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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Liste der verwendeten Symbole

1 Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche

1.1 Höchstgeschwindigkeit

1.2 Etmale auf See

1.3 Reisezeit auf Langstrecken

1.4 Luvgeschwindigkeit

1.5 Segler des Tierreiches

2 Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand

2.1 Kräftegleichgewicht

2.2 Momentengleichgewicht

3 Grundlagen der Strömungslehre

3.1 Dynamik einer idealen (reibungsfreien) Flüssigkeit

3.2 Die Eigenschaften von Wirbeln

3.3 Bernoulli-Theorem

3.4 Die ebene Potenzialströmung

3.5 Dynamik von Fluiden mit innerer Reibung

3.6 Dissipation von Wirbeln

3.7 Ableitung der Reynoldszahl

3.8 Der Strömungswiderstand von Körpern

4 Die Theorie des Tragflügels (Profileigenschaften)

4.1 Irrlehren der Auftriebsentstehung

4.2 Wie entsteht der Auftrieb wirklich?

4.3 Druckverteilung am Tragflügel

4.4 Ablösungsverhalten und Wirbelbildung an Tragflügelprofilen

4.5 Gewölbte Platte verglichen mit dickem Flügelprofil

4.6 Die gegenseitige Beeinflussung von Profilen

5 Der dreidimensionale Tragflügel

5.1 Randwirbel und induzierter Widerstand

5.2 Elliptische Auftriebsverteilung

5.3 Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche

5.4 Verwindung (Twist)

5.5 Flügelform

5.6 Pfeilung

5.7 Auftriebsverhalten von Tragflügeln mit niedrigem Seitenverhältnis

6 Der Bootskörper: Wellenerzeugung und Widerstandskomponenten, Skalierung

6.1 Wasserwellen (Schwerewellen)

6.2 Tiefenabhängigkeit der Wellenamplituden

6.3 Ableitung der Dispersionsrelation8)

6.4 Tiefwasserwellen

6.5 Seichtwasserwellen

6.6 Das Wellensystem eines fahrenden Schiffes

6.7 Wie viel PS hat eine Segelyacht?

6.8 Skalierungsgesetze

6.9 Kenngrößen für das Wellenwiderstandsverhalten

7 Optimale Geschwindigkeit auf verschiedenen Kursen

7.1 Segel- und Rumpf-Polardiagramme

7.2 Rechnerische Bestimmung der Fahrtgeschwindigkeit

7.3 Geschwindigkeits-Polardiagramm und Wahl des Kurses

7.4 Segeln in einem variablen Windfeld

8 Zeitabhängiges Verhalten

8.1 Schwingungsbewegungen des Bootskörpers

8.2 Auftrieb-Hysterese

8.3 Reiten auf der Welle (surfen)

8.4 Gefährdung durch Brecher

9 Mechanische Belastung und Materialien

9.1 Kräfte in der Takelage – Dimensionierung von Stehendem Gut und Mast

9.2 Kräfte auf den Rumpf

9.3 Baumaterialien des Rumpfes

9.4 Materialien für Segel

Anhang A1 Glossar der Seemannssprache

Anhang A2 Beaufort-Skala

Anhang A3 Metazentrum eines Baumstammes

Anhang A4 Dimensionsanalyse

Anhang A5 Ableitung der Kutta-Joukowski-Gleichung

Anhang A6 Verfahren nach Prohaska

Anhang A7 Impulsübertrag, Kraft, Leistung, Kinetische Energie

Anhang A8 Elliptische Auftriebsverteilung und Berechnung des induzierten Widerstandes

Anhang A9 Linienriss einer Rennjolle

Literatur

Stichwortverzeichnis

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Für Elisabeth

Autor

Prof. Dr. Wolfgang Püschl

Universität Wien

Fakultät für Physik

Strudlhofgasse 4

1090 Wien

Österreich

Vorwort

“After all, the art of handling ships is finer, perhaps, than the art of handling men.”

Joseph Conrad, The Mirror of the Sea.

Segeln bezaubert durch seine wunderbare Ästhetik: Ein schlankes Boot gleitet, von einem Windhauch vielleicht nur angetrieben, der seine ausgebreiteten Schwingen sanft umströmt, über die glatte Wasserfläche und zeichnet darauf sein vollendetes, ewig gleiches Linienmuster. Eine kraftvolle Hochseeyacht erkämpft sich durch grün schimmernde Wellenberge ihren Weg nach Luv und wirft nonchalant Gischtfahnen beiseite. Die Kunst des Segelns – und es handelt sich um eine hohe Kunst – ist in Jahrhunderten gewachsen und überliefert und kann in Regeln gelehrt und gelernt werden, so wie die Kunst alten Handwerks vom Meister auf den Schüler übertragen wird. Warum also Physik und höhere Mathematik? Dazu muss man sich zunächst vor Augen halten, dass ein gelernter Physiker gar nicht anders kann, als die naturwissenschaftliche Methode als das schärfste Messer der Analyse anzuwenden, wenn es ihm wirklich darum zu tun ist, ein Phänomen zu verstehen. Er gleicht darin einem Kind, das lesen gelernt hat. Es muss fortan einen Sinn herauslesen, wann immer eine Buchstabenkette auftaucht. Ebenso erging es dem Autor, der den Segelsport schon als Kind geliebt hat. Die Obsession, das Segeln vom Standpunkt des Physikers aus zu verstehen, gesellte sich nach einschlägigem Hochschulstudium ganz von selbst hinzu. Also nur intellektuelle Spielerei, in geheimnisvollen Zeichen notiert und nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich? Dieser Standpunkt wird eindrucksvoll widerlegt durch die breite Anwendung physikalisch-mathematischer Methoden auf das Problem des Segelns und die daraus gewonnene unerhörte Steigerung der Effizienz, durch die sich die moderne Segelyacht von ihrem Vorgänger, dem Lastensegler früherer Tage, unterscheidet. Man mag dies als Ironie der Geschichte sehen oder aber auch unter dem Aspekt großer wirtschaftlicher Bedeutung, die der Sektor Freizeitsegeln heute tatsächlich hat.

