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Sophie Andresky · Schrille Nacht

Sophie Andresky

Schrille Nacht

Weihnachten mit dem
Pyjama-Huhn

Erstausgabe

1. Auflage, Herbst 2011

Copyright © 2011
Haffmans & Tolkemitt GmbH,
Inselstr. 12, 10179 Berlin,
www.haffmans-tolkemitt.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der
mechanischen, elektronischen oder fotografischen
Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in
elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften
oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung
oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk,
Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile,
sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Einbandprägung nach einer eigens gefertigten Vorlage
von Rudi Hurzlmeier.

Produktion und Gestaltung von Urs Jakob,
Werkstatt im Grünen Winkel, CH-8400 Winterthur.
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten.
E-Book Konvertierung durch Calidad Software Services,
Puducherry, Indien

ISBN 978-3-942989-03-9
E-Book ISBN: 978-3-942989-72-5

Für Marcus.
Für den Seegang und die Windstille.
Fürs Klabautern. Für die Untiefen und den Hafen.
Und für all das Lametta!

SCHRILLE NACHT

Mit Huhn

Ratzke liebt den Moment, wenn Alva den langen schwarzen Nylonstrumpf über das Knie streift. Er lässt sich in den Sessel fallen, mit dem Rücken zum Panoramafenster. Draußen gibt es nichts mehr zu sehen, nur noch Schwärze, das Meer ist schon vor Stunden in der Dunkelheit verschwunden. Und selbst wenn noch glitzernde Wellen zu bewundern wären, wie kurz nach dem Ablegen in Kiel, dann könnten sie nicht mit Alva konkurrieren.

Alvas Vorbereitungen sind voller schöner Momente. Wie sie ihr Haar über Kopf auskämmt, bis es knistert. Wie sie ihre sportliche Unterwäsche auszieht und über die Striemen reibt, die der BH auf ihrer Schulter hinterlassen hat. Wie sie dann ihr rotes Samtkorsett um die Taille legt, die Brüste in den Körbchen zurechtlegt und beginnt, die Häkchen von oben nach unten zu schließen. All das genießt Ratzke.

Er öffnet die kleine hölzerne Tür der Minibar neben sich und nimmt eine winzige Flasche Martini rosso heraus. Als er sich bückt und streckt, glaubt er einen Moment lang zu fühlen, dass ein Zittern durch das Schiff geht.

Er versucht, den Bewegungen der Colorful Vision nachzuspüren, aber die riesige Kreuzfahrtfähre schwankt kaum. Auf der Mitte der Überfahrt nach Norwegen soll der Seegang etwas rauer werden, hat er gelesen, aber jetzt ist es ruhiger als in einem Bahnabteil. Kein Vergleich zu der ICE-Strecke an der Loreley vorbei, wo die Mitropa-Angestellten im Speisewagen die »Kartoffelsuppe Hänsel und Gretel« oder das »Rindergulasch Wotan« in jeder Kurve über die Tische rutschen lassen, als wären es Steine beim Curling. Manchmal grollt es aus der Tiefe des Schiffsbauchs bis zu ihnen in die Suite, das war’s schon, Ratzke muss sich keine Sorgen machen. Ihm wird schnell schlecht, er ist überhaupt nicht seefest, aber diese Minikreuzfahrt von gerade mal zwei Nächten sei ideal für Landeier, haben seine Kollegen gemeint, und sie scheinen Recht zu behalten. Bisher jedenfalls läuft alles recht gut für ihn.

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Ratzke und Alva haben die Vision in Kiel betreten, und Alva war ganz überschwänglich, als sie am Empfangstresen des Terminals merkte, dass Ratzke heimlich die Fünf-Sterne-Suite gebucht hatte und nicht die abgesprochene Innenkabine. Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr, sie werde heute Nacht diese Sache machen, die er sich seit langem so sehr wünsche. Und dabei hatte sie ihm unauffällig und verdeckt von seinem Wintermantel in den Schritt gegriffen und ihre Finger bewegt, fordernd und gerade so fest, wie er es gern hat.

