Von Brandon Sanderson sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:
Sturmklänge
Die Seele des Königs
Der Rithmatist
DIE RÄCHER:
Steelheart
Firefight
Calamity
DIE STURMLICHT-CHRONIKEN:
Der Weg der Könige
Der Pfad der Winde
Die Worte des Lichts
Die Stürme des Zorns
Die Sturmlicht-Chroniken
ERSTER ROMAN
Aus dem Amerikanischen von
Michael Siefener
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Für Emily,
die so geduldig, so freundlich
und auch so wunderbar ist,
dass Worte es eigentlich gar nicht
beschreiben können.
Ich will es trotzdem versuchen.
INHALT
Präludium
Prolog: Töten
ERSTER TEIL: Über dem Schweigen
Zwischenspiele
ZWEITER TEIL: Die leuchtenden Stürme
Zwischenspiele
DRITTER TEIL: Sterben
Schlussbemerkung
Ars Arcanum
ILLUSTRATIONEN
Karte von Roschar
Karte von Alethkar und den Unbeanspruchten Bergen
Schallans Skizzenbuch: Himmelsaale
Karte des Holzplatzes
Schallans Skizzenbuch: Chulle
Hauptkarte der Zerbrochenen Ebene
Der Alethi-Kodex des Krieges
Karte der Kriegslager
Historisches Bild eines Großschalentiers
Karte von Kharbranth
Karte der Vier Städte, aus Kabsals Beweisführung
PRÄLUDIUM
Kalak umrundete einen Felsvorsprung und kam taumelnd vor dem sterbenden Körper eines Donnerbrockens zum Stillstand. Die gewaltige steinerne Bestie lag auf der Seite, die rippenähnlichen Ausbuchtungen in der Brust waren gebrochen und gesplittert. Das Ungeheuer erinnerte entfernt an ein Skelett und hatte unnatürlich lange Glieder, die aus den granitenen Schultern sprossen. Die Augen leuchteten als tiefrote Flecken aus dem speerspitzenartigen Gesicht, sodass es aussah, als brenne ein Feuer tief im Innern des Steins. Doch allmählich verblassten sie.
Auch noch nach all den Jahrhunderten erzitterte Kalak unwillkürlich, wenn er einen Donnerbrocken sah. Die Klaue des Untiers war genauso lang wie Kalak selbst. Von solchen Klauen war er früher schon getötet worden, und es war keinesfalls angenehm gewesen.
Selbstverständlich war der Tod nur selten angenehm.
Er schritt um die Kreatur herum und nahm vorsichtig seinen Weg über das Schlachtfeld. Die Ebene war von missgestalteten Felsen übersät, natürliche Steinsäulen ragten überall um ihn herum auf, und unzählige Leichen lagen auf dem Boden. Nur wenige Pflanzen gediehen hier.
Die Steinklippen und Hügel trugen zahlreiche Wunden. Einige waren zerschmettert und wiesen tiefe Löcher auf; dort hatten die Wogenbinder gekämpft. Seltener kam er an merkwürdig geformten schartigen Höhlungen vorbei. Dort hatten sich Donnerbrocken aus dem Stein befreit, um sich in den Kampf zu stürzen.
Viele der Leichen um ihn herum waren menschlich, einige hingegen nicht. Blut mischte sich. Rot. Orange. Violett. Obwohl sich keiner der Körper regte, hing ein undeutlicher Nebel aus Lauten in der Luft: Schmerzesstöhnen, Kummerschreie. Es klang nicht nach einem Sieg. Rauch wogte von gelegentlichen Vegetationsflecken oder von Haufen brennender Leichname empor. Sogar einige Felsen schwelten. Die Staubbringer hatten ihre Arbeit gut gemacht.
Aber ich habe überlebt, dachte Kalak und hielt sich die Hand gegen die Brust, als er auf den Treffpunkt zulief. Diesmal habe ich wirklich überlebt.
Das war gefährlich. Wenn er nämlich starb, würde er zurückgeschickt werden; es blieb ihm keine Wahl. Doch auch wenn er die Wüstwerdung überlebte, musste er zurückkehren. Zurück an den Ort, den er so fürchtete. Zurück an den Ort des Schmerzes und des Feuers. Was wäre, wenn er einfach beschloss, nicht zu gehen?
Gefährliche Gedanken, vielleicht sogar verräterische Gedanken. Er hastete voran.
Der Ort des Treffens lag im Schatten einer großen Felsformation: ein in den Himmel ragender Steinhelm. Wie immer hatten die Zehn diesen Ort schon vor der Schlacht bestimmt. Die Überlebenden würden sich hierher begeben. Seltsamerweise wartete nur einer der anderen auf ihn. Es war Jezrien. Waren die übrigen acht denn allesamt gestorben? Das war schon möglich. Die Schlacht war diesmal so wild gewesen – eine der schlimmsten, die er je erlebt hatte. Der Feind wurde immer hartnäckiger.
Aber nein. Kalak runzelte die Stirn, als er an den Fuß des steinernen Helms trat. Sieben großartige Schwerter standen hier voller Stolz, waren mit der Spitze in den Boden gerammt worden. Jedes stellte ein Meisterwerk aus fließenden Formen dar, mit hineingetriebenen Glyphen und Mustern. Er erkannte jedes einzelne. Wenn ihre Herren gestorben wären, dann wären die Schwerter allerdings verschwunden.
Diese Klingen waren Waffen, deren Macht sogar die der Splitterschwerter noch übertraf. Sie waren einmalig. Kostbar. Jezrien stand außerhalb des Schwertkreises und blickte nach Osten.
»Jezrien?«
Die Gestalt in Weiß und Blau warf ihm einen Blick zu. Selbst nach all den Jahrhunderten wirkte Jezrien noch immer wie ein junger Mann, der kaum sein dreißigstes Jahr erreicht hatte. Sein kurzer schwarzer Bart war sauber geschnitten, aber die einst so kostbare Kleidung war nun angesengt und blutbespritzt. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wandte sich Kalak zu.
»Was ist los, Jezrien?«, fragte Kalak. »Wo sind die anderen?«
»Fort.« Jezriens Stimme klang ruhig, tief und majestätisch. Obwohl er seit Jahrhunderten keine Krone mehr getragen hatte, war sein königliches Betragen doch geblieben. Er schien immer ganz genau zu wissen, was zu tun war. »Man könnte es ein Wunder nennen. Diesmal ist nur einer von uns gestorben.«
»Talenel«, sagte Kalak. Sein Schwert fehlte.
»Ja. Er ist gefallen, während er die Passage beim nördlichen Wasserweg verteidigte.«
Kalak nickte. Taln hatte die Angewohnheit, sich offensichtlich hoffnungslose Schlachten auszusuchen und diese dann doch zu gewinnen. Außerdem pflegte er in diesen Schlachten zu sterben. Er war jetzt an jenem Ort, zu dem sie zwischen den Wüstwerdungen gingen. Es war der Ort der Nachtmahre.
