste Liebe verband, suchte ihn mit Klagen und zärtlichen Vorwürfen von seinem Vorhaben abzubringen oder ihn doch wenigstens dazu zu bewegen, sie mit auf die gefährliche Reise zu nehmen. Obgleich er sich durch ihre Worte und Tränen im innersten Herzen gerührt fühlte, wich er doch nicht von seinem Vorsatze und versuchte sie durch Tröstungen zu ermutigen. »Lang zwar ist für uns beide jeder Verzug«, sprach er, »aber ich schwöre dir bei meinem strahlenden Vater: vergönnt mir das Schicksal die Heimfahrt, so kehre ich wieder, ehe der Mond sich zweimal erneuet hat.« Darauf ließ er alsbald das Schiff in die Flut ziehen und alles zur Reise rüsten. Beim Abschied konnte Halkyone ihren unsäglichen Schmerz nicht bergen. »Lebe wohl!« sprach sie nur und sank ohnmächtig am Ufer zusammen. Gern hätte der zärtliche Gatte noch gezögert, aber schon begannen die Jünglinge auf dem Schiffe die Ruder anzuziehen, daß das Meer schäumte. Da durfte er nicht länger weilen und eilte an Bord. Als Halkyone das nasse Auge erhob, sah sie den geliebten Mann auf dem Hinterteil des Schiffes stehen und ihr mit der Hand die letzten Grüße zuwinken. Sie erwiderte ihm auf gleiche Weise, und so folgte sie mit den Augen dem fliehenden Schiff, bis das weiße Segel ihrem Blick entschwand. Da kehrte sie wieder in ihr einsames Haus zurück, warf sich weinend auf das Lager und härmte sich um den entfernten Gatten.
Unterdessen fuhren jene immer weiter hinaus auf das hohe Meer; ein sanfter Wind begann zu wehen, die Ruder wurden beigelegt, und vom günstigen Lufthauch schwollen die Segel. Schon war die Hälfte der Fahrt zurückgelegt, gleich weit schwebte das Schiff von beiden Ufern, siehe, da schnob gegen Abend der schreckliche Euros von Süden daher und krönte die Wogen mit weißem Schaum; ein wütender Sturm erhob sich. »Schnell die Rahen herab«, schrie der Steuermann, »die Segel fest um die Stangen gewickelt!« Aber seine Worte verhallten ungehört im Geheul des Sturms und im Brausen der Wellen. Nun eilte ein jeder, zu tun, was ihn das beste dünkte: der eine zog die Ruder ein, andere verstopften die Ruderlöcher am Bord; hier wurden die Segel herabgerissen, dort ward die eingedrungene Flut wieder ins Meer geschöpft. Während dieser Verwirrung wuchs das Rasen der Winde, die das Meer bis zum Grunde aufwühlten. Verzagt stand der Lenker des Schiffes und bekannte, daß er nicht wisse, wie es stehe noch was er befehlen und verbieten solle. Nun verhüllt schwarzes Gewölk den Äther, finstre Nacht sinkt herein, nur vom zuckenden Blitz durchleuchtet. Der Donner kracht Schlag auf Schlag, immer höher türmen sich die Wogen und überschütten das Schiff mit salziger Flut. Laut auf schreit das Schiffsvolk, die Balken drohen schon zu wanken, und jetzt springt eine riesige Welle hinein in den inneren Schiffsraum. Da faßt die meisten Verzweiflung, der eine weint, ein anderer staunt wie zu Stein erstarrt; der preist den glücklich, welcher auf dem Lande ein Grab findet; der fleht die Götter um Rettung an und streckt vergebens die Arme zum unsichtbaren Himmel empor; der denkt an die Lieben, die er daheim gelassen, an den alten Vater, die zärtliche Gattin, die blühenden Kinder; – Keyx denkt nur an Halkyone, nur ihr Name tönt wieder und wieder von seinen Lippen. Wie auch sein Herz nach ihr sich sehnt, so freut er sich doch, daß sie jetzt fern ist. Ach, nach dem heimischen Ufer möchte er so gern sein Antlitz kehren, sterbend die Hände ausstrecken nach der Gegend, wo die Geliebte wohnt; aber im undurchdringlichen Dunkel der Nacht weiß er nicht, wohin er sich wenden soll. Jetzt stürzt der geborstene Mastbaum herab und zerschlägt krachend auch das Steuer. Stolz auf ihre Beute hebt sich die Woge wie eine Siegerin, und auf den Grund des Meeres versenkt sie das Fahrzeug. Viele der Schiffer werden mit in den Strudel hinabgerissen und kommen nicht lebend wieder empor. Keyx hielt ein armseliges Brett mit der Hand, in der einst das Zepter ruhte. »Halkyone!« rief er, wie die müden Arme ihm erlahmten, »Halkyone!« seufzte er, als die Wellen über sein Haupt zusammenschlugen; »Halkyone!« murmelte zum letzten Mal der Mund des Ertrinkenden. Sein göttlicher Vater, der nicht vom Firmamente weichen durfte, verhüllte das Antlitz mit schwarzem Gewölk, um den geliebten Sohn nicht sterben zu sehen.
