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Reinhard Pelte

Kielwasser

Der zweite Fall für Kommissar Jung

Zum Buch

AUF HOHER SEE Ein merkwürdiger Fall lässt Kriminalrat Tomas Jung, Leiter der Abteilung für unaufgeklärte Kapitalverbrechen in Flensburg, keine Ruhe: Ein deutscher Mariner ist spurlos im Arabischen Meer verschwunden. Die Ermittlungen sind eigentlich bereits abgeschlossen. Der Soldat sei über Bord gegangen und ertrunken – so das Ergebnis. Aber seine Vorgesetzten mögen daran nicht glauben. Ein Unfall passt nicht zu dem Menschen, den sie kennen gelernt haben.

Jung und sein pensionierter Kollege Boll schalten sich ein. Jung wird under cover als Wehrübender auf Zeit bei der Marine untergebracht. Der vollkommen unerfahrene Zivilist beginnt, sich in die Welt der Mariner einzuleben, teilt ihre Lebensumstände an Bord eines Kriegsschiffes im Einsatz vor Afrika und macht schließlich eine erstaunliche Entdeckung …

Reinhard Pelte ist Diplommeteorologe und war im öffentlichen Dienst tätig. Mehrere Jahre in Portugal lebend, hat er die Welt durch zahlreiche Fahrten zur See kennengelernt (Amerika, Afrika, Arabien, Mittelmeer, Karibik, u. a. auf dem Segelschulschiff Gorch Fock). Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, ist Weinliebhaber und raucht hin und wieder eine gute Zigarre. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Schleswig-Holstein verbracht. Bis 2013 war er in Flensburg zu Hause, jetzt lebt er in Schleswig. Sein erfolgreiches Debüt hatte er mit »Inselkoller«, dem ersten Fall von Tomas Jung, ebenfalls erschienen im Gmeiner-Verlag.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner Verlag:

Inselgötter (2016)

Inselroulette (2014)

Mordsee (2013)

Tiefflug (2012)

Inselbeichte (2011)

Kielwasser (2010)

Inselkoller (2009)

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Der Besuch

Der Anruf

Der Einberufungsbescheid

Der Leitende

Die Einberufung

Die Einschiffung

Das Schiff I

Das Schiff II

Der Militärpfarrer

Der Wachoffizier

Der Kommandeur I

Die Somali

Die Sightseeingtour

Tomi und Schumi

Der Kommandeur II

Der KaFü

Der Ausflug nach Tadjoura

Der Kommandeur III

Der Abschied

Wieder zu Hause

Glossar

Widmung

Für Moritz und Jessi

Prolog

Der Hauptbootsmann schritt vor den angetretenen Männern auf und ab. Er sah auf die Uhr. Noch drei Minuten. Es fehlte keiner. Selbst den zweiten Koch musste er heute nicht aus der Koje holen.

*

Mein Gott, wie wichtig der sich vorkommt. Marschiert da vor der Truppe wie Napoleon vor der Schlacht bei Waterloo. Macht heute ein Gesicht, als hätte er schon lange keinen Stoff mehr gehabt. Seine Arbeit macht die Pappnase auch nur gut, wenn er unter Strom steht. Mal sehen, was heute anliegt.

*

»Achtung!«, rief der Hauptbootsmann laut, spannte seinen Körper und stellte sich gerade vor seine Truppe.

»Hauptabschnitt vier stillgestanden! Richt euch!«

Die Soldaten rückten zu geraden, geschlossenen Reihen zusammen.

»Zur Meldung an den Hauptabschnittsleiter die Augen links!«

Er wandte sich nach rechts und grüßte. Aus dem Schatten des Decksaufbaus trat ein Oberleutnant und baute sich in Armeslänge vor dem Bootsmann auf.

»Melde Hauptabschnitt vier vollzählig angetreten. Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Oberleutnant.«

»Danke, Versorgungsmeister.« Der Offizier grüßte zurück. Dann machte er die paar Schritte vor die Front und stellte sich aufrecht und mit zusammengeschlagenen Hacken vor die angetretenen Soldaten. »Guten Morgen, Hauptabschnitt vier!«

»Guten Morgen, Herr Oberleutnant«, röhrte es aus knapp zwei Dutzend Kehlen.

»Augen gerade aus. Rührt euch.«

Unruhe und Bewegung kamen jetzt in die Gruppe.

*

Der Oberdödel, welch heldenhafter Offizier. Liegt schon bei Windstärken vier in der Koje und jammert nach Mutti. Letztes Mal hat er die Kantine vollgereihert, die Sau. Auf Gummibärchen kann der nicht verzichten. Der müsste mal mit zu meinen Legionären und Marines. Da würde Mutti ihr Söhnchen schon bald wieder haben.

*

»Wir erwarten gleich den IO1. Er hat Erfreuliches mitzuteilen. Also benehmt euch und steckt die Hemden in die Hosen, Männer!«

»Hemden kenn ich nich. Ich kenn nur Hemdchen und Höschen«, kam es irgendwoher aus der Truppe. Ein halbherzig unterdrücktes Lachen breitete sich unter den Männern aus.

»Unser Witzbold vom Dienst. Ich hab schon drauf gewartet. Sawatzki, vortreten.«

*

Der schon wieder. Der nervt nur. Immer unter Strom. Kriegt die Nase nicht voll genug. Steht bei mir in der Kreide. Muss ich mir mal vorknöpfen, bevor der abnippelt oder sonst irgendwelchen Scheiß baut.