Er kam sich vor wie ein Rockstar, allein schon deshalb, und nicht etwa, weil sie in der mit Rentieren und roten Beerenkränzen geschmückten VIP-Lounge standen, in der die Passagiere der Suiten bei Glögg und Zimtkeksen aufs Einschiffen warten konnten. Er küsste Alva, spielte mit ihrer Zunge und knabberte an ihrer Unterlippe, bis das ältere Ehepaar, das neben ihnen leise schlürfend Glögg trank und auf Norwegisch miteinander flüsterte, sich missbilligend räusperte. Da flüsterte er ihr nur noch ins Ohr: »Ich werd dich ordentlich rannehmen, meine Schöne, deine Muschi wird was erleben heute Nacht, ich fick dich so durch, das vergisst du nie, du wirst meine nasse, heiße, geile Wunderpunze sein, ich werd dich lecken, überall wo du willst, und wenn wir dann diese Sache machen, wirst du sehen: Das ist das Größte. Ich wette, du bist jetzt schon feucht im Höschen.«

Ratzke konnte es gar nicht mehr erwarten, dass der Steward kam, um die kleine Gruppe von VIP-Gästen vor allen anderen Passagieren durch die gläserne Röhre zu geleiten, die das Terminal mit der Vision verband und durch die jetzt die Putzkolonne von Bord ging, eine in elchwurstfarbene Overalls gekleidete Truppe, die riesige Staubsauger hinter sich herzog und Eimer mit Lappen und große Putzmittelkanister schleppte.

Alva lachte und schwatzte aufgedreht. Sie sind bisher selten zusammen verreist, das ist schwierig, wenn beide in derselben Firma arbeiten, und merkwürdig ist vor allem, dass sie noch nie eine Kreuzfahrt unternommen haben, immerhin arbeiten sie bei einem Schiffsausrüster in Hamburg und kümmern sich vom Türgriff bis zur Turbinenschaufel um alles, was die Schiffe ordern. Alva hat mal zwei Wochen lang herumtelefoniert, um spezielle Puddingförmchen in Schneckengestalt für den Küchenchef eines Partyschiffs zu bekommen, und Ratzke berechnet regelmäßig Vorhangstoffe für Bordrestaurants oder Auslegeware für die Shops. Fremd sind ihnen die kreischenden Farben, der viele Glitzer und die funkelnden Handläufe der Vision also gar nicht.

Trotzdem fühlen sie sich wie auf einem fremden Planeten, und in der Lounge hatte Alva sogar noch ein schlechtes Gewissen gehabt, weil es ihnen so gut ging, und Thalheimer dagegen irgendwo in dem Gedränge von Leuten war, die stehend in der Halle warten mussten, bis auch sie an Bord dieser schwimmenden Kleinstadt gehen durften.

Ratzke machte sich keinen Kopf um Thalheimer. Er fand es selbst wahnsinnig nett von ihnen beiden, diesen komischen Kerl auf die Reise mitzunehmen, damit er Weihnachten nicht allein war. Er hatte Mitleid mit ihm gehabt, weil er so ein einsamer Freak war, aber ihn einzuladen auf ihre Weihnachts-Ehejubiläums-Romantik-Tour, das war Alvas Idee gewesen. Seine gute, warmherzige Alva. Heiligabend würde er beim Jul-Büffet sehr nett zu ihm sein, aber jetzt wollte er mit Alva flittern, feiern und vögeln. Vögeln vor allem. Und dann dachte Ratzke doch noch mal an Thalheimer und sein Dankesgeschenk, das er jetzt in der Hosentasche hatte. Man würde sehen, ob er es wirklich verwenden würde.

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Ratzke und Alva waren die Einzigen im Büro und sind es vielleicht bis heute, die mit Thalheimer umgehen wie mit einem normalen Menschen, und eigentlich ist er das auch, wenn man von seinem Äußeren absieht, er trinkt seinen Kaffee schwarz und macht sich Fertiggerichte in der Mikrowelle heiß, er ist nur so verschlossen und schüchtern. Und dann dieses Huhn auf seinem Arm. Vor einem halben Jahr stand er plötzlich in der Tür des Großraumbüros: kahlgeschoren, eine Schweißerbrille auf der Glatze, alpinaweiß geschminkt, Piercings in der Unterlippe und den schmächtigen Körper in einen langen knirschenden Mantel aus weißem zotteligen Kunstfell gewandet. Er sah aus wie der Geist eines Yetis. Und in seinem Arm kauerte ein dickes, weißes, übermäßig plüschiges Huhn. Ein Cochin-Huhn, wie Alva bald herausfand. Ratzke erinnert sich noch, dass er nur auf diesen leise gurrenden Federball starren konnte, der zufrieden in Thalheimers Armbeuge gekuschelt dasaß und sie alle musterte, als würde die Firma ab heute ihm gehören. Sklaven des Huhns.

