Hanser E-Book

 

Inka Mülder-Bach

 

Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Ein Versuch über den Roman

 

Carl Hanser Verlag

 

ISBN 978-3-446-24408-5

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Carl Hanser Verlag München

 

 

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München (Collage aus einer Photographie von 1926 und einem Schmierblatt zur Reinschrift eines der Druckfahnen-Kapitel, um 1941 Klagenfurter Ausgabe, Mappe III, Heft 6, Blatt 10)

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Für Teja

Inhalt

 

Einleitung

 

I. Der Fall ins Feld

»Traum eines Logikers«Über dem Boden der TatsachenWiedergängerOrigoPunctum saliensPoesie der GrammatikDiskursexperimente und MikropoesieNeue Mythologie und »Massenunglück«Ein »ordnungsgemäßes Ereignis«»Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht«

 

II. Die Einrichtung des Romans

Leitungen und LieferungenMusils Musen (1): Leona oder die »Wurstmaschine«Musils Musen (2): Bonadea oder »Kölnisch-Wasser«Der »Zug der Zeit«: KakanienRoman ohne Eigenschaften und MöglichkeitsfeldPhysische GestaltenPathos und Dummheit»Jugendfreunde« oder kommunizierende RöhrenDer Fall MoosbruggerAncien régime

 

III. Geheimnisse des Dualismus

Seinesgleichen geschiehtWege und PerspektivenHodos und Poros: Methodisches und PorösesGeist: das »nackte Hauptwort«Lösen und BindenFinden und ErfindenUndverbindungen: Kakanien als ParadoxieVerkettungen: Moosbrugger

 

IV. Going primitive: Auflösungen und Reste

Anders redenAch, Tante JaneWaste Land»Produktionskredit«: Gabe, Konkurs und StammesformenDas Gleichnis oder die Entstehung der Arten»Die Verhältnisse spitzen sich zu«: KriseCrimen und SekretärRite de passage (1): »Heimweg«Rite de passage (2): »Die Umkehrung«

 

V. Der »Weltzustand des Und«

HinterlassenschaftenDie »Moral des nächsten Schritts«: Reihe und GleichgewichtDas »episch unerschütterliche ›Und‹«Schwebend abwärts»Wandel unter Menschen«Konjunktion

 

Anhang

DanksagungSiglen und ZitierweiseAnmerkungenLiteraturverzeichnisRegister

Einleitung

Etwas stimmt nicht, damit fängt es an. Der »schöne Augusttag des Jahres 1913«, mit dem Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften beginnt, verhält sich durchaus nicht ordnungsgemäß. Seine Beschreibung ist in sich widersprüchlich und korrespondiert im übrigen nicht mit den wettergeschichtlichen Tatsachen. Sie lädt die Leserinnen und Leser förmlich dazu ein, die Brücke zum August des Folgejahrs zu schlagen, und führt die Horizontverschiebungen der Erinnerung vor: Rückblickend wird der Sommer 1913 ein Vorsommer gewesen sein, der letzte Sommer vor dem Krieg.

In den Annalen der Entstehungsgeschichte des Romans hat es mit diesem Sommer eine besondere Bewandtnis. Wollte man in Analogie zum Bloomsday des Ulysses einen Ulrichtag aus der Taufe heben, böte sich der 7. August 1913 an. Unter diesem Datum fertigte Musil in seinem Arbeitsheft eine Zeichnung und detaillierte Beschreibungen eines Ensembles von Straßenzügen, Plätzen und Gebäuden im III. Bezirk Wiens an. Welche Imaginationen sich mit dem Schauplatz verknüpften, ist den Aufzeichnungen kaum zu entnehmen. Sieben Jahre später aber zog Musil in eben diese Nachbarschaft, um von seinem Arbeitszimmer im zweiten Stock der Rasumofskygasse 20 aus auf das Palais Salm zu blicken, das als Vorbild für das Haus und die Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften diente.

