image

JUSTINE

oder

DAS UNGLÜCK DER TUGEND

O mein Freund ! Das Erblühen des Verbrechens ist wie der Blitz, dessen trügerische Strahlen die Atmosphäre nur sekundenlang verschönen, um den Unglücklichen, den sie geblendet haben, alsbald in die Abgründe des Todes zu stürzen.

Impressum

Hrsg.
Passion Publishing Ltd.
Postfach 11 28
53621 Königswinter

ISBN 978-3-939907-79-4

Es wäre ein Meisterwerk der Philosophie, wenn sie darlegte, welcher Mittel sich die Vorsehung bedient, um die Absichten, die sie mit dem Menschen hat, zu vollenden, und wenn sie Regeln aufstellte, die den unglücklichen Zweibeiner darüber aufklären könnten, wie er sich auf dem dornigen Lebenspfad zu bewegen hat, um den bizarren Launen jener Fatalität zuvorzukommen, die man mit zwanzigerlei Namen belegt hat, ohne dass man sie bislang zu erkennen oder zu definieren vermochte.

Wenn wir aber mit allem Respekt für unsere gesellschaftlichen Konventionen und ohne jede Auflehnung gegen die dadurch errichteten Dämme dennoch nur auf Dornengestrüpp stoßen, während die Bösewichte nichts als Rosen ernten, werden dann nicht diejenigen, denen es so sehr an Tugend mangelt, dass sie sich über derartige Betrachtungen hinwegsetzen, werden sich diese Leute etwa nicht überlegen, dass es besser sei, sich mit dem Strom treiben zu lassen, als dagegen anzuschwimmen? Werden sie nicht sagen, dass die Tugend, so schön sie auch sein mag, die schlechteste Wahl sei, die man treffen könne, wenn sie sich als zu schwach erweist, gegen das Laster zu kämpfen, und wenn es in einem gänzlich verderbten Jahrhundert doch das sicherste ist, wie die anderen zu handeln? Die, wenn man so will, etwas Gebildeteren, werden sie nicht, ihre Aufgeklärtheit missbrauchen, mit dem Engel Jesrad im Zadig zu erklären, dass es nichts Böses gebe, dem nicht etwas Gutes entspringt, und dass sie sich demzufolge dem Schlechten hingeben könnten, da dies tatsächlich nur eine andere Form ist, Gutes zu tun? Werden sie nicht hinzufügen, dass es für den allgemeinen Plan ganz gleichgültig bleibe, ob dieser oder jener es vorziehe, gut oder böse zu sein; und wenn die Tugend vom Unglück verfolgt, das Verbrechen hingegen von Wohlleben begleitet—in den Augen der Natur beides also gleichbedeutend sei —, dass es dann doch tausendmal besser wäre, sich auf die Seite der Schlechten zu schlagen, denen es gut geht, als auf die der Tugendhaften, die geopfert werden? Es ist also wichtig, diesen gefährlichen Sophismen einer falschen Philosophie zuvorzukommen und eindringlich zu zeigen, dass die Beispiele einer unglücklichen Tugend, wenn sie einer verderbten, aber immerhin noch von einigen guten Grundsätzen durchdrungenen Seele vorgestellt werden, diese Seele ebenso sicher wieder dem Guten zuzuführen vermögen, als ob man ihr auf diesem Tugendpfad die glänzendsten Ehrungen und die verlockendsten Belohnungen geboten hätte. Es ist gewiss grausam, das Leid, das über eine sanfte, zartfühlende und die Tugend hoch achtende Frau hereinbricht, in seiner ganzen Fülle ausmalen zu müssen und andererseits das Wohlleben zu schildern, dessen sich die Peiniger und Unterdrücker dieser Frau erfreuen. Wenn aber aus der Darstellung dieser Fatalitäten Gutes entsteht, sollte man sich dann Vorwürfe machen, sie aufgezeigt zu haben? Kann man es dann als ärgerlich empfinden, eine Tatsache vorgetragen zu haben, aus der sich für den einsichtigen und weisen Leser die sinnvolle Lehre von der Schicksalsergebenheit ableitet, und er die fatale Warnung erhält, dass der Himmel unseren Nächsten, der seine Pflichten aufs beste erfüllt zu haben scheint, häufig nur deshalb heimsucht, um uns selbst an unsere Pflichten zu gemahnen?

Solcherart sind die Empfindungen, mit denen wir uns ans Werk begeben, und in Anbetracht dieser Beweggründe bitten wir den Leser um Nachsicht hinsichtlich der irrigen Vorstellungen, die einigen unserer Charakteren in den Mund gelegt sind und hinsichtlich der zuweilen etwas anstößigen Situationen, die wir Ihnen aus Liebe zur Wahrheit vor Augen führen mussten.

Gräfin Lorsange war eine jener Venuspriesterinnen, deren Glück das Werk einer hübschen Figur und einer beträchtlichen Liederlichkeit ist und deren Titel, mögen sie noch so hochtrabend klingen,—erdichtet von der Unverfrorenheit ihrer Trägerin und aufrechterhalten durch die törichte Leichtgläubigkeit ihrer Bewunderer—nur in Kytheras Archiven zu finden sind : Brünett, schön gewachsen, mit selten ausdrucksvollen Augen; von jener modischen Ungläubigkeit, die den Leidenschaften zusätzliche Würze verleiht und bewirkt, dass eine Frau, die dergleichen vermuten lässt, weit heftiger umworben wird; etwas boshaft, bar aller Prinzipien, ohne Skrupel, aber doch nicht so verderbt, dass alle Empfindsamkeit aus ihrem Herzen gelöscht wäre, stolz und ausschweifend: Das war Frau de Lorsange. Gleichwohl hatte diese Frau die vortrefflichste Erziehung genossen: Als Tochter eines sehr bedeutenden Bankiers in Paris war sie mit einer drei Jahre jüngeren Schwester namens Justine in einem der berühmtesten Klöster der Hauptstadt erzogen worden, und bis zu ihrem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr war der einen wie der anderen Schwester kein Ratschlag, kein Lehrmeister, kein gutes Buch und die Förderung nicht einer ihrer Gaben versagt geblieben.

In diesem für die Tugend zweier junger Mädchen so entscheidenden Lebensabschnitt verloren sie das alles von einem auf den anderen Tag: ein fürchterlicher Bankrott stürzte ihren Vater in eine so grausame Lage, dass er vor Kummer starb. Einen Monat später folgte ihm seine Frau ins Grab. Zwei kaltherzige, entfernte Verwandte beratschlagten, was mit den jungen Waisen geschehen sollte. Ihr Anteil an dem durch die Schulden auf gezehrtem Erbe belief sich auf je hundert Taler. Keiner gedachte sich ihrer anzunehmen, man öffnete ihnen die Klosterpforte, händigte ihnen die Mitgift aus und überließ es ihnen zu tun, was ihnen beliebte.