Kalak stellte fest, dass er zitterte. Seit wann war er bloß so schwach? »Jezrien, ich kann diesmal nicht zurückkehren.« Kalak flüsterte die Worte, trat dabei an den anderen Mann heran und packte ihn am Arm. »Ich kann nicht.«
Kalak spürte, wie bei diesem Eingeständnis etwas in ihm zerbrach. Wie lange dauerte es schon? Es waren doch Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende der Tortur. Es fiel so schwer, den Überblick nicht zu verlieren. Diese Haken, die sich jeden Tag aufs Neue ins Fleisch bohrten. Diese Feuer, die ihm das Fleisch von den Armen sengten, das Fett darunter verbrannten und sich bis in den Knochen fraßen. Er konnte es riechen. Allmächtiger, er konnte es tatsächlich riechen!
»Lass dein Schwert hier«, sagte Jezrien.
»Wie bitte?«
Jezrien deutete mit dem Kopf auf den Schwertkreis. »Ich wurde auserwählt, auf dich zu warten. Wir waren uns nicht sicher, ob du überlebt hast. Und dann … wurde eine Entscheidung gefällt. Es ist an der Zeit, dass der Eidpakt beendet wird.«
Kalak verspürte einen scharfen Stich des Grauens. »Was soll das nützen?«
»Ischar glaubt, dass es genügt, wenn nur noch einer von uns an den Eidpakt gebunden ist. Vielleicht gelingt es uns ja, den Kreislauf der Wüstwerdungen zu durchbrechen.«
Kalak sah in die Augen des unsterblichen Königs. Schwarzer Rauch erhob sich aus einem kleinen Fleck links von ihnen. Hinter ihnen drang das Ächzen der Sterbenden herbei. In Jezriens Augen entdeckte Kalak Qual und Kummer. Vielleicht sogar Feigheit. Dieser Mann hing geradezu am seidenen Faden von einer Klippe.
Allmächtiger im Himmel, dachte Kalak. Du bist doch auch am Ende, nicht wahr? Das waren sie alle.
Kalak drehte sich um und ging zu der Seite, wo ein niedriger Felsvorsprung einen Teil des Schlachtfeldes überblicken ließ.
Es waren so viele Leichen, und zwischen ihnen taumelten die Lebenden umher. Viele Männer trugen primitive Umhänge und hielten Speere mit Bronzespitzen in den Händen. Im Gegensatz zu ihnen steckten andere in schimmernden Rüstungen. Eine kleine Gruppe ging vorbei: Vier Männer in zerrissenen, gegerbten Tierhäuten und minderwertigem Leder gesellten sich zu einer mächtigen Gestalt in einer wunderschönen und erstaunlich kunstvollen Silberrüstung. Was für ein Gegensatz!
Jezrien trat neben ihn.
»Sie betrachten uns als Gottheiten«, flüsterte Kalak. »Sie verlassen sich auf uns, Jezrien. Wir sind alles, was sie haben.«
»Sie haben die Strahlenden. Das muss doch genügen.«
Kalak schüttelte den Kopf. »Dem wird er nicht unterworfen bleiben. Der Feind. Er wird einen Weg finden. Das weißt du auch.«
»Vielleicht.« Der König der Herolde gab keine weitere Erklärung von sich.
»Und Taln?«, fragte Kalak. Das brennende Fleisch. Die Feuer. Die Schmerzen, wieder und wieder und wieder …
»Es ist besser, dass nur ein Mann leidet – statt zehn«, flüsterte Jezrien. Er wirkte so kalt. Wie ein Schatten, geboren aus Hitze und Licht, der auf einen ehrenwerten und aufrichtigen Mann fiel und dieses schwarze Trugbild hinterließ. Jezrien ging zum Schwerterkreis zurück. Seine eigene Klinge bildete sich zwischen seinen Händen, erschien aus dem Nebel und war noch feucht, als sie sich gefestigt hatte. »Es ist entschieden, Kalak. Wir müssen unseren Weg gehen und werden nicht nach den anderen suchen. Unsere Klingen müssen hier zurückbleiben. Der Eidpakt endet jetzt.« Er hob sein Schwert und rammte es neben den anderen sieben in den Stein.
Jezrien zögerte, blickte das Schwert an, neigte den Kopf und wandte sich ab, als wäre er beschämt. »Wir haben diese Bürde freiwillig auf uns genommen. Wir können sie auch wieder abwerfen, wenn wir dies wollen.«
»Was sagen wir aber den Menschen, Jezrien?«, fragte Kalak. »Was werden sie über diesen Tag verkünden?«
»Das ist einfach«, erwiderte Jezrien, während er fortging. »Wir sagen ihnen, dass sie endlich gewonnen haben. Das ist nur eine kleine Lüge. Und wer weiß, vielleicht stellt sie sich am Ende als die Wahrheit heraus.«
Kalak beobachtete, wie Jezrien durch die versengte Landschaft schritt. Endlich rief er seine eigene Klinge herbei und stieß sie neben den anderen acht in den Stein. Er drehte sich um und schlug eine Richtung ein, die derjenigen Jezriens entgegengesetzt war.
Unwillkürlich musste er einen Blick zurück auf den Kreis der Schwerter werfen – und dann auf die einzige offene Stelle darin. Auf jene Stelle, an der sich das zehnte Schwert hätte befinden sollen.
Einer von ihnen war verloren. Einen hatten sie aufgegeben.
Verzeih uns, dachte Kalak und ging weiter.
4500 JAHRE SPÄTER
»Die Liebe der Menschen ist ein kaltes Ding, ein Bergbach, nur drei Schritt vom Eise entfernt. Wir sind die seinen. O Sturmvater … wir sind die seinen. Es dauert nur tausend Tage, und der Ewigsturm kommt.«
Gesammelt am ersten Tag der Woche Palah im Monat Schasch im Jahr 1171, einunddreißig Sekunden vor dem Tod. Person war eine dunkeläugige schwangere Frau mittleren Alters. Das Kind hat nicht überlebt.
Szeth-Sohn-Sohn-Vallano, der Unwahre von Schinovar, trug an dem Tag, an dem er einen König töten würde, Weiß. Die weiße Kleidung war eine Parschendi-Tradition und ihm daher fremd. Aber er tat das, was seine Meister von ihm verlangten und fragte nicht nach dem Grund dafür.
Er saß in einem großen Steinraum, der von gewaltigen Feuergruben gewärmt wurde, von denen ein grelles Licht auf die Feiernden fiel und Schweißperlen auf ihrer Haut hervorrief, während sie tanzten, tranken, johlten, sangen und klatschten. Einige fielen mit rotem Gesicht zu Boden. Das Gelage hatte sie überfordert, ihre Mägen hatten sich als ebenso schwach wie minderwertige Weinschläuche erwiesen. Sie wirkten, als wären sie tot, zumindest bis ihre Freunde sie aus der Festhalle zu den Betten schleppten, die auf sie warteten.