Dieses Buch wendet sich an den Physiker oder Physikstudenten, der selbst segelt oder sich zumindest für dieses Phänomen interessiert, auch deswegen, weil es eine Fülle von Anwendungen von Prinzipien der klassischen Physik enthält. Aber auch der naturwissenschaftlich interessierte Segler sollte von dem vorliegenden Werk profitieren können. Abschnitte mit etwas aufwendigerem mathematischem Formalismus kann er gefahrlos überblättern. Die wirklich wichtigen Grundaussagen sind am Ende jedes Kapitels zusammengefasst und genügen in diesem Fall. Ich habe mich bemüht, dem Buch eine sichtbare logische Grundstruktur zu geben, indem zuerst elementare Grundprinzipien eingeführt werden und dann in immer komplexeren Zusammenhängen erscheinen, zum Beispiel vom Zweidimensionalen zum Dreidimensionalen, vom gleichförmigen zum zeitlich veränderlichen Ablauf, vom Einfachen zum Zusammengesetzten, von der einzelnen Eigenschaft zum Gesamtverhalten des Systems „Segelyacht“. Das Buch ist also, mit einem modernen Ausdruck, strikt „bottom-up“ organisiert.

Wenn zwischen den Diagrammen und Formeln auch die Faszination hervorblitzt, die mich all die Jahre beseelt hat, betrachte ich meine Mission als erfüllt. Dem ambitionierten, kritischen Leser wünsche ich herzlich „Mast- und Schotbruch“.

Mondsee, August 2011

Liste der verwendeten Symbole

Alle fettgedruckten Symbole sind Vektoren, kursiv gedruckte Symbole bezeichnen skalare Variable. Die Geschwindigkeiten mit „v“ werden aufrecht geschrieben, um Verwechslung mit der kinematischen Zähigkeit v zu vermeiden. Aufrecht gedruckte Großbuchstaben bezeichnen Punkte (Orte). Nur vorübergehend verwendete Rechenhilfsvariable sind nicht erklärt.

A Referenzfläche (für Widerstand und Auftrieb); Wellenamplitude
α Anstellwinkel des Segels
αeff Effektiver Anstellwinkel
αi Induzierter Anstellwinkel
Aw Fläche der Schwimmwasserlinie
B Auftriebsschwerpunkt
b Schiffsbreite; allg. Exponent; Spannweite (eines Doppelflügels)
ß Abdriftwinkel (= Anstellwinkel des Unterwasserschiffs); reduzierte Dämpfungskonstante
B0 Auftriebsschwerpunkt in aufrechter Schwimmlage
Bft Windstärke nach Beaufort
c Sehnenlänge des Profils
C1,C2,C3 Druckkräfte im Rigg
cD Widerstandsbeiwert (Profil)
CD Widerstandsbeiwert (Flügel)
CDi Beiwert des Induzierten Widerstandes (Flügel)
CDW Beiwert des Wellenwiderstandes
CF Koeffizient des Reibungswiderstandes eines Schiffes
CL Lateralschwerpunkt
cL Auftriebsbeiwert (Profil)
CL Auftriebsbeiwert (Flügel)
CP Prismatischer Koeffizient
CRes Koeffizient des Restwiderstandes eines Schiffes
CS Segelschwerpunkt
CS Proportionalitätsfaktor für Segelflächenskalierung
CT Koeffizient des Gesamtwiderstandes eines Schiffes
CV Volumetrischer Koeffizient
D Richtmoment (Direktionsmoment); Widerstand (skalar)
Δ Laplace-Operator symbol_image001.gif Wasserverdrängung (in N)
A Berandung einer Fläche A
δ Segel-Einstellwinkel
δik Kronecker-Delta (= 1, wenn i = k und 0 sonst)
D1,D2,D3 Zugkräfte im Stehenden Gut
DA Aerodynamischer Widerstand
ΔxB Verlagerung des Auftriebsschwerpunktes
df Flächenelement
DH Hydrodynamischer Widerstand
DW Wellenwiderstand (skalar)
symbol_image001.gifA Aerodynamischer Gleitwinkel
symbol_image001.gifH Hydrodynamischer Gleitwinkel
E Elastizitätsmodul
η Dynamische Zähigkeit; normierte Flügelspannweite
F Allgemein: Kraft
f Analytische Funktion; Frequenz
F Kraft (auch im Komplexen)
FK Knickkraft
FA Aerodynamische Vortriebskraft
FB Auftriebskraft
FG Gewicht
FG,W Gewicht der mitgeschleppten Wassermenge
fR Reduzierte Frequenz
Fr Froude-Zahl
g, g Gravitationsbeschleunigung
γ Winkel zwischen Scheinbarem Wind und Kurs des Schiffs; Dämpfungskonstante; Korrekturfaktor für Reibungswiderstand
γW Winkel zwischen Wahrem Wind und Kurs des Schiffs
G Gewichtsschwerpunkt
Symbole_image002.gif Metazentrische Höhe
Symbole_image003.gif Longitudinale Metazentrische Höhe
Γ Zirkulation
i Imaginäre Einheit, Symbole_image004.gif
I, Ix, Iy Flächenträgheitsmomente
k Federkonstante (harmon. Oszillator); Wellenvektor (Betrag)
kn Knoten (1,852 km/h)
L Charakteristische Länge; Wasserlinienlänge; Auftrieb (Skalar)
l Länge (allgemein)
LA Aerodynamischer Auftrieb
Λ Seitenverhältnis eines Flügels
λ Wellenlänge
LH Hydrodynamischer Auftrieb
LH* Gesamter hydrodynamischer Auftrieb (LH ist die Horizontal-komponente davon).
LH,R Hydrodynamischer Auftrieb, Anteil des Ruderblatts
LH, S Hydrodynamischer Auftrieb, Anteil des Schwertes
M Metazentrum
m Masse
M Biegemoment
Ma Aufrichtendes Drehmoment
mW Mitgeschleppte Wassermasse
Nabla-Operator (Gradient, ∇ = (∂/∂x, ∂/∂y, ∂/∂z) ; Verdrängtes Volumen
ν Kinematische Zähigkeit
Ω Kreisfrequenz der Störfunktion
Ω Wirbelstärke
ω Kreisfrequenz
ω0 Eigenfrequenz (Kreisfrequenz) eines (harmonischen) Oszillators
p Druck
Symbole_image005.gif Krängungswinkel; Realteil einer analytischen Funktion
ф Dimensionslose Geschwindigkeit
ψ Imaginärteil einer analytischen Funktion
ψx, ψz Auslenkungen der Wasserteilchen aus der Ruhelage (Orbitalbewegung von Wellen)
R Radius (geometrisch)
RA Aerodynamische Gesamtkraft
Re Reynoldszahl
RG Trägheitsradius
RGW Trägheitsradius der mitgeschleppten Wassermenge
RH Hydrodynamische Gesamtkraft
ρ Dichte; lokaler Krümmungsradius
S Segelfläche
s Spannweite (eines Flügels); Knicklänge
SA Aerodynamische Seitenkraft
SA* Aerodynamische Seitenkraft normal zum Mast (SA ist die Horizontalkomponente davon).
SH Hauptspantfläche (eingetaucht)
σik Spannungstensor
St Strouhal-Zahl
STZ Segeltragezahl
t Profiltiefe; Zeit
T Tiefgang
Θ Trägheitsmoment (eines Schiffes)
TR Tiefgang des Rumpfes
u Geschwindigkeit (Strömung)
u0 Geschwindigkeit (einer Anströmung)
v Geschwindigkeit des Scheinbaren Windes; Strömungsgeschwindigkeit
v0 Geschwindigkeit (einer Anströmung)
vG Gruppengeschwindigkeit
vH Horizontale Geschwindigkeit (Flugzeug)
VMG Velocity Made Good = Zielgeschwindigkeit, im engeren Sinn Luvgeschwindigkeit
vP Phasengeschwindigkeit
vR Rumpfgeschwindigkeit
vS Schiffs-(Boots-)Geschwindigkeit
vSi Sinkgeschwindigkeit (Flugzeug)
vW Geschwindigkeit des Wahren Windes
w Abwind
x Ortsvektor
W Widerstandsmoment
Symbole_image006.gif Dimensionslose Raumkoordinate
xa Aufrichtender Hebelarm
z Komplexe Zahl; Ortskoordinate
ζ Integrationsvariable