*

»Melde mich wie befohlen, Herr Oberleutnant.« Ein schmächtiger Junge baute sich vor dem Offizier auf. Ein Dauerlächeln verzerrte sein Gesicht.

»Sawatzki, welches Schuhwerk ist für BGA2 befohlen?«

»Bordschuhe, Herr Oberleutnant.«

»Und warum tragen Sie dann Seestiefel?«

»Meine Bordschuhe kann ich nicht finden, Herr Oberleutnant.«

Sein Vorgesetzter ging um ihn herum und musterte seine Bekleidung. »Darf ich Sie anfassen, Herr Obergefreiter?«

»Ich bitte darum, Herr Oberleutnant«, antwortete der Junge künstlich erfreut. In der Gruppe brandete Gekicher auf.

Der Offizier richtete den Hemdkragen des Soldaten und steckte die Enden des Uniformhemdes unter den Gürtel seiner Hose. »Sawatzki, Sie sind ein hoffnungsloser Fall. Zurücktreten ins Glied, aber ganz nach hinten bitte.« Der Soldat trat unter beifälligem Gemurmel und Gekicher seiner Kameraden ab.

»Achtung!«, rief der Hauptbootsmann aus dem Hintergrund.

Das Anfangszeremoniell wiederholte sich. Nur meldete diesmal der Oberleutnant dem IO, der hinter dem Schornsteinaufbau vorgetreten war und jetzt das Kommando übernahm.

»Männer, ich habe heute eine erfreuliche Pflicht zu erfüllen.«

*

Der IO, guter Mann! Kann ’nen Stiefel ab. Dem würde ich nicht gern im Dunkeln begegnen. In der Muckibude ist er auch öfter. Labert nicht blöd rum. Sagt, wo es langgeht. Hat aber keine Ahnung, welchen Schrotthaufen er befehligt. Ist noch neu. Der hat noch nie in der Kantine eingekauft. Besoffen hab ich ihn auch noch nicht erlebt. Kann gefährlich werden, der Mann. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

*

»Obermaat Kannegießer, vortreten!«

*

Was, der? Das kann doch nicht wahr sein. Diese Flachpfeife wollen sie zum Bootsmann machen? Nee, nee Kinder, das könnt ihr gern machen, aber nicht mit mir. Mein Gott, was ist das nur für ein Sauhaufen. Das einzig Tolle an diesem Typen ist seine Braut. Versteh einer die Weiber. Meine Alte, diese Schlampe, hat sich einfach abgesetzt. Was hab ich ihr getan? Sie hat bei mir ein schönes Leben gehabt und hätte ein noch besseres haben können. Wäre ja nicht ewig gewesen mit der Seefahrt. Hatte schon meine Pläne. Aber wenn sie mal ein paar Tage aufs Bumsen verzichten müssen, machen sie gleich die Biege. Keine Disziplin. Keine Treue. Nur Scheiß in der Birne. Scheiß was drauf. Scheiß auf die Weiber. Da lob ich mir die Professionellen. Da weiß man, was man hat. Lilly, die ist ’n echter Kracher. Und nicht teuer.

*

»Für den Bundesminister der Verteidigung, der Leiter der Stammdienststelle … Die Unterschrift kann ich nicht entziffern«, schloss der IO.

»Ich würde mal zu Fielmann gehen.« Der Spruch kam wieder aus der Truppe und löste erneut allgemeine Heiterkeit aus. Der IO überreichte dem vorgetretenen Obermaaten ungerührt die Ernennungsurkunde, gratulierte ihm zum neuen Dienstgrad und befahl ihn zurück ins Glied. Dann stellte er sich betont aufrecht vor die Front und fixierte schweigend die Männer, einen nach dem anderen. Je länger sein Schweigen anhielt, desto mehr wuchs die Spannung. Es wurde mucksmäuschenstill.

Schließlich sagte er laut: »Im Stillgestanden rede nur ich, Soldaten!« Er machte eine längere Pause und sah noch einmal durch die Reihen. »Wer gerade gequatscht hat, vortreten«, befahl er.

Keiner rührte sich.

*

Das war natürlich Hein Blöd, der nicht mal vernünftige Brötchen backen kann. Fehlt bloß noch Käpt’n Blaubär und die Chaostruppe ist vollzählig. Scheißt sich in die Hose, wie immer, wenn er nicht gerade ’ne Nase durchgezogen hat. Aber dann. Große Klappe, nichts dahinter. Wie blöd muss man eigentlich noch sein, um von der Marine abgelehnt zu werden? Der Scheißer ist ’ne echte Beleidigung.

*

»Der Mann hat bis morgen früh Zeit. Bis zur Frühmusterung meldet er sich beim SVO3. Dann werden wir weitersehen.«

Der IO ließ rühren und verließ das Deck in Richtung Vorschiff. Unter den Männern setzte Gemurmel ein. Sie wussten, wer der Witzbold war, taten aber unwissend, solange ihr Oberleutnant vor ihnen stand.

»Ihr habt gehört, was der IO gesagt hat. Spätestens morgen früh erwarte ich Meldung. Wegtreten auf Station.« Die Gruppe löste sich auf und der Offizier verließ das Versorgungsdeck.