Unterdes zählte Halkyone, unkundig all des Jammers, die Tage und Nächte, die bis zur Heimkehr des trauten Gemahls noch verstreichen mußten; sie richtete schon die Gewänder, die er und die sie selbst tragen sollte; auch vergaß sie nicht, den Göttern, insbesondere der Hera, zu opfern, flehend, daß sie ihr den lieben Mann gesund wieder heimbringe. Hera sah es mit Trauern und sprach zu Iris, der Götterbotin: »Eile an den Hof des Schlafgottes und heiß ihn der harrenden Halkyone einen Traum in Gestalt des toten Keyx senden, daß er ihr das wahre Schicksal verkünde!« Alsbald zog Iris das tausendfarbige Gewand an und eilte über den schimmernden Himmelsbogen hinab zu der Felsenbehausung des Gottes. Fern am westlichen Rande der Erdscheibe liegt ein Berg mit einer tiefen und weiten Grotte; dort herrscht der Schlafgott. Niemals dringen dahin die Strahlen des Helios, ein dunkler Nebel steigt aus dem Boden empor und hüllt alles in Dämmerung. Kein Laut, weder Hundesgebell noch menschliche Rede stört die ewige Stille. Nur ein sanfter Bach fließt mit einschläferndem Murmeln um den Eingang der Höhle; an seinen Ufern sprießen unzählige duftende Kräuter, aus denen die Nacht betäubenden Saft sammelt. Keine knarrende Tür ist in der Behausung, offen steht der Eingang. Tief im innersten Gemach steht ein Lager aus Ebenholz, mit schwellenden Kissen bedeckt; darauf ruht der Gott, die Glieder von süßer Ermattung gelöst, und rings um ihn liegen in tausend Gestalten die Träume, die Söhne des Gottes.
Wie nun Iris die Grotte betrat, erhellte der Glanz ihres Gewandes sogleich das ganze Haus. Der Schlafgott erhob matt die Augen, sank wieder und wieder zurück, nickte wie trunken mit dem Haupte, schüttelte sich aus sich selbst hervor und stützte sich auf den Arm. »Was bringst du für Botschaft, schimmernde Iris?« fragte er endlich. Schnell vollendete die Götterbotin ihren Auftrag und enteilte sogleich wieder zum Olymp, denn sie konnte den betäubenden Duft nicht länger ertragen, der die ganze Höhle durchdrang. Aber der Schlaf wählte aus der Schar seiner tausend Kinder den Morpheus, daß er den göttlichen Befehl ausführe; denn dieser war vor allen geschickt, Gang und Stimme, Gestalt und Antlitz der Menschen nachzuahmen. Der Alte sank zurück und barg wieder das Haupt im weichen Polster; Morpheus aber flog mit geräuschlosen Fittichen durch die Nacht und neigte sich über das Lager der schlummernden Halkyone. In des Ertrunkenen Gestalt, totenbleich, nackt, mit triefendem Bart und Haupthaar, die Wangen mit Tränen überströmend, sprach er also: »Kennst du deinen Keyx noch, armes Weib, oder hat der Tod mir die Mienen verwandelt? Du kennst mich! Ach, ich bin nicht Keyx, nein, nur sein Schatten. Ich bin tot, Geliebte. Im Ägäischen Meer, wo der Sturm unser Fahrzeug zerschellte, schwimmt meine Leiche. Darum lege Trauerkleider an und weihe mir Tränen, daß ich nicht unbeweint in die traurige Unterwelt wandeln muß.« Zitternd streckte die Schlafende die Arme aus, ihr eigenes Schluchzen weckte sie. »O bleibe! Wo eilst du hin?« rief sie dem schwindenden Traumbild nach. »Laß mich mit dir gehen!« Als sie nun allmählich zum vollen Bewußtsein kam, schlug sie das Haupt mit den Händen, zerraufte sich das goldene Lockenhaar, zerriß ihr Gewand und schrie laut auf vor unendlichem Jammer.
So nahte der Morgen. Da ging sie hinaus an das Meeresgestade, den Ort zu besuchen, wo sie einst dem Geliebten die letzten Grüße nachgesandt hatte. Wie sie so mit tränenden Augen in die blaue Ferne blickte, da erschien plötzlich weit vom Strande in den Wellen etwas wie ein menschlicher Körper. Immer näher trugen es die Wogen heran, und je näher es kam, je mehr und mehr schwanden ihr die Gedanken. Jetzt, jetzt schwamm es ganz nahe ans Land. »Er ist's!« schreit die Unglückliche, die Hände nach dem Leichnam des teuren Gatten ausstreckend: »So also kehrst du mir zurück, du Armer! Wohlan, empfange mich denn, ich komme zu dir!« In die Flut will sie sich stürzen, aber siehe, Flügel heben sie durch die Luft, wehmütig klagend flattert sie als Vogel dicht über die Gewässer hin und schwingt sich schluchzend an die Brust des toten Gemahls. Und ist es nicht, als ob er die Nähe des trauten Weibes fühlte? Ja, wahrlich, die mitleidigen Götter verwandeln auch seine Gestalt und leihen ihm neues Leben. Als Eisvögel halten die beiden Gatten noch immer treu die alte zärtliche Liebe, in nie getrenntem Ehebund leben sie fort. Mitten zur Winterszeit kehren alljährlich sieben ruhige, windstille Tage wieder, dann sitzt Halkyone brütend im schwimmenden Nest auf dem glatten Spiegel des Meeres; denn ihr Vater Äolos hält zu dieser Zeit die Winde daheim im Hause und schafft seinen Enkeln schützende Ruhe.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
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Die letzte Fehde, die Herakles bestand, war sein Feldzug gegen Eurytos, den König von Öchalia, gegen welchen er einen alten Groll hegte, weil derselbe ihm seine Tochter Iole verweigert hatte. Er versammelte ein großes Heer von Griechen und zog nach Euböa, den Eurytos und seine Söhne in ihrer Stadt Öchalia zu belagern. Der Sieg folgte ihm: die hohe Burg wurde in den Staub geworfen, der König mit seinen drei Söhnen erschlagen, die Stadt vertilgt. Iole, noch immer jung und schön, wurde die Gefangene des Herakles.