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Historische und gegenwärtige Bedeutung, Leistungsvergleiche

Die Verwendung von Windkraft zum Antrieb von Wasserfahrzeugen geht bis weit in prähistorische Zeiten zurück1). Wir wissen nicht, wann zum ersten Mal ein früher Mensch eine geflochtene Matte oder eine Tierhaut auf seinem Floß gesetzt hat, um es von einer günstigen Brise antreiben zu lassen. Die älteste bekannte Darstellung eines Segels findet sich jedenfalls auf einer Totenurne aus Luxor (Ägypten), die aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. stammt. Gesichert sind weiters Hilfsbesegelungen in Ägypten seit etwa 4000/3000 v. Chr. Seegehende Segelschiffe besaßen die Phönizier etwa ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. Sie sollen angeblich unter Pharao Necho II etwa 600 v. Chr. damit bereits Afrika umsegelt haben. Bekannt sind die Leistungen der Wikinger, die um etwa 1000 n. Chr. Nordamerika erreicht haben, das sie wegen des dort vorkommenden wilden Weins „Vinland“ nannten.

Während ihre Drachenboote (Langschiffe, Abb. 1.1) und die etwas rundlicher gebauten Handelsschiffe (Knarr) mit rechteckigen Rahsegeln ausgerüstet waren, verfügt die Dau (oder Dhau) des arabischen Kulturkreises über ein dreieckiges Lateinersegel2), das schließlich für den Mittelmeerraum charakteristisch wurde und daher seinen Namen hat. Mit diesen Schiffen wurde bereits um die Zeitenwende unter Ausnützung des Monsun-Windsystems der Indische Ozean befahren. Somit entwickelten sich schon früh zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Segeln, die quer zum Schiff stehenden Rahsegel (engl. square sail), die größere Vortriebskraft vor dem Wind brachten, und die mehr in Längsrichtung orientierten Schratsegel (engl. fore-and-aft sail) wie Lateiner-, Spriet-, Gaffel- und Luggersegel, mit denen ein Aufkreuzen gegen den Wind vorteilhafter war (Abb. 1.2). Zu dieser Kategorie gehört auch die bei modernen Segelyachten übliche Hochtakelung (sog. Bermudasegel).

Abb. 1.1 Langschiff der Wikinger (Wikimedia Commons, Ningyou).

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Abb. 1.2 Verschiedene Arten von Schratsegeln (fore-and-aft sails): a) Lateinersegel, b) Sprietsegel, c) Gaffelsegel, d) Luggersegel, e) Bermudasegel (Hochtakelung).).

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Unabhängig davon entstand in China ab etwa 700 n. Chr. der Typ der Dschunke (Abb. 1.3), der über eine hervorragend bedienbare Amwindbesegelung (Schratsegel!) verfügt, die den Lattensegeln moderner Yachten nicht unähnlich ist. Diese Fahrzeuge erreichten beträchtliche Größe und trugen mehrere Masten, lange bevor dies in Europa der Fall war. Die Seemachtambitionen Chinas, verkörpert durch den Admiral und Eunuchen Zheng He unter der Ming-Dynastie mit Reisen hunderter Schiffe (1405–1433) bis ins Rote Meer, fanden später durch politische Selbstbeschränkung ein jähes Ende.

Nicht zu vergessen sind auch die Leistungen der seefahrenden Völker, die in einem über Jahrtausende erstreckten Prozess die gesamte Inselwelt des Pazifiks besiedelten (Austronesische Wanderung, ausgehend von Südchina 3500 v. Chr. bis etwa 1000 n. Chr. – Besiedelung Neuseelands). Sie bedienten sich Auslegerkanus mit hervorragenden Segeleigenschaften, wie sie heute noch von den Einwohnern Polynesiens benützt werden.