*

Tolle Vorstellung. Scheiße. Was liegt jetzt an? Ich muss die präparierten Gummibärchen noch einpacken. Die neue Bestellung muss mit Deutschland klargemacht werden. Meinen Hiwi muss ich einnorden, damit er weiß, wo was liegt und wie viel wir in Reserve halten müssen. Kein Problem, der Kerl frisst mir aus der Hand, seitdem er die Wohltaten von Gummibären und Schokolade kennengelernt hat. Eine echt arme Sau. Aber Kamerad. Verlässlich. So einen brauch ich. Wo ist er überhaupt? Da steht er ja, beim Provi4. Den Einkauf für das nächste Spitzenessen wird das Arschloch von Provi natürlich wieder mir zuschieben und sich hinterher dafür feiern lassen. Mir soll’s recht sein. Kann mir nur nützen. Wenn der von meinen Beziehungen zu den Franzmännern und Amis wüsste, würde der grün anlaufen.

Ich ertrag das ganz einfach nicht mehr: nur Weicheier, Kokser, Wichtigtuer und Absahner. Frauen? Alle nur Schlampen. Paul und Kalle, die sind okay. Prima Kerle. Die haben das gemacht. Einfach so. Respekt. Leben jetzt drüben bei den Franzmännern. Neue Papiere, neues Leben, guten Job, schöne Frauen. Solche wie Lilly.

John und Charles, auch tolle Typen. Die machen was draus. Was die so erzählen. Alle Achtung! Wenn ich sehe, was sie an den Hanteln stemmen, glaub ich ihnen jedes Wort. Blöd sind die nicht. Groß im Dealen. Kann ich noch was lernen.

John sagt, es wird schwieriger. Die Russen kommen. Er braucht einen an Land, der Russisch kann. Wäre was für mich, sagt er. Würde mich schon reizen. Steckt ’ne Masse Schotter drin. Englisch und Französisch wären auch gut, aber nicht unbedingt nötig, sagt er.

Englisch geht so, lernt man ja irgendwie nebenbei. Französisch? Kann man lernen. Paul und Kalle haben das auch geschafft. Habe schließlich Abi. Na ja, DDR-Abi. Wenn schon. Ist auch nicht schlechter als von den Wessis. Und den ganzen Marinescheiß kann ich sowieso besser als alle anderen.

1 Erster Offizier

2 Borddienst- und Gefechtsanzug

3 Schiffsversorgungsoffizier

4 Proviantmeister

Der Besuch

Boll atmete hörbar aus. Er drängelte: »Was wisst ihr denn nun genau, Tomi?«

Tomas Jung, Kriminalrat und Leiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizeiinspektion Nord in Flensburg, saß im Garten seines pensionierten Kollegen auf der Halbinsel Holnis. In Oxbüll hatte er die Straße in Richtung Ulstrup/Bockholm verlassen, und nachdem er die sanfte Kuppe der letzten Moräne vor der Förde erklommen hatte, lag die Halbinsel Holnis vor ihm. Boll hatte dort in den 70er-Jahren ein altes Siedlungshaus erworben und es für sich und seine Frau hergerichtet. Die Halbinsel teilt die Innen- von der Außenförde und ist der letzte Flecken deutschen Bodens vor den dänischen Äckern, die jenseits der engen Fahrrinne zu erkennen sind. Holnis war vor einigen Jahren zum Landschaftsschutzgebiet erklärt worden. Leider einige Jahre zu spät, denn die Ufer waren schon von einer billigen Freizeit- und Ferienindustrie besetzt worden. In den letzten Jahren hatte sich die Gemeinde mit großem Aufwand um Verbesserungen bemüht, mit bescheidenem Erfolg. Zumindest durfte auf der Halbinsel zur Freude derjenigen, die dort wohnten, nicht mehr gebaut werden. So gewann Bolls Haus an Exklusivität und Wert und er selbst die Gewissheit, dass der Ausblick auf das vor seinem Haus per Durchstich von der Förde geflutete Noor nicht mehr verbaut werden konnte.

Jung hatte während der Aufklärung des Gifttodes einer Immobilienmaklerin auf Sylt bei Boll Hilfe gesucht und gefunden. Jetzt besuchte er ihn, um von seinen Ermittlungsergebnissen zu berichten. »Wir wissen, dass zwei Frauen, deren Verschwinden ich seit Monaten aufzuklären versuchte, …« Jung erzählte ausführlich. Er war sehr genau in seiner Schilderung, auch um sich selbst noch einmal alle Fakten vor Augen zu führen. Bis heute, bis zu diesem Moment in Bolls Garten, ließ dieses Verbrechen jegliche kriminelle Logik vermissen. Die Motive für die Tat hatte Jung nicht aufdecken können. Er hatte Fakten gesammelt, die nicht anzuzweifeln waren. Sie machten ihn wissender, aber nicht schlauer.

Jung war deswegen nicht überrascht, als Boll am Ende fragte: »Das verstehe ich nicht! Wo ist der Sinn?«

»Gute Frage. Ich habe nur eine vage Idee.« Jung blickte sinnend an Holnis’ Kliff vorbei auf die weiter draußen liegende Innenförde. Das Wasser glitzerte schwach unter einem wolkenverhangenen Himmel. »Ich müsste den mutmaßlichen Täter befragen können. Aber der ist in Afrika. Der Chef hat den Fall nach Kiel abgegeben. Offiziell bin ich aus der Sache raus.«

Sie schwiegen und starrten in die immer dichter werdenden Wolken. Boll war kürzlich von einem mehrwöchigen Urlaub in Spanien zurückgekehrt. Es war Frühherbst und noch sehr mild. In jedem Moment drohten die ersten, winzigen Sprühregentropfen niederzuschweben. Später würden die Tropfen sich vermehren, größer und schwerer werden und schließlich in einen warmen, lang andauernden Landregen übergehen.