Derweil hatte Deïanira in Sorgen zu Hause auf Nachricht von ihrem Gatten geharrt. Endlich jauchzte im Palaste Freudengeschrei empor. Ein Bote kam herangesprengt: »Dein Gemahl, o Fürstin, lebt« so meldete er der ängstlich auf seine Botschaft Horchenden »naht in Siegesruhm und führt jetzt eben die Erstlinge des Kampfes den heimatlichen Göttern zu. Sein Diener Lichas, den er hinter mir her gesendet hat, verkündet auf offener Wiese dem Volke den Sieg. Seine eigene Ankunft verzögert sich nur dadurch, daß er auf Euböas Vorgebirge Kenaion dem Zeus das schuldige Dankopfer darzubringen sich anschickt.« Bald erschien der Abgeordnete des Helden, Lichas, und in seinem Geleite die Gefangenen. »Heil dir, Gemahlin meines Herrn«, sprach er zu Deïanira; »die Himmlischen lieben den Frevel nicht: Herakles' gerechte Sache ist gesegnet worden; die üppigen Prahler mit ihrem verruchten Munde sind alle in den Hades hinabgeeilt, die Stadt ist in Knechtschaft. Doch der Gefangenen, die wir hier bringen, sollst du schonen, läßt dein Gemahl dir sagen, vor allem der unglücklichen Jungfrau, die sich hier vor deine Füße wirft.« Deïanira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das schöne, jugendliche Mädchen, das von Gestalt und Auge lieblich glänzte, erhob sie vom Boden und sprach: »Ja, ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, sooft ich Unglückselige heimatlos durch fremde Landschaft herumgeschleppt und Freigeborne Sklavenlos dulden sah. Zeus, Überwinder, mögest du nie deinen Arm so gegen mein Haus erheben! Aber wer bist du, jammervolles Mägdlein? Du scheinst unvermählt und von hohem Stamme! Sage mir, Lichas, wer sind die Eltern dieser Jungfrau?« »Wie weiß ich das? Weswegen fragst du dies?« antwortete der Abgesandte mit verstelltem Sinne, und seine Miene verriet ein Geheimnis. »Sie ist«, fuhr er nach einigem Zögern fort, »gewiß aus keinem der niedrigsten Häuser Öchalias.« Da das arme Mädchen selbst nur seufzte und schwieg, so forschte Deïanira auch nicht weiter, sondern befahl, sie in das Haus zu führen und dort auf das schonendste zu behandeln. Während Lichas diesem Befehl Folge leistete, trat der zuerst angekommene Bote seiner Gebieterin näher, und sobald er sich unbelauscht wußte, flüsterte er ihr die Worte zu: »Traue dem Abgesandten deines Gemahls nicht, Deïanira. Er verbirgt dir die Wahrheit. Aus seinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem Marktplatz von Trachis in vieler Zeugen Gegenwart gehört, daß dein Gatte Herakles ganz allein um dieser Jungfrau willen die hohe Burg Öchalias niedergeworfen hat. Es ist Iole, die Tochter des Eurytos, die du aufgenommen hast, von deren Liebe Herakles entbrannt war, ehe er dich kennengelernt hat. Nicht als deine Sklavin, sondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib ist sie in dein Haus gekommen!« Ober diese Mitteilung brach Deïanira in laute Wehklagen aus. Doch faßte sie sich bald wieder und rief den Diener ihres Gatten, Lichas, selbst herbei. Dieser schwur anfangs beim höchsten Zeus, daß er ihr die Wahrheit gesagt habe und ihm unbewußt sei, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange beharrte er bei dieser Lüge. Deïanira aber beschwor ihn, des höchsten Zeus nicht länger zu spotten. »Wäre es auch möglich, daß ich meinem Gatten seiner Untreue wegen abhold würde«, sagte sie zu ihm weinend, »so bin ich nicht so unedler Gesinnung, daß ich dieser Jungfrau zürne, die mir nie einen Schimpf angetan hat. Nur mit Mitleiden schaue ich sie an; denn ihr hat die Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes Geburtsland in Knechtschaft gestürzt!« Als Lichas sie so menschlich reden hörte, gestand er alles. Hierauf entließ ihn Deïanira ohne Vorwurf und befahl ihm, nur solange zu warten, bis sie für die reiche Schar von Gefangenen, die der Gemahl ihr zugesendet und zur Verfügung gestellt hatte, diesem eine Gegengabe gerüstet hätte.
Fern vom Feuer, unberührt vom Strahle des Lichtes hatte Deïanira, der Vorschrift des tückischen Zentauren gemäß, die Salbe, die sie vom giftigen Blute seiner Pfeilwunde gesammelt, am verborgenen Orte bewahrt. An dieses Zaubermittel, das sie, unerfahren in den Ränken, welche Rache spinnt, für ganz unschädlich hielt und das ihr nur das Herz und die Treue des Gatten wiedergewinnen sollte, dachte nun die bedrängte Fürstin zum ersten Male wieder, seit sie es sorgsam verhüllt im Schranke geborgen. Jetzt galt es zu handeln. Sie schlich sich daher in das Gemach und färbte mit einer Flocke von weißem Lämmervliese, welche sie mit der Salbe getränkt hatte, im verborgenen ein köstliches Unterkleid, das für Herakles bestimmt war. Sorgfältig hütete sie während dieser Arbeit Flocke und Gewand vor dem Sonnenstrahl und schloß das blutrot gefärbte Kleid, schön zusammengefaltet, in ein Kästchen ein. Als dies geschehen war, warf sie die Wolle, die zu nichts mehr dienlich, auf die Erde, ging und überreichte dem herbeigerufenen Lichas das für ihren Gatten bestimmte Geschenk. »Bring meinem Gemahl«, sprach sie, »dieses schöngewobene Leibgewand, meiner eigenen Hände Werk. Kein andrer soll es tragen als er selbst; auch soll er das Kleid nicht dem Feuerherde oder dem Sonnenglanze aussetzen, bevor er es, am feierlichen Opfertage damit geschmückt, den Göttern gezeigt hat; denn dieses Gelübde habe ich getan, wenn ich ihn je siegreich zurückkehren sehen würde. Daß du ihm wirklich meine Botschaft bringest, soll er an diesem Siegelringe erkennen, den ich dir für ihn anvertraue.« Lichas versprach alles auszurichten, wie die Herrin befohlen; er verweilte keinen Augenblick länger im Palast, sondern eilte mit der Gabe nach Euböa, um den opfernden Herrn nicht länger ohne Kunde von der Heimat zu lassen. Einige Tage vergingen, und der älteste Sohn des Herakles und der Deïanira, Hyllos, war seinem Vater entgegengeeilt, um ihm die Ungeduld der harrenden Mutter zu schildern und ihn zu beschleunigter Heimkehr zu bewegen. Inzwischen hatte Deïanira zufällig das Gemach wieder betreten, wo das Zaubergewand von ihr gefärbt worden war. Sie fand die Wollenflocke, wie sie dieselbe unachtsam hingeworfen, auf dem Boden liegen, dem Sonnenstrahl ausgesetzt und von ihm durchwärmt. Ihr Anblick aber entsetzte sie; denn die Wolle war wie zu Staub oder Sägspänen zusammengeschwunden, und aus dem Überbleibseln zischte ein blasenvoller, giftiger Schaum auf. Eine dunkle Ahnung ergriff die jammervolle Frau, daß sie Unglückseliges begangen habe, und in entsetzlicher Unruhe durchirrte sie seit diesem Augenblicke den Palast.