Abb. 1.3 Das Dschunkenrigg – eine effektive Amwindbesegelung. (Wikimedia Commons, Pearson Scott Forsman).

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Im europäischen Raum tritt die Bedeutung des Hochseesegelschiffes mit den Koggen der Hanse (13. bis 15. Jahrhundert) in den Vordergrund, wobei das in der Mittschiffsebene angebrachte und um eine feste Achse drehbar gelagerte Steuerruder eine bedeutende Verbesserung der Manövrierfähigkeit darstellte. Ältere Schiffstypen wurden nämlich mit einem oder mehreren seitlich angebrachten Rudern gesteuert3). Mit dem Zeitalter der Entdeckungsreisen, das mit dem 15./16. Jahrhundert einsetzte, und an dessen Anfang noch vergleichsweise kleine Schiffe standen, wie etwa die Karavellen der Portugiesen, mit denen Kolumbus nach Amerika segelte und Vasco da Gama den Seeweg nach Indien entdeckte, kamen allmählich größere Schiffe auf, die immer kompliziertere Takelagen mit einer wachsenden Anzahl von Rahsegeln übereinander (Mars, Bram, Royal etc.) an mehreren Masten trugen. Allen Schiffsfreunden wohlvertraut sind Begriffe wie Galeone, Karacke, Fleute, schließlich die Ostindienfahrer (Abb. 1.4), Postschiffe („packets“) und Klipper des 18. und 19. Jahrhunderts, die den ausgereiften Typ des großen, seegehenden Schiffes mit drei rahgetakelten Masten (Vollschiff, engl. ship schlechthin, Abb. 1.5) darstellten4). Triebfedern für die Entwicklung besonders schneller Segelschiffe waren illegaler Handel und seine Bekämpfung (Opium- und Sklavenfahrt), der Transport leicht verderblicher Luxusgüter (Tee) und der Goldrausch in Kalifornien 1848.

Abb. 1.4 Ostindienfahrer, Nachbau der „Batavia“ (holländisch, 17. Jahrhundert) (Wikimedia Commons, ADZee).

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Abb. 1.5 Teeklipper „Ariel“ und „Taeping“ bei ihrem berühmten Wettrennen im Ärmelkanal.. (Shewan, 1927).

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Abb. 1.6 In Großbritannien neu gebaute Schiffe. Tonnage in Einheiten von 1 Million Tonnen (Daten: Encyclopaedia Britannica, 1926).

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Das Segelschiff blieb durch viele Jahrhunderte das Fernreisemittel schlechthin. Die Konkurrenz zwischen Dampfschifffahrt und Segelschifffahrt währte lange Zeit. Noch 1890 hatten die Segelschiffe einen Anteil von 41 % der Welttonnage, der bis 1914 auf 7,5 % und bis 1937 allmählich auf 1,5 % sank. In einer Graphik, die den Anteil von Dampf- und Segelantrieb bei Neubauten in den Jahren 1865 bis 1890 in England zeigt, ist der Übergang zum maschinellen Antrieb deutlich zu sehen (Abb. 1.6).

In der Küstenfahrt sind vor allem in Ländern der Dritten Welt, jedoch bisweilen sogar in Europa, bis zum heutigen Tag vereinzelt Segelschiffe anzutreffen, die dem Transport und der Fischerei dienen („Arbeitssegler“).

In jüngster Zeit sind wieder ernsthafte Bemühungen im Gange, die Windkraft für die Handelsschifffahrt zumindest als Hilfsantrieb nutzbar zu machen. Die Firma Skysails (Deutschland) bietet ein System an, bei dem von einem ausfahrbaren Mast ein Flugdrachen bis in eine Höhe von mehreren 100 m steigen gelassen wird. Der Vorteil ist dabei die höhere Windstärke in diesen Luftschichten. Zusätzlich lässt man diesen Drachen sich in Achterschleifen bewegen, wodurch eine höhere scheinbare Windgeschwindigkeit und noch größerer Vortrieb erzielt werden. Bei guten Windverhältnissen lässt sich damit eine Antriebsleistung von bis zu 2000 kW erzeugen (Abb. 1.7, siehe auch www.skysails.info).

Abb. 1.7 Drachenantrieb für Handelsschiffe der Firma Skysails (Foto © Skysails, mit freundlicher Genehmigung).

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Auch auf dem Gebiet des Sports spielen Drachenantriebe (Kitesurfen) eine immer größere Rolle. Den aktuellen Geschwindigkeitsrekord unter Segel hält ein Kitesurfer (siehe Abschnitt 1.1).

Rotierende Zylinder (Flettner-Rotoren) können ebenfalls die Windkraft nutzen und werden neuerdings wieder kommerziell eingesetzt (Näheres dazu in Kapitel 4).

Wenn wir heute von „segeln“ sprechen, dann meinen wir fast ausschließlich eine sportliche Betätigung, abgesehen von einigen Segelschulschiffen, die der Ausbildung in der Kriegs- und Handelsmarine dienen, und neuerdings auch großen Segel-Passagierschiffen („Sea Cloud“, „Royal Clipper“, „Star Clipper“ etc.). Das Segeln als Zeitvertreib kam im 18. Jahrhundert in den Niederlanden auf und wurde im England des 19. Jahrhunderts zum exquisiten Sport des Hochadels und der Industriemagnaten entwickelt (Abb. 1.8 Schoner „Susanne“). Der Begriff „Yacht“ kommt von „Jagd“ und bedeutet ein kleines, schnell segelndes Schiff. Damit verlagert sich der Schwerpunkt vom Lastentransport zum Segeln als sportlicher Wettbewerb und Freizeitvergnügen: Nicht großes Fassungsvermögen bei noch akzeptabler Geschwindigkeit, also insgesamt große Transportleistung, sondern allein die Erzielung größtmöglicher Geschwindigkeit steht an oberster Stelle der Forderungen des (Renn-) Yachtseglers. Diese haben wiederum je nach Größe des Bootes, dem Revier mit seinen Wind- und Wetterverhältnissen und der zu bewältigenden Distanzen eine Fülle von verschiedenen Segelyachttypen hervorgebracht (mehr dazu in Die Yacht (Sciarelli, 1973), Die Geschichte des Yachtsports (Charles, 2006), Segelsport, Segeltechnik, Segelyachten (Baader, 1962) etc.). Während man um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Geschwindigkeit vor allem aus großen Segelflächen zu schöpfen suchte, begannen in den 1920er Jahren die Erkenntnisse der Aerodynamik und die Anfänge moderner Segeltheorie die Konstruktionen zu beeinflussen. Die Gaffeltakelage wurde von der Hochtakelung mit höherem Seitenverhältnis und besseren Kreuzeigenschaften abgelöst, und die Rümpfe wurden strömungsgünstiger und leichter. Noch immer war man hauptsächlich bemüht, die Eigenschaften des Rumpfes bei klassischer Verdrängungsfahrt zu optimieren, was zu besonders lang gestreckten Formen führte. Die damals eingeführten Klassen der Schärenkreuzer und Rennjollen (Abb. 1.9) illustrieren dieses Konzept. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts treten zuerst bei Jollen, Katamaranen und Windsurfern, schließlich aber auch bei Hochsee-Rennyachten Gleiteigenschaften in den Vordergrund.