Sie wechselten von den Gartenstühlen auf die bequemen Sessel in Bolls Wohnzimmer.

»Bevor ich weiterfrage, was willst du trinken?« Boll sah Jung auffordernd an. »Ich habe vor Kurzem zwei Flaschen 89er Rauenthaler Gehrn, Spätlese, von Jupp Schell im Keller gefunden. Wenn er noch nicht umgekippt ist, dann muss er schnellstens getrunken werden. Also, was meinst du?«

Man merkte Boll an, dass er stolz auf seinen Fund war und von Jung eine begeisterte Reaktion erwartete.

»Probieren wir es aus. Wenn er frisch geblieben ist, dann ist er ein Juwel.«

»Ja, das dachte ich mir auch. Gerade gut genug für uns alte Genießer.« Boll nickte zufrieden.

*

Er und Jung waren Bewunderer der Rheingauer Rieslingweine. Sie hatten seinerzeit die Adressen ihrer bevorzugten Weinbauern ausgetauscht und sich die eine oder andere Kiste mitgebracht, wenn es sich gerade so ergeben hatte. Jung schnalzte mit der Zunge, wenn er an die Weine Jupp Schells dachte. Schell war Winzer aus Familientradition gewesen, mit eigenem kleinen Wingert und den Traditionen seines Handwerkes verpflichtet. Solange er dem wirtschaftlichen Druck des Weinmarktes standzuhalten vermochte, hatte er seine Weine selbst vermarktet. Ende der 80er-Jahre musste er aufgeben. Die neue Weingesetzgebung begrub seine letzten Chancen, als kleiner Winzer zu überleben. Von da an verkaufte er seine Ernten an Genossenschaften und Großunternehmer wie die Hessischen Staatsweingüter in Eltville. Dort gingen sie unter und waren nicht mehr zu schmecken.

*

Boll kam mit der entkorkten Weinflasche in der Hand aus der Küche. Jung erkannte das schlichte Etikett: das Wappen der Schells auf blassgelbem Grund, darunter die Lagenbezeichnung, der Jahrgang, die Qualitätskennzeichnung nebst Kontrollnummer. Die Angaben waren von einer in rot und weiß geflochtenen Bordüre umrandet. Erinnerungen an Weinproben bei den Schells erwachten in Jung. Auf wackeligen Holzbohlen waren sie im Haus der Großmutter in den felsigen Untergrund hinabgestiegen. Die Sommerhitze draußen, die feuchte Kühle im Keller und der Geruch nach Hefepilzen und Wein waren in seinem Gedächtnis unauslöschlich eingegraben. An das Aroma grober, mit Majoran angemachter Leberwurst, an das selbst gebackene Brot und an die herbe Säure eines frischen Weins aus der Literflasche erinnerte er sich, als ob er sie eben erst auf der Zunge und in der Nase gehabt hätte.

An andere Weinproben erinnerte er sich auch, aber mit gemischten Gefühlen. In Hallgarten war er aus einem kühlen Weinkeller in die gleißende Mittagshitze hinaufgestiegen. Ihm waren auf der Stelle die Sinne geschwunden, als hätte ihn ein schwerer Hammer am Kopf getroffen. Er hatte sich torkelnd auf einen nahe gelegenen Friedhof gerettet und sich heftig übergeben. Er hatte sich auf eine Friedhofsbank legen müssen und war für Stunden eingeschlafen. Später, wenn er ins Erzählen kam und von den Zeiten schwärmte, in denen er im Rheingau Weinproben besucht hatte, ließ er diese Episode lieber aus. Er schämte sich für seinen Kontrollverlust und für die Pietätlosigkeit auf einem Gottesacker.

Boll schenkte den Wein in die Gläser ein. Sie nahmen einen ersten, vorsichtigen Schluck. An Jungs Gaumen entfaltete sich die strahlige, herbe Kühle eines gerade anbrechenden Sonnentages über dem Rheingau. Boll sagte nichts. Andächtig probierten sie einen zweiten, mutigeren Schluck. Sie stellten die Gläser zurück.

»Gut. Er lebt«, ließ Boll sich vernehmen.

»Und wie er lebt. Großartig. Wer hätte damals gedacht, dass wir heute hier sitzen und einen Wein trinken, den es niemals wieder geben wird? Mich beunruhigt das.« Jung schüttelte leicht mit dem Kopf und nippte erneut an seinem Glas. »Fast alles, was damals wichtig war, ist inzwischen für mich ziemlich belanglos geworden. Und was mir heute wichtig ist, daran habe ich damals keinen Gedanken verschwendet.«

»Verschwendung, das ist es, was ich oft empfinde, wenn ich auf mein Leben zurückblicke.«

Sie machten eine Pause und steckten die Nasen in die Gläser. Verlegenheit über die aufkommende Sentimentalität breitete sich aus. Sie wollten keine alten Leute sein, die über die vergangenen Zeiten redeten, als gäbe es nichts Besseres. Ihr Verstand sagte ihnen, dass das Gegenteil stimmte. Aber ihre Gefühle klebten an den Pilzen auf den felsigen Wänden in Oma Schells Weinkeller und dem Duft einer entkorkten Flasche Rauenthaler Spätlese.