Endlich kam Hyllos zurück, aber ohne den Vater. »O Mutter«, rief er ihr mit Abscheu zu, »ich wollte, du hättest nie gelebt, oder du wärest nie meine Mutter gewesen, oder die Götter hätten dir eine andere Sinnesart gegeben!« So unruhig die Fürstin schon vorher war, so erschrak sie doch noch mehr bei diesen Worten ihres Sohnes. »Kind«, erwiderte sie ihm, »was ist denn so Gehässiges an mir?« »Ich komme vom Vorgebirge Kenaion, Mutter«, entgegnete ihr der Sohn mit lautem Schluchzen, »du bist es, die mir den Vater dahingewürgt!« Deïanira wurde totenbleich, doch raffte sie sich zusammen und sprach: »Von wem weißt du solches, mein Sohn, wer darf mich so entsetzlicher Untat zeihen?« »Kein fremder Mund hat mich belehrt«, fuhr der Jüngling fort, »mit eigenen Augen habe ich mich von dem Jammerlose des Vaters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Kenaion, wo er eben dem Überwinder Zeus auf vielen Dankaltären zugleich Brandopfer schlachten wollte. Da erschien der Herold Lichas, sein Diener, mit deiner Gabe, deinem verfluchten, mörderischen Gewande. Deinem Auftrage folgend, legte der Vater das Unterkleid sogleich an, und damit geschmückt begann er die Opferung zwölf stattlicher Stiere. Anfangs betete der Unglückselige, deines schönen Schmuckes froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut schon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß seine Haut, das Gewand schien, wie vom Schmied angelötet, an seinen Seiten zu kleben, und ein Zucken fuhr durch sein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter an seinem Leibe, schrie der Gequälte brüllend nach Lichas, dem unschuldigen Überbringer deines giftigen Gewandes; dieser kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag; der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an die Felsen des Meeres, daß er zerschmettert in der aufspritzenden Flut untersank. Das ganze Volk jammerte bei dieser Tat des Wahnsinnes auf, und niemand wagte sich dem rasenden Helden zu nähern. Dieser wälzte sich bald auf dem Boden, bald sprang er heulend wieder empor, daß rings Fels und Waldgebirge widerhallten. Er verfluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual geworden. Endlich kehrte er sich zu mir und rief. »Söhnlein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindest, so schiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im fremden Lande sterbe!« Auf dieses Verlangen legten wir den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend ist er hier angelangt, und bald wirst du ihn lebendig oder tot vor dir sehen. Das alles ist dein Werk, Mutter. Den allerbesten Helden hast du jämmerlich dahingemordet!«
Deïanira, ohne sich auf diese schreckliche Rede zu rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllos in schweigender Verzweiflung. Das Hausgesinde, dem sie ihr Geheimnis, den Gatten sich durch des Nessos Zaubersalbe treu zu erhalten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß sein Jähzorn der Mutter unrecht getan. Er eilte der Unglücklichen nach, aber er kam zu spät. Sie lag im Schlafgemach tot auf dem Lager ihres Gatten ausgestreckt, die Brust mit einem zweischneidigen Schwerte durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche und streckte sich dann zu ihrer Seite hin, seine Unbedachtsamkeit beseufzend. Die Ankunft des Vaters im Palaste störte ihn aus dieser kläglichen Ruhe auf. »Sohn«, rief dieser, »Sohn, wo bist du? Zieh doch das Schwert gegen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken und heile so die Wut, in welche deine gottlose Mutter mich versetzt hat! Zage nicht, sei mitleidig mit mir, mit einem Helden, der wie ein Mägdlein in Tränen schluchzen muß!« Dann wandte er sich verzweiflungsvoll an die Umstehenden, streckte seine Arme aus und rief. »Kennet ihr diese Glieder, denen das Mark entsaugt ist, noch? Es sind dieselben, die den Schrecken der Hirten, den Nemeischen Löwen, gebändigt, die den Drachen von Lerna erwürgt, die den Erymanthischen Eber erlegen halfen, die den Kerberos aus der Hölle heraufgetragen! Kein Speer, kein wildes Tier des Waldes, kein Gigantenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes hat mich vertilgt! Darum, Sohn, töte mich und strafe deine Mutter!«