Abb. 1.8 Schoner „Susanne“ 1910 (Foto: © Beken of Cowes).

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Im Verlauf der folgenden Kapitel werden wir bei allen Erörterungen immer die moderne Segelyacht vor Augen haben. Manche Sichtweisen, die uns dabei vollkommen natürlich erscheinen, sind im Verlauf der jahrhundertelangen Entwicklung der Segelschifffahrt durchaus nicht selbstverständlich gewesen, sondern haben sich erst langsam und mühsam durchgesetzt. Dazu kommt, dass der Seefahrer stets zu einem konservativen, ja abergläubisch allem Neuen gegenüber ablehnenden Verhalten neigte, sodass die Entwicklung sehr allmählich erfolgte.

Abb. 1.9 Yachten aus den 1920er Jahren a) 40 m2-Schärenkreuzer (Foto: Autor), b) 20 m2-Rennjolle (Foto: Elisabeth Püschl).

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Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade heute, wo der Segelantrieb seine (direkte) kommerzielle Bedeutung verloren hat, die Segeltechnik ungeheure Fortschritte gemacht hat, sodass neben den Leistungen moderner Yachten sogar die berühmten Schnellsegler von einst verblassen. Die folgenden Leistungsvergleiche sollen dies illustrieren.

1.1 Höchstgeschwindigkeit

Ein typisches Handelsschiff vergangener Jahrhunderte erzielte im Schnitt eine Geschwindigkeit von wenigen Knoten, meistens deutlich unter 10 kn (1 Knoten = 1 Seemeile pro Stunde = 1,852 km/h). Höchstgeschwindigkeiten von etwa 10 kn konnten jedoch bereits von Hansekoggen erreicht werden, wie man bei Probefahrten mit Nachbauten feststellte. Eine Höchstgeschwindigkeit von über 10 kn ist auch für die Langschiffe der Wikinger plausibel, da bei Fahrten mit Nachbauten 14 kn erreicht wurden. Die berühmtesten Schnellsegler des 19. Jahrhunderts, die Teeklipper, konnten bis etwa 22 kn laufen (Log der „Sovereign of the Seas“), Geschwindigkeiten von an die 20 kn sind auch von den großen stählernen Frachtseglern der Laeisz-Reederei („Flying P-Line“) auf der Route nach Südamerika überliefert. Solche Geschwindigkeiten können heute jedoch von relativ kleinen Gleitjollen unter günstigsten Verhältnissen erreicht werden und von modernen Einrumpf-Hochseeyachten, wie sie beim Volvo Ocean Race eingesetzt werden, über lange Strecken mühelos übertroffen werden. Was Geschwindigkeit unter Segeln auf dem Wasser betrifft, so ist die „50- Knoten-Schallmauer“ bereits gefallen. Der aktuelle Segel-Geschwindigkeitsrekord5) über eine 500 m-Strecke beträgt 55,65 kn, aufgestellt 2010 mit einem Kitesurfer von Rob Douglas vor Lüderitz (Namibia). Der Rekord über eine Seemeile wird von Alain Thébault mit dem Tragflügel-Trimaran „Hydroptère“ (Abb. 1.10) mit 50,17 kn gehalten, aufgestellt im November 2009 vor Hyères (Frankreich).

Abb. 1.10 „Hydroptère“ (Foto: Gilles Martin-Raget).

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Der Weltrekord im Eissegeln beträgt 229 km/h entsprechend 124 kn, aufgestellt 1938 (!) von John D. Buckstaff auf dem Lake Winnebago, USA (umstritten, deutlich über 150 km/h jedenfalls gesichert). Das Landsegelfahrzeug Ecotricity Greenbird erzielte 2009 202,9 km/h, auf dem Dry Lake Ivanpah.

1.2 Etmale auf See

Aussagekräftiger im Vergleich mit historischen Segelschiffen sind auf jeden Fall größere Distanzen, die auf See zurückgelegt werden. Bei den Teeklippern galt ein Etmal („day’s run“ = die innerhalb von 24 Stunden zurückgelegte Distanz) von 200 sm als gute Leistung. Die „Cutty Sark“ verzeichnete als größtes Etmal 363 sm, das Fünfmast-Vollschiff „Preussen“ (Laeisz) 1903 eines von 368 sm, die „Champion of the Seas“ bereits 1854 ein Etmal von 465 sm.

Die augenblicklichen Rekorde für eine in 24 Stunden zurückgelegte Distanz sind 908,2 sm entsprechend 37,84 kn Durchschnitt, aufgestellt 2009 vom Trimaran Banque Populaire V (131 Fuß) gesteuert von Pascal Bidegorry, Frankreich. Die beste Leistung für eine Einrumpfyacht ist 596,6 sm entsprechend 24,85 kn Schnitt, aufgestellt 2008 von „Ericsson 4“, einer Yacht vom Typ Volvo 70 unter Torben Grael (Abb. 1.11). Wenngleich der Rekord der Ericsson 4 nicht so viel mehr erscheint als die 465 Seemeilen von 1854, so ist doch zu bedenken, dass er von einem Boot mit 24 m Länge aufgestellt wurde, während die „Champion of the Seas“ 84 m lang war. (Die Rumpfgeschwindigkeit beträgt bei dieser Länge 22 kn, was die berichtete Geschwindigkeit durchaus plausibel macht – vgl. Kapitel 6).