Frau de Lorsange, die damals Juliette hieß und charakterlich und geistig schon annähernd so geformt war wie mit dreißig Jahren—so alt war sie zu der Zeit, in der sich unsere Geschichte zutrug—, Frau de Lorsange schien nichts anderes zu empfinden als die Freude, frei zu sein, ohne sich nur einen Augenblick auf die grausamen Umstände zu besinnen, die ihre Ketten gesprengt hatten. Justine hingegen war ernst und schwermütig von Gemüt, und so empfand sie schon im Alter von zwölf Jahren weit mehr die ganze Grauenhaftigkeit ihrer Lage. Mit Sanftmut und überraschender Sensibilität begabt, war sie im Gegensatz zu der Geschicklichkeit und dem Scharfsinn ihrer Schwester so arglos und treuherzig, dass sie zwangsläufig ein Opfer vieler Ränke werden musste. Bei all diesen Gaben hatte das junge Mädchen ein liebliches Gesicht, das gänzlich verschieden war von den Gesichtszügen, mit denen die Natur Juliette verschönt hatte; so augenfällig wie die Künstlichkeit, die Schläue und Koketterie in den Zügen der einen, so bewundernswert war die Schamhaftigkeit, der Anstand und die Scheu, die aus dem Antlitz der anderen sprach; jungfräulich in ihrer Erscheinung, mit großen blauen Augen voller Seele und Mitgefühl und einem blendenden Teint, von schlankem und geschmeidigem Wuchs, dazu eine ergreifende Stimme, Zähne wie Elfenbein und die schönsten blonden Haare, so lässt sich das Bild dieser reizenden jüngeren Schwester umreißen, deren unschuldige Anmut und deren feine Züge unser zeichnerisches Vermögen weit übertreffen.

Man gab der einen wie der anderen vierundzwanzig Stunden Zeit, das Kloster zu verlassen, und überließ es ihrem eigenen Gutdünken, mit ihren hundert Talern irgendwo Unterschlupf zu suchen. Juliette, entzückt ihr eigener Herr zu sein, war einen Augenblick lang bemüht, Justines Tränen zu trocknen; als sie aber sah, dass sie kein Glück damit hatte, verlegte sie sich aufs Schelten statt sie zu trösten; sie machte ihr ihre Empfindsamkeit zum Vorwurf; mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen philosophischen Einsicht sagte sie ihr, man dürfe sich durch nichts anderes auf dieser Welt erschüttern lassen als durch das, was einen persönlich angehe; man habe die Möglichkeit, an sich selbst physische Empfindungen von so prickelnder Wollust aufzutun, dass alle seelischen Kümmernisse, die einen schmerzhaften Schock auslösen könnten, dadurch auszulöschen seien; es sei umso wichtiger, dieses Verfahren anzuwenden, als die wirkliche Weisheit tausendmal mehr darin bestünde, die Zahl der Freuden zu verdoppeln als die der Nöte zu mehren; mit einem Wort, man dürfe nichts unterlassen, was diese schandbare Empfindlichkeit in einem abtöte, von der allein die anderen profitieren, während man selber davon nur Kummer habe. Aber ein gutes Herz lässt sich schwerlich verhärten, es widersteht den Argumenten eines bösen Kopfes und tröstet sich mit seinen eigenen Freuden über die glanzvollen Vorspiegelungen eines Schöngeistes hinweg.

Juliette griff zu anderen Mitteln und sagte nun zu ihrer Schwester, bei ihrem Alter und ihrem Aussehen brauchten sie beide unmöglich vor Hunger sterben. Sie benannte ihr die Tochter einer Nachbarin, die, aus dem Elternhaus entflohen, heute üppig unterhalten werde und bestimmt viel glücklicher sei, als wenn sie im Schöße ihrer Familie geblieben wäre; man solle sich davor hüten zu glauben, dass ein junges Mädchen durch die Ehe glücklich werde; an Hymens Gesetze gebunden, habe sie viele Launen auszustehen und nur sehr geringe Liebesfreuden zu erwarten; würden sie sich hingegen der Libertinage ergeben, so könnten sie sich stets gegen den Unmut der Liebhaber verwahren oder aber sich mit der Vielzahl ihrer Liebhaber trösten.

Justine hatte ein Grauen vor diesen Reden; sie zöge den Tod der Schande vor, sagte sie; und ihre Schwester mochte ihr noch so viele Vorhaltungen machen, sie weigerte sich standhaft, mit ihr gemeinsam eine Wohnung zu nehmen, nachdem sie Juliette zu einer Lebensführung entschlossen sah, die sie erschaudern ließ.

Da ihre Ansichten so weit auseinander gingen, trennten sich die beiden jungen Mädchen ohne jedes Versprechen auf ein Wiedersehen. Wie konnte sich denn Juliette, die eine große Dame zu werden vorgab, darauf einlassen, ein kleines Mädchen zu sich zu nehmen, dessen tugendhafte, aber kleinliche Neigungen ihr womöglich zur Schande gereichten? Und hätte Justine ihrerseits etwa ihre Sittsamkeit in der Gesellschaft eines lasterhaften Geschöpfes aufs Spiel setzen sollen, das ein Opfer der Liederlichkeit und der allgemeinen Ausschweifung zu werden versprach? Die beiden sagten sich also auf ewig Lebewohl und verließen das Kloster am nächsten Morgen.

Justine war als Kind von der Schneiderin ihrer Mutter verhätschelt worden und glaubte, diese Frau werde ihrem Unglück Mitgefühl entgegenbringen; sie suchte sie auf, erzählte ihr von ihrer elenden Lage und bat sie um Arbeit … Man tat so, als erkennte man sie kaum; sie wurde unbarmherzig abgewiesen. „O Himmel!“ sagte das arme kleine Geschöpf, „müssen denn gleich die ersten Schritte, die ich auf dieser Welt mache, von Leid gezeichnet sein? Einst liebte mich diese Frau, warum stößt sie mich heute von sich? O weh! Weil ich eine arme Waise bin, weil ich mittellos dastehe und weil die Leute nur wegen ihres Beistands und wegen der Annehmlichkeiten geachtet werden, die man sich von ihnen erhofft, darum ergeht es mir so!“