Aber als Herakles aus dem Munde seines Sohnes Hyllos unter heiligen Beteuerungen erfuhr, daß seine Mutter die unfreiwillige Ursache seines Unglücks gewesen und ihre Unbedachtsamkeit mit dem Selbstmorde gebüßt habe, wandte sich sein Sinn vom Zorn zur Wehmut. Er verlobte seinen Sohn Hyllos mit der gefangenen Jungfrau Iole, die ihm selbst so lieb gewesen war, und da ein Orakel von Delphi gekommen, daß er auf dem Berge Öta, der zum Gebiete von Trachis gehörte, sein Leben beschließen müsse, so ließ er sich, seinen Qualen zum Trotz, auf den Gipfel dieses Berges tragen. Hier ward auf seinen Befehl ein Scheiterhaufen errichtet, auf welchem der kranke Held seinen Platz nahm. Und nun befahl er den Seinigen, den Holzstoß von unten anzuzünden. Aber niemand wollte ihm den traurigen Liebesdienst erweisen. Endlich entschloß sich auf die eindringliche Bitte des von Schmerzen bis zur Verzweiflung gequälten Helden sein Freund Philoktet, ihm den Willen zu tun. Zum Danke für diese Bereitwilligkeit reichte Herakles ihm seine unüberwindlichen Pfeile nebst dem siegreichen Bogen. Sobald der Scheiterhaufen angezündet war, schlugen Blitze vom Himmel darein und beschleunigten die Flammen. Da senkte sich eine Wolke herab auf den Holzstoß und trug den Unsterblichen unter Donnerschlägen zum Olymp empor. Als nun, da der Scheiterhaufen schnell zur Asche verbrannt war, Iolaos und die andern Freunde der Brandstätte sich näherten, die Überbleibsel des Helden zusammenzulesen, fanden sie kein einziges Gebein mehr. Sie konnten auch nicht länger zweifeln, daß Herakles, dem alten Götterspruche zufolge, aus dem Kreise der Menschen in den der Himmlischen versetzt worden sei, brachten ihm ein Totenopfer als einem Heros und weihten ihn so zu einer allmählich von ganz Griechenland verehrten Gottheit ein. Im Himmel empfing den vergötterten Herakles seine Freundin Athene und führte ihn in den Kreis der Unsterblichen. Hera selbst versöhnte sich mit ihm, nachdem er sein sterbliches Geschick vollendet. Sie gab ihm ihre Tochter Hebe, die Göttin der ewigen Jugend, zur Gemahlin, und diese gebar ihm droben im Olymp unsterbliche Kinder.
Inhaltsverzeichnis
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Sisyphos, der Sohn des Aiolos, der listigste aller Sterblichen, baute und beherrschte die herrliche Stadt Korinth auf der schmalen Erdzunge zwischen zwei Meeren und zwei Ländern. Für allerlei Betrug traf ihn in der Unterwelt die Strafe, daß er einen schweren Marmorstein, mit Händen und Füßen angestemmt, von der Ebene eine Anhöhe hinaufwälzen mußte. Wenn er aber schon glaubte, ihn auf den Gipfel gedreht zu haben, so wandte sich die Last um, und der tückische Stein rollte wieder in die Tiefe hinunter. So mußte der gepeinigte Verbrecher das Felsstück wieder von neuem und immer von neuem emporwälzen, daß der Angstschweiß von seinen Gliedern floß.
Sein Enkel war Bellerophontes, der Sohn des Korintherköniges Glaukos. Wegen eines unvorsätzlichen Mordes flüchtig, wandte sich der Jüngling nach Tiryns, wo der König Prötos regierte. Bei diesem wurde er gütig aufgenommen und von seinem Morde gereinigt. Aber Bellerophontes hatte von den Unsterblichen schöne Gestalt und männliche Tugenden empfangen. Deswegen entbrannte die Gemahlin des Königes Prötos, Anteia, in unreiner Liebe zu ihm und wollte ihn zum Bösen verführen. Aber der edelgesinnte Bellerophontes gehorchte ihr nicht. Da verwandelte sich ihre Liebe in Haß; sie sann auf Lüge, ihn zu verderben, erschien vor ihrem Gemahl und sprach zu ihm: »Erschlage den Bellerophontes, o Gemahl, wenn dich nicht selbst unrühmlicher Tod treffen soll, denn der Treulose hat mir seine strafbare Neigung bekannt und mich zur Untreue gegen dich verleiten wollen.« Als der König solches vernommen, bemächtigte sich seiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den verständigen Jüngling so liebgehabt hatte, vermied er den Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen. Aber dennoch sann er auf sein Verderben. Er schickte daher den Unschuldigen zu seinem Schwiegervater Iobates, dem Könige von Lykien, und gab ihm ein zusammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem letzteren bei seiner Ankunft in Lykien gleichsam als einen Empfehlungsbrief vorweisen sollte; auf dieses waren gewisse Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Überbringer hinrichten zu lassen. Arglos wandelte Bellerophontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn in ihren Schutz. Als er, übers Meer nach Asien gefahren, am schönen Strome Xanthos angekommen war und also Lykien erreicht hatte, trat er vor den König Iobates. Dieser aber, ein gütiger, gastfreundlicher Fürst nach der alten Sitte, nahm den edeln Fremdling auf, ohne zu fragen, wer er sei, noch, woher er komme. Seine würdige Gestalt und sein fürstliches Benehmen genügten ihm zur Überzeugung, daß er keinen gemeinen Gast beherberge. Er ehrte den Jüngling auf jede Weise, gab ihm alle Tage ein neues Fest und brachte den Göttern von Morgen zu Morgen ein neues Stieropfer. Neun Tage waren so vorübergegangen, und erst als die zehnte Morgenröte am Himmel aufstieg, fragte er den Gast nach seiner Herkunft und seinen Absichten. Da sagte ihm Bellerophontes, daß er von seinem Eidam Prötos komme, und wies ihm als Beglaubigungsschreiben das Täfelchen vor. Als der König Iobates den Sinn der mörderischen Zeichen erkannte, erschrak