Abb. 1.11 a) „Banque Populaire V“ (Foto: © B.STichelbaut/BPCE), b) „Ericsson 4“ (Foto: © Dave Kneale).

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1.3 Reisezeit auf Langstrecken

Für ein Segelschiff war es im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, zur Überquerung des Atlantiks drei bis vier Wochen zu benötigen. Bei einer Transatlantik-Regatta im Jahre 1905 stellte der Dreimastschoner „Atlantic“ einen legendären Rekord von 12 Tagen, vier Stunden und einer Minute auf (10,02 kn Schnitt), der erst im Jahr 1980 unterboten wurde. Den aktuellen Rekord hält 2009 der Trimaran Banque Populaire V unter Pascal Bidegorry mit 3 d 15 h 25 m 48 s und einer Durchschnittsgeschwindigkeit (!) von 32,94 kn. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass der noch immer gültige Dampfer-Rekord für das „Blaue Band des Nordatlantik“, aufgestellt von der SS „United States“ (1952) 3 d 12 h 12 m beträgt, bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 34,51 kn. Es handelt sich dabei um ein Schiff mit einer Länge von 301,9 m!

Zur ersten Weltumsegelung benötigte Magellans Flotte noch drei Jahre (mit ein paar Zwischenstopps allerdings). In der Zeit der Klipper galt eine Reise von England nach Australien mit 62 Tagen als Rekord („Thermopylae“ von London nach Melbourne 1868), ein sehr guter Wert waren auch etwa 90 Tage von China nach England. Eine berühmte Reise der „Flying Cloud“ führte 1851 von New York nach San Francisco in 89 Tagen. Dieser Wert wurde erst in den 1980er Jahren unterboten. Der augenblickliche Rekord für eine Nonstop-Weltumsegelung stammt aus dem Jahr 2012: Der Trimaran „Banque Populaire V“ bewältigte die Strecke unter Loick Peyron in 45 Tagen (19,75 kn Schnitt). Dieser Rekord wurde im Rahmen der „Jules Verne Trophy“ aufgestellt, deren ursprüngliches Motto es war, die Welt in weniger als 80 Tagen zu umsegeln.

Bei allen Rekorden aus der klassischen Segelschiffsära ist zu bedenken, dass auch sie für die damalige Zeit extreme Spitzenleistungen darstellen und der typische Frachtsegler wesentlich länger brauchte, wie denn auch der heutige Fahrtensegler hinter den Leistungen hochgezüchteter Ozean-Rennmaschinen weit zurückbleibt.

1.4 Luvgeschwindigkeit

Nicht nur Höchstgeschwindigkeit, sondern auch die Fähigkeit schnell gegen den Wind aufzukreuzen gilt als Kriterium für die Leistungsfähigkeit einer modernen Segelyacht. Hier sind die rahgetakelten Großsegler einer modernen Yacht stark unterlegen. Als Richtwert für die Kreuztüchtigkeit eines klassischen Rahschiffes wird ein gesteuerter Kurs von 6 Strich am Wahren Wind angegeben, das entspricht 67,5 Grad. Die reine Luvgeschwindigkeit (Zielgeschwindigkeit nach Luv, engl. oft als velocity made goodVMG – bezeichnet, das ist die Geschwindigkeitskomponente genau in Windrichtung) ergibt sich aus der Multiplikation der Bootsgeschwindigkeit mit dem Cosinus dieses Winkels, cos(67,5°) ≈ 0,38. Eine moderne Rennyacht geht etwa 40° an den Wahren Wind. Der entsprechende Faktor cos(40°) ≈ 0,77 ist etwa doppelt so groß, d. h. bei gleicher Geschwindigkeit kann ein modernes Fahrzeug ein Ziel in Windrichtung doppelt so schnell erreichen. Darüber hinaus ist aber auch noch der Abdriftwinkel einer modernen Yacht wegen ihres strömungstechnisch ausgefeilten Kiels und Rumpfs wesentlich geringer als beim „kistenförmigen“ Großsegler, sodass sich der relative Vorteil noch vergrößert. Dazu kommt weiters, dass Großsegler nur unter günstigen Umständen zwischen den Kreuzschlägen wenden können und sehr oft gezwungen sind, zu halsen, womit viel Weg nach Luv verschenkt wird. Also kein Wunder, dass Großsegler oft Wochen brauchten, um Kap Hoorn gegen die dort vorherrschenden starken Westwinde zu umrunden und öfters aufgaben und die Westküste Südamerikas schließlich mit einer Fahrt in östlicher Richtung an Australien vorbei ansteuerten.

Einige Daten: Die 12 m-R-Yacht „Intrepid“ erreichte 1970 eine maximale Luvgeschwindigkeit von 7,5 kn bei 20 kn Wahrer Windgeschwindigkeit = 5 Bft (Marchaj, 1991). Eine 20 m2-Rennjolle erzielt bei diesen Verhältnissen etwa 5 kn Luvgeschwindigkeit, allerdings ohne Seegang (eigene Erfahrung des Autors). Während eines Trainingslaufs zum America’s Cup 2010 hat der Katamaran „Alinghi 5“ bei einer Windgeschwindigkeit von 8–9 kn einen Kreuzkurs mit darauffolgender Vorwindstrecke von je 20 sm mit einer durchschnittlichen Zielgeschwindigkeit von 1,9mal der Wahren Windgeschwindigkeit abgesegelt. Die bemerkenswerte Tatsache ist, dass man heute, was die VMG betrifft, sowohl schneller als der Wind gegen den Wind als auch vor dem Wind kreuzen kann. Bei solchen extremen Booten kommt der Scheinbare Wind immer spitz von vorne, auch wenn der Wahre Wind von achtern kommt (dazu mehr in den Kapiteln 2 und 7).