Als Musil sich die topographischen Notizen machte, hatte er gerade eine Verlängerung der Krankschreibung beantragt, die ihn für ein weiteres halbes Jahr von seiner Tätigkeit als Bibliothekar der Technischen Hochschule Wien dispensierte. Der Urlaub vom Bibliothekarsleben erweiterte den Bewegungsspielraum und setzte literarische Kräfte frei. Musils Essays und Prosaminiaturen des letzten Vorkriegsjahres sind geprägt von Motiven der Krankheit und der Krise, der Manie und der Depression, von Sturz- und Ausbruchsphantasien und vom Bild eines Massensterbens auf Fliegenpapier. Sie lesen sich wie Annäherungen an eine unbekannte Katastrophe, der er entgegenfieberte und gegen deren Sog er sich zugleich stemmte. Während er einerseits darauf wartete, daß sich ein Sturm erhebt, und das Gefühl hatte, in einem Glaskäfig zu sitzen, der bei der kleinsten Regung zerspringen würde, mahnte er andererseits zu Skepsis und forderte Analysen und Differenzierungen. »Man sei«, schrieb er im November 1913, »gegen nichts so mißtrauisch wie gegen alle Wünsche nach Entkomplizierung der Literatur und des Lebens, nach homerischer oder religiöser Stimmung, nach Einheitlichkeit und Ganzheit (GW II, 1009)1

Als zehn Monate später der Krieg ausbrach, war das Mißtrauen des Intellektuellen wie weggefegt. Vorbehaltlos bekannte Musil sich im September 1914 zur Schönheit und Brüderlichkeit des Krieges und zu dem berauschenden Gefühl, als Einzelner in ein Kollektiv eingeschmolzen zu werden. Schrecken und Desillusionierung blieben nicht aus. An dem von heutigen Historikern entzauberten »Sommererlebnis im Jahre 1914« hat Musil jedoch auch rückblickend stets festgehalten. Ein wesentlicher Grund dafür war, daß er das Berauschende dieses Erlebnisses in den revolutionären Umbrüchen des Kriegsendes noch einmal zu spüren meinte. Zwar handelte es sich um »zwei große, einander entgegengesetzte Illusionen«. Während 1914 Eigennutz und Todesangst einer euphorischen Opferbereitschaft wichen, wurde Europa 1918 von einer »österlichen Weltstimmung« erfaßt. Psychologisch und phänomenologisch aber waren beide Ereignisse für Musil verwandt. Beide pochten an einen »längst entschlafenen Vorstellungs- und Gefühlskomplex«, in beiden wurden die Beteiligten von etwas »Ungeheurem berührt, das fremd, nicht von der gewohnten Erde« war. Diese Dimension des Geschehens war für ihn nicht dadurch erledigt, daß die Illusionen in beiden Fällen ein »erschütterndes Dementi« erfuhren (GW II, 1060f.). Kriegsausbruch und Kriegsende: Aus ihrer Verschränkung ergibt sich die Signatur der Epoche, an der sich sein Schreiben fortan ausrichtete. Mit einem Mißtrauen gegen jede Art der Reduktion von Komplexität, das nicht zuletzt durch die Erfahrung des eigenen Einbruchs obsessive Züge gewann, hat er diese Signatur in der mehr als zwanzigjährigen Arbeit am Mann ohne Eigenschaften rekonstruktiv und konstruktiv bearbeitet.

Als Musil am 15. April 1942 im Schweizer Exil starb, hinterließ er einen riesigen Torso, dessen vollständige Edition sieben Jahrzehnte in Anspruch nahm. In der literarischen Landschaft des 20. Jahrhunderts nimmt sich dieser Torso wie ein erratischer Solitär aus: weithin sichtbar, das meiste überragend und doch unzugänglich und fremd. Wie das enigmatische Lächeln des Mörders Moosbrugger hat er die widersprüchlichsten Bestimmungen erfahren. Für die einen ist er die größte literarische Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts, für die anderen die perfekteste Foltermaschine, die ein Schriftsteller je für seine Leserschaft ersonnen hat. Für die einen versprüht er ein unvergleichliches Feuerwerk an Ironie, für die anderen ist er das Werk eines gottlosen Mystikers. Unumstritten ist, daß Der Mann ohne Eigenschaften auf Augenhöhe mit den Wissenschaften operiert. Entsprechend wird sein Rang häufig darin gesehen, einen genuinen Beitrag zu Soziologie, Philosophie, Psychologie und Anthropologie zu leisten, sich den Konsequenzen aus dem Umbruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes zu stellen und Konzeptualisierungen der Moderne vorwegzunehmen, die erst Jahrzehnte nach Musils Tod ausformuliert wurden. Das geschieht zwar im Medium eines Buchs, für das sein Autor die Bezeichnung Roman wählte. Doch entzieht sich dieser Roman nicht nur der typologischen Klassifikation. Seit der Veröffentlichung seines ersten Bandes im Jahr 1930 steht er im Verdacht, eher ein überdimensionierter Essay zu sein, der gedankenreich, aber handlungsarm eine unermeßliche Vielfalt von Perspektiven und Stimmen auffächert, seinen Reichtum an Reflexionen allerdings mit einem Verzicht auf Kurzweiligkeit, einem Mangel an formaler Kohärenz und narrativer Strukturierung sowie dem Fehlen eines Endes bezahlt.