er in tiefster Seele; denn er hatte den edlen Jüngling sehr liebgewonnen. Doch mochte er nicht denken, daß sein Schwiegersohn ohne gewichtige Ursache die Todesstrafe über den Unglücklichen verhänge; glaubte also, dieser müsse durchaus ein todeswürdiges Verbrechen verübt haben. Aber auch er konnte sich nicht entschließen, den Menschen, der so lange sein Gast gewesen war und durch sein ganzes Benehmen sich seine Zuneigung zu erwerben gewußt hatte, geradezu umzubringen. Er gedachte ihm deswegen nur Kämpfe aufzutragen, in denen er notwendig zugrunde gehen müßte. Zuerst ließ er ihn das Ungeheuer Chimära erlegen, das Lykien verwüstete und das göttlicher, nicht menschlicher Art emporgewachsen war. Der gräßliche Typhon hatte es mit der riesigen Schlange Echidna gezeugt. Vorn war es ein Löwe, hinten ein Drache, in der Mitte eine Ziege; aus seinem Rachen ging Feuer und entsetzlicher Gluthauch. Die Götter selbst trugen Mitleiden mit dem schuldlosen Jüngling, als sie sahen, welcher Gefahr er ausgesetzt wurde. Sie schickten ihm auf seinem Wege zu dem Ungeheuer das unsterbliche Flügelroß Pegasus, das Poseidon mit der Medusa gezeugt hatte. Wie konnte ihm aber dieses helfen? Das göttliche Pferd hatte nie einen sterblichen Reiter getragen. Es ließ sich nicht einfangen und nicht zähmen. Müde von seinen vergeblichen Anstrengungen war der Jüngling am Quell Pirene, wo er das Roß gefunden hatte, eingeschlafen. Da erschien ihm im Traume seine Beschirmerin Athene; sie stand vor ihm, einen köstlichen Zaum mit goldenen Buckeln in der Hand, und sprach: »Was schläfst du, Abkömmling des Aiolos? Nimm dieses rossebändigende Werkzeug; opfre dem Poseidon einen schönen Stier und brauche des Zaums.« So schien sie dem Helden im Traume zuzusprechen, schüttelte ihren dunklen Ägisschild und verschwand. Er aber erwachte aus dem Schlafe, sprang auf und faßte mit der Hand nach dem Zaume. Und, o Wunder, der Zaum, nach dem er im Traume gegriffen, der Wachende hielt ihn wirklich und leibhaft in der Hand. Bellerophontes suchte nun den Seher Polyidos auf und erzählte ihm seinen Traum sowie das Wunder, das sich in demselben zugetragen. Der Seher riet ihm, das Begehren der Göttin ungesäumt zu erfüllen, dem Poseidon den Stier zu schlachten und seiner Schutzgöttin Athene einen Altar zu bauen. Als dies alles geschehen war, fing und bändigte Bellerophontes das Flügelroß ohne alle Mühe, legte ihm den goldenen Zaum an und bestieg es in eherner Rüstung. Nun schoß er aus den Lüften herab und tötete die Chimära mit seinen Pfeilen. Hierauf schickte ihn Iobates gegen das Volk der Solymer aus, ein streitbares Männergeschlecht, das an den Grenzen von Lykien wohnte, und nachdem er wider Erwarten den härtesten Kampf mit diesen glücklich bestanden, so wurde er von dem Könige gegen die männergleiche Schar der Amazonen gesandt. Auch aus diesem Streite kam er unverletzt und siegreich zurück. Nun legte ihm der König, um dem Verlangen seines Eidams doch endlich nachzukommen, eben auf diesem Rückwege einen Hinterhalt, wozu er die tapfersten Männer des lykischen Landes ausersehen hatte. Aber keiner von ihnen kehrte zurück, denn Bellerophontes vertilgte alle, die ihn überfallen hatten, bis auf den letzten. Nunmehr erkannte der König, daß der Gast, den er beherbergt, kein Verbrecher, sondern ein Liebling der Götter sei. Statt ihn zu verfolgen, hielt er ihn in seinem Königreiche zurück, teilte den Thron mit ihm und gab ihm seine blühende Tochter Philonoe zur Gemahlin. Die Lykier überließen ihm die schönsten Äcker und Pflanzungen zum Bebauen. Seine Gemahlin gebar ihm drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.
Aber jetzt hatte das Glück des Bellerophontes ein Ende. Sein ältester Sohn Isander wuchs zwar auch zu einem gewaltigen Helden auf, aber er fiel in einer Schlacht gegen die Solymer. Seine Tochter Laodameia wurde, nachdem sie dem Zeus den Helden Sarpedon geboren, durch einen Pfeil der Artemis erschossen. Nur sein jüngerer Sohn Hippolochos gelangte zu ruhmvollem Alter und schickte im Kampfe der Trojaner einen heldenmütigen Sohn, Glaukos; den auch sein Vetter Sarpedon begleitete, mit einer stattlichen Schar von Lykiern den Troern zu Hilfe.
Bellerophontes selbst, durch den Besitz des unsterblichen Flügelrosses übermütig gemacht, wollte sich auf demselben zum Olymp emporschwingen und, der Sterbliche, sich in die Versammlung der Unsterblichen eindrängen. Aber das göttliche Roß selbst widersetzte sich dem kühnen Unterfangen, bäumte sich in der Luft und schleuderte den irdischen Reiter hinunter auf den Boden. Bellerophontes erholte sich zwar von diesem Fall, aber den Himmlischen seitdem verhaßt und vor den Menschen sich schämend, irrte er einsam umher, vermied die Pfade der Sterblichen und verzehrte sich in einem ruhmlosen und kummervollen Alter.