1.5 Segler des Tierreiches

Das Prinzip des Tragflügels hat sich die Evolution schon frühzeitig zunutze gemacht, und das klassische Beispiel sind Vögel und andere Flugtiere. Manfred Curry vergleicht in seinem klassischen Buch Die Aerodynamik des Segels und die Kunst des Regatta-Segelns (Curry, 1925) den Vogelflügel mit einer zeitgenössischen Takelage (Abb. 1.12). Das gleiche Prinzip kommt auch im Unterwasserbereich zur Anwendung (Fische, Pinguine etc.) sowie in der Pflanzenwelt bei geflügelten Samen.

Es gibt allerdings auch Tiere, die das Gesamtkonzept einer Segelyacht verkörpern, indem sie sich an der Grenzfläche der beiden Medien bewegen, nämlich Segelquallen wie die Portugiesische Galeere (Abb. 1.13). Sie segeln mit Hilfe ihres Rückenkamms, der aus dem Wasser ragt und jeweils nach der Leeseite hin gewölbt werden kann, während ihre Unterwasser-Anhänge die Funktion eines Schwertes oder Kiels haben. Manfred Curry beobachtet sie im Mittelmeer und schreibt über sie „So ziehen diese kleinen Märchensegler mit ihren bläulich schimmernden Flügeln in großen Geschwadern über die unendliche Wasserfläche: In Kielwasser, nebeneinander, durcheinander, sich gegenseitig abdeckend, kreuzen die Tiere mit langen Schlägen gegen den Wind an, und wenn man ihnen mitten im Felde vom Kajak aus zuschaut, möchte man meinen, Schiedsrichter bei einer großen Jollenregatta zu sein …“

Abb. 1.12 Vergleich einer Yachttakelung mit einem Vogelflügel (Curry, 1925).

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Abb. 1.13 Portugiesische Galeere (Physalia physalis, Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1971–85).

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Zentrale Aussagen

Historische Entwicklung

Leistungsvergleiche

1) Zur Geschichte des Schiffs mit naturgemäß starkem Bezug auf das Segelschiff siehe z. B. History of the Ship (Woodman, 2002).

2) Oft in der Variante des Dau- oder Settee-Segels, bei dem ein Stück des vorderen Ecks abgeschnitten ist.

3) Bei den Schiffen der Wikinger war dieses stets an der in Fahrtrichtung gesehen rechten Schiffsseite angebracht. Der Steuermann ging seiner Tätigkeit zum Ruder gewandt nach und zeigte mit seinem Rücken zur linken Schiffsseite. Darum heißt bis heute die rechte Schiffsseite Steuerbord und die linke Backbord.

4) Zu verschiedenen Segelschiffstypen siehe The story of sail (Veres und Woodman, 1999) mit einer großen Fülle von Abbildungen.

5) Segel-Geschwindigkeitsrekorde werden häufig verbessert. Um auf dem Laufenden zu bleiben, empfehlen wir die Homepage des World Sailing Speed Record Concil (WSSRC): www.sailspeedrecords.com

2

Die Segelyacht im gleichförmigen Fahrtzustand

2.1 Kräftegleichgewicht

Unter einem gleichförmigen Fahrtzustand verstehen wir das Dahinsegeln mit konstanter Geschwindigkeit, ohne Beschleunigung oder Verzögerung und ohne Lageveränderungen. Wegen des 1. Newton’schen Axioms (des Trägheitsprinzips) muss dann die Summe aller Kräfte, die auf das Segelschiff ausgeübt werden, null sein. Mit dem Auge des Physikers betrachtet, handelt es sich bei einem Segelschiff um ein gekoppeltes System aus zwei tragflächenartigen Profilen. Es bewegt sich zugleich in zwei Medien, Wasser und Luft, und wird von ihnen in verschiedenen Richtungen und mit verschiedenen Geschwindigkeiten angeströmt. Aus den in Abb. 2.1 dargestellten geometrischen Verhältnissen und den Eigenschaften der angeströmten Profile ergibt sich die erstaunliche Fähigkeit eines Segelschiffes, gegen den Wind aufzukreuzen. Entscheidend ist dabei nicht die absolute Geschwindigkeit der Medien oder des Bootes zu einem relativ zum Land ruhenden Referenzsystem, sondern die Relativbewegung von Segelschiff und Luft bzw. Wasser. Eine gute Illustration dazu liefert ein fiktiver Segelwettbewerb, der von R. Garrett (1996), erzählt wird: Zwei Segler wollen um die Wette segeln, indem sie zeitlich hintereinander 10 km einen Fluss hinunter segeln. Während dies der erste der beiden Segler tut, hat er Rückenwind, dessen Geschwindigkeit genau der Strömungsgeschwindigkeit des Flusses entspricht. Bis der zweite Segler an der Reihe ist, hat sich der Wind gelegt. Welcher der beiden kann bei optimaler Ausnützung seiner Segelkenntnisse die Strecke stromab schneller bewältigen? Die Antwort ergibt sich aus den Luftströmungsverhältnissen, denen der Segler ausgesetzt ist, während er sich den Fluss hinab bewegt: Während Segler 1 keinen Wind wahrnimmt, spürt Segler 2 einen Gegenwind. Diesen kann er nutzen, indem er gegen ihn aufkreuzt. Dadurch erzielt er eine zusätzliche Geschwindigkeit relativ zum strömenden Fluss mit einer Komponente in Strömungsrichtung und ist folglich schneller am Ziel. Ein anderes Beispiel (ebenfalls von R. Garrett, 1996) zeigt uns, dass wir die Rolle von Luft und Wasser auch vertauschen können. Man stelle sich ein Luftschiff vor, das zunächst in einer Luftströmung über dem Wasser treibt, also relativ zur Luft in Ruhe ist. Sodann senkt es einen Tragflügel ins Wasser und verwendet diesen als „Wassersegel“, das in der vorbeiströmenden Wassermasse wirksam wird. Damit kann sich das Luftschiff nun relativ zur Luftmasse bewegen. Es fährt in dieser genauso wie ein vom Wind angetriebenes Segelschiff im Wasser und kann sogar gegen die Geschwindigkeit des „vorbeiströmenden“ Wassers aufkreuzen.