Während der Verlag diesen Eindruck bis heute zu entkräften sucht und mit dem Hinweis auf die Heiterkeit, den Übermut und den Humor seiner Sprache für seinen berühmten, aber nie populär gewordenen Autor wirbt, hat die Forschung vor den Zugang zum Mann ohne Eigenschaften etliche Warnschilder aufgestellt. Sie weiß wenig Ermutigendes über das Schicksal von Leserinnen und Lesern zu berichten, die zumindest die etwa tausend von Musil selbst publizierten Seiten im Zusammenhang erschließen wollten. Die einen sollen paranoid geworden sein, andere hysterisch, eine dritte Gruppe wird vermißt, man vermutet, sie sei nie über das erste Kapitel hinausgekommen oder in einem Ozean von Zeichen ertrunken. Wer zu einer Einschätzung des unvollendeten Ganzen gelangen will, dem wird geraten, einen gewissen Sicherheitsabstand zu halten. Im übrigen werden punktuelle Bohrungen, Erkundungen einzelner Aspekte, Untersuchungen aus bestimmten Perspektiven empfohlen.

Musils Roman fordert diese zunehmend spezialisierte Forschung geradezu heraus. Er spricht von Gott und der Welt, und es gibt weniges, was man in ihm nicht finden könnte. Der Versuch, den Mann ohne Eigenschaften von seinen enzyklopädischen Horizonten und historischen Kontexten her zu erschließen, hat aber gewisse Affinitäten zu einem faustischen Bemühen. Denn die Horizonte und Kontexte sind unermeßlich, und selbst wenn man sie ermessen könnte, wäre die Frage nach dem, was den Roman zusammenhält, nicht beantwortet. Im Spiegel der Forschung stellt sich der Torso heute wie eine gigantische Baustelle dar, ein Steinbruch an Diskursen und Wissensbeständen, an Einfällen, Reflexionen und Bildern, an Vorschlägen und Fragen, die man mit unterschiedlichsten Mitteln und Erkenntnisinteressen untersuchen und in verschiedenste Richtungen weiterdenken kann. Die Kehrseite dieser Ausdifferenzierung ist ein Mangel an Resonanz, und zwar in unterschiedlichen Kontexten. Obwohl Der Mann ohne Eigenschaften eine hohe Affinität zu maßgeblichen theoretischen Positionen der letzten Jahrzehnte aufweist, liest man den Roman mit Adorno, Derrida, Foucault, Luhmann oder Deleuze – und nicht etwa umgekehrt. Und obwohl Musil – auf seine Weise – in ähnlichen Regionen unterwegs ist wie Freud, Simmel, Warburg oder Benjamin, ist es nie gelungen, seinen Roman als einen Referenztext zu etablieren, an dem kulturwissenschaftliche Diskussionen ebensowenig vorbeikommen wie an den Schriften der genannten Autoren. Von einer anderen Seite her gibt zu denken, daß Der Mann ohne Eigenschaften in der hochgelobten amerikanischen Ausgabe der von Franco Moretti herausgegebenen Dokumentation The Novel – dem ersten umfassenden Versuch, die globale Geschichte und Wanderung der Gattung des Romans zu erfassen – nicht einmal erwähnt wird, und dies, obwohl der letzte Abschnitt der Publikation sich den Romanexperimenten des 20. Jahrhunderts widmen will.2 Es dürfte für diese befremdliche Auslassung eines Werks, das in alle großen Sprachen übersetzt ist, ganz unterschiedliche Gründe geben. In erster Linie spricht sie gegen die Dokumentation selbst. Doch vielleicht muß sich auch die Musil-Forschung fragen, warum ihr Gegenstand auf dem umkämpften Markt literarischer Globalisierung in einer maßgeblichen Bestandsaufnahme des Genres des Romans nicht mehr wahrgenommen wird.