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Inzwischen war Theseus, von Herakles befreit, aus dem Hades zurückgekehrt. Ruhe war ihm auch jetzt nicht auf dem Thron beschieden; denn als er das Ruder das Staates wieder ergriff, brachen Empörungen gegen ihn aus, an deren Spitze immer Menestheus stand, welcher hinter sich die Partei der Edeln hatte, die immer noch von Pallas, seinem Oheime, und dessen besiegten und erschlagenen Söhnen sich die Pallantiden nannten. Diejenigen, welche ihn vorher gehaßt hatten, verlernten allmählich auch die Furcht vor ihm, und das gemeine Volk hatte Menestheus so verwöhnt, daß es, anstatt zu gehorchen, immer nur geschmeichelt werden wollte. Anfänglich versuchte nun Theseus gewaltsame Mittel; als aber aufwieglerische Umtriebe und offene Widersetzlichkeit alle seine Bemühungen vereitelten, da beschloß der unglückliche König, seine unbotmäßige Stadt freiwillig zu verlassen, nachdem er schon vorher seine Söhne Akamas und Demophoon heimlich nach Euböa zu dem Fürsten Elephenor geflüchtet hatte. In einem Flecken von Attika, Gargettos genannt, sprach er feierliche Verwünschungen gegen die Athener aus, da, wo man noch lange nachher das Verwünschungsfeld zeigte; dann schüttelte er den Staub von seinen Füßen und schiffte sich nach Skyros ein. Die Einwohner dieser Insel hielt er für seine besonderen Freunde, denn der König besaß darauf ansehnliche Güter, die er von seinem Vater geerbt hatte.
Damals war Lykomedes Beherrscher von Skyros. Zu diesem ging Theseus und bat sich von ihm seine Güter aus, um auf denselben seinen Sitz zu nehmen. Aber das Geschick hatte ihn einen schlimmen Weg geführt. Lykomedes, sei es, daß er den großen Ruf des Mannes fürchtete, sei's, daß er mit Menestheus in geheimem Einverständnisse war, dachte darauf, wie er den in seine Hände gegebenen Gast, ohne Aufsehen zu erregen, aus dem Wege räumen könnte. Er führte ihn deswegen auf den höchsten Felsengipfel der Insel, der schroff in das Land hinaussprang. Er wollte ihn, war sein Vorgeben, die schönen Güter, die sein Vater auf dem Eilande besessen hatte, mit einem Blick überschauen lassen. Theseus, oben angekommen, ließ seine Augen freudig über die herrlichen Gefilde streifen: da gab ihm der treulose Fürst einen Stoß von hinten, daß er über die Felsen hinabstürzte und nur sein zerschmetterter Leichnam in der Tiefe ankam.
Zu Athen war Theseus von dem undankbaren Volke bald vergessen, und Menestheus regierte, als wenn er den Thron von vielen Ahnen ererbt hätte. Die Söhne des Theseus zogen mit dem Helden Elephenor als gemeine Krieger vor Troja. Erst als dort Menestheus gefallen war, kehrten sie nach Athen zurück und brachten das Zepter des Königtums wieder in ihre eigne Hand.
Viele Jahrhunderte später sollte es kommen, daß die Athener Theseus als ihren Heros verehrten; als sie nämlich bei Marathon die schwere Schlacht gegen die Perser schlugen, da stieg der alte Recke aus dem Grabe, um gerüstet mit seinen alten Waffen, an der Spitze seines Volkes, gegen die Barbaren zu kämpfen. Darum befahl das Orakel von Delphi den Athenern, des Theseus Gebeine zu holen und ehrenvoll zu bestatten. Aber wo sollten sie dieselben suchen? Und wenn sie auch auf der Insel Skyros das Grab gefunden hätten, wie sollten sie seine Überreste aus den Händen roher und den Fremden unzugänglicher Barbaren erlosen? Da geschah es, daß der berühmte Athener Kimon, der Sohn des Miltiades, auf einem neuen Feldzuge die Insel Skyros eroberte. Während er nun mit großem Eifer das Grab des Nationalheros aufsuchte, bemerkte er über einem Hügel einen Adler schwebend. Er machte halt an dieser Stelle und sah bald, wie der Vogel herabschoß und die Erde des Grabhügels mit seinen Krallen aufscharrte. Kimon erblickte in diesem Zeichen eine göttliche Fügung, ließ nachgraben und fand tief in der Erde den Sarg eines großen Leichnams, daneben eine eherne Lanze und ein Schwert. Er und seine Begleiter zweifelten nicht daran, des Theseus Gebeine gefunden zu haben. Die heiligen Überreste wurden von Kimon auf ein schönes Kriegsschiff mit drei Ruderbänken gebracht und in Athen mit Jubel, unter glänzenden Aufzügen und Opfern empfangen. Es war, als ob Theseus selbst in die Stadt zurückkehrte. So bezahlten nach Jahrhunderten die Nachkommen dem Begründer der Freiheit und Bürgerverfassung Athens den Dank, den ihm eine schnöde Mitwelt schuldig geblieben war.
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Aber noch sollte der arme Ödipus keine Ruhe haben. Theseus brachte von dem kurzen Zuge die Nachricht mit, daß ein naher Blutsverwandter desselben, jedoch nicht aus Theben kommend, Kolonos betreten und sich an dem Altar des benachbarten Poseidontempels, wo Theseus eben geopfert hatte, als Schutzflehender niedergelassen habe. »Das ist mein hassenswerter Sohn Polyneikes«, rief Ödipus zürnend aus. »Es wäre mir unerträglich, ihn anhören zu müssen!« Doch Antigone, die diesen Bruder als den sanfteren und besseren liebte, wußte die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigstens Gehör zu verschaffen. Nachdem sich Ödipus auch gegen diesen den Arm seines Beschützers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinwegführen wollte, ließ er den Sohn vor sich.