*

»Unsere verabredete Strategie. Sie hat sich also bewährt, wenn auch nicht zu deiner vollen Zufriedenheit?«, brachte Boll das Gespräch auf seinen Ausgangspunkt zurück.

»Sie hat die Resultate gebracht, die du nun kennst. Ich bin eigentlich komplett gescheitert.«

»Das musst du mir erklären.« Boll sah Jung ungläubig an.

»Mit der Freundin der Toten hatte ich zuletzt nur noch Streit. Dabei sollte sie doch meine Komplizin und Helferin werden.«

»Das muss kein Widerspruch sein.«

»Meine Arbeit war nicht diskret genug. Sie war laut und bis nach Kiel ins Innenministerium zu hören. Ich weiß nicht, woran das gelegen hat. Holtgreve hat Druck von oben gekriegt und mir den Fall weggenommen. Nichts war’s mit der Vermeidung von Loyalitätskonflikten.« Jung schwieg.

»Für dein Versagen warst du ganz schön erfolgreich«, fasste Boll launig zusammen. »Was sagt der Leitende dazu?«

»Nichts. Er ist froh, den Fall und den Druck von oben los zu sein. Im Übrigen ignoriert er alles. Nicht einmal einen schriftlichen Bericht hat er von mir gewollt. Ich habe ihm dennoch eine Aufstellung der Fakten zukommen lassen, von Schlussfolgerungen und Empfehlungen aber abgesehen. Ich schrieb den Bericht mehr für mich selbst, um einen Schlusspunkt zu setzen. Er hat mich sofort mit neuer Arbeit eingedeckt.«

»Und die wäre?«

»Ein uralter Fall. Gut zehn Jahren her. Ein elfjähriges Mädchen macht sich mit ihrem Fahrrad auf den Weg vom elterlichen Hof ins nahe gelegene Husum. Sie kommt dort nie an. Sie und ihr Fahrrad sind niemals gefunden worden.«

»Wieso übergibt er dir den Fall erst jetzt?«

»Ich habe es aufgegeben, mir über die Motive des Leitenden Gedanken zu machen. Das führt zu nichts. Ich habe den Fall und kann mir Zeit lassen. Es sind Jahre vergangen, da spielen ein paar Wochen keine große Rolle. Das ist was für mich.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Sie genossen es, sich den Wein genießerisch über die Gaumen gleiten zu lassen.

»Du erwähntest vorhin eine vage Idee«, nahm Boll den alten Faden wieder auf.

»Ein Marineoffizier hat mich darauf gebracht.«

»Ein Marineoffizier.« Boll schüttelte den Kopf. »Putzig!« Er trank und verschluckte sich. Er hatte Mühe, den kostbaren Wein nicht in die Gegend zu prusten. Sein Hustenanfall war noch nicht abgeklungen, als er schon weiterfragte: »Bist du der Sache noch auf den Fersen? Holtgreves Schiss ist ja nicht gerade motivierend.«

»Alles okay?«, fragte Jung besorgt und klopfte ihm auf den Rücken.

»Ja, geht schon«, keuchte Boll.

Jung ließ von ihm ab und setzte sich wieder. »Ich bin neugierig. Ich will wissen, ob der Offizier in Dschibuti mit seiner Theorie richtig liegt.«

»In Dschibuti? Soll das ein Witz sein?« Boll hatte sich mit einer Papierserviette die Nase geputzt und blickte Jung jetzt erstaunt an.

»Wieso?«

»Ich habe kürzlich mit einem alten Segelkameraden telefoniert.« Boll warf die zerknüllte Papierserviette geschickt in den vor der Tür zum Balkon stehenden Papierkorb. »Er ist Marineoffizier in Dschibuti.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Sie vermissen einen Soldaten. Angeblich ist er unbemerkt über Bord gegangen und seitdem verschollen. Er meint jedoch, da stimmt was nicht. Er bat mich – als Fachmann sozusagen – um Rat, was er tun könne.«

»Ist der Fall denn schon untersucht worden?«

»Das ist ja sein Problem. Er ist untersucht worden, aber er kann das Ergebnis nicht akzeptieren.«

»Wer hat denn die Ermittlungen geführt?«

»Die Kollegen aus Hannover. Das Schiff, von dem der Seemann verschwand, ist in Wilhelmshaven beheimatet. Und für Wilhelmshaven ist Hannover zuständig.«

»Und wie heißt der Offizier?«

»Jungmann, Fregattenkapitän Jungmann«, sagte Boll beiläufig.

»Nee, nicht zu glauben? Mit dem habe ich auch gesprochen.« Jung schüttelte den Kopf.

»Wie kamst du auf ihn?«

»Mein vermeintlicher Täter ist legal nach Dschibuti ausgereist. Die Marine ist dort im Einsatz. Jungmann kennt sich in Dschibuti aus. Deswegen habe ich ihn um Amtshilfe gebeten. Er deutete an, der Somali könnte einen Auftrag bei uns gehabt haben und sein Asylstatus sei nur Tarnung gewesen. Die Tarnung drohte aufzufliegen. Da hat er zugeschlagen.«

Boll zog überrascht die Augenbrauen hoch und stellte sein Glas auf den Tisch zurück. »Das ist eine verwegene Theorie, was meinst du?«

»Er hat durchaus überzeugende Gründe angeführt. Ich würde gern nach Dschibuti reisen und den Mann sprechen. Das würde mir helfen, klarer zu sehen.«

»Das geht ja nun nicht mehr.«

»Ja, leider. Aber es wäre sowieso schwierig geworden. Holtgreve handelt nicht aus Einsicht und Verantwortung. Was von oben kommt, das vollstreckt er, ohne mit der Wimper zu zucken. Du kennst ihn ja.«

Es entstand eine Pause. Sie griffen gleichzeitig nach ihren Gläsern und tranken.