 

Die vorliegende Studie lädt dazu ein, den Mann ohne Eigenschaften neu zu entdecken. Ihr Interesse gilt der Form des Romans: seinem Aufbau, seiner Methode, seiner Entwicklung. Sie konzentriert sich auf den ersten Band, doch eröffnet dessen Struktur auch eine neue Sicht auf den Ansatz des zweiten und auf das vieldiskutierte Problem des nie erreichten Endes. Am Ausgangspunkt der Studie stand eine Erfahrung, die den meisten Lesern vertraut sein dürfte, für Literaturwissenschaftler aber eine Verlegenheit bedeutet oder doch bedeuten sollte. Überspitzt, aber keineswegs polemisch formuliert: Obwohl Musil als Feinmechaniker, Relationsexperte und Funktionsdenker bekannt ist, scheint es im Roman nicht darauf anzukommen, wie genau dieser oder jener Satz formuliert ist, wovon genau dieses oder jenes Kapitel handelt, in welchem Kontext dieses oder jenes steht. Und wenn es darauf ankommt, kann man sich damit nicht beschäftigen. Denn die einzige Möglichkeit, sich zu dem Gesamttext zu verhalten, scheint darin zu bestehen, sich nicht darauf einzulassen, was dieser, aus der Nähe betrachtet und in der Folge seiner Kapitel, sagt und tut. Wie für andere vergleichbare Probleme bietet Musils Erzähler für dieses eine Reihe von Formulierungen an, ohne daß er verriete, wie es zu lösen sei. Wer »für das Nächste […] scharfsichtig« ist, stellt er fest, wird »für das Ganze blind« (245) sein, so wie derjenige, der sich sein Leben lang »mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure« beschäftigt, am »Jüngsten Tag« wenig vorzuzeigen haben dürfte (248). Zwar fallen auch dem Leser, der sich am (fragmentarischen) Ganzen orientiert und auf den Jüngsten Tag vorbereitet, bei halbwegs konzentrierter Lektüre unzählige einzelne Bilder, Wendungen, Züge und Manöver auf. Doch sie verflimmern. Die schiere Selbsterhaltung gebietet es, sich nicht in derartige Einzelheiten zu vertiefen, sondern aus größerer Distanz irgendwie zu erfassen, wovon insgesamt die Rede zu sein scheint. »Andererseits: was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!« (248). Eine Folge dieses Problems ist, daß man ständig den Eindruck hat, es laufe ein Film ab, den man nicht zu sehen bekommt und nicht begreift.

Woher kommt das? Musil hat verschiedentlich betont, »in Stilfragen konservativ« zu sein. Er wollte keinen avantgardistischen Roman schreiben, sondern »einen traditionellen, der Intellekt hat« (B I, 497f.). Und wirklich springt auf den ersten Blick ja nicht ins Auge, worin das Inkommensurable und Unzugängliche seiner Prosa besteht. Anders als James Joyce bricht Musil die Zeichen nicht auf; die konventionelle sprachliche Oberfläche bleibt intakt. Weder muß der Leser Worträtsel und enigmatische Syntagmen lösen, noch stellt der Text ihn vor hermeneutische Aufgaben, die denen der Romane Franz Kafkas vergleichbar wären. Auch der Umfang der von Musil zu Lebzeiten publizierten Bände bzw. Teilbände sprengt nicht die Dimensionen, an welche die zeitgenössische Leserschaft gewöhnt war. Er bleibt weit hinter dem von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zurück, in dessen Größenordnungen erst der publizierte Text samt Nachlaß gerät. Was schließlich die Verknüpfung von Narration, wissenschaftlichen Diskursen und Reflexion angeht, für die sich Begriffe wie Essayismus oder essayistische Schreibweise eingebürgert haben, so ist diese für den Mann ohne Eigenschaften zwar von konstitutiver Bedeutung. Doch gibt es bei Musil nichts, was etwa den Rededuellen zwischen Naphta und Settembrini in Thomas Manns Zauberberg vergleichbar wäre.