In der Abb. 2.1 sind die Kräfteverhältnisse bei gleichförmigem Fahrtzustand dargestellt. Diese Kräfte kommen durch Wechselwirkung des Bootsköpers und der Takelage mit den beiden Medien Wasser und Luft und durch besondere Phänomene (Wellen) an der Grenzfläche der beiden Medien zustande (Details in den Kapiteln 3 bis 6).

Betrachten wir zunächst die Wasserkräfte: Das Boot bewegt sich mit einer Geschwindigkeit vs in einem Abdriftwinkel β zu seiner Kiellinie durch das Wasser. Im Bezugssystem des Bootes wird es von Wasser mit einer Geschwindigkeit –vs angeströmt. Dabei stellt der Abdriftwinkel β den Anstellwinkel dar, unter dem das Unterwasserschiff (insbesondere die Kielbzw. Schwertflosse als hydrodynamisches Profil) angeströmt wird. Er ist im normalen Fahrtzustand stets relativ klein und beträgt typischerweise 3–5°. Das Unterwasserschiff mit seinen Anhängen entwickelt in dieser Strömung eine gesamte hydrodynamische Kraft RH, die man in einen Auftrieb LH (engl. lift, auch hydrodynamische Seitenkraft genannt) normal zur Anströmungsrichtung und in einen Widerstand DH (engl. drag) in Anströmungsrichtung zerlegen kann. Der Auftrieb kann dabei dem Absolutbetrag nach sehr viel größer sein als der Widerstand.

Abb. 2.1 Gleichgewicht der Luft- und Wasserkräfte beim gleichförmigen Segeln am Wind.

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Das Segel wird vom Wind in einem Winkel γ zur Fahrtrichtung mit einem Geschwindigkeitsvektor v (Scheinbarer Wind, engl. apparent wind) angeströmt, der sich aus dem Wahren Wind vw (engl. true wind, Wind in Bezug auf einen an Land ruhenden Beobachter, Winkel zur Fahrtrichtung ist γW) und dem Fahrtwind –vS zusammensetzt. Dieser Scheinbare Wind ist jedoch der für die Strömung und das Entstehen der Luftkräfte maßgebliche. In Wirklichkeit ist also der Scheinbare Wind der „wahre“. Er trifft das Segel unter dem aerodynamischen Anstellwinkel α. Als solchen bezeichnet man den Winkel zwischen der Sehne des Profils, die näherungsweise mit der Richtung des Großbaums zusammenfällt, und der Strömungsrichtung. Der Wind erzeugt eine gesamte aerodynamische Kraft RA, die wiederum in eine Auftriebskomponente LA normal zur Anströmungsrichtung und eine Widerstandskomponente DA in Anströmungsrichtung zerlegt werden kann. Alternativ kann RA auch in die Fahrtrichtung vS und normal dazu zerlegt werden. Man erkennt, dass in Fahrtrichtung eine positive Vortriebskomponente FA besteht. Das ist eine Konsequenz der unterschiedlichen Anströmungsrichtungen durch das Wasser und die Luft und ermöglicht das Aufkreuzen gegen den Wind. Im gleichförmigen Fahrtzustand muss das Boot insgesamt kräftefrei sein, die Gesamtheit aller Wasserkräfte muss der Gesamtheit aller Luftkräfte das Gleichgewicht halten. Es gilt also RA = RH und auch komponentenweise SA = LH (mit einer aerodynamischen Seitenkraft SA) und FA = DH.

Ein Segelschiff in Fahrt ist fast stets zur Seite geneigt, was Krängung (engl. heel) genannt wird. Das Segel eines gekrängten (engl. heeled) Bootes wird auf Grund seiner Lage vom Scheinbaren Wind spitzer angeströmt als das Segel eines aufrecht fahrenden Bootes. Für den Beobachter auf dem gekrängten Boot erscheint nämlich das Dreieck aus Fahrtwind, Wahrem und Scheinbarem Wind um die Fahrtrichtung als Achse und um den Krängungswinkel nach unten geklappt (Abb. 2.2). Auf die ursprünglich horizontale Ebene projiziert, die etwa dem Deck des gekrängten Bootes entspricht, schließt die Richtung des Scheinbaren (und auch des Wahren) Windes nunmehr einen spitzeren Winkel mit der Fahrtrichtung ein. Das ist neben einigen anderen Faktoren ein Grund, warum ein aufrecht segelndes Boot höher an den Wind geht und effizienter aufkreuzen kann. Der interessierte Leser ist eingeladen, sich diese Zusammenhänge mit einem Zeichendreieck zu veranschaulichen, das von oben betrachtet und zuerst waagerecht in der Hand gehalten und dann um eine Kathete nach unten geklappt wird.

Abb. 2.2 Effekt der Krängung auf den Anströmwinkel: Scheinbarer Wind v (Anströmwinkel γ) beim aufrecht segelnden Boot, Scheinbarer Wind v′ (Anströmwinkel γ) beim gekrängten Boot. Analog für den Wahren Wind.

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Das Verhältnis von aerodynamischem Widerstand DA zum aerodynamischen Auftrieb LA entspricht dem Tangens eines Winkels ch02_image003.gifA, des aerodynamischen Gleitwinkels. Der Ausdruck stammt aus der Flugzeugtechnik, denn es ist genau der Winkel, unter dem ein Flugzeug angetrieben von seinem Gewicht zu Boden segelt (vgl. dazu Abb. 2.4 ganz unten). Ebenso entspricht das Verhältnis von hydrodynamischem Widerstand DH zum hydrodynamischen Auftrieb LH dem Tangens eines Winkels ch02_image004.gifH, des hydrodynamischen Gleitwinkels. Wegen des Kräftegleichgewichtes bei gleichförmigem Fahrtzustand muss das Dreieck aus RA, SAFARH, LH, DHch02_image004.gif enthalten. Da AvSLAvAbb. 2.1