»Das wär’s doch«, rief Boll plötzlich wie elektrisiert. »Warst du eigentlich beim Barras?«

»Ja, aber nicht bei der Marine. Ich bin, um ganz genau zu sein, als Gefreiter aus dem Fernmeldebataillon elf der elften Panzergrenadierdivision entlassen worden. Die Division ist aufgelöst. Es gibt sie nicht mehr. Weg, perdu.«

»Das macht nichts. Du sprichst mit Jungmann. Du bietest an, ihm bei seinem Problem zu helfen. Er kennt dich. Du machst einfach ’ne Wehrübung bei ihm.«

Jung fixierte Boll entgeistert.

»Klaus, du bist verrückt. Ich bin Reservist bei den Stoppelhopsern. Gefreiter. Wie soll ich damit nach Dschibuti zur Marine kommen? Die bekämpfen den internationalen Terrorismus, wenn ich das richtig verstanden habe.« In Jungs Augen spiegelte sich Skepsis.

»Tomas, du hast null Ahnung, wie das heutzutage geht.« Bolls Stimme hatte eine beschwörende Eindringlichkeit angenommen, mit der manche Eltern ihren Kindern gern zu einer Einsicht verhelfen wollen, von der sie annehmen, ihre Sprösslinge hätten sie noch nicht. »Der Flottenchef muss nur davon überzeugt werden, dass er dich in Dschibuti braucht«, fuhr Boll fort. »Jungmann hat einen guten Draht zu seinem Chef. Er hat ein großes Interesse, sein Problem vom Hals zu kriegen. Ein im Arabischen Meer spurlos verschwundener Soldat ist keine Belanglosigkeit. Das ist eine Katastrophe, vor allem, wenn die Presse Wind davon bekommt.«

Boll schwieg und ließ seine Worte wirken. Jung überlegte. Würde er sich auf ein Abenteuer einlassen wollen? Ja, das hatte etwas Prickelndes, Außergewöhnliches.

»Wie soll das konkret aussehen? Hast du auch dazu eine Idee?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass du zu einer Wehrübung beim PIZ5 des Flottenkommandos eingezogen wirst. Die kommandieren dich ab in den Stab des CTF6 dort unten.«

»Woher hast du das?«, unterbrach ihn Jung. »Woher kennst du dich so gut aus?« Ihm waren die militärischen Abkürzungen und Anglizismen in unangenehmer Erinnerung. Das Gespräch mit Jungmann lag noch nicht allzu lange zurück.

»Vom Segeln mit den Marinern«, erwiderte Boll. »Ich krieg das beiläufig mit, das lässt sich nicht vermeiden. Aber bleiben wir bei der Sache. Ein solches Kommando wäre für deine Arbeit ideal und erforderte nicht viel militärischen Schnickschnack.«

»Und die Anforderung meiner ach so wichtigen Person kommt vom Flottenchef persönlich und wird über den Polizeipräsidenten in Kiel, den er natürlich von der Kieler Woche her gut kennt, und der überhaupt nichts dagegen hat, dem Flottenchef einen Gefallen zu tun – zumal es ja um eine gute Sache geht –, zu Holtgreve durchgereicht. Der funktioniert, wie er immer funktioniert. Damit ist die Sache durch, und ich bin in Dschibuti. Wie lange dauert eigentlich so eine Wehrübung?« Jungs Ironie war nicht zu überhören.

»Mach dich nicht lustig. Das kann durchgezogen werden, das versichere ich dir. Nichts daran ist illegal. Die Länge musst du mit Jungmann abklären. Wie viel Zeit wirst du brauchen? Ein, zwei Monate?«

»Was wird aus meinem Fall bei Husum? Soll ich lieber nach einem Mädchen suchen, das sich in Luft aufgelöst hat, oder einen Seemann, der auf Nimmerwiedersehen im Meer versunken ist? Ganz zu schweigen von dem mörderischen Pseudoasylanten? Ich weiß nicht.«

Boll dämpfte seinen Enthusiasmus. Er merkte, dass er Jung zum Widerspruch reizte, anstatt ihn anzustecken.

»Das Mädchen hat Zeit. Hast du selbst gesagt. Der Seemann ist dringlicher.«

»Sein Fall scheint auch attraktiver.«

»Hoffentlich täuschst du dich nicht. Du kennst dich dort unten nicht aus. Aber Arbeit und Unbequemlichkeiten, die wirst du mehr haben, als dir lieb sein dürfte. Denk an dein Alter, mein Lieber!«

»Eben wolltest du mich überreden, jetzt machst du mir die Sache madig. Was denn nun?«

»Ach was, ich will nur nicht, dass du mir hinterher Vorwürfe machst. Also trinken wir auf dich und die Marine. Du machst das, nicht wahr?«

»Du hast mich fast überredet. Ich rufe Jungmann morgen an. Dann sehen wir weiter. Prost.«

Sie ließen sich die letzten Schlucke schmecken. Als Jung sich von seinem Kollegen verabschiedete, regnete es bereits seit geraumer Zeit. Er bedankte sich bei ihm für den Wein und versprach sich zu melden, wenn er mit Jungmann geredet hatte.

»Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.« Bolls Neugier war echt. Aber es war reine Neugier, weiter nichts. Jung merkte ihm an, dass er sich nie und nimmer gewünscht hätte, mit ihm zu tauschen.

»Ich muss jetzt los. Ich lass von mir hören. Bis dann, Klaus.«

»Bis dann. Komm gut nach Hause, Tomi!«

Jung lenkte sein Auto rückwärts aus der Einfahrt und nahm den Weg über Bockholm und Ulstrup auf die Nordstraße und von da auf die Osttangente nach Flensburg. Der stärker werdende Regen machte das Fahren beschwerlich. Das Gedankenkarussell in seinem Kopf störte seine Konzentration. Die aufgewirbelte Gischt von der Straße verschmierte die Frontscheibe seines Autos. Er brauchte unbedingt neue Wischerblätter.

5 Presse- und Informationszentrum

6 Commander Task Force

Der Anruf

In der Nacht hatte der Regen nachgelassen und gegen Sonnenaufgang ganz aufgehört. Jetzt riss hier und da die Wolkendecke auf. Ein auffrischender Südwestwind trieb Wolkenfetzen vor sich her. Es bestand Hoffnung, dass sich in Kürze ein freundlicher Himmel durchgesetzt haben würde.

Jung fuhr von seinem Haus im Süden Flensburgs in die Innenstadt. Er erfreute sich jedes Mal wieder am Anblick der neu gestalteten Hafenspitze, die das Ende der weit ins Binnenland ragenden Flensburger Förde einfasste. Die Polizeiinspektion lag schräg gegenüber. Übersah man das neben dem Eingang angeschraubte Schild, so würde man in dem Polizeigebäude eher ein kleines, feines und vor allem teures Hotel alter Pracht vermuten. In Paris oder anderen französischen Städten findet man sie gelegentlich noch, ausgestattet mit alten Stilmöbeln und mit schweren Teppichen ausgelegt. Aber zu Flensburg hätte das nicht gepasst. So stellte sich die Frage, wozu das Gebäude früher gedient haben mochte. Es musste aus der Gründerzeit stammen, die Stilrichtung war nicht eindeutig zuzuordnen. Die Fassade war reich ornamentiert. Simse, Steinmetzarbeiten und schmiedeeiserne Geländer vor Balkonen und Austritten zierten die Vorderfront. Erst kürzlich hatte es einen neuen, strahlend weißen Außenanstrich erhalten. Es hob sich deswegen von der ebenfalls dekorativen Nachbarschaft ab.

Jung stellte sein Auto auf dem Parkstreifen im Innenhof der Polizeiinspektion ab. Er begrüßte den diensthabenden Polizisten in der Wachstube zum Treppenaufgang.

»Moin, Petersen. Alles ruhig?«

»Moin, moin, Herr Kriminalrat. Keine Vorkommnisse. Fast zu ruhig. Das verheißt nichts Gutes.«

»Haben Sie denn Anzeichen für Ihren Verdacht?«

»Eben nicht. Das ist es ja.«

Petersen erging sich manchmal in vagen Vermutungen, Andeutungen und Ahnungen. Oft behielt er recht. Jung nahm das kopfschüttelnd zur Kenntnis.

»Na denn, trotzdem schönen Tag.«

»Danke, ebenfalls, Herr Kriminalrat.«

Jung stieg das kühle, weiß getünchte Treppenhaus zu seinem Büro im ersten Stock hinauf. Es war in der Tat ungewöhnlich still. Selbst aus der Teppichetage über ihm, auf der die Bürosuite des Leitenden lag, drang kein Laut zu ihm. Holtgreve ließ seine Bürotür in der Regel offen. Er kommunizierte mit seinen Leuten gerne per Zuruf. Sie waren gezwungen, ebenfalls die Türen zu ihren Arbeitsräumen offen zu halten. Andernfalls setzten sie sich der Gefahr aus, den Unmut des Chefs auf sich zu ziehen oder aus der Kommunikationskette von oben nach unten ausgeschlossen zu werden.

Der Leitende war heute offensichtlich außer Haus. Es kam hin und wieder vor, dass er beim Polizeipräsidenten in Kiel Vieraugengespräche führte. In Jungs Vorstellung kamen diese Gespräche der Entgegennahme neuer Anweisungen und Direktiven gleich, die man nicht einem Papier anvertrauen und damit aktenkundig machen wollte.

Er betrat seinen Arbeitsraum, öffnete die Fenster und ließ die frische, vom langen Regen sauber gewaschene Luft in den Raum. Der Blick auf die Förde belebte ihn, was man von der Atmosphäre in seinem Büro nicht behaupten konnte.

Im Gegensatz zur Teppichetage hatten auf seinem Flur die hölzernen Böden keine Teppichauflage. Über die Jahre waren die Holzdielen strapaziert worden. Das Mobiliar war zweckdienlich und ohne Geschmack, fast armselig. Jung hatte alles entfernt, was er nicht brauchte. Übrig geblieben waren sein Schreibtisch, ein Aktenschrank, ein Aktenbock und außer seinem Bürosessel ein einfacher Besucherstuhl.