Nicht in der essayistischen Reflexion liegt das Inkommensurable vom Mann ohne Eigenschaften, sondern in der Verschränkung von Extension und Intensität, von »Gesinnung zur Totalität«3 und Mikropoesie. Der Roman will nicht (nur) in enzyklopädischer Manier möglichst alles erfassen. Im Gewand einer Geschichte der unmittelbaren Vorkriegszeit greift er auf Totalität aus und will nicht weniger leisten als eine Gesamtkonstruktion der Moderne. In seiner programmatischen »Skizze der Erkenntnis des Dichters«, deren Erscheinen mit dem Kriegsende 1918 zusammenfiel, spricht Musil von dem »Nachweis«, daß »die Struktur der Welt und nicht die seiner Anlagen dem Dichter seine Aufgabe zuweist« (GW II, 1029). Wer diesen steilen und stolzen Satz nachweisen will, nimmt sich vor, eine unermeßlich komplexe Struktur lesbar zu machen, um in ihr den Grund der Dichtung zu finden. Das ist ein extremes, tendenziell paradoxes Vorhaben, aber das Zeitalter war eines der Extreme, und das Experiment, das Musil in und mit der Gattung des Romans unternimmt, ist davon nicht zu trennen. Was für ihn im Epochenbruch 1914/18 zur überwältigenden Erfahrung wurde, war das Unwägbare des Gegebenen, das Unfeste der Zustände, das Unzureichende der Gründe. Die modernen Wissenschaften haben diese Verhältnisse wesentlich mit hervorgebracht, aber ihre Logik, Codes und Wissensformen sind ihnen nicht angemessen. Worauf wir in dem Begriff – oder in der absoluten Metapher – »Welt« ausgreifen, ist ein Kontext, der von Singularitäten, Irrationalitäten und Unberechenbarkeiten durchzogen ist, zu denen nicht zuletzt wir selber gehören. Es ist ein nicht-feststellbarer Zusammenhang, dessen Fluktuationen, Ambivalenzen und Kontingenzen nach Musils Überzeugung – oder Vermutung – allein in der Literatur zur Sprache gebracht werden können. Nicht nur dieses oder jenes, das Ganze hätte 1914/18 – vielleicht – anders kommen können, es wäre – vielleicht – eine andere Welt möglich gewesen: Dieser Auslegung von Kontingenz entspricht ein Möglichkeitsraum, den Der Mann ohne Eigenschaften in seinen beiden Bänden von zwei Seiten her und in gegenläufiger Weise erkundet. Zum einen will er im Medium eines fiktionalen Modells »die widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen« (GW II, 941) analysieren, die in den Ersten Weltkrieg mündeten. Zum anderen bricht er zu einer kontrafaktischen Suche nach einer Möglichkeit auf, die in der historischen Katastrophe verwirkt wurde.

Mit dem »schönen Augusttag des Jahres 1913« setzt der erste Absatz des Romans eine Frist, die an einem bestimmten Ende hätte abgelaufen sein sollen: »Krieg: Alle Linien münden in den Krieg« (1851) – diese Finalisierung definierte den Romanversuch und wurde deshalb auch dann nicht zur Disposition gestellt, als der Weltkrieg zu einem Ersten geworden war und der Zweite sich abzeichnete und begann. Auf seine Weise erzählt auch Der Mann ohne Eigenschaften eine Geschichte. Das traditionelle narrative Strukturmodell der Fabel, welche die Fäden einer Handlung sukzessive verwickelt und entwickelt, wird von Musil aber für seine Zwecke neu interpretiert und in neuer Weise gehandhabt. Für seine Zwecke, das heißt: für den Versuch, eine Welt zu konstruieren, die zu jenem undurchdringlichen »Gefilz von Kräften« (13) geworden ist, von dem der Protagonist Ulrich sich bei seinem ersten Auftritt als Beobachter am Fenster ebenso resigniert wie kampfeslustig abwendet.