Dass Thalheimer ein Genie war und die Firma vor dem drohenden Konkurs rettete, mussten später auch die Kollegen anerkennen.

Thalheimer hatte den Trend zum medizinischen Bedarf bei Wellness-Kreuzfahrten früher erkannt als die anderen und Kontakte geknüpft zu Krankenhaus-Lieferanten, die er mit Exklusivverträgen an die Firma band. Und als der Boom dann richtig losging und immer mehr Reiseveranstalter neben den üblichen Massagen und Kosmetikbehandlungen auch Unterspritzungen, Eigenblutbehandlungen, chemische Peelings, Piercings, Tattoos und Permanent Make-up an Bord anboten, war ihre Firma die einzige, die von Kanülen bis zur Blutkonserve alles bestellen und liefern konnte. Die drohende Insolvenz hatte sich damit erledigt, und von da an ging es der Firma besser als jemals zuvor. Das wussten die Kollegen sehr genau. Sprechen wollten sie trotzdem nicht mit ihm. Oder neben ihm sitzen. Geschweige denn ihn kennenlernen.

Aber Alva mochte ihn direkt und sagte Ratzke noch am selben Abend, als Thalheimer aufgetaucht war, sie spüre, dass er ein tragisches Geheimnis habe. Wie verletzt muss jemand sein, dass er den ganzen Tag ein Huhn mit sich herumträgt wie einen Paris-Hilton-Hund? Was hat der erlebt? Wieso versteckt er sich hinter zentimeterdicker weißer Schminke? Will er, dass die Leute sich vor ihm fürchten?

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Er nahm Alvas Hand und betrat mit ihr die Vision, die innen aussah wie eine Mischung aus Spielcasino und Musical. Die Ecken waren geschmückt mit bunten Tannenbäumen und Geschenkebergen, Lichtblitze und bunte Miniflakscheinwerfer zuckten über die Wände, und ein begeisterter Frauenchor sang aus den Lautsprechern immer wieder die gleiche Melodie mit dem gejubelten Refrain: »It’s our vision, our colorful vision, a vision of fantasy and magic everywhere.« Alva lachte: »Diese Inneneinrichtung hat Dante vergessen zu erwähnen, das ist ja der achte Kreis der Verdammnis.« Sie zeigte ihm einen Schaukasten, der auf die Musicalshows und den Tanzkurs hinwies und in dem Informationen über den Währungsumtausch, Angebote des Duty-free-Shops und der Stadtrundfahrt in Oslo aushingen. »Ich glaube, diese Schaukästen hab ich selbst besorgt vor ein paar Jahren, da gab es Sonderwünsche, weil sie abschließbar sein sollten, ohne dass das Schloss auffällt.«

Eine Mitarbeiterin in Uniform reichte ihnen einen zweifarbigen Cocktail, der genauso klebrig schmeckte, wie er aussah. Ratzke stellte seinen unauffällig auf dem Fensterbrett einer Boutique ab, in der außer norwegischer Mode und Schmuck auch Gummi-Trolle und Becher, Wimpel und T-Shirts mit dem Foto der Vision verkauft wurden, und ging mit Alva über die von Geschäften und Restaurants gesäumte Promenade zu den gläsernen Fahrstühlen.

Ihre Suite lag weit oben auf Deck elf, direkt unter dem Wellnessbereich, und Ratzke verdrängte den Gedanken, dass unter ihm Wasser war und über ihm ebenfalls, wenn auch nur das im Whirlpool, zum Ertrinken reichte das allemal.

Als der Fahrstuhl durch das Schiff glitt, entdeckte Alva ein in Pink und Gold gekleidetes Turniertanzpärchen, das direkt unter einer riesigen von der Decke hängenden Zuckerstange Samba tanzte, mit affektiert abgespreizten Fingern und Clownsgrimassen. Die junge Frau mit blonden Korkenzieherlocken bewegte sich lasziv und tanzte eher die Passagiere an als ihren Partner. Immer wieder entfernte sie sich von ihrem Tänzer und strich einem der Umstehenden über die Wange, warf Kusshändchen oder schwang die Hüften vor einem begeistert klatschenden Rentner. Die Leute lachten dann und jubelten, während der Tanzpartner seinen Sambaschritt auf der Stelle wiederholte wie ein Wackel-Elvis auf einem Armaturenbrett.

Auch im Fahrstuhl dudelte »It’s our vision«, und Ratzke wusste, dass er den Refrain mit den Trompeten und Streichern die ganze Reise über nicht mehr aus dem Kopf kriegen würde.