Polyneikes zeigte schon durch sein Auftreten eine ganz andere Gemütsart als sein Oheim Kreon, und Antigone versäumte nicht, ihren blinden Vater darauf aufmerksam zu machen. »Ich sehe jenen Fremdling«, rief sie, »ohne Begleiter herschreiten! Ihm strömen die Tränen aus den Augen.« »Ist er es?« fragte Ödipus und wendete sein Haupt ab. »Ja, Vater«, erwiderte die gute Schwester, »dein Sohn Polyneikes steht vor dir.« Polyneikes warf sich vor dem Vater nieder und umschlang seine Knie. An ihm hinaufblickend, betrachtete er jammernd seine Bettlerkleidung, seine hohlen Augen, sein ungekämmt in der Luft flatterndes Greisenhaar. »Ach, zu spät erfahre ich alles dieses«, rief er, »ja ich selbst muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergessen! Was wäre er ohne die Fürsorge meiner Schwester! Ich habe mich schwer an dir versündigt, Vater! Kannst du mir nicht vergeben? Du schweigst? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht so unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schwestern, versucht ihr es, den abgekehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!« »Sage du selbst zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat«, sprach die milde Antigone; »vielleicht öffnet deine Rede auch seine Lippen!« Polyneikes erzählte nun seine Verjagung durch den Bruder, seine Aufnahme beim König Adrastos in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort sieben Fürsten mit siebenfacher Schar für seine gerechte Sache geworben habe und diese Bundesgenossen das thebanische Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Tränen, sich mit ihm aufzumachen, und nachdem durch seine Hilfe der übermütige Bruder gestürzt sei, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. »Du Verruchter!« sprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, »als Thron und Zepter noch in deinem Besitze war, hast du den Vater selbst aus der Heimat verstoßen und in dieses Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm bemitleidest, wo gleiche Not über dich gekommen ist! Du und dein Bruder, ihr seid nicht meine wahren Kinder; hinge es von euch ab, so wäre ich längst tot. Nur durch meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer schon der Götter Rache. Du wirst deine Vaterstadt nicht vertilgen; in deinem Blute wirst du liegen, und dein Bruder in dem seinen. Dies ist die Antwort, die du deinen Bundesfürsten bringen magst!« Antigone nahte sich jetzt ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entsetzt vom Boden aufgesprungen und einige Schritte rückwärts gewichen war. »Höre mein inbrünstiges Flehen, Polyneikes«, sprach sie ihn umfassend, »kehre mit deinem Heere nach Argos zurück, bekriege deine Vaterstadt nicht!« »Es ist unmöglich«, erwiderte zögernd der Bruder; »die Flucht brächte mir Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zugrunde gehen müssen, dennoch können wir nicht Freunde sein!« So sprach er, wand sich aus der Schwester Armen und stürzte verzweifelnd davon.
So hatte Ödipus den Versuchungen seiner Verwandten nach beiden Seiten hin widerstanden und sie dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war sein eigenes Geschick vollendet. Donnerschlag auf Donnerschlag erscholl vom Himmel. Der Greis verstand diese Stimme und verlangte sehnlich nach Theseus. Die ganze Gegend hüllte sich in Gewitterfinsternis. Eine große Angst bemächtigte sich des blinden Königes; er fürchtete, von seinem Gastfreunde nicht mehr lebend oder nicht mehr unverstörten Sinnes getroffen zu werden und ihm den vollen Dank für so viele Wohltaten nicht mehr bezahlen zu können. Endlich erschien Theseus, und nun sprach Ödipus seinen feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von keiner sterblichen Hand berührt und nur vom Auge des Theseus geschaut, enden sollte. Keinem Menschen dürfe er sagen, wo Ödipus die Erde verlassen. Bleibe das heilige Grab, das ihn verschlingen würde, verborgen, so werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundesgenossen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens sein. Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos erlaubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und so vertiefte sich der ganze Zug in die schauerlichen Schatten des Furienhaines. Keines durfte an Ödipus rühren; er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, schien auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar gestärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte ihnen den Weg zu dem vom Schicksal ihm bestimmten Ziele.
Mitten in dem Haine der Erinnyen sah man einen geborstenen Erdschlund, dessen Öffnung mit einer ehernen Schwelle versehen war und zu welchem mehrere Kreuzwege führten. Von dieser Höhle ging von uralter Zeit her die Sage, daß sie einer der Eingänge in die Unterwelt sei. Jener Kreuzwege einen betrat nun Ödipus, doch ließ er sich von dem Gefolge nicht bis zu der Grotte selbst begleiten, sondern unter einem hohlen Baume machte er halt, setzte sich auf einen Stein nieder und löste den Gürtel seines schmutzigen Bettlerkleides. Dann rief er nach einer Spende fließenden Wassers, wusch sich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung und zog ein schmuckes Gewand an, das ihm durch seine Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde. Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert dastand, tönte unterirdischer Donner vom Boden herauf. Bebend warfen sich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht gewesen waren, in seinen Schoß; Ödipus aber schlang seinen Arm um sie, küßte sie und sprach: »Kinder, lebet wohl, von diesem Tag an habt ihr keinen Vater mehr!« Aus dieser Umarmung weckte sie eine donnergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob sie vom Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte: »Was säumest du, Ödipus? Was zögern wir zu gehen?« Als der blinde König die Stimme vernahm und wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er sich aus den Armen seiner Kinder los, rief den König Theseus zu sich und legte seiner Töchter Hände in die Hand desselben, zum Zeichen seiner Verpflichtung, sie nimmermehr zu lassen. Dann befahl er allen andern, umgewendet sich zu entfernen. Nur Theseus an seiner Seite durfte auf die offene Schwelle mit ihm zuschreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren dem Winke gefolgt und schauten sich erst um, als sie eine gute Strecke rückwärtsgegangen waren. Da hatte sich ein großes Wunder ereignet. Von dem Könige Ödipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu sehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu spüren; die tiefste Stille herrschte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unterwelt schien sich sanft und lautlos für ihn aufgetan zu haben, und durch den Erdspalt war der entsündigte Greis ohne Stöhnen und Pein sachte wie auf Geisterflügeln zur Tiefe hinabgetragen worden. Den Theseus aber erblickten sie allein, mit der Hand die Augen sich überschattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes Gesicht gehabt. Dann sahen sie, wie er, die Hände hoch gen Himmel gehoben, zu den Olympiern, und wieder, demütig auf den Boden niedergeworfen, zu den Göttern der Unterwelt flehte. Nach kurzem Gebete kehrte der König zu den Jungfrauen zurück, versicherte sie seines väterlichen Schutzes und schritt mit ihnen, in heiliges Schweigen versunken, nach Athen zurück.
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