Das führt von der Extension des Romans, seinem Ausgriff auf Totalität, zur Intensität seiner mikropoetischen Schreibweise. Sie ist ein Grenzgang in mehrfacher Hinsicht: ein Gang auf der Grenze von Logischem und Bildlichem, Diskursivem und Imaginärem; ein Weg infinitesimaler Übergänge, der das gesamte Gefüge der Sprache in Bewegung bringt; und ein Gang auf der Grenze der Lesbarkeit. Diese Mikropoesie ist bereits in Musils Erstlingsroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) angelegt und erfährt in dem Novellenband Vereinigungen (1911) eine äußerste Radikalisierung. Im Mann ohne Eigenschaften wird sie von anderen Schreibweisen überlagert und durchdrungen und verknüpft sich mit Verfahren der Montage, die das Kontinuum der Übergänge durch harte Schnitte unterbrechen. Doch bleibt sie auch im Roman von grundlegender Bedeutung. Einerseits betreibt dieser im Medium einer mikropoetischen Spracharbeit eine prekäre Mimesis an das »Gefilz« der Welt. Der Effekt ist eine Textur, die sich aufgrund ihrer Kompression permanent dem Risiko der Entstrukturierung aussetzt. Andererseits eröffnet allein diese Textur den Zugang zu seiner Form. In ihr baut er sich auf, in ihr entwickelt er sich. Unentwegt wendet der Text sich auf sich selbst zurück, um seine eigenen Zeichen zu bearbeiten. Das ergibt im ersten Band ein Hin und Her, das den Vergleich mit einem richtungslosen Netzwerk nahelegt. Aber in diesem Hin und Her wird das Netz an einer bestimmten Stelle aufgedröselt. Schritt für Schritt findet ein Prozeß der Auflösung statt, aus dem der Ansatz für einen zweiten Band gewonnen wird.

Der Leser des Mann ohne Eigenschaften sieht sich auf diese Weise mit einem Problem konfrontiert, das dem analog ist, mit dem der Roman es aufnehmen will. Indem dieser sich zu einem verfilzten Universum von Zeichen macht, involviert er den Leser – wenn er sich involvieren lassen will – in den Versuch, ein Gebilde zu durchdringen, dessen Komplexität tendenziell unlesbar geworden ist. Wie jeder literarische Text macht Musils Roman Strukturierungsangebote und ist darauf angewiesen, daß diese in der Lektüre realisiert werden. Doch während Erzählungen dafür üblicherweise mit einer Fabel aufwarten, welche die Zeit ordnet und semantisiert und Kriterien an die Hand gibt, um Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden, hat dieser Informationsfilter im Mann ohne Eigenschaften weitgehend ausgedient. So ähnelt die Situation des Lesers dem des Chefs der Presseabteilung des kakanischen Außenministeriums, der angesichts einer Paul Arnheim betreffenden Informationslücke seiner Spionagedienste fragt: »›wo ist die Grenze zu ziehn zwischen dem, was man beachtet, und dem, was man übergeht?‹« (210) Eine gewisse Berühmtheit hat die Antwort erlangt, die Ulrich in einer Szene mit Diotima gibt. Er schlägt vor, daß man als Leser einfach alles auslassen solle, was einem nicht paßt. Das ist schon deshalb kein Verhalten, das sich zur Nachahmung empfiehlt, weil Ulrich damit einen absurden Antrag begründet: Wenn Diotima und er sich zueinander wie der beschriebene Leser zum Text verhielten und also alles Nicht-Passende übergingen, dann könnten sie es miteinander versuchen.