Weinend begab sich Justine zu ihrem Pfarrer; sie schilderte ihm ihre Lage mit der uneingeschränkten Offenherzigkeit ihres Alters … Sie trug ein kurzes weißes Kinderkleid; ihre schönen Haare waren nachlässig unter eine große Mütze gesteckt; ihr Busen, unter einem dichten Gazeschleier versteckt, hob sich kaum ab; ihr hübsches Gesichtchen war ein wenig bleich von dem nagenden Schmerz; einige Tränen rollten ihr aus den Augen und verliehen ihnen noch mehr Ausdruck. „Monsieur“, sagte sie zu dem frommen Kirchenmann, „Sie sehen mich in einer für ein junges Mädchen besonders schmerzlichen Lage; ich habe meinen Vater und meine Mutter verloren … Der Himmel raubt sie mir in einem Alter, in dem ich ihres Zuspruchs am meisten bedürfte … Sie sind als ruinierte Leute gestorben, Herr; wir haben nichts mehr… Das ist alles, was sie mir hinterlassen haben“, fuhr sie fort und zeigte ihre zwölf Louisdors … „und kein Eckchen, meinen armen Kopf zur Ruhe zu betten … Sie haben Mitleid mit mir, nicht wahr, Herr! Sie sind der Hüter der Religion, und die Religion war mir immer ein Herzensbedürfnis; im Namen Gottes, den ich anbete und dessen Mittler Sie sind, sagen Sie mir wie ein zweiter Vater, was ich tun soll … was aus mir werden soll?“

Der barmherzige Priester erwiderte Justine mit geilem Blick, die Pfarrei sei überlastet; sie könne sich schwerlich weitere Almosen erbetteln, wenn Justine ihm aber dienen wolle, wenn sie die grobe Arbeit machen wolle, fiele in seiner Küche immer ein Kanten Brot für sie ab. Und da der Gottesmann bei diesen Worten seine Hand unter ihr Kinn legte und ihr zugleich einen für einen Mann der Kirche recht weltlichen Kuss gab, stieß Justine, die nur allzu gut verstanden hatte, ihn zurück und sagte:

„Herr, ich verlange von Ihnen weder ein Almosen noch eine Stellung als Magd; vor allzu kurzer Zeit erst bin ich aus einem Stand ausgeschieden, der höher ist als der Stand, in dem man nach diesen beiden Gnaden begehren mag; so tief bin ich noch nicht gesunken, dass ich mich darauf beschränken wollte; ich erbitte Ratschläge, deren ich infolge meiner Jugend und meines Unglücks bedarf; Sie aber wollen sie mir ein wenig zu teuer verkaufen.“

Der Pastor, beschämt darüber, dass man ihn durchschaut hatte, warf das arme Geschöpf sofort aus dem Haus, und die unglückliche Justine, die gleich am ersten Tag zweimal abgewiesen worden war, sah sich zum Alleinsein verurteilt. Sie betritt ein Haus, an dem sie einen entsprechenden Hinweis sieht, mietet eine kleine möblierte Kammer im fünften Stock, bezahlt im voraus und gibt sich den bittersten Tränen hin, da sie empfindsam und in ihrem Stolz so grausam gekränkt ist.

Man wird uns erlauben, sie für einige Zeit hier zurückzulassen, um uns wieder Juliette zuzuwenden und mitzuteilen, wie sie sich aus den bekanntlich bescheidenen Verhältnissen und ohne mehr Mittel zur Verfügung zu haben als ihre Schwester, dennoch innerhalb von fünfzehn Jahren zu einer Frau von Welt erhob, in dieser Eigenschaft dreißigtausend Pfund Rente, sehr schöne Juwelen, zwei oder drei Stadt- und Landhäuser besaß und für den Augenblick auch noch über das Herz, die Reichtümer und das Vertrauen des Herrn Staatsrat de Corville verfügte, eines Mannes von höchstem Ansehen, der seiner Berufung ins Ministerium entgegensah. Der Weg war dornig, daran ist gewiss nicht zu zweifeln: Nur der schmachvollsten und härtesten Lehre verdanken diese Mädchen ihren Weg; und manch eine liegt heute im Bett eines Fürsten, die vielleicht noch auf ihrem Körper die erniedrigenden Male der Brutalität lasterhafter Wüstlinge trägt, in deren Hände sie ihre Jugend und ihre Unerfahrenheit warf.

Nach Verlassen des Klosters begab sich Juliette zu einer Frau, die ihre Freundin aus der Nachbarschaft erwähnt hatte; liederlich wie sie es gern sein wollte und in der Absicht, sich von dieser Frau verführen zu lassen, drang sie mit ihrem kleinen Bündel unterm Arm bei ihr ein, in einem blauen unordentlichen Rock, mit aufgelöstem Haar und dem hübschesten Gesicht der Welt (wenn es wahr ist, dass Unanständigkeit in bestimmten Augen reizvoll wirkt), sie erzählt dieser Frau ihre Geschichte und fleht sie an, sie doch in ihre Obhut zu nehmen, wie sie es mit ihrer früheren Freundin auch getan habe. „Wie alt sind Sie?“ fragte die Duvergier.

„In ein paar Tagen werde ich fünfzehn, gnädige Frau“, erwiderte Juliette.

„Und kein Sterblicher…“ fuhr die Matrone fort.

„O nein, gnädige Frau, ich schwöre es Ihnen!“ antwortete Juliette.

„Manchmal kommt es aber in den Klöstern vor“, sagte die Alte … „dass ein Beichtvater, eine Nonne, eine Kameradin … Ich brauche sichere Beweise.“

„Es liegt ganz an Ihnen, sie sich zu verschaffen, gnädige Frau“, erwiderte Juliette errötend.

Und nachdem sich die Duenja ein Paar Brillengläser auf die Nase gesteckt und die Dinge gewissenhaft von allen Seiten begutachtet hatte, sagte sie zu dem jungen Mädchen:

„Also schön, Sie können gleich hier bleiben. Beachten Sie meine Ratschläge genau, unterwerfen Sie sich willfährigst meinen Praktiken, legen Sie mir gegenüber Sauberkeit, Sparsamkeit und Offenheit, gegenüber Ihren Gefährtinnen Klugheit, und im Umgang mit den Männern Gerissenheit an den Tag, so werde ich Sie vor Ablauf von zehn Jahren in die Lage versetzen, sich ein Zimmer im dritten Stock zuzulegen mit Kommoden, Wandspiegel und eigener Magd; und die Kunst, die Sie bei mir erlernt haben werden, wird Ihnen genügend einbringen, sich alles übrige zu beschaffen.“

Nach diesen Empfehlungen nahm die Duvergier Juliettes kleines Bündel an sich; sie fragte sie, ob sie gar kein Geld habe, und als Juliette ihr allzu freimütig gestand, sie habe hundert Taler, nahm die liebe Mama sie ihr gleichfalls ab und versicherte ihrem jungen Zögling, sie werde diese kleine Summe in der Lotterie für sie anlegen, denn es sei einem jungen Mädchen nicht zuträglich, Geld in der Hand zu haben:

„Damit könnten Sie Schlimmes anstellen“, sagte sie ihr, „und in einem so verderbten Jahrhundert muss ein besonnenes und vornehmes Mädchen alles sorgfältig vermeiden, was ihm zum Verhängnis werden könnte. Ich meine es gut mit Ihnen, meine Kleine“, fügte die Duenja hinzu, „und Sie sollten mir dankbar sein, dass ich das alles für Sie tue.“

Nach diesem Sermon wurde die Neue ihren Gefährtinnen vorgestellt; man wies ihr eine Kammer im Haus an und schon am folgenden Tag standen ihre Primizien zum Verkauf.

Im Laufe von vier Monaten wird die Ware nacheinander an etwa hundert Personen verkauft; die einen geben sich mit der Rose zufrieden, andere—feinsinnigere oder lasterhaftere—(denn diese Frage ist nicht gelöst) wollen die Knospe öffnen, die nebenan erblüht. Jedes Mal macht die Duvergier hinterher alles wieder schön eng und wie neu, und so sind es während dieser vier Monate immer wieder die Primizien, die die Schelmin der Öffentlichkeit offeriert. Am Ende dieses dornenreichen Noviziats erhält Juliette endlich die Konzessionen einer Laienschwester; von diesem Augenblick an wird sie wirklich als Dirne des Hauses anerkannt und teilt von nun an die Strapazen und Annehmlichkeiten der anderen. Weitere Lehrzeit: Wenn Juliette in der ersten Lernphase mehr oder minder der Natur gedient hatte, so galt es in der zweiten, deren Gesetze zu vergessen. Jetzt kam ihre Moral gänzlich zu Fall. Der Triumph, den das Laster vor ihren Augen erntet, verdirbt ihre Seele vollends; sie fühlt, dass sie für das Verbrechen geboren ist und unbedingt dazu übergehen muss, es im großem Stil zu betreiben; keinesfalls durfte sie weiter in einer untergeordneten Stellung verkümmern, wo sie zu denselben Fehltritten veranlasst und genauso erniedrigt wurde, ohne auch nur annähernd den gleichen Profit zu erzielen. Ein alter, sehr ausschweifender Herr, der sie zunächst nur für eine Augenblickssache zu sich bestellt hatte, findet Gefallen an ihr, und sie versteht es, sich großartig von ihm aushalten zu lassen; schließlich erscheint sie im Theater und auf den Promenaden neben den Schwestern des Kythera-Ordens; sie lenkt die Blicke auf sich, es wird von ihr geredet, sie wird beneidet und die schlaue Person versteht ihr Handwerk so gut, dass sie in knapp vier Jahren sechs Männer zugrunde richtet, von denen der Ärmste hunderttausend Taler Rente bezog. Mehr bedurfte es nicht, um ihren Ruhm zu besiegeln; die Verblendung der Menschen der Gesellschaft geht so weit, dass ihre Gier, auf der Liste einer so unseligen Person zu stehen, in dem Maße steigt, in dem dieselbe ihre Unredlichkeit beweist; es scheint, dass der Grad ihrer Erniedrigung und ihrer Verderbtheit zum Maßstab der Gefühle wird, die man für sie zu äußern wagt.

Juliette hatte gerade ihr zwanzigstes Lebensjahr vollendet, als ein gewisser Graf Lorsange, ein etwa vierzig Jahre alter angevinischer Edelmann, sich so sehr in sie verliebte, dass er beschloss, ihr seinen Namen zu geben: Er sprach ihr zwölftausend Pfund Rente zu und vermachte ihr für den Fall, dass er vor ihr stürbe, den Rest seines Vermögens; er stellte ihr ein Haus, Gesinde und eine eigene Dienerschaft zur Verfügung und verschaffte ihr ein solches Ansehen in der Gesellschaft, dass nach zwei bis drei Jahren Juliettes Debüt vergessen war. Nun aber wagte es die unglückliche Juliette, alles Gefühls für ihre Herkunft und ihre gute Erziehung ledig, von üblen Ratschlägen und gefährlichen Büchern verdorben und gierig danach, allein zu genießen und einen Namen zu haben, ohne gebunden zu sein, jetzt wagte sie es, den verbrecherischen Gedanken zu fassen, die Tage ihres Gatten zu verkürzen. Kaum hatte sie den hassenswerten Plan entworfen, war er ihr schon lieb geworden; sie festigte ihn unseligerweise in den gefährlichen Momenten, in denen sich das Physische an den sittlichen Irrungen entzündet; Augenblicke, in denen man sich umso weniger zurückhält, als die Maßlosigkeit der Wünsche oder die Heftigkeit der Begierde und die empfundene Wollust nur deshalb so lebhaft sind, weil man so viele Fesseln zerreißt oder weil diese so heilig sind. Hat sich der Traum verflüchtigt und ist man dann wieder zu sich gekommen, so sind die Unannehmlichkeiten nicht bedeutend, das ist das Übliche bei geistig vollzogenen Vergehen; man weiß gut, dass sie niemandem wehtun; aber leider geht man noch weiter. Wie erst wird es sein, erkühnt man sich zu sagen, wenn diese Idee wirklich zur Ausführung kommt, nachdem allein schon die Vorstellung davon so berauschend und erregend war? Man haucht der verwünschten Chimäre Leben ein, und ihr Dasein ist ein Verbrechen. Frau de Lorsange handelte glücklicherweise so diskret, dass sie von allen Verfolgungen verschont blieb und mit ihrem Gatten zugleich alle Spuren der abscheulichen Freveltat, die ihn ins Grab stürzte, begrub.

Frau de Lorsange nahm in alter Freiheit—nun jedoch als Gräfin —ihre früheren Gewohnheiten wieder auf; da sie sich jetzt aber für etwas Besseres hielt, ließ sie ein wenig mehr Anstand walten. Sie war kein käufliches Mädchen mehr, sondern eine reiche Witwe, die reizende Soupers veranstaltete; Stadt und Hof schätzten sich nur zu glücklich, bei ihr zugelassen zu werden; sie war also eine anständige Frau, die allerdings für zweihundert Louisdors zum Beischlaf bereit war und sich für fünfhundert einen ganzen Monat lang hingab.

Bis zum sechsundzwanzigsten Lebensjahr machte Frau de Lorsange noch brillante Eroberungen; sie ruinierte drei ausländische Gesandte, vier Generalsteuerpächter, zwei Bischöfe, einen Kardinal und drei Ritter des Michaelsordens; und da man sich nach dem ersten Verbrechen nur selten zurückzuhalten vermag, namentlich wenn es gut ausgegangen ist, besudelte sich die unselige Juliette mit zwei weiteren ähnlichen Untaten; das eine Mal, um einen ihrer Liebhaber zu berauben, der ihr eine beträchtliche Summe anvertraut hatte—von der die Familie dieses Mannes nichts wußte —, die Frau de Lorsange durch diese ruchlose Freveltat beiseite schaffen konnte; das andere Mal, um vorzeitig an eine Erbschaft von hunderttausend Franken heranzukommen, die ihr einer ihrer Bewunderer auf den Namen eines Dritten vermacht hatte und die dieser Dritte ihr nach dem Ableben auszahlen sollte. Diesen Greueln fügte Frau de Lorsange zwei oder drei Kindesmorde hinzu, die Angst, ihre hübsche Figur zu verunstalten, und zugleich der Wunsch, eine zweite Liebschaft geheim zu halten, veranlasste sie zu dem Entschluss, die Beweise ihrer Ausschweifungen im Schöße zu ersticken; diese Verbrechen aber, die wie die anderen unaufgedeckt blieben, hinderten die geschickte und ehrgeizige Frau nicht daran, täglich neue Narren aufzutun.

Es ist also nur zu wahr, dass die übelste Lebensweise von Wohlstand begleitet und dass auch inmitten von Zügellosigkeit und Verderbtheit dem Leben das, was die Menschen Glück nennen, beschert sein kann. Doch möge diese grausame und verhängnisvolle Wahrheit niemanden beunruhigen; und auch das nachfolgende Beispiel dafür, dass die Tugend stets vom Unglück verfolgt wird, sollte die ehrbaren Leute nicht allzu sehr peinigen. Diese Glückseligkeit im Verbrechen ist täuschend, sie ist nur scheinbar; abgesehen von der Bestrafung, die sich die Vorsehung für die durch ihre Erfolge Verführten zweifellos vorbehält, nähren diese im Inneren ihres Herzens einen Wurm, der unablässig an ihnen nagt, ihnen den Genuss an dem falschen Glanz vergällt und in ihrer Seele statt der Freuden nur die aufwühlende Erinnerung an jene Untaten zurücklässt, die sie dahin gebracht haben, wo sie stehen. Der Unglückliche hingegen, den das Schicksal verfolgt, findet Trost in seinem Herzen und die geheime Befriedigung, die ihm seine Tugenden verschaffen, entschädigt ihn alsbald für die Ungerechtigkeit der Menschen.

So also standen Frau de Lorsanges Angelegenheiten, als Herr de Corville, ein fünfzigjähriger und, wie schon erwähnt, hoch angesehener Mann, beschloss, sich dieser Frau gänzlich zu opfern und sie auf immer an sich zu binden. War es Zuneigung, Artigkeit oder Klugheit seitens Frau de Lorsange, jedenfalls gewann er sie für sich und seit vier Jahren lebte er nun schon mit ihr wie mit einer angetrauten Frau, als der Ankauf eines sehr schönen Anwesens nahe bei Montargis sie beide veranlasste, sich eine Zeitlang in dieser Gegend aufzuhalten.

Eines Abends, als sie das schöne Wetter zu einem längeren Spaziergang von ihrem Anwesen bis nach Montargis hinein verleitet hatte, waren sie zu müde, auf dieselbe Weise wieder heimzukehren, und so traten sie in eine Herberge ein, vor der die Lyoneser Postkutsche Station macht; von dort aus wollten sie einen Berittenen nach einem Wagen ausschicken. In einem tiefer gelegenen kühlen Saal des Hauses, der zum Hof hinausging, ruhten sie sich aus, da fuhr die Postkutsche gerade vor.

Naturgemäß ist es ein Vergnügen, Leute beim Aussteigen zu beobachten; man kann Wetten darüber abschließen, was für Menschen darunter sind, und wenn man auf ein Flittchen, einen Offizier, ein paar Abbés und einen Mönch getippt hat, ist die Wette praktisch schon gewonnen. Frau de Lorsange erhebt sich, Herr de Corville folgt ihr und sie beobachten belustigt das Eintreten der bunt durcheinander gewürfelten Gesellschaft. Es schien sich kein Mensch mehr in dem Wagen zu befinden, als ein Polizist ausstieg und von einem Kameraden aus dem Wagen ein etwa sechs- bis siebenundzwanzig jähriges Mädchen in Empfang nahm, das mit einem kurzen zerschlissenen Kattungewand bekleidet und in einen tief in die Stirn gezogenen schwarzen Taft- umhang gehüllt war. Sie war wie eine Verbrecherin gefesselt und so geschwächt, dass sie zweifellos zu Boden gesunken wäre, wenn ihre Wächter sie nicht gestützt hätten. Auf einen überraschten und erschreckten Aufschrei Frau de Lorsanges hin dreht sich das junge Mädchen um und lässt die schönste Gestalt der Welt und das edelste, lieblichste und interessanteste Antlitz erkennen; Reize also, die mit dem größten Recht Gefallen erregen und noch tausendmal bestechender werden durch die zarte und rührende Trauer, die die Unschuld den schönen Zügen leiht.

Herr de Corville und seine Geliebte konnten es sich nicht versagen, Anteil zu nehmen an diesem elenden Geschöpf. Sie treten näher und fragen einen der Wächter, was die Unglückliche verbrochen habe. „Man legt ihr drei Verbrechen zur Last“, erwidert der Scherge, „es handelt sich um Mord, Diebstahl und Brandstiftung; aber ich muss Ihnen gestehen, mein Kamerad und ich, wir haben noch nie einen Verbrecher mit soviel Widerwillen bewacht; sie ist das sanfteste Geschöpf und macht einen grundehrlichen Eindruck.“

„So, so!“ sagte Herr de Corville, „sollte da am Ende wieder einer der üblichen Irrtümer unserer Gerichte vorliegen? …

Und wo ist das Delikt begangen worden?“ „In einem Gasthaus, ein paar Meilen von Lyon; sie ist vom Lyoneser Gericht verurteilt worden und kommt jetzt zur Bestätigung des Urteils nach Paris, zur Hinrichtung wird sie nach Lyon zurückkehren.“

Frau de Lorsange, die herangetreten war und diesen Bericht mit angehört hatte, äußerte zu Herrn de Corville flüsternd den Wunsch, sie wolle die unglückliche Geschichte aus dem Munde dieses Mädchens hören, und Herr de Corville, der den gleichen Wunsch hatte, teilte das den Bewachern unter Nennung seines Namens mit.

Die Leute hatten nichts dagegen einzuwenden. Es wurde beschlossen, die Nacht in Montargis zuzubringen; ein bequemes Appartement wurde bestellt; Herr de Corville bürgte für die Gefangene und man löste ihre Fesseln; nachdem man ihr Gelegenheit zu einem kleinen Imbiss gegeben hatte, fragte Frau de Lorsange, die nicht umhin konnte, das lebhafteste Interesse an ihr zu nehmen, und die zu sich selbst sagte: „Dieses vielleicht unschuldige Geschöpf wird dennoch wie eine Verbrecherin behandelt, während mir das Glück hold ist… mir, die ich von Verbrechen und Greueln besudelt bin“, Frau de Lorsange also fragte das arme Mädchen, als sie sie etwas gekräftigt und durch die Wohltaten ein wenig getröstet sah, welches Geschehnis sie bei ihrem so artigen Aussehen in diese finstere Lage gebracht habe.

„Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen, gnädige Frau“, sagte die schöne Unglückliche sich an die Gräfin wendend, „das hieße, Ihnen das erstaunlichste Beispiel vom Unglück der Unschuld zu geben, das hieße die Hand des Himmels zu beschuldigen und sich über den Willen des Höchsten Wesens zu beklagen, das wäre eine Art von Auflehnung gegen seine heiligen Absichten … ich wage es nicht…“

Nun stürzten dem bemerkenswerten Mädchen Tränen aus den Augen, und nachdem sie ihnen einen Augenblick freien Lauf gelassen hatte, begann sie ihren Bericht mit folgenden Worten:

„Sie werden mir erlauben, gnädige Frau, meinen Namen und meine Herkunft zu verschweigen; meine Familie ist ehrbar, ohne berühmt zu sein, und ich war nicht für die Erniedrigung bestimmt, die Sie jetzt an mir wahrnehmen. In sehr jungen Jahren verlor ich meine Eltern; ich dachte, ich könnte mit den wenigen Mitteln, die sie mir zurückgelassen hatten, auf eine annehmbare Stellung warten, und alle unpassenden Angebote ablehnend verzehrte ich unbemerkt in Paris, meinem Geburtsort, das wenige, was ich besaß. Je ärmer ich wurde, desto mehr wurde ich verachtet; je dringender ich der Hilfe bedurfte, desto schwächer wurde meine Hoffnung, welche zu empfangen; aber von all den Herzlosigkeiten, die ich zu Beginn meiner unglücklichen Laufbahn erleben musste, von all den widerlichen Vorschlägen, die mir gemacht wurden, will ich nur erzählen, was mir bei Herrn Dubourg, einem der reichsten Kaufleute der Hauptstadt, zustieß. Meine Wirtin hatte mich zu ihm geschickt und mir versichert, dieser Mann könne mit seinem Ruf und Reichtum die Härte meines Schicksals am sichersten lindern. Nachdem ich sehr lange im Vorzimmer dieses Menschen gewartet hatte, ließ man mich eintreten; Herr Dubourg, achtundvierzig Jahre alt, in einen flatternden Morgenmantel gehüllt, der kaum seine Liederlichkeit verbarg, kam gerade aus dem Bett; man war dabei, ihn zu frisieren, doch er schickte seine Diener fort und fragte mich, was ich wolle.

Ach, Herr! erwiderte ich ganz verwirrt, ich bin eine arme Waise, kaum vierzehn Jahre alt und kenne schon das Unglück in all seinen Schattierungen; ich flehe um Ihr Erbarmen; ich bitte Sie inständig, haben Sie Mitleid mit mir! Und nun schilderte ich ihm all meine Nöte, wie schwierig es sei, eine Stellung zu finden, vielleicht auch sogar, dass es mich schmerzte, auf dergleichen angewiesen zu sein, da ich ja ursprünglich nicht in diesen Stand hineingeboren war, und dass ich zum Unglück mittlerweile das wenige, das mir noch geblieben, aufgezehrt hatte … Von der Unmöglichkeit eine Arbeit zu finden berichtete ich ihm, und dass ich hoffte, er werde mir das Nötigste zum Leben verschaffen; alles das also, was einem die Beredsamkeit im Unglück eingibt, die bei einer empfindsamen Seele bekanntlich sehr groß und dem Reichtum so widerwärtig ist … Nachdem Herr Dubourg mich sehr zerstreut angehört hatte, fragte er mich, ob ich immer tugendsam gewesen sei?

Ich wäre nicht so arm und so bedrängt, Herr, erwiderte ich, wenn ich darauf hätte verzichten wollen.

Aber mit welchem Recht fordern Sie eigentlich, dass die reichen Leute Sie unterstützen, entgegnete Herr Dubourg mir darauf, wenn Sie ihnen in keiner Weise nützlich sind?

Von welchen Dienstleistungen sprechen Sie, Herr? antwortete ich. Nichts täte ich lieber, als Aufgaben zu übernehmen, die Anstand und Alter mir zu erfüllen gestatten.

Die Dienstleistungen eines Kindes wie Sie sind hier im Hause von wenig Nutzen, erwiderte Dubourg. Sie haben weder das Alter noch das rechte Wesen für die Art Anstellung, die Sie erstreben. Es wäre besser, Sie gäben sich Mühe, den Männern zu gefallen, und sorgten dafür, jemanden zu finden, der bereit ist, sich Ihrer anzunehmen. Die Tugend, von der Sie soviel Aufhebens machen, ist wertlos in unserer Welt; Sie mögen noch so oft zu Füßen ihrer Altäre knien, von ihrem nichtigen Weihrauch werden Sie sich niemals ernähren können. Was den Männern am wenigsten schmeichelt, was sie am wenigsten würdigen, sondern vielmehr im höchsten Grad verachten, das ist die Keuschheit Ihres Geschlechts. Hienieden, mein Kind, schätzt man nur das, was einträglich ist oder was ergötzt. Doch von welchem Vorteil könnte uns die Tugendhaftigkeit der Frauen sein? Ihre Zügellosigkeiten sind es, die uns dienen und belustigen; ihre Keuschheit aber interessiert uns nicht im Mindesten. Wenn Leute unseres Schlages etwas spenden, so nur, um zu empfangen; wie aber kann sich schon ein kleines Mädchen wie Sie erkenntlich zeigen für unsere Großzügigkeit, wenn nicht durch die Hingabe alles dessen, was man von ihrem Körper begehrt? O Herr! erwiderte ich, das Herz von Seufzern schwer, es ist also keine Redlichkeit noch Mildtätigkeit mehr bei den Menschen zu erwarten?

Höchst wenig, entgegnete Dubourg; es wird soviel davon geredet, wie soll es da so etwas noch geben? Man ist von dem Wahnsinn abgekommen, die Leute ohne Gegenleistungen zu verpflichten; man hat erkannt, dass die Freuden der Barmherzigkeit nur dem Selbstbewusstsein schmeicheln, und da nichts schneller schwindet als das, hat man konkretere Empfindungen gewollt; man ist zu der Erkenntnis gekommen, dass es bei einem Kind Ihresgleichen, zum Beispiel, viel sinnvoller ist, alle Freuden, welche die Ausschweifung bieten kann, als Frucht einer Hilfeleistung zu ernten, als statt dessen das sehr kalte und nichts sagende Glück zu empfinden, Ihresgleichen unentgeltlich unterstützt zu haben. Den Ruf eines liberalen, spendefreudigen und freigebigen Mannes zu genießen, wiegt selbst im Augenblick höchster Genugtuung nicht die bescheidenste Sinnenfreude auf.

O Herr! Bei solchen Prinzipien muss der vom Unglück Verfolgte unweigerlich zugrunde gehen!

Was tut’s; Frankreich hat ohnehin schon mehr Untertanen als nötig. Ist es, solange nur die Maschine ihre Schwungkraft bewahrt, für den Staat von irgendwelcher Bedeutung, ob ein Mann mehr oder weniger sie in Gang hält?

Aber glauben Sie, dass die Kinder ihre Väter achten, wenn sie von ihnen so schlecht behandelt werden?

Was kümmert einen Vater die Liebe lästiger Kinder?

Es wäre also besser, man hätte uns gleich in der Wiege erstickt?

Freilich. So ist es auch in vielen Ländern üblich. So war es Brauch bei den Griechen, und so ist es heute noch bei den Chinesen: Dort werden die dem Elend verschriebenen Kinder ausgesetzt oder getötet. Was hat es für einen Zweck, Geschöpfe am Leben zu erhalten, die nicht mehr auf die Unterstützung ihrer Angehörigen rechnen können, entweder weil sie ihrer beraubt sind oder weil sie von ihren Eltern nicht anerkannt werden, Geschöpfe also, die fortan nur dem Staat zusätzlich zu dem ohnehin schon im Überfluss vorhandenen Menschenmaterial zur Last fallen? Die Bastarde, die Waisen und die verkrüppelten Kinder sollten bei der Geburt getötet werden; die ersten und die zweiten, weil niemand mehr da ist, der sich ihrer annehmen wollte oder könnte—sie bedecken die Gesellschaft mit einem Abschaum, der ihr eines Tages nur zum Verhängnis werden kann—und die letzten, weil sie ihr in keiner Weise von Nutzen sein werden. Die eine wie die andere Gruppe ist für die Gesellschaft so etwas wie eine Geschwulst, die sich vom Saft der gesunden Glieder nährend, diese schädigt und schwächt, oder, wenn Ihnen das lieber ist, so etwas wie eine Schmarotzerpflanze, die sich mit einer guten Pflanze verbindet und sie entkräftet und zerstört, indem sie deren nährende Säfte absaugt. Was für ein schreiender Missbrauch, Almosen zu spenden, die dazu bestimmt sind, solchen Abschaum zu nähren, gar die reich ausgestatteten Häuser zu unterhalten, die man ihnen aus Übereifer errichtet hat, als ob die Gattung Mensch so selten, ja so kostbar wäre, dass man selbst ihren verächtlichsten Teil erhalten müsste. Aber lassen wir die Politik beiseite, von der du nichts verstehst, mein Kind; warum sich über sein Schicksal beklagen, wenn es nur an einem selber liegt, dem Übel abzuhelfen?

Aber um welchen Preis, gerechter Himmel !

Um den Preis eines Hirngespinstes, um den einer Affäre, die nur soviel Wert hat, wie dein Stolz ihr beimisst. Jedenfalls ist das alles, was ich für Sie tun kann, fuhr der Unmensch fort, erhob sich und öffnete die Tür. Fügen Sie sich oder befreien Sie mich von Ihrer Gegenwart; Bettler sind mir zuwider…

Meine Tränen flössen, es war mir unmöglich, sie zurückzuhalten; Sie werden es nicht glauben, gnädige Frau, sie verärgerten den Mann statt ihn zu erweichen. Er machte die Tür wieder zu, packte mich am Kleiderkragen und sagte brutal, er werde mich mit Gewalt zu dem zwingen, was ich ihm nicht freiwillig zugestand. In diesem grausamen Augenblick verlieh mir mein Unglück Mut; ich entwand mich seinen Händen und stürzte zur Tür:

Widerwärtiger Mensch, rief ich ihm flüchtend zu, möge der Himmel, den du so schlimm beleidigt hast, dich eines Tages so grausam bestrafen, wie du es ob deiner Hartherzigkeit verdienst. Du bist weder der Reichtümer würdig, von denen du einen so niederträchtigen Gebrauch machst, noch verdienst du es, die von deinen Rohheiten verpestete Luft dieser Welt zu atmen. Eilends erzählte ich meiner Wirtin, welcher Empfang mir bei dem Menschen zuteil geworden war, zu dem sie mich geschickt hatte; aber wie groß war mein Erstaunen, als diese elende Person mich mit Vorwürfen überschüttete, statt meinen Schmerz zu teilen.

Erbärmliches Geschöpf, sagte sie mir zornig, bildest du dir etwa ein, die Männer wären so tölpelhaft, kleinen Mädchen wie dir Almosen zu spenden ohne Zinsen für das Geld zu fordern? Herr Dubourg hat sich sehr großzügig verhalten; ich an seiner Stelle hätte dich nicht herausgelassen, ohne mich befriedigt zu haben. Da du aber die Hilfe ausschlägst, die ich dir biete, so schau wie du zurechtkommst; du hast Schulden bei mir: Morgen ist das Geld da oder du kommst ins Gefängnis.

Liebe Frau, haben Sie Mitleid…

Ja, ja, Mitleid … Mitleid ist zum Verhungern!

Aber was soll ich denn tun?

Sie müssen noch einmal zu Dubourg gehen; Sie müssen ihn befriedigen und mir das Geld mitbringen; ich werde ihn aufsuchen und darauf vorbereiten; ich werde Ihre Dummheit wiedergutmachen, so gut ich kann; ich werde ihm sagen, dass Sie sich entschuldigen, aber vergessen Sie nicht, sich besser aufzuführen.

Beschämt, verzweifelt und ratlos, was ich tun sollte, nachdem mich alle Welt so hartherzig abwies, auch nahezu mittellos wie ich war, sagte ich Frau Desroches (so hieß meine Wirtin), ich sei zu allem entschlossen, um sie zufrieden zu stellen. Sie begab sich zu dem Finanzier und erzählte mir nach ihrer Rückkehr, sie habe ihn sehr zornig angetroffen; und nicht ohne Mühe sei es ihr gelungen, ihn umzustimmen; mit vielem Bitten habe sie ihn dennoch überreden können, mich am nächsten Morgen zu empfangen; aber ich sollte mich ja in Acht nehmen, denn wenn es mir einfiele, ihm wieder nicht zu gehorchen, so würde er eigenhändig dafür sorgen, dass ich mein Leben lang eingesperrt würde.

Ganz aufgelöst kam ich bei ihm an. Dubourg war allein, in einem noch liederlicheren Zustand als am Vortag. Brutalität, Libertinage, alle Zeichen der Ausschweifung sprachen aus seinen tückischen Blicken. Bedanken Sie sich bei der Desroches, sagte er grimmig, dass ich Ihnen, ihr zu Liebe, einen Augenblick Güte walten lasse; Sie sollten empfinden, wie sehr Sie nach Ihrem gestrigen Verhalten dessen unwürdig sind. Entkleiden Sie sich, und wenn Sie meinen Wünschen nur den leisesten Widerstand entgegensetzen, so stehen schon zwei Männer bereit, um Sie an einen Ort zu schaffen, den Sie ihr Lebtag nicht mehr verlassen werden.

O Herr, sagte ich unter Tränen und warf mich dem Barbaren zu Füßen, lassen Sie sich erweichen, ich flehe Sie an; seien Sie so großzügig und helfen Sie mir, ohne das von mir zu verlangen; es kostet mich soviel, dass ich Ihnen lieber mein Leben lasse, als mich dem zu beugen … Ja, lieber möchte ich tausendmal sterben, als die Prinzipien zu verletzen, die ich in meiner Kindheit empfangen habe … Herr, Herr, zwingen Sie mich nicht, ich bitte Sie; vermögen Sie denn Glück zu empfinden im Schoße des Abscheus und der Tränen? Sie versprechen sich Lust, wo Sie nur auf Widerwillen stoßen werden? Kaum haben Sie Ihr Verbrechen vollbracht, werden Sie angesichts meiner Verzweiflung die Tat bereuen…

Aber die Schädlichkeiten Dubourgs hinderten mich fortzufahren; hätte ich hoffen können, einen Menschen zu erweichen, der schon in meinem Schmerz einen Anreiz mehr für seine grässlichen Leidenschaften fand? Glauben Sie mir gnädige Frau, der Nichtswürdige entflammte sich an den schrillen Tönen meiner Klagen, er genoss sie in unmenschlicher Weise und brachte sich selbst in Form für seine kriminellen Absichten! Er erhob sich und zeigte sich mir schließlich in einem Zustand, in dem die Vernunft selten siegt und in dem der Widerstand des Objekts, das einen so kopflos macht, den Rausch nur noch verstärkt; brutal packt er mich, reißt die Schleier ungestüm herunter, die noch verhüllen, worauf er so lüstern ist; abwechselnd beleidigt er mich … schmeichelt er mir … misshandelt und liebkost er mich … Oh! was für ein Gemälde, großer Gott! Was für eine unerhörte Mischung von Härte … und Wollust! Es schien, als wollte das Höchste Wesen mir bei diesem ersten Vorfall in meinem Leben einen ewigen Abscheu einverleiben vor einer bestimmten Art von Verbrechen, aus dem die vielen Leiden entstehen sollten, die mich heimsuchten! Aber hatte ich Grund, mich zu beklagen? Nein, zweifellos nicht; seinen Exzessen verdankte ich mein Heil; weniger Ausschweifung und ich wäre ein geschändetes Mädchen gewesen; Dubourgs Feuer erlosch in der Glut seiner Unternehmungen, der Himmel rächte mich für die Beleidigungen, denen der Unmensch sich hingab und das Schwinden seiner Kräfte vor der Opferung bewahrte mich davor, sein Opfer zu sein.

Dubourg wurde darum nur unverschämter; er gab mir die Schuld an seiner Schwäche … wollte sie mit erneuten Kränkungen und noch hässlicheren Beschimpfungen überwinden; es gab nichts, was er mir nicht sagte, nichts, was er unversucht ließ, nichts, zu was ihn seine niederträchtige Einbildungskraft, sein unbarmherziger Charakter und seine sittliche Verderbtheit nicht veranlasst hätte. Mein Ungeschick machte ihn ungeduldig; ich war weit davon entfernt, handeln zu wollen, es war schon viel, dass ich mich hingab: Ich habe deswegen noch immer Gewissensbisse … Nichts indessen glückte, meine Unterwerfung hatte ihn abgekühlt; vergeblich wechselte er nacheinander erst von Zärtlichkeit zu Gewalt … dann von Knechtschaft zu Tyrannei … von scheinbarer Anständigkeit zu wüstesten Exzessen, wir waren beide gänzlich erschöpft, ohne dass er glücklicherweise wiedererlangen konnte, was er brauchte, um gefährlichere Angriffe auf mich zu unternehmen. Er gab es auf und nahm mir das Versprechen ab, ihn am nächsten Tag wieder zu besuchen; um mich aber noch sicherer dazu zu bestimmen, wollte er mir absolut nur die Summe geben, die ich der Desroches schuldete. Ich kehrte nun wieder zu dieser Frau zurück, ganz gedemütigt von dem Abenteuer und fest entschlossen, mich auf keinen Fall, komme was wolle, ein drittes Mal darauf einzulassen. Das sagte ich ihr sogleich, als ich ihr bezahlte und dabei Verwünschungen gegen den Schurken ausstieß, der mein Elend so grausam zu missbrauchen vermochte. Meine Verwünschungen aber zogen mitnichten den Zorn Gottes auf ihn, sondern brachten ihm nur Glück; eine Woche später erfuhr ich, dass dieser Erzwüstling von der Regierung einen Generalauftrag erhalten hatte, der seine Einkünfte um über vierhunderttausend Pfund Rente vermehrte; ich war ganz in Grübeleien versunken, die angesichts solcher Inkonsequenzen des Schicksals unausweichlich aufkommen, als für einen Augenblick ein Hoffnungsstrahl vor meinen Augen aufzublitzen schien.

Die Desroches kam eines Tages mit der Nachricht zu mir, sie habe endlich ein Haus für mich gefunden, in dem man mich mit Vergnügen aufnehmen werde, vorausgesetzt, dass ich mich anständig benähme.

O Himmel, gnädige Frau! sagte ich und warf mich vor Freude in ihre Arme, gerade diese Bedingung habe ich mir doch gestellt, ermesst nun selbst, ob ich sie mit Vergnügen annehme.

Der Mann, bei dem ich arbeiten sollte, war ein berühmter Pariser Wucherer, der nicht nur durch Pfandleihen reich geworden war, sondern außerdem dadurch, dass er die Leute ungestraft begaunerte, wo immer er nichts zu riskieren glaubte. Er wohnte in der Rue Quincampoix auf der zweiten Etage, gemeinsam mit einem fünfzigjährigen Wesen, das er seine Frau nannte und die mindestens ebenso boshaft war wie er.

Therese, sagte dieser Geizhals zu mir (das war der Deckname, den ich mir zugelegt hatte), Therese, Ehrlichkeit ist die wichtigste Tugend in meinem Haus; sollten Sie jemals den zehnten Teil eines Pfennigs entwenden, so lasse ich Sie hängen, hören Sie, mein Kind. Die geringen Annehmlichkeiten, die wir, meine Frau und ich, genießen, sind die Frucht unseres gewaltigen Fleißes und unserer großen Mäßigkeit… Essen Sie viel, meine Kleine?