Szeth bewegte sich nicht im Rhythmus der Trommeln, trank nicht von dem saphirnen Wein und tanzte auch nicht. Er saß auf einer Bank im hinteren Teil des Raumes, ein stiller Diener in weißer Robe. Nur wenige von jenen, die die Vertragsunterzeichnung feierten, bemerkten ihn überhaupt. Er war nichts als ein Diener aus Schien und wurde leicht übersehen. Die meisten hier im Osten hielten Szeths Art für gelehrig und harmlos. Grundsätzlich hatten sie damit auch Recht.
Die Trommler spielten einen neuen Rhythmus. Die Schläge durchfuhren Szeth wie ein Quartett pochender Herzen, die Wogen aus unsichtbarem Blut durch den Raum pumpten. Szeths Meister – die von den Angehörigen zivilisierterer Königreiche als Wilde abgetan wurden – saßen an ihren eigenen Tischen. Es waren Männer mit schwarzer Haut, die von roten Striemen geädert war. Sie hießen Parschendi – Vettern der gelehrigeren Dienervölker, die aber fast überall auf der Welt als Parscher bekannt waren. Bei ihnen handelte es sich um eine Kuriosität. Sie nannten sich nicht selbst Parschendi: Das war der Alethi-Name für sie. Grob übersetzt bedeutete er Parscher, die denken können. Niemand schien dies als Beleidigung aufzufassen.
Die Parschendi hatten die Musikanten mitgebracht. Zuerst waren die Alethi-Hellaugen noch zögerlich gewesen. Für sie waren Trommeln die primitiven Instrumente des einfachen dunkeläugigen Volkes. Doch der Wein war der große Ersticker sowohl aller Tradition als auch allen Anstands, und nun tanzten die Alethi mit ungehemmter Hingabe.
Szeth stand auf und bahnte sich einen Weg durch den Raum. Das Gelage dauerte schon sehr lange; sogar der König hatte sich bereits vor Stunden zurückgezogen. Aber viele feierten noch immer. Auf seinem Weg war Szeth gezwungen, um Dalinar Kholin – den Bruder des Königs – herumzugehen, der betrunken an einem kleinen Tisch zusammengebrochen war. Der alternde, aber noch immer kräftige Mann winkte all jene weg, die ihn ermuntern wollten, zu Bett zu gehen. Wo aber war denn Jasnah, die Tochter des Königs? Elhokar, der Sohn und Erbe des Königs, saß am Hochtisch und leitete das Fest in der Abwesenheit seines Vaters. Er befand sich im Gespräch mit zwei Männern, einem dunkelhäutigen Azisch-Mann, der einen merkwürdig hellen Hautfleck auf der Wange hatte, und einem Mann, der wie ein Alethi aussah und andauernd einen Blick über die Schulter warf.
Die Zechgesellen des Erben waren unbedeutend. Von ihm selbst hielt sich Szeth weit entfernt, schritt an den Seiten des Raums entlang und kam an den Trommlern vorbei. Musiksprengsel zischten durch die Luft um sie herum; die winzigen Geister nahmen die Gestalt wirbelnder, durchscheinender Bänder an. Als Szeth die Trommler passierte, bemerkten sie ihn. Gewiss würden sie sich bald zurückziehen, zusammen mit den übrigen Parschendi.
Sie schienen nicht beleidigt zu sein, machten auch keinen wütenden Eindruck. Aber sie würden schon bald den Vertrag brechen, den sie erst vor wenigen Stunden abgeschlossen hatten. Das ergab zwar keinen Sinn, doch Szeth stellte keine Fragen.
Am Rande des Raumes schritt er an Reihen von stetig brennenden azurfarbenen Lichtern vorbei, die sich dort ausstülpten, wo Wand und Boden zusammentrafen. Sie enthielten Saphire, die mit Sturmlicht aufgeladen waren. Weltlich, gotteslästerlich. Wie konnten die Menschen dieser Länder etwas so Heiliges zur bloßen Beleuchtung benutzen? Schlimmer noch, es hieß, dass die Alethi-Gelehrten kurz davor standen, neue Splitterklingen zu erschaffen. Szeth hoffte, dass dies nur Prahlerei war. Denn wenn das geschah, dann würde sich die ganze Welt verändern. Vermutlich würde es damit enden, dass die Menschen in allen Ländern – vom fernen Thaylenah bis zum hoch gelegenen Jah Keved – mit ihren Kindern Alethisch sprachen.
Diese Alethi waren ein großes Volk. Sogar wenn sie betrunken waren, hatten sie noch etwas Edles an sich. Die Männer waren groß, wohlgestaltet und trugen dunkle Seidenmäntel, die in Brusthöhe an den Seiten geknöpft und reich mit Silber und Gold bestickt waren. Jeder Einzelne sah wie ein General im Felde aus.
Die Frauen wirkten noch großartiger. Sie trugen zwar üppige, aber eng anliegende Seidenkleider, deren helle Farben einen starken Kontrast zu den dunklen Tönen darstellten, die von den Männern bevorzugt wurden. Der linke Ärmel eines jeden Kleides war länger als der rechte und bedeckte die Hand. Die Alethi besaßen einen seltsamen Sinn für Anstand.
Die Frauen trugen ihre tiefschwarzen Haare hochgesteckt; sie waren entweder kunstvoll geflochten oder glatt getürmt. Oft waren sie mit Goldbändern oder anderem Schmuck durchwoben oder mit Edelsteinen geschmückt, die vor Sturmlicht glühten. Wundervoll. Zwar gotteslästerlich, aber wundervoll.
Szeth ließ den Festsaal hinter sich. Kurz darauf kam er an der Tür zum Bettlerfest vorbei. Es war eine Alethi-Tradition, einigen der ärmsten Männer und Frauen ein Fest auszurichten, das dem des Königs und seiner Gäste entsprach. Ein Mann mit einem langen grauschwarzen Bart brach im Eingang zusammen und grinste närrisch – ob vor Trunkenheit oder vor Geistesschwäche, das konnte Szeth nicht sagen.
»Hast du mich gesehn?«, fragte der Mann mit schleppender Zunge. Er lachte, redete Unsinn und griff nach einem Weinschlauch. Offensichtlich war er bloß betrunken. Szeth drückte sich an ihm vorbei und ging an einer Reihe von Statuen entlang, die die zehn Herolde aus der alten Vorin-Theologie darstellten: Jezerezeh, Ischi, Kelek und Talenelat. Er zählte sie und stellte fest, dass es nur neun waren. Offenbar fehlte eine. Warum war Schalaschs Statue entfernt worden? Es hieß, dass König Gavilar sehr große Stücke auf seine Vorin-Frömmigkeit hielt. Nach der Meinung mancher war er sogar zu fromm.
Hier bog der Gang nach rechts ab und führte am Rand des überwölbten Palastes vorbei. Er befand sich im zweiten Stock, in dem die Gemächer des Königs lagen. Wände, Decke und Boden bestanden aus Stein. Das war götterlästerlich. Über Stein durfte niemand gehen. Aber was sollte Szeth tun? Er war ein Unwahrer. Er tat das, was seine Meister von ihm verlangten.
Heute bedeutete dies, dass er Weiß tragen musste: eine lockere weiße Hose, die im Bund mit einer Kordel gehalten wurde, und darüber ein dünnes Hemd mit langen Ärmeln, das über der Brust offen war. Es war Tradition bei den Parschendi, dass Mörder in Weiß gekleidet waren. Weiß, damit man gewarnt war.
Denn wenn ein Mann ermordet werden sollte, dann hatte er das Recht, seinen Mörder kommen zu sehen.
Szeth wandte sich nach rechts und nahm den Korridor, der unmittelbar zu den Privatgemächern des Königs führte. Fackeln brannten an den Wänden. Ihr Licht war ebenso unbefriedigend für ihn wie eine dünne Brühe nach langem Fasten. Winzige Flammensprengsel umtanzten sie wie Insekten, die ausschließlich aus geronnenem Licht bestanden. Die Fackeln waren nutzlos. Er griff in seinen Beutel und nach den Kugeln, die dieser enthielt, doch er zögerte, als er weitere blaue Lichter in der Ferne vor sich sah. Es waren zwei Sturmlichtlampen, die an der Wand hingen und in deren Herzen strahlende Saphire leuchteten. Szeth ging an eine dieser Lampen heran, streckte die Hand aus und schloss sie um das Juwel, auch wenn es in Glas eingeschlossen war.
»Du da!«, rief eine Stimme auf Alethi. Vor einer Abzweigung standen zwei Wächter. Die Wache war verdoppelt worden, denn heute Nacht befanden sich Wilde in Kholinar. Zwar wurden diese Wilden nun als Verbündete betrachtet, aber Bündnisse konnten sehr zerbrechlich sein.
Dieses hier würde keine Stunde mehr halten.
Szeth beobachtete, wie die beiden Wächter näher kamen. Sie hatten Speere dabei. Es waren keine Hellaugen, daher durften sie keine Schwerter tragen. Ihre roten Brustpanzer waren jedoch genauso üppig verziert wie ihre Helme. Sie mochten zwar Dunkelaugen sein, doch gehörten sie zu den hochgestellten Bürgern, die Ehrenpositionen in der königlichen Wache bekleideten.
Der erste Wächter blieb wenige Schritte vor Szeth stehen und deutete mit seinem Speer auf ihn. »Geh weiter. Dies hier ist kein Ort für dich.« Er hatte die gebräunte Haut der Alethi und einen dünnen Bart, der um den Mund herumlief und am unteren Ende dichter wurde.
Szeth bewegte sich nicht.
»Also«, meinte der Wächter, »worauf wartest du noch?«
Szeth holte tief Luft und sog das Sturmlicht in sich hinein. Es strömte in ihn ein, sickerte aus den beiden Saphirlampen an den Wänden und sammelte sich in ihm, als hätte er es eingeatmet. Das Sturmlicht tobte in seinem Inneren, und plötzlich wurde es im Korridor dunkler. Nun lag er im Schatten wie ein Hügelkamm, der plötzlich durch eine vorüberziehende Wolke vom Sonnenlicht abgeschnitten wurde.
Szeth spürte die Wärme des Lichts und seine Wildheit wie einen Sturm, der ihm unmittelbar in die Adern gespritzt worden war. Das Gefühl der Macht wirkte belebend, schien ihm aber auch gefährlich. Es trieb ihn zur Tat. Zur Bewegung. Zum Zuschlagen.
Er hielt den Atem an und klammerte sich an das Sturmlicht. Schon spürte er, wie es wieder aus ihm sickerte. Sturmlicht konnte nur für kurze Zeit – höchstens für wenige Minuten – festgehalten werden. Dann strömte es wieder aus, denn der menschliche Körper war zu porös dafür. Szeth hatte gehört, dass die Bringer der Leere es vollkommen in sich halten konnten. Doch gab es sie überhaupt? Seine Bestrafung sprach dafür, dass dem nicht so war. Seine Ehre hingegen verlangte jedoch, dass sie existierten.
Brennend vor heiliger Energie wandte sich Szeth den Wächtern zu. Sie sahen, dass Sturmlicht aus ihm austrat; Fetzen davon dampften wie durchscheinender Rauch aus seiner Haut. Der vordere Wächter blinzelte und runzelte die Stirn. Szeth war sich sicher, dass der Mann so etwas noch nie zuvor beobachtet hatte. Szeth hatte bisher noch jeden Steinwandler getötet, der gesehen hatte, wozu er fähig war.
»Was … was bist du?« Die Stimme des Wächters hatte ihre Sicherheit verloren. »Geist oder Mensch?«
»Was bin ich?«, flüsterte Szeth. Ein wenig Licht drang zwischen seinen Lippen hervor, während er an dem Mann vorbei- und den langen Korridor hinunterblickte. »Es tut mir … leid.«
Szeth blinzelte und peitschte sich zu einem Punkt am fernen Ende des Korridors. Das Sturmlicht schoss in einem Blitz aus ihm hervor, kühlte seine Haut, und dann zog ihn der Boden nicht mehr an. Stattdessen wurde er nun zu dem fernen Punkt gezogen – für ihn war es so, als wäre diese Richtung plötzlich das Unten geworden.
Dies war das Einfache Peitschen, die erste der drei Arten des Peitschens. Es verlieh ihm die Fähigkeit, jene Kraft zu verändern, die die Menschen am Boden hielt, ob sie nun von Sprengseln oder von Gott herrührte. Durch dieses Peitschen kam er in die Lage, Menschen oder Gegenstände an unterschiedliche Oberflächen zu binden oder in unterschiedliche Richtungen zu zwingen.
Aus Szeths Blickwinkel war der Korridor nun ein tiefer Schacht, den er hinunterfiel, und die beiden Wächter standen auf einer der Schachtwände. Sie waren entsetzt, als Szeths Füße sie im Gesicht trafen und umwarfen. Szeth veränderte seinen Blickwinkel und peitschte sich zu Boden. Das Licht leckte aus ihm hervor. Der Boden des Korridors wurde wieder zum Unten, und er landete zwischen den beiden Wächtern. Seine Kleidung knisterte, Eiskristalle fielen aus ihr heraus. Er erhob sich und machte sich daran, seine Splitterklinge zu rufen.
Einer der Wächter tastete nach seinem Speer. Szeth senkte die Hand und berührte den Soldaten an der Schulter, während er den Blick nach oben gerichtet hielt. Er konzentrierte sich auf einen Punkt, der sich über ihm befand, während er das Licht aus seinem Körper und in den Wächter zwang und den armen Mann dann gegen die Decke peitschte.
Der Wächter schrie entsetzt auf, als das Oben für ihn zum Unten wurde. Licht floss aus seinem Körper, er prallte gegen die Decke und ließ seinen Speer fallen. Er wurde aber nicht gegen die Decke gepeitscht, sondern fiel neben Szeth auf den Boden.
Töten. Das war die größte aller Sünden. Und dennoch war Szeth hier der Unwahre und ging gotteslästerlich über Steine, die zum Bauen benutzt worden waren. Und es würde damit nicht enden. Als Unwahrer war es ihm nur verboten, ein bestimmtes Leben zu nehmen.
Und das war sein eigenes.
Beim zehnten Schlag seines Herzens fiel die Splitterklinge in seine wartende Hand. Sie formte sich, als bestünde sie aus zusammengezogenem Nebel. Wasser perlte an dem Metall entlang. Seine Splitterklinge war lang, dünn, zweischneidig und kleiner als die meisten anderen. Szeth schwang sie, zog eine Linie in den Steinboden und schnitt durch den Hals des zweiten Wächters.
Wie immer tötete die Splitterklinge auf eigentümliche Weise. Obwohl sie mit Leichtigkeit durch Stein, Stahl oder andere unbelebte Materialien fuhr, wurde das Metall durchlässig, wenn es lebendige Haut berührte. Sie schnitt durch den Hals des Wächters, ohne eine Spur zu hinterlassen. Doch sobald sie wieder ausgetreten war, rauchten und brannten die Augen des Mannes. Sie wurden schwarz, schrumpften im Kopf – und tot fiel er nach vorn. Eine Splitterklinge zerschnitt nicht das lebendige Fleisch, sondern die Verbindung zwischen Körper und Seele.
Oben keuchte der erste Wächter. Es war ihm gelungen, auf die Beine zu kommen, und nun stand er auf der Decke des Korridors. »Ein Splitterträger!«, rief er. »Ein Splitterträger greift die Halle des Königs an! Zu den Waffen!«
Endlich, dachte Szeth. Sein Gebrauch des Sturmlichts war den Wächtern unvertraut, aber eine Splitterklinge erkannten sie, wenn sie sie sahen.
Szeth bückte sich und hob den Speer auf, der von der Decke herabgefallen war. Dabei stieß er den Atem aus, den er angehalten hatte, seit er das Sturmlicht in sich eingesaugt hatte. Es hatte ihm Kraft verliehen, aber die beiden Lampen hatten nicht viel davon enthalten, und er würde bald wieder atmen müssen. Das Licht strömte nun schneller aus ihm.
Szeth stellte den Speer mit dem unteren Ende auf den Boden und schaute hoch. Der Wächter schrie nicht mehr und riss die Augen weit auf, als die Schöße seines Hemdes allmählich nach unten glitten und der Boden unter ihm wieder seine gewohnte Anziehungskraft ausübte. Das Licht, das aus seinem Körper floss, verdämmerte.
Er blickte auf Szeth hinunter. Und hinunter auf die Speerspitze, die unmittelbar auf sein Herz zeigte. Violette Angstsprengsel krochen aus der Steindecke um ihn herum.
Das Licht versickerte. Der Wächter fiel.
Er brüllte auf, als der Speer seine Brust pfählte. Szeth ließ ihn los, und so fiel er mit einem dumpfen Laut zu Boden, während der Körper am einen Ende noch zuckte. Mit der Splitterklinge in der Hand lief er einen Seitenkorridor entlang und folgte dabei der Karte, die er sich eingeprägt hatte. Er schoss um eine Ecke und drückte sich flach gegen die Wand, als ein Trupp von Wachmännern die beiden Toten entdeckte. Sofort schlugen die Neuankömmlinge Alarm.
Seine Anweisungen waren klar und deutlich. Töte den König und sorge dafür, dass du dabei gesehen wirst. Die Alethi sollten wissen, dass er unterwegs war und was er vorhatte. Warum? Warum hatten die Parschendi in diesen Vertrag eingewilligt, um noch in derselben Nacht einen Mörder loszuschicken?
Weitere Edelsteine glühten an den Wänden des Ganges. König Gavilar schätzte die Zurschaustellung seines Reichtums, aber er konnte nicht wissen, dass er Szeth damit die Kraft des Peitschens verlieh. Die Dinge, die Szeth tat, waren seit Jahrtausenden nicht mehr beobachtet worden. Aus jenen Zeiten gab es keine genauen Überlieferungen, und die Legenden waren schrecklich falsch.
Szeth spähte in den Korridor. Einer der Wächter an der Kreuzung sah ihn, deutete auf ihn und schrie etwas. Szeth sorgte dafür, dass sie ihn deutlich wahrnahmen, dann schoss er davon. Er holte tief Luft und saugte das Sturmlicht aus den Lampen in sich hinein. Sein Körper wurde lebendiger, und er lief noch schneller; seine Muskeln barsten beinahe vor Energie. Das Licht wurde in ihm zu einem Sturm; das Blut donnerte in seinen Ohren. Es war schrecklich und wundervoll zugleich.
Szeth rannte an zwei Korridoren vorbei und dann in einen seitlich abzweigenden hinein. Er warf die Tür zu einem Vorratsraum auf, zögerte einen Augenblick – gerade so lange, dass der erste Wächter um die Ecke biegen und ihn erkennen konnte. Dann hastete er in den Raum. Er bereitete sich auf ein Volles Peitschen vor, hob den Arm und gebot dem Sturmlicht, sich zu sammeln. Seine Haut brach in ein grelles Leuchten aus. Dann streckte er die Hand zum Türrahmen hin und schleuderte ein weißes Glänzen darauf, das ihn wie Farbe überzog. Er schlug die Tür zu, gerade als ihn die Wächter erreicht hatten.
Das Sturmlicht hielt die Tür in den Angeln, als würden hundert Arme sie sichern. Ein Volles Peitschen band Gegenstände zusammen und hielt sie an Ort und Stelle, bis das Sturmlicht versickerte. Er war schwerer zu erschaffen – und erschöpfte das vorhandene Sturmlicht schneller – als das Einfache Peitschen. Die Türklinke erzitterte, und dann splitterte das Holz, als sich die Wachen mit ihrem ganzen Gewicht dagegenwarfen. Ein Mann rief nach einer Axt.
Szeth durchquerte den Raum mit schnellen Schritten und umrundete die verhüllten Möbelstücke, die hier eingelagert waren. Die Hüllen bestanden aus rotem Stoff und die Möbel aus dunklen, teuren Hölzern. Er erreichte die gegenüberliegende Wand, bereitete sich auf eine weitere Blasphemie vor, hob seine Splitterklinge und schlitzte geradewegs durch den dunkelgrauen Stein. Die Mauer war einfach zu durchdringen: eine Splitterklinge zerschnitt jeden unbelebten Gegenstand. Es folgten zwei senkrechte Schnitte, dann ein waagerechter knapp über dem Boden, und ein großes viereckiges Stück war ausgestanzt. Szeth drückte mit der Hand dagegen und zwang das Sturmlicht in den Stein.
Hinter ihm gab die Tür allmählich nach. Er warf einen Blick über die Schulter, konzentrierte sich auf die erzitternde Tür und bereitete sich darauf vor, den Block in ihre Richtung zu peitschen. Eis kristallisierte sich auf seiner Kleidung. Das Peitschen eines so großen Gegenstandes erforderte eine ganze Menge Sturmlicht. Der Aufruhr in ihm legte sich wie ein Unwetter, das zu einem leichten Nieselregen wird.
Er trat zur Seite. Der große Steinblock erzitterte und glitt in den Raum hinein. Normalerweise wäre es unmöglich gewesen, den Block zu bewegen. Sein eigenes Gewicht hätte ihn am Boden gehalten. Doch nun war es gerade dieses Eigengewicht, das ihn aus der Wand löste, denn die Tür des Zimmers war jetzt das Unten. Mit einem tiefen, mahlenden Geräusch glitt der Block aus der Wand, schoss durch die Luft und zerschmetterte dabei zahlreiche Möbel.
Schließlich gelang es den Soldaten, die Tür aufzubrechen. Sie taumelten gerade in den Raum hinein, als der gewaltige Block gegen sie schmetterte.
Szeth drehte den schrecklichen Schreien, dem Splittern von Holz und dem Brechen von Knochen den Rücken zu. Er duckte sich, trat durch das neu geschaffene Loch und betrat den dahinter liegenden Gang.
Szeth ging ihn langsam hinunter, zog das Sturmlicht aus den Lampen, an denen er vorbeikam und entfachte erneut den Aufruhr in sich. Die Lampen leuchteten schwächer, in dem Korridor wurde es dunkler. Eine mächtige hölzerne Tür befand sich an seinem Ende, und als sich Szeth ihr näherte, lösten sich kleine Angstsprengsel – geformt wie Klümpchen purpurfarbenen Klebstoffs – aus den Steinen und huschten auf die Tür zu. Sie wurden von dem Schrecken angezogen, den man auf der anderen Seite empfand.
Szeth drückte die Tür auf und betrat den letzten Gang, der zu den Gemächern des Königs führte. Große rote Keramikvasen säumten diesen Gang, und zwischen ihnen standen nervöse Soldaten, die einen langen, schmalen Teppich flankierten. Auch er war rot: wie ein Fluss aus Blut.
Die Speerträger ganz vorn warteten gar nicht erst darauf, dass er ihnen nahe kam. Sie rannten auf ihn zu und senkten ihre kurzen Wurfspeere. Szeth streckte die Hand zur Seite aus, schoss Sturmlicht in den Türrahmen und setzte die dritte und letzte Art des Peitschens ein: das Umgekehrte Peitschen. Es funktionierte völlig anders als die beiden übrigen, da es nicht dazu führte, dass der Türrahmen Sturmlicht ausstrahlte, sondern alles Licht in der Nähe einzusaugen schien und den Dingen so einen seltsamen Halbschatten verlieh.
Die Wächter warfen ihre Speere. Szeth stand still da und hielt die Hand auf dem Türrahmen. Ein Umgekehrtes Peitschen erforderte zwar ununterbrochene Berührung, kostete aber vergleichsweise wenig Sturmlicht. Alles, was sich ihm in dieser Phase näherte – vor allem leichtere Gegenstände –, wurde von dem Gegenstand, den er berührte, sofort angezogen.
Die Speere drehten sich in der Luft, schossen an ihm vorbei und bohrten sich in den Holzrahmen. Als Szeth ihren Aufprall spürte, sprang er in die Luft und peitschte sich auf die rechte Wand zu. Seine Füße trafen mit einem dumpfen Laut auf sie.
Sofort richtete er seine Perspektive neu aus. Aus seinem Blickwinkel standen nicht er, sondern die Soldaten auf der Wand, und der blutrote Teppich floss wie ein langer Gobelin zwischen ihnen hindurch. Szeth schoss den Korridor entlang, schlug mit seiner Splitterklinge zu und durchtrennte die Hälse von zwei Männern, die ihre Speere auf ihn geworfen hatten. Ihre Augen brannten noch, dann brachen sie zusammen.
Die anderen Wächter im Gang wurden von Panik gepackt. Einige versuchten ihn anzugreifen, andere riefen um Hilfe, wieder andere wichen vor ihm zurück. Die Angreifer hatten Schwierigkeiten; sie waren verwirrt, weil sie gegen jemanden kämpfen mussten, der an der Wand hing. Szeth schlug einige nieder, sprang in die Luft, machte eine Rolle und peitschte sich auf den Boden zurück.
Er kam mitten unter den Soldaten auf. Zwar war er völlig umzingelt, aber er hielt eine Splitterklinge in der Hand.
Der Legende zufolge waren die Splitterklingen vor unzähligen Jahrhunderten zuerst von den Strahlenden Rittern getragen worden. Sie waren die Gabe ihres Gottes gewesen und hatten ihnen helfen sollen, Schreckenswesen aus Stein und Flammen zu bekämpfen, die Dutzende Fuß groß gewesen waren und deren Augen vor Hass gebrannt hatten. Dies waren die Bringer der Leere gewesen. Wenn der Gegner eine Haut hatte, die so hart war wie Stein, dann blieb Stahl dagegen machtlos. Etwas Übernatürliches war nötig gewesen.
Szeth richtete sich auf, seine lockere weiße Kleidung kräuselte sich, und er biss die Zähne zusammen, als er an seine Sünden dachte. Er schlug zu – in seiner Waffe spiegelte sich das Fackellicht. Er vollführte drei elegante, weite Schwünge. Szeth konnte weder die Ohren vor ihren Schreien verschließen noch verhindern, dass er die Männer fallen sah. Sie sanken zu Boden wie Spielzeug, das von einem Kind achtlos umgestoßen wurde. Wenn die Klinge das Rückgrat eines Mannes traf, starb er mit brennenden Augen. Wenn sie mitten durch ein Glied schnitt, tötete sie dieses Glied. Einer der Soldaten stolperte weg von Szeth; sein Arm baumelte nutzlos von der Schulter herab. Er würde nie wieder in der Lage sein, ihn zu spüren oder zu benutzen.
Szeth senkte seine Splitterklinge und stand inmitten der Leichname mit den glühenden Augen. Hier in Alethkar sprachen die Menschen oft von den Legenden und dem hart errungenen Sieg über die Bringer der Leere. Aber wenn Waffen, die zum Kampf gegen die Nachtmahre erschaffen worden waren, gegen einfache Soldaten eingesetzt wurden, dann war ihr Leben wahrlich nichts mehr wert.
Szeth drehte sich um und schritt weiter. Seine Sandalen huschten über den weichen roten Teppich. Wie immer glitzerte die Splitterklinge silbern und sauber. Wenn man mit einer solchen Klinge tötete, gab es kein Blut. Das schien wie ein Zeichen zu sein. Die Splitterklinge war nur ein Werkzeug: Sie konnte ja nicht für die Morde verantwortlich gemacht werden, die mit ihr begangen wurden.
Die Tür am Ende des Ganges flog auf. Szeth erstarrte, als eine kleine Gruppe Soldaten herausströmte. In ihrer Mitte befand sich ein Mann in königlichen Gewändern, der den Kopf so gesenkt hielt, als wolle er Pfeilen ausweichen. Die Soldaten trugen ein tiefes Blau, die Farbe der königlichen Garde, und sie hielten bei den Leichen keineswegs staunend an. Sie waren auf das vorbereitet, was ein Splitterträger anrichten konnte. Sie öffneten eine Seitentür und schoben ihren Schützling hinein, während sich einige von der Gruppe lösten und ihre Speere auf Szeth richteten.
Eine weitere Gestalt trat aus den Gemächern des Königs. Dieser Mann trug eine glitzernde blaue Rüstung, die aus ineinandergreifenden Platten gefertigt war. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Rüstungen besaß diese kein sichtbares Leder an den Gelenken, sondern nur kleinere Platten, die mit ungeheurer Präzision zusammengefügt waren. Diese Rüstung war ganz wundervoll: In das Blau waren als Umrandung einer jeden Platte goldene Bänder eingelegt, und den Helm schmückten drei Wellen kleiner, hornähnlicher Schwingen.
Ein Splitterpanzer, das übliche Gegenstück zu einer Splitterklinge. Der Mann trug ebenfalls ein solches Schwert, das gewaltige sechs Fuß lang war und auf der Klinge ein Muster aus lodernden Flammen trug. Die Waffe bestand aus silbrigem Metall und glitzerte so stark, als glühe sie von innen heraus. Es war eine Waffe, die dazu erschaffen war, dunkle Götter zu töten. Und sie war weitaus größer als jene, die Szeth besaß.
Szeth zögerte. Er erkannte die Rüstung nicht, und er war auch nicht gewarnt worden, auf einen anderen Splitterträger zu stoßen. Überdies hatte er keine Zeit gehabt, sich die verschiedenen Panzer und Klingen einzuprägen, die den Alethi gehörten. Aber bevor er dem König nachsetzte, musste er sich um diesen Splitterträger kümmern. Einen solchen Feind durfte er nicht im Rücken haben.
Außerdem konnte ihn der Splitterträger vielleicht besiegen, töten und damit sein elendes Leben beenden. Sein Peitschen würde bei jemandem, der in einem Splitterpanzer steckte, nichts bewirken, und diese Rüstung stärkte den Mann und seine Fähigkeiten. Szeths Ehre erlaubte es ihm nicht, seine Mission zu verraten oder den Tod zu suchen. Aber wenn ihn der Tod ereilen sollte, dann würde er ihn eben willkommen heißen.
Der Splitterträger schlug zu, und Szeth peitschte sich an die Seite des Korridors, sprang hoch und landete auf der Wand. Er tanzte rückwärts und hielt seine Klinge in der ausgestreckten Hand. Der Splitterträger nahm eine bedrohliche Kampfhaltung ein, die hier im Osten sehr beliebt war. Er bewegte sich weitaus geschmeidiger, als man es von einem Mann in einer so großen Rüstung erwartet hätte. Ein Splitterpanzer war etwas Besonderes: so alt und magisch wie die Klinge, zu der er gehörte.
Der Splitterträger schlug zu. Szeth wich zur Seite aus und peitschte sich zur Decke hoch, während die Klinge des Splitterträgers in die Mauer schnitt. Szeth empfand Erregung über diesen Wettkampf, schoss vor und griff mit einem Stoß an, der auf den Helm des Splitterträgers zielte. Der Mann duckte sich, ging auf die Knie, und Szeths Klinge schnitt durch die leere Luft.
Szeth sprang zurück, als der Splitterträger seine Waffe nach oben führte und in die Decke stach. Szeth besaß keinen Splitterpanzer und wollte auch keinen haben. Seine Fähigkeit des Peitschens wurde von den Edelsteinen beeinträchtigt, die dem Panzer seine Kraft gaben, und deshalb kam nur das eine oder das andere für ihn in Frage.
Als sich der Splitterträger umdrehte, hastete Szeth quer über die Decke. Wie erwartet schwang der Splitterträger seine Waffe wieder, und Szeth sprang zur Seite und rollte sich ab. Er kam erneut auf die Beine, wirbelte herum, peitschte sich auf den Boden und landete hinter dem Splitterträger. Er rammte seine Klinge in den ungeschützten Rücken des Gegners.
Unglücklicherweise besaßen die Panzer einen großen Vorteil: Sie konnten eine Splitterklinge abfangen. Szeths Waffe traf genau, und ein Netz aus glühenden Rissen legte sich über den Rücken des Panzers, aus denen das Sturmlicht sickerte. Ein Splitterpanzer bog sich nicht wie gewöhnliches Metall, und er trug auch keine Einkerbungen davon. Szeth hätte den Splitterträger noch mindestens einmal an derselben Stelle treffen müssen, um ein Loch in den Panzer zu bohren.
Szeth tänzelte außer Reichweite, als der Splitterträger wütend seine Waffe schwang und auf Szeths Knie zielte. Der Sturm, der in Szeth tobte, verschaffte ihm mehrere Vorteile – einschließlich der Fähigkeit, sich von kleinen Wunden schnell zu erholen. Aber er konnte keine Glieder heilen, die von einer Splitterklinge getötet worden waren.
Er umrundete den Splitterträger, wartete auf den richtigen Moment und schoss vor. Der Splitterträger schwang erneut seine Waffe, aber Szeth peitschte sich kurz auf die Decke zu. Er stieg in die Luft, sprang über die feindliche Waffe hinweg und peitschte sich sofort wieder auf den Boden zurück. Während er landete, schlug er zu und traf, aber der Splitterträger erholte sich rasch, führte einen perfekten Gegenschlag aus und hätte Szeth um ein Haar erwischt.
Der Mann konnte gefährlich gut mit seiner Waffe umgehen. Viele Splitterträger verließen sich zu sehr auf die Macht ihres Schwertes und ihrer Rüstung. Doch dieser Mann war da ganz anders.
Das hier dauert viel zu lange!, dachte Szeth. Wenn es dem König gelang, sich in einem Versteck zu verbarrikadieren, würde Szeth seine Mission nicht erfüllen können, egal wie viele Gegner er auch töten mochte. Er duckte sich, um einen weiteren Schlag zu führen, aber der Splitterträger zwang ihn wieder zurück. Jede Sekunde, die dieser Kampf noch dauerte, verhalf dem König zur Flucht.
Er landete in gebückter Haltung und benutzte seinen Schwung, um sich vorwärtszuwerfen. Er schlug dort auf die Rüstung ein, wo sie bereits einen Sprung erhalten hatte, und traf sie mit voller Wucht. Ein Stück des Panzers zerschmetterte, Teile geschmolzenen Metalls flogen davon. Der Splitterträger grunzte auf, fiel auf ein Knie und hob die Hand an seine Seite. Szeth stellte den Fuß dagegen und stieß ihn mit der Kraft des Sturmlichts, das noch in ihm war, zurück.
Energie loderte erneut in ihm auf, er wurde schneller. Wenn er sich genug Vorsprung verschaffte, konnte er mit dem König fertigwerden und zum Kampf gegen den Splitterträger zurückkehren. Es würde aber nicht leicht werden. Ein Volles Peitschen gegen eine Tür würde einen Splitterträger nicht aufhalten, und aufgrund seiner Rüstung konnte der Mann übernatürlich schnell laufen. Szeth warf einen Blick über die Schulter.
Oder vielleicht …
Szeth drehte sich um, schoss zurück, vertraute seinen Instinkten. Sobald ihn der Splitterträger sah, sprang er geschickt auf die Beine. Szeth rannte schneller. Wo war der König am sichersten? Auf der Flucht und in den Händen einiger Gardisten? Oder hinter einem Splitterpanzer und in der Verkleidung eines bloßen Leibwächters?
dachte Szeth, als der Splitterträger, der vorhin noch so schwerfällig gewirkt hatte, wieder eine Kampfhaltung einnahm. Szeth griff mit neuer Kraft an und schwang seine Klinge mit rasender Geschwindigkeit. Der Splitterträger – der König – parierte grimmig, und zwar mit langen, beeindruckenden Schlägen. Szeth wich vor einem von ihnen zurück und spürte den Wind, den die Waffe verursachte, nur wenige Zoll vor ihm. Er berechnete seinen nächsten Schlag, schoss vor und duckte sich unter dem Gegenschlag des Königs hinweg.
Der König wirbelte herum und setzte Szeth nach, der durch das erste verschwenderisch ausgestattete Gemach lief, die Hand ausstreckte und alle Möbelstücke berührte, an denen er vorbeikam. Er füllte sie mit Sturmlicht an und peitschte sie auf einen Punkt hinter dem König zu. Die Möbel fielen um, als wäre das Zimmer auf die Seite gedreht worden. Sofas, Sessel und Tische stürzten auf den überraschten König zu. Gavilar beging den Fehler, mit seiner Splitterklinge nach ihnen zu schlagen. Die Waffe fuhr mit Leichtigkeit durch ein großes Sofa, aber die einzelnen Stücke regneten trotzdem auf ihn herab, und er geriet ins Taumeln. Als Nächstes traf ihn ein Schemel und warf ihn zu Boden.
Die Haltung des Königs zeugte von dessen Überraschung, als sich Szeth mitten in der Luft drehte und auf ihn zuwirbelte. Er rammte seine Klinge gegen den Helm des Königs, peitschte sich danach sofort zur Decke, fiel nach oben und prallte gegen das Steindach. Er hatte sich zu schnell in zu viele verschiedene Richtungen gepeitscht, also hatte sein Körper die Orientierung verloren, sodass es schwierig wurde, elegant zu landen. Taumelnd kam er auf die Beine.
Szeth hatte seinen Gegner unterschätzt. Der König warf sich in Szeths Angriff und vertraute darauf, dass sein Helm den Schlag abfing. Gerade als Szeth den Helm ein zweites Mal traf – und ihn zerschmetterte –, schlug Gavilar mit der anderen gepanzerten Hand zu und rammte sie Szeth mitten ins Gesicht.
Schmerz. Ein so großer Schmerz!
Keine Zeit für Schmerzen. Keine Zeit für Schmerzen. Keine Zeit für Schmerzen!
Szeth stolperte auf die Beine; sein Blick war noch immer unklar. Blut strömte ihm über das Gesicht, und Sturmlicht drang aus seiner Haut und blendete sein linkes Auge. Das Licht. Es würde ihn heilen, wenn es denn möglich war. Sein Kiefer fühlte sich an, als sei er ausgerenkt. Oder gebrochen? Er hatte seine Splitterklinge fallen lassen.
Szeth schrie, kniete nieder, sandte Sturmlicht in den hölzernen Balkon und peitschte dagegen. Die Luft um ihn herum gefror. Der Sturm heulte und schoss an seinen Armen hinab ins Holz. Er peitschte es, wieder und wieder, es sollte in die Tiefe stürzen – zum vierten Mal bereits, als Gavilar auf den Balkon trat. Unter dem zusätzlichen Gewicht gab er nach. Das Holz knirschte und bog sich.
Szeth peitschte ein fünftes Mal auf den Balkon ein. Die Stützstreben barsten, und das gesamte Gebilde riss von dem Gebäude ab. Szeth schrie durch den gebrochenen Kiefer und benutzte seinen letzten Rest Sturmlicht, um sich auf die Mauer des Hauses zu peitschen. Er drehte sich zur Seite, flog an dem entsetzten Splitterträger vorbei, traf gegen die Mauer und rollte an ihr entlang.
Szeth befand sich noch auf der Wand. Ächzend erhob er sich. Er fühlte sich schwach, hatte sein Sturmlicht zu schnell verbraucht und den Körper überanstrengt. Er taumelte an der Wand des Gebäudes herunter, näherte sich dem Trümmerhaufen, konnte kaum auf den Beinen stehen.
»Ich … hatte dich … schon erwartet«, sagte der König unter Keuchen.
Der Sturm tobte wieder in ihm. Weiteres Licht drang aus seinem Gesicht und heilte ihm Haut und Knochen. Die Schmerzen waren noch immer stark; das Sturmlicht wirkte nicht sofort. Es würde noch Stunden dauern, bevor er sich erholt hatte.
»Ich weiß nicht, wer das ist«, sagte Szeth, während er aufstand. Die Worte drangen undeutlich aus seinem gebrochenen Kiefer. Er streckte die Hand zur Seite aus und rief seine Splitterklinge wieder herbei.
»Meine Meister sind die Parschendi«, sagte Szeth. Zehn Herzschläge vergingen, und die Klinge fiel in seine Hand: feucht vom Schwitzwasser.
Gavilar verstummte.
Die Parschendi?, hatte Gavilar gesagt. Das ergibt doch keinen Sinn.
Gavilars Splitterklinge materialisierte sich neben dem Körper des Königs aus dem Nebel und fiel – nun, da sein Meister tot war – klappernd auf den Steinboden. Sie war ein Vermögen wert; ganze Königreiche waren untergegangen, nur weil einige Männer unbedingt eine Splitterklinge hatten besitzen wollen.
Sag meinem Bruder …
Bruder, du musst die wichtigsten Worte finden, die ein Mensch sagen kann.