Die Strukturierungsangebote, die Der Mann ohne Eigenschaften macht, stammen aus der Feder eines Autors, der wußte, daß er mit dem Auslassen notorische Probleme hatte. Sie sind nur zu erkennen, wenn man sich auf seine Mikropoesie einläßt – und auf dieser Basis dann Auslassungen vornimmt. Das setzt zum einen eine gewisse Bereitschaft voraus, das zu beleben, was Musil als »Hormon der Phantasie« (1888) bezeichnete. Der Leser muß darauf gefaßt sein, mitgelesen zu werden. Das heißt nicht nur, daß er in einen Echoraum von Texten und Bildern gerät, die er nur nach Maßgabe eigener Lektüren und Wahrnehmungen aktualisieren kann; es heißt, daß er von einer Sprachbewegung erfaßt wird, deren Gratwanderung zwischen dem Diskursiven und Imaginären auf seine Übersetzungs- und Übertragungsfähigkeit angewiesen ist. Das ist eine Ermutigung zum Assoziieren, aber durchaus keine Einladung zur Beliebigkeit. Das Widerlager und den Maßstab der Relevanz seiner eigenen Resonanzen findet der Leser in den Kontexten, Verbindungen und Entwicklungen, die sich auf diese Weise abzuzeichnen beginnen. Sie treten in demselben Maß hervor, in dem das methodisch reflektierte Handlungskonzept des Mann ohne Eigenschaften zu greifen beginnt, und manifestieren sich nicht zuletzt in bestimmten Webmustern, in denen Musil zentrale theoretische Impulse seines Romanversuchs gestaltet. Daß Kakanien und mit ihm das fiktionale Weltmodell nach Auskunft des Erzählers an einem Sprachfehler zugrundegegangen seien, ist nicht bloß ein Aperçu. Die Konjunktion, welche die »kaiserliche und königliche« Habsburger Doppelmonarchie bis 1918 zusammenhielt, ist der Sprachknoten des Romans.

Sich über Hunderte von Seiten auf eine mikropoetische Schreibweise einzulassen, verlangt darüber hinaus eine gewisse Disposition, sich von dem anstecken zu lassen, was Musil »Leidenschaft für Genauigkeit und Richtigkeit« (1937) nannte und was nicht im Widerspruch zum »Hormon der Phantasie« steht. Genauigkeit hat mit Nähe zu tun, Richtigkeit mit Richtung und Orientierung. Man findet die Richtung nur, wenn man nahe herangeht, aber man sieht in der Nähe nur etwas, wenn man schon eine Vorstellung der Richtung hat. Ein Wechsel von Perspektiven also, der voraussetzt, daß man mehrfach liest, »rück- und vorsichtig«, wie Friedrich Nietzsche es formulierte, »mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren«.4

 

James Joyce bekannte einmal ironisch, von seinen Lesern nicht mehr zu verlangen, als daß sie sich lebenslang mit seinem Werk beschäftigen. Wenn Musil – mit anderer Ironie – bemerkte: »Es ist sehr anmaßend: ich bitte mich zweimal zu lesen, im Teil u. im Ganzen« (1941), dann gab er sich zwar bescheidener. Aber es läuft auf etwas Ähnliches hinaus. Auch Der Mann ohne Eigenschaften gehört zu der Klasse der Monstertexte, die ihre Leser mit Haut und Haar an sich fesseln und ihre Zeit verschlingen wollen. Die Hybris, die darin liegt, ist nicht nur Ausdruck der Vermessenheit des Autors. Sie ist auch ein Reflex der Maßlosigkeit, die dem Roman als literarischer Gattung innewohnt. Im ersten Band von Musils Roman regiert im Inneren des Hauses ein ebenso schönes wie träges und gefräßiges Musenmonster. Es ist eigentlich nicht zu übersehen, doch hat man bislang vermieden, nähere Bekanntschaft mit ihm zu machen. Auf römischen Karten wurde die terra incognita jenseits der Grenzen des Imperiums manchmal mit der Warnung versehen: »Hic sunt leones« – hier gibt es Gefahren, hier sind Löwen, die einen fressen wollen. Über dem ersten Band des Mann ohne Eigenschaften könnte der Hinweis stehen: »Hic est Leona«. Kein Wunder, daß das ein Bedürfnis nach Abstand erzeugt. Überwindet man die Berührungsscheu, gerät man in eine Textlandschaft, die über weite Strecken eine terra incognita ist.

 

Anmerkungen