Früher hatte Jung sich über die schäbige Ausstattung aufgeregt. Sie bildete einen grotesken Kontrast zu den geräumigen, hohen und stuckverzierten Zimmern. Jetzt ertappte er sich dabei, es gut zu finden, wie es war. Er wurde nicht abgelenkt und konnte sich konzentrieren. Und da er ohnehin nur einen Teil seiner Arbeitszeit hier verbrachte, hatte er auf jede persönliche Note verzichtet. Es hätte nicht zu ihm gepasst, Bilder von Frau und Kindern auf seinem Schreibtisch aufzustellen oder seine Diplome und Zeugnisse an die Wand zu nageln.

Er schloss die Tür und machte es sich an seinem Schreibtisch so gut es ging bequem. Die Telefonnummer des Marineoffiziers in Dschibuti hatte er irgendwo in seinen Schreibtischschubladen aufbewahrt. Auf der Suche danach fiel ihm das Foto des Afrikaners in die Hände, das er seiner Zeit aus der erkennungsdienstlichen Akte des Innenministeriums erhalten hatte.

Obwohl die Fotos in der Regel schlecht ausfielen und jeden wie einen Verbrecher aussehen ließen, der einmal vor die Linse des Erkennungsdienstes gezwungen worden war, sah der Somali ungewöhnlich freundlich in die Kamera. Sein Gesichtsausdruck erweckte beim Betrachter spontane Sympathie. Jung konnte keine emotionale Verbindung herstellen zwischen dem Foto und den Taten, deren der Abgebildete bezichtigt wurde.

Unter dem Foto fand er den Zettel, auf den er die Nummer Jungmanns notiert hatte. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und überdachte noch einmal, was er vorhatte. Gestern, auf der Fahrt nach Hause, hatten ihn erste Zweifel befallen. Welchen Dienstgrad sollte er eigentlich bekommen? Er konnte als Gefreiter nicht in einem Einsatzstab für Presse und Information verantwortlich sein. Das schien ihm sonnenklar. Er hatte von dem Metier keine Ahnung. Allein die Vorstellung, er müsse eine Legende für sich erfinden und über die Zeit durchhalten, verursachte ihm Unbehagen. Aus diesem Blickwinkel kam ihm sein Vorhaben albern vor. Er befürchtete, sich zu blamieren, wenn er Jungmann seinen Vorschlag unterbreitete.

Auf der anderen Seite gab es genug Klugschwätzer auf der Medienbühne. Da würde er angenehm auffallen und Kompetenz ausstrahlen, wenn er sich zurückhielt. Keiner müsste erfahren, warum er schwieg oder nur wenig Worte machte. Er war da, um Informationen zu sammeln, die er später, wieder zurück in Deutschland, zu verarbeiten hatte. So könnte das dargestellt werden. Ihm wurde klar, wie perfekt die vorzugebende mit der beabsichtigten Arbeit übereinstimmte.

Jung schob seine Bedenken beiseite und wählte die Nummer in Dschibuti. Jungmann meldete sich sofort. »Fregattenkapitän Jungmann, guten Tag, Herr Jung.«

»Guten Tag, woher wissen Sie, dass ich es bin? Haben Sie Röntgenaugen?«, antwortete Jung überrascht.

»Nein, Ihren Namen und Ihre Telefonnummer kann ich auf meinem Display ablesen. Sie können auf Ihrem Apparat die Weitergabe Ihrer Daten unterdrücken, wenn Sie wollen. Wussten Sie das nicht?«

»Nein, das wusste ich nicht. Ich vermute allerdings, dass unsere Technik hinter Ihrer zurückhängt. Ich war davon angetan, als ich Sie damals in Ihrem Hauptquartier besuchte.«

»Na ja, meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Aber deswegen rufen Sie mich nicht an, habe ich recht? Suchen Sie noch immer nach Ihrem Afrikaner?«

»Ja und nein, eigentlich erst in zweiter Linie.«

»Und in erster Linie?«

»Ich sprach kürzlich mit meinem ehemaligen Kollegen, Klaus Boll. Er ist ein Segelkamerad von Ihnen. Sie baten ihn um Hilfe bei einem Problem, das Sie haben. Ich kann Ihnen unter Umständen helfen.«

Jungmann verstummte. »Stand by short7», ließ er sich kurz danach vernehmen. Jung irritierte die englische Phrase. Er hörte im Hintergrund Schritte und das Schließen einer Tür.

»So, da bin ich wieder. Es stimmt, ich habe ein Problem. Wie wollen Sie mir dabei helfen?«

»Boll hat sich nicht näher darüber ausgelassen. Er deutete an, dass die Untersuchung der Staatsanwaltschaft einen Ihrer vermissten Soldaten betreffend nicht zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen ist. Ich könnte das mit Ihrer Hilfe und Mitarbeit zu ändern versuchen.«

Wieder herrschte für einen Moment Schweigen. »Das Problem ist, dass ich dem Untersuchungsergebnis nicht glaube.«

»Wie lautet das denn?«

»Unerkannt über Bord gegangen und ertrunken, aus Versehen, ohne dass es einer bemerkt hat. Mit anderen Worten: ein Unfall. Daran kann ich nicht glauben. Allein schon deswegen, weil wir seine Leiche trotz intensiver Suche nicht gefunden haben. Und wir haben Mittel dafür, glauben Sie mir. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen. Wie könnte Ihre Hilfe aussehen?«

7